Der Terrorismus
trifft nicht nur Menschen und Gebäude, sondern verändert auch Mentalitäten und
wirkt tief in Gesellschaften. Wie dies funktioniert, und welche Gefährdungen
damit einhergehen, hat Wilhelm Heitmeyer analysiert. Der Autor ist Leiter des
Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität
Bielefeld. Wir dokumentieren eine vom Autor aktualisierte Fassung seines
Vortrages bei den Frankfurter Römerberg Gesprächen.
1. Terror und die autoritäre
Versuchung
Terrorismus zielt
auf die Herausforderung von politischer Macht und auf Panik in der Gesellschaft.
Auch wenn dieses Optimum - insbesondere was großflächige und nachhaltige Panik
angeht - kaum erreicht wird, sind die unmittelbaren Auswirkungen menschlich
dramatisch und zumeist auch sächlich kostspielig. Selten gibt es
Terrorereignisse, die über lokale und regionale Grenzen hinaus auch
Fernwirkungen auslösen, die verschiedene Gesellschaftstypen in ihren Grundfesten
durchrütteln und die politische Struktur und Kultur in Treibsand verwandeln.
Dann treffen sie
bei dramatischen Ausmaßen nicht nur Menschen und Gebäude, sondern auch das
Selbstverständnis, Regelwerk, soziales Klima und die Moral von Gesellschaften.
Welche Folgen sie zeitigen, hängt vom politischen System der jeweiligen
Gesellschaften ab. Für totalitäre Varianten kann der Terror auf Grund des
starren herrschenden Systems zum Einsturz und damit zu Chancen auf
Liberalisierung führen - oder zur Verstärkung der vielfach ohnehin vorhandenen
Gewaltsamkeit. Beide Entwicklungsrichtungen sind möglich.
Für liberale
Gesellschaften indes, die sich zumeist auch als integrationsoffen für Menschen
fremder kultureller oder religiöser Herkunft begreifen, ist die Erweiterung von
Liberalität nicht zu erwarten, sondern nur die entgegengesetzte Richtung: die
autoritäre Versuchung.
Die Frage richtet
sich deshalb darauf, ob diese Annahme von den Fernwirkungen der terroristischen
Gewalttaten zutrifft. Über welche Faktoren "vermitteln" sie sich in die
gesellschaftliche Realität als Gefühle der Angst und Verunsicherung einerseits
und der Aktivierung von staatlichen Gegenreaktionen andererseits?
Da der Terror des
11. Septembers insofern ein singuläres Ereignis ist, da es sich auf Grund der
visuellen Intensität, technischen Präzision und des kaum berechenbaren Ausmaßes
für zentrale Symbole einer ganzen Kultur, des westlichen Kapitalismus, in das
kollektive Gedächtnis der Weltgeschichte einbrennen wird, muss genauer
analysiert werden, ob der Terror des "11. Septembers" nur ein "Mehr vom
Gleichen" ist oder eine neue Qualität sichtbar geworden ist.
2. Der islamistische
Terrorismus - die andere Dimension des Zerstörerischen
Bisher waren die
historischen Formen der Entgrenzung von Gewalt in staatlicher Regie zu Recht als
singuläres Ereignis mit dem Fakt und Symbol "Auschwitz" verbunden.
Im Zuge der
sukzessiven Entstaatlichung des Terrors und des Krieges in verschiedenen
Weltregionen, die nicht mehr mit den herkömmlichen transnationalen und
militärischen Mitteln beendet, sondern bestenfalls zeitweilig stillgelegt oder
auch nur, bei Weiterexistenz, aus der medial vorsortierten Aufmerksamkeit
gezerrt werden konnten, ist mit "New York" eine nicht vergleichbare, aber andere
Form der Entgrenzung sichtbar geworden.
Es sind nicht die
verdeckten, nichtöffentlichen Strategien zur Durchführung von Gewalt, die nun
für schockartige Aufmerksamkeit sorgen, sondern die offensiven Inszenierungen,
also auf optimale Öffentlichkeit geradezu ausgerichteten Strategien, quasi zur
besten Sendezeit. Sie werden nicht, wie im historischen Zuschnitt, in vollem
Ausmaß erst zeitverzögert sichtbar als angebliche Überraschungen und
Verunsicherungen mitsamt ihren zwischenzeitlich entwickelten
Verdrängungsleistungen, sondern bestimmen zeitverdichtet die Gestalt des
Zerstörerischen - und erzeugen ein Mehrfaches an unmittelbarer Verunsicherung,
weil diese geballte Wucht auf zentrale, materialisierte Symbole der westlichen
Welt nicht mehr möglich schien.
Die andere
Singularität ergibt sich durch die Qualität, dass nun alles denkbar wird. Alle
Terroroptionen sind nun möglich und nehmen via Medien unabhängig von technischer
Realisierbarkeit jetzt fantasiereiche Varianten an. Eine Vervielfachung von
angstbesetzten Realitäten tritt ein, denen auf der Seite von Strategen und
Akteuren dagegen nur wenige Bedingungen gegenüberstehen.
Derzeit scheint
plausibel, dass im Wesentlichen wohl drei Voraussetzungen für diese neue
Qualität gegeben sind: erstens die Durchmarktung des Terrorismus, indem er sich
der Logiken und Strategien des Kapitalismus in geradezu ausgeklügelter Weise
bedient. Dies sind die Aufgaben der Strategen. Die ideologische Komponente
scheint durch die totalitäre Heilserwartung bestimmt, in der Empathie abgetötet
ist, kombiniert mit dem Umstand, dass sich die Akteure auch weltlich unsterblich
machen könnten - mit Erfolg.
Drittens
schließlich ist eine geradezu asoziale Kommunikationsstruktur mitsamt moderner
Ungebundenheit aufgebaut worden, die es schwer machen, diesen Zusammenhang
aufzubrechen. Das durch diese Konstellation möglich gewordene Ausmaß des Terrors
hat gravierende Fernwirkungen.
3. Kontrollverluste: Die neue
Qualität der Fernwirkungen
Als besonders
gefährliche Fernwirkungen betrachte ich die sichtbar gewordenen
Kontrollverluste. Dies ist m. E. eine zentrale Kategorie, mit deren Hilfe man
einen Blick sowohl auf die politischen Auswirkungen für die Verfasstheit der
Republik als auch auf die sozialen Auswirkungen für die Gesellschaft riskieren
kann. Der
Begriff der Kontrolle wird hier nicht in der klassischen soziologischen und
kriminologischen Auffassung verstanden. Hier geht es um das fundamentale
gesellschaftliche Selbstverständnis, also um die individuellen, kollektiven und
institutionellen Überzeugungen, über eigene Planung, eigene Lebensweisen, eigene
Symbole, eigene Territorien verfügen zu können bzw. auf deren weiteren
Entwicklungsverlauf selbst den entscheidenden Einfluss zu haben. Dadurch
entstehen Selbstbewusstsein, Identität, Sicherheit und auch Macht.
Insofern scheint
ein Kontrollbewusstsein von zentraler Bedeutung im Leben von Individuen und
Gruppen zu sein ebenso wie für das Funktionieren von Institutionen und das
gelassene Agieren ihrer Funktionsträger.
Die erste These
ist, dass die zentralen Fernwirkungen des Terrors in tief reichenden
Kontrollverlusten bestehen und die Mittel zur Wiedergewinnung von
Kontrollbewusstsein umso knapper sind, desto stärker die Regelhaftigkeit der
Gewalt außer Kraft gesetzt ist. Genau diese Außerkraftsetzung der
Regelhaftigkeit von Gewalt, die auch terroristischen Aktionen immer wieder
innewohnt, scheint eingetreten.
Dazu gehören
zumindest zwei Elemente. Erstens ist dies der Umstand, dass keine Forderungen
oder Bekenntnisse mitgeliefert werden. Dies dient der Verstärkung des
Kontrollverlustes, wozu auch noch der Umstand beiträgt, dass bisher keine
eindeutigen, etwa juristisch stichhaltigen Belege für die Verantwortung bin
Ladens veröffentlicht worden sind, die einem Verfahren vor einem Internationalen
Gerichtshof standhalten.
Das zweite
Element zur Grenzenlosigkeit der immateriellen Verstörung kommt zu Stande, weil
durch die Öffnung aller Terroroptionen die Antizipierbarkeit von Bedrohungen
abhanden kommt. Antizipierbarkeit schafft Ruhezeiten, Ruhezonen und Strategien
des Vermeidungsverhaltens.
Der
Kontrollverlust dokumentiert, dass die Bedrohung auf Dauer gestellt worden ist,
indem auch die antizipations-relevante Zeitstruktur (z. B. der Vorwarnungen)
aufgehoben wurde, die nun in hilfloser Weise durch eine Armierung des Zivilen,
also z. B. durch Raketen zum Schutz von Kernkraftwerken, zurückgewonnen werden
soll. Die
Ordnung der privaten Lebenswege und -planungen ist gestört. Nach einer
Emnid-Umfrage schaffen es zwei Drittel der Bundesbürger nicht, "ihr Leben
weiterzuleben wie bisher". Auch das soziale Zusammenleben scheint verändert.
Mehr als die Hälfte der Befragten aus ebengenannter Untersuchung denken, dass
die Toleranz in der Gesellschaft zurückgeht. Ebenso viele befürchten neue
Anschläge, was die eingeschliffene Ordnung des staatlichen Handelns unter Druck
setzt, weil massenhafte Unsicherheitsgefühle für jede Regierung gefährlich
werden kann.
Kontrollverluste, seien sie individueller, kollektiver oder politischer Art, die
Verluste von Ordnung signalisieren, führen - und das ist die zweite These - mit
hoher Wahrscheinlichkeit in autoritäre Richtungen bzw. Abschließungen /
Grenzziehungen, eben zur Wiederherstellung oder Neujustierung von Ordnung. Wie
sehen die veränderten privaten, sozialen und öffentlich-politischen Ordnungen
aus? In den
USA scheint man über Kollektivrituale einen Weg gefunden zu haben, um
weitverbreiteten Kontrollverlusten entgegenzuwirken. Es ist der fast grenzenlose
Patriotismus. Was nun sozial für Beruhigung sorgen mag, muss dagegen politisch
beunruhigen.
4. Politische Auswirkungen:
Gibt es eine Gefährdung der liberalen Republik?
Für Norman
Birnbaum, einen der wenigen im Herbst 2001 aktiven kritischen amerikanischen
Intellektuellen, wirkt die US-Demokratie wie stillgelegt. Ein fast devotes
Verhältnis zur Regierung sei eingezogen, eine radikale Entpolitisierung auf dem
Vormarsch, die formierte Öffentlichkeit hergestellt.
Dies ist
beunruhigend, weil damit Vorbereitungen von Einschränkungen der Civil Rights zu
beginnen scheinen. Über Folter wird ernsthaft nachgedacht, und die Aburteilung
von Tätern vor geheimen Militärgerichten ist geplant.
Alle diese
Entwicklungen in den USA verweisen auf ein strukturelles Problem. Es besteht in
der ungleichen Flexibilität von staatlichen, an rechtsstaatliche Verfahren
gebundenen Maßnahmen einerseits und kleinen, an keine Verfahren, sondern nur auf
rücksichtslose Optimierung der Gewalt ausgerichtete Terrorgruppen andererseits.
Dies schafft eine prinzipielle Ungleichzeitigkeit von Entwicklungsvorsprüngen
für diese Gruppen.
Verfahren und
öffentliche Debatten einerseits und ausschließliche Optimierungsstrategien, die
bei Selbstmordgruppen keinerlei Ablenkungen, sondern höchste Konzentration
erlauben, sowie das Agieren im Geheimen andererseits schaffen eine strukturelle
Asymmetrie zu Lasten des demokratischen Rechtsstaates. Dies steigert die
Versuchung, mit überschießenden (Überwachungs-) Energien zu reagieren.
Aber selbst
dadurch wird dieses strukturelle Problem nicht ausgehebelt, weil dies ein
politischer Interaktionsprozess ist, in dem beide Seiten ständig voneinander
lernen, was auch bedeutet, dass die Prozesse der Vorbereitungen des Terrors
immer komplizierter werden. Lässt sich der demokratische Staat auf diesen
Interaktionsprozess ein, dringt er zwangsläufig immer tiefer in das soziale
Gewebe der Gesellschaft ein.
Damit drohen den
Prinzipien einer liberalen Republik, also gesicherte Rechtsstaatlichkeit,
persönliche Freiheits-rechte, prinzipiell freie Meinungsäußerung und selbst
freie Presse, eine bedrohliche Aushöhlung, und sie tragen gleichzeitig nicht
dazu bei, der neuen Qualität der Fernwirkungen gerecht zu werden.
Der Versuch, den
Kontrollverlust im definierten Sinne durch Ausweitung von neuen
Überwachungspolitiken mittels verstärkter Techniken nachhaltig zu sichern, muss
daher scheitern. (. . .) Die im Zuge der Globalisierung verschobene
Kontrollfähigkeit über finanzielle Transaktionen im "elektronischen Raum" weg
von der Politik und hin zum Kapital schlägt jetzt zurück. Insofern ist für das
erste genannte Kriterium der neuen Qualität, also die Durchmarktung des Terrors,
die neue "Geographie der kapitalistischen Macht" wie geschaffen und
offensichtlich hinreichend unorganisierbar, was beispielsweise wirkungsvolle
transnationale Gesetze etc. angeht.
Darüber dürfen
auch Sperrungen von Konten der Al Qaeda nicht hinwegtäuschen, denn zum ständig
sich anpassenden System gehört es auch, jene Finanzressourcen zu sichern, die
weder vom elektronischen System der Finanzkonten noch von Überwachungssystemen
auf Flugplätzen etc. erfasst werden. Dies sind z. B. Diamantenkäufe großen
Stils, scheinbar ein anachronistisches Vorgehen - jetzt aber weitsichtig ein
hochfunktionales Vorgehen.
Für die beiden
anderen genannten Kriterien der neuen Qualität, also totalitäre Heilserwartung
und asoziale Kommunikationsstruktur, sind die auch in Deutschland
hervorgebrachten Sicherheitskonzepte eher der Versuch einer Inszenierung von
Überwachungsfähigkeit. Denn es wird unterschätzt, dass es sich nicht mehr um
eine klassische Internationale des Terrors mit Menschen aus unterschiedlichen
kulturellen Herkünften handelt, wie es noch in den 70er Jahren der Fall war.
Damals waren das Erlernen der radikalen ideologischen Formeln und die Bewährung
durch eine Tat die Eintrittskarte in die Gruppen. Dies scheint jetzt verändert.
Die Rückkehr von Traditionen und der kulturelle Habitus stehen im Vordergrund
bei der Ausweitung internationaler Ziele. Damit verschlechtern sich die Chancen
der Unterwanderung, es sei denn, die Täter sind käuflich. Bisher galten
Traditionen für den Terrorismus als hinderlich, jetzt werden sie zu einer
entscheidenden Voraussetzung für den Erfolg, hinter die das für jedermann
erlernbare Handwerk des Terrors weit zurücksteht.
Außerdem wird die
Dynamik solcher Prozesse insgesamt unterschätzt, d. h. die jeweiligen Akteure
lernen voneinander, so dass auch Terroristen selbstverständlich ihre Strategien
umstellen. Mit anderen Worten, die Gesellschaft droht insgesamt zum
Sicherheitsrisiko zu werden, was offensichtlich zahlreiche Fantasien zur
Ausweitung der Befugnisse frei werden lässt, die Dieter Grimm zur Aussage
veranlasste: "Eine Polizei, für die keine Ermittlungsschranken mehr gelten, ist
rechtsstaatlich am Ende."
Ähnliches dürfte
für die neuen Ausweise gelten. Demnächst wissen diejenigen, die sich ausweisen,
gar nicht, worüber sie sich ausweisen, also welche Daten gespeichert sind. Die
Ausweise sind nicht mehr lesbar im gewohnten Sinne. Dies ist eine andere Art des
Kontrollverlustes, dessen Ausmaße nicht abzuschätzen sind. Auch hier scheint
Rechtsstaatlichkeit am Ende, über die wir nicht reden, weil dieses Ende mit
unserer Zustimmung zur Erhöhung von Sicherheitsgefühlen geschieht.
Noch viel
schärfer müsste die Aussage zum Ende von Rechtsstaatlichkeit hinsichtlich
angedachter Befugnisse des Verfassungsschutzes ausfallen. Die unbegreiflichen
Zuspitzungen erfahren diese Kontrollpolitiken im Versuch, die Eintragungen von
Religionszugehörigkeit in das Zentralregister zu denken. Damit werden
Gruppenmarkierungen schlimmsten Ausmaßes gedacht, die massiv gegen Fremde
gerichtet sind, zuerst wohl gegen Muslime. Würde dann auch "Jude" im
Zentralregister stehen, weil es ja auch gefährliche jüdische Extremisten gibt?
Damit wird die
Ideologie der Ungleichwertigkeit, bekanntlich bisher jenseits des demokratischen
Konsenses beheimatet, in staatliches Denken hineinverlagert, weil nur von
technischen Kategorien der Überwachungsstrategien her gedacht wird. Unsere
Verfassung definiert aber die Freiheit von der Würde des Menschen her - und
nicht durch die operationalisierbaren technischen Überwachungskategorien. Es ist
ein großes Problem, wenn der Terror bekämpft werden soll, indem der Rechtsstaat
eingeschränkt wird - ohne dass es Belege gibt, dass die angeführten Instrumente
gegen die drei genannten Elemente der Terrorkonstellation effektiv sein können.
Stattdessen ist
ein anderer Effekt anzunehmen, der negativ auf die Qualität des sozialen
Zusammenlebens in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft wirkt.
5. Soziale Auswirkungen:
Verstärkte Spaltungen und gefährliche Desintegration?
Alle
multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften Westeuropas sind bisher nicht
von massiven, schon gar nicht offenen kollektiven ethnisch religiösen Konflikten
gekennzeichnet.
Seit dem 11.
September drohen nun drei Entwicklungen zusammenzuwirken. Erstens ist es der
Krieg, der bekanntlich auch die muslimische Zivilbevölkerung in Afghanistan
trifft und dessen Ausmaß wir noch gar nicht kennen. Zweitens ist es die
religiöse Einfärbung von fremdenfeindlichen Aktivitäten aus der Bevölkerung, und
drittens sind es die Überwachungsaktivitäten des Staates, bei denen die
ethnische Herkunft und religiöse Zugehörigkeit eine zentrale Rolle spielt.
Diese
Konstellation ist deshalb besonders prekär, weil die muslimische
Religionszugehörigkeit in besonderem Maße identitätsrelevant ist und weil dieses
"kulturelle Kapital" das Einzige ist, über das Migranten und Migrantinnen
autonom verfügen. Wenn nun dieses überlebenswichtige Kapital in staatlichen
Generalverdacht gerät, entstehen Misstrauenspotenziale. Falls dann noch von
islamistischen Organisationen wie z. B. Milli Görus die islamische
Religionszugehörigkeit als Teil einer weltumspannenden "kollektiven
Identitätspolitik" propagiert wird, entstehen weitere
Solidarisierungspotenziale. Und Diskriminierungen bzw. Angriffe z. B. gegen
kopftuchtragende Frauen oder gar Brände in Moscheen wie in den Niederlanden
erzeugen weitere Abwendungspotenziale gegenüber der Mehrheitsgesellschaft.
Die ohnehin
vorhandenen Spannungen werden so zu Spaltungen und gefährlicher Desintegration,
die allerdings auch durch bereits vorhandene Problemlagen in den muslimischen
Gemeinschaften beeinflusst werden. Das beginnt mit abschottender
Identitätspolitik, zeigt sich in abgedichteten Milieus und
aufklärungsbedürftigen Widersprüchen der religiösen Lehre.
Unsere
Bielefelder Befragung von fast 800 Muslimen türkischer Herkunft hat gezeigt,
dass gerade die intensiven Moscheebesucher keinen Kontakt mit den Deutschen
wünschen. Gleichzeitig gibt es einen engen Zusammenhang von Moscheebesuchen und
Selbstethnisierung, d. h. die Bedeutung der Gruppengrenzen wird besonders
hervorgehoben. Solche abgedichteten Milieus stellen aber erst dann ein
besonderes Problem dar, wenn z. B. nicht klar ist, was in den Freitagsgebeten
gepredigt wird. Dies ist besonders problematisch, wenn eine Religion politische
Ansprüche vertritt. In einer offenen Gesellschaft muss sich jede Religion
solchen Ansprüchen öffentlich präsentieren, um vor allem die Trennung von
Religion und staatlichen Machtambitionen zu verdeutlichen.
Allerdings muss
diese Gesellschaft auch die Gelegenheit dazu bieten. Dabei hilft es wenig,
schematisch darauf zu verweisen, dass der Islam eine friedliche und nicht per se
eine aggressive oder gar mörderische Religion sei. Es ist reichlich irritierend,
dass ständig etwas dementiert wird, was so niemand behauptet. Also, warum wird
ständig wiederholt, dass es den Islam nicht gebe, aber der Islam eine friedliche
Religion sei? Die Forderung nach Differenzierung und Einheit des Islam werden so
je nach Interessenlage hin- und hergeschoben. Es gibt daher viel
Aufklärungsbedarf, der bisher durch eine bemerkenswerte Schematik und z. T. auch
durch Opportunismus und Paternalismus gegenüber den religiösen Gemeinschaften
verhindert wurde.
Für Änderungen
stehen die Zeichen aber eher schlecht. Dies hat auch mit den schon angeführten
staatlichen Aktivitäten zu tun, mit der Schematik von Verdacht einerseits und
Absolution andererseits und vor allem mit der Konfliktangst in der
Mehrheitsgesellschaft. Diese reicht so weit, dass selbst das kalkulatorische
Verhältnis von Repräsentanten islamischer Verbände zum Grundgesetz und zum
säkularen Rechtsstaat nicht zur Kenntnis genommen wird, wenn z. B. der
Vorsitzende des Zentralrates der Muslime die Frage nach dem säkularen
Rechtsstaat als Grundlage beantwortet: Ja, solange Muslime in der Minderheit
sind.
6. Unheilvolle Dialektiken:
Kontrollpolitiken und Solidarisierungsprozesse
Bisher wurden
politische und soziale Entwicklungen separat betrachtet. Wie sind politische und
soziale Faktoren vermittelt? Das Zusammenwirken speist sich erstens aus den
verstärkten Überwachungen des Staates als Folge autoritärer Versuchungen vor
allem gegenüber Migranten und religiösen Minderheiten mit untauglichen Mitteln,
durch die das ohnehin vorhandene immense alltägliche Misstrauen einer großen
Anzahl von Migranten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gesteigert wird. Dies
umso mehr, je religiöser die Menschen sind.
Zweitens muss man
Dynamiken im Kleinen wie im Großen in Rechnung stellen. Das reicht bis zum
Ansatz von Huntington. Der ist wegen seiner essenzialistischen Gegenüberstellung
von homogenen Großkulturen zu Recht massiv kritisiert worden, denn zum
Normalfall gehören kulturelle Differenzierungsprozesse und gesellschaftsinterne
Konflikte. Die Kritik erweist sich aber auch insofern als statisch, weil
Dynamiken durch singuläre Ereignisse ignoriert und weil eindimensional immer nur
eine Entwicklungsrichtung angenommen werden.
Wir kennen den
Effekt der Dynamik unkontrollierbarer Gewaltspiralen nicht genau, aber die
Theorie sozialer Identität belehrt uns, dass bei tiefer Verunsicherung die
gesellschaftsinternen Konflikte stillgelegt und stattdessen Großkollektive mit
scharfen Grenzziehungen und Betonung von Unterschieden hervorgehoben werden: das
Gute gegen das Böse; die Gläubigen gegen die Ungläubigen etc. Terrorismus der
erlebten Grenzenlosigkeit bombt nun diese Verunsicherung herbei und setzt
Dynamiken in Gang. Ob sie sich verstetigen, ist offen.
Drittens
schließlich sind die alten Versäumnisse in Rechnung zu stellen. Sie bestehen in
einer Ignoranz und Abwehrhaltung gegenüber der islamischen Religionsausübung von
Menschen fremder Herkunft einerseits und einem "schwärmerischen Dialog" mit
politisch ambitionierten neuen Eliten andererseits, der z. T. zu politisch
verantwortungslosen Formeln führt: "Der Islamismus ist eine gedankliche
Konstruktion. Es lohnt nicht, darüber zu reden." Insbesondere politische,
wissenschaftliche und religiöse Eliten auch dieser Gesellschaft haben den
taktierenden Islamismus in eine Opferrolle hineingeredet und -geschrieben. Dies
hat wesentlich dazu beigetragen, dass fast jede kritische Äußerung auch zu
verschiedenen Formen von Islamismus als Islamfeindlichkeit instrumentalisiert
wurde, um so Kritik mundtot zu machen.
Es ist unklar, ob
aus Unkenntnis oder Kalkül auch von deutschen Apologeten übersehen wird, dass
Islamismus immer dann mobilisierend erfolgreich und gefährlich ist, wenn es
seinen Eliten gelingt, "den" Islam als bedroht darzustellen. Ist eine solche
"Realität" hergestellt, werden offensive Handlungsweisen von Abgrenzung,
Feindseligkeit bis zur Gewalt als Verteidigung und Abwehr durch den Koran
legitimiert. Nun zeigt sich aber, dass die islamische Religion diejenige ist,
die sich am rasantesten in zahlreichen Weltregionen ausbreitete. Aber was sich
ausbreitet, kann kaum gleichzeitig in seiner Existenz bedroht sein.
Das unheilvolle
Zusammenwirken von Überwachungspraktiken einerseits und Solidarisierungsprozesse
andererseits kann in parallelgesellschaftliche Strukturen führen bzw. sie
verstärken. Sie sind allerdings erst dann gegeben, wenn eine ganze Reihe von
Kriterien erfüllt werden und nicht schon deshalb, weil Menschen anders leben
oder eine andere Religion pflegen.
Insofern gibt es
auch eine politische Instrumentalisierung des schwierigen Zusammenlebens durch
politische Eliten der Mehrheitsgesellschaft. Umso drängender stellt sich die
Frage, wie eine integrationsfähige Gesellschaft unter diesen Bedingungen
gesichert werden kann.
Wenn die These
stimmt, und es spricht vieles dafür, dass moderne Gesellschaften nicht durch ein
gemeinsames, homogenes Wertekorsett zusammengehalten werden, sondern eher
mittels durchgestandener Konflikte, flankiert von Grundnormen wie
Gleichwertigkeit und Gewaltfreiheit, dann gibt es im Verhältnis von Mehrheit und
islamischen Gemeinschaften einen großen Nachholbedarf der offenen
Auseinandersetzung. Konflikte haben dann eine produktive Funktion.
Es wäre viel
gewonnen, wenn man sie aufmerksam prozessieren könnte auf der Basis von
Hintergrundkonsensen (Gleichwertigkeit/Integrität), aktiver Institutionen und
Menschen aller Gruppen auf unterschiedlichen Statuspositionen, um so zu
Anerkennungen von Personen und Prinzipien zu gelangen.
Anerkennungsprozesse, die bekanntlich immer, im Gegensatz zu Toleranz, auf
Wechselseitigkeit basieren, verlaufen in modernen Gesellschaften über Kritik und
Konflikt. Toleranz ist dagegen die billigere Variante und schon deshalb ein
Problem, weil Kritik und Konflikt abgedeckt werden.
Das bedeutet
auch, dass weder die Überwachung durch den Staat noch die jetzt überall
geforderte Toleranz neue Integrationsfähigkeiten dieser Gesellschaft erzeugen:
Sie verschütten sie eher. Die Fernwirkungen sind sichtbar. (. . .)
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