Auf in den Ökokapitalismus!
Die Weltwirtschaft ist
an ihre natürlichen Grenzen gestoßen. Aber Marktwirtschaften sind
lernfähig.
Von
Ralf Fücks und Kristina Steenbock
Spätestens seit dem Report des britischen Regierungsökonomen Nicolas
Stern wissen wir, dass der Klimawandel nicht nur ein ökologisches Risiko
erster Ordnung darstellt: Auch die ökonomischen Risiken sind gewaltig.
Hausgemachte »Naturkatastrophen«, die mit einem exponentiellen Anstieg
der Temperaturen einhergehen, könnten zu einer massiven Vernichtung
wirtschaftlicher Werte führen. Dagegen schätzt Stern die Kosten für
effektiven Klimaschutz auf etwa ein Prozent der globalen Wertschöpfung
pro Jahr. Ihnen stehen enorme Wachstumspotenziale auf dem Feld der green
economy gegenüber. Sein Fazit: Investitionen in Klimaschutz sind
volkswirtschaftlich hoch rentabel - und sie können zum Auslöser eines
grünen Wirtschaftswunders werden.
Die
Ökologie kann zum Jungbrunnen der Ökonomie werden, aber es ist eine
gewaltige Herausforderung. Es geht um eine Halbierung der globalen
CO2-Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts, was einer Reduktion in
den »alten« Industriemetropolen in einer Größenordnung von 80 bis 90
Prozent entspricht. Das bedeutet nicht weniger als eine neue
industrielle Revolution. In den vergangenen 150 Jahren nährte sich das
Wachstum der Industriegesellschaft von Kohle, Öl und Gas. Dieses
Entwicklungsmuster ist jetzt an seine ökologische Grenze gestoßen -
nicht durch die physische Erschöpfung dieser Rohstoffe, sondern durch
das Übermaß an Kohlendioxid, das durch ihre Verbrennung freigesetzt
wird. Heute stehen wir vor der Herausforderung, innerhalb weniger
Jahrzehnte den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu
vollziehen, die auf Energieeffizienz, erneuerbaren Energien und
geschlossenen Stoffkreisläufen basiert.
Politische Zielvorgaben und rechtliche Normen sind unverzichtbar, um die
Dynamik des Marktes in eine ökologische Richtung zu lenken. Aber sie
können die Kreativität der Marktwirtschaft nicht ersetzen, in der
Millionen und Abermillionen von Produzenten und Konsumenten
eigenverantwortlich handeln. Unternehmen und Verbraucher müssen selbst
zu Akteuren der ökologischen Innovation werden. Wie realistisch ist
diese Utopie?
Ökokapitalismus – ein Widerspruch in sich? Von Karl Marx stammt der
berühmte Satz: »Der Kapitalismus ruiniert die Springquellen des
Reichtums, auf denen er beruht: den Arbeiter und die Natur.« Das war als
Tendenz scharfsinnig beobachtet. Heute, nach eineinhalb Jahrhunderten
Erfahrung mit dem Kapitalismus, muss man hinzufügen: Der Kapitalismus
ist ein hochgradig lernfähiges, evolutionäres System, das bisher noch
jede Krise in einen Innovationsschub verwandelt hat.
Als erste
historische Antwort auf die zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus
trat im 19. Jahrhundert die Arbeiterbewegung auf den Plan und mit ihr
die Sozialdemokratie. Ihr Projekt war die soziale Zivilisierung des
Kapitalismus. Sie erkämpfte ein weitverzweigtes Netz von Institutionen:
Gewerkschaften, Genossenschaften, Sozialversicherungen, berufliche
Bildung, Arbeitsgesetzgebung, Tarifverträge, Mitbestimmung und vieles
mehr. Im Ergebnis stiegen Lebenserwartung und Lebensstandard der
arbeitenden Klassen; der Anstieg der Massenkaufkraft führte zur modernen
Konsumgesellschaft. Zwar ist die soziale Einhegung des Kapitalismus ein
stets umkämpfter, von Rückschlägen bedrohter Prozess, aber sie ist auch
im Zeitalter der Globalisierung nicht außer Kraft gesetzt. Denn auch in
den neuen Industrieländern steigen Bildungsniveau und Massenkaufkraft,
wächst die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit und die Bedeutung des
»Humankapitals« für die Wirtschaft.
Ob die
Analogie zur sozialen Marktwirtschaft trägt, muss sich noch erweisen.
Aber wer genau hinsieht, findet viele Anzeichen dafür, dass die
ökologische Modernisierung des Kapitalismus bereits begonnen hat. Wenn
es stimmt, dass im Wettlauf mit der Klimakatastrophe nur eine kurze
historische Frist bleibt, gibt es dazu auch keine ernsthafte
Alternative.
Das Neue
wächst im Schoß des Alten: Es geht hier nicht um Spekulationen, sondern
um einen geschärften Blick für neue Entwicklungen und Akteure, die zur
ökologischen Transformation der Wirtschaft beitragen:
So haben
Zahl und politische Reichweite zivilgesellschaftlicher Organisationen
enorm zugenommen. Während im Jahr 1992 bei der Weltkonferenz der
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Rio de Janeiro noch 1400
Organisationen akkreditiert waren, waren es in Johannesburg im Jahr 2002
bereits 3000. NGOs sind heute international vernetzt und haben Zugang zu
Medien und politischen Instanzen in vielen Ländern. Mit ihrer Fähigkeit
zur Skandalisierung fungieren sie als Wächtersystem gegenüber
transnationalen Unternehmen. Ihre Wirkung auf die Wirtschaft wird von
den NGOs selbst nicht selten unterschätzt. Das »Reputationsrisiko« das
damit verbunden ist, Ziel einer internationalen Kampagne zu werden, ist
vor allem bei Konzernen, die im konsumnahen Bereich tätig sind und einen
Markennamen zu verlieren haben, ein harter ökonomischer Faktor. Ihre
Umsätze und ihr Börsenwert reagieren empfindlich auf Rufschädigungen.
Internationale Kampagnen wie »Nestlé tötet Babys«, die Brent-Spar-Aktion
von Greenpeace oder die Kampagne gegen ausbeuterische Zustände in den
Produktionsstätten von Nike haben Unternehmensleitungen zur Veränderung
ihrer Geschäftspolitik gezwungen.
Umweltrisiken, insbesondere die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen,
werden zunehmend zum ökonomischen Risiko. Zudem erzwingen langfristig
steigende Preise für Rohstoffe und Energie ein effektiveres
Ressourcenmanagement. Die Verknappung und Verteuerung von
CO2-Emissionsrechten wird diesen Prozess noch beschleunigen.
In
weltweit vernetzten Zuliefersystemen kann ein Produktionsausfall eine
Kettenreaktion auslösen, die spürbar auf Umsatz und Ertrag durchschlägt.
Deshalb sind »Risk Management«-Systeme für Gefahrstoffe und gefährliche
Produktionsprozesse inzwischen internationaler Standard – auch um
Haftungsrisiken beherrschbar zu halten.
Der
internationale Aufstieg der grünen Bewegung hat zur
Institutionalisierung des Umweltschutzes geführt. Umweltministerien,
Grenzwerte, Umweltabgaben, Ökosteuern, Förderprogramme wie das
Erneuerbare-Energien-Gesetz, Umweltverträglichkeitsprüfungen und
Zertifizierungen haben wiederum dazu beigetragen, dass Umwelttechniken,
alternative Energien und ökologische Dienstleistungen zu einem
Wachstumsmarkt wurden, der Kapital anzieht und Arbeitsplätze schafft.
Die
aktuelle Diskussion über den Klimawandel signalisiert selbst
hartleibigen Unternehmen, dass sie nicht mehr auf eine fortgesetzte
Ignoranz gegenüber globalen Umweltproblemen setzen können. Wer die
ökologische Trendwende verpasst, wird an den Märkten bestraft - die
Krise der US-Autoindustrie demonstriert dies gerade. Das setzt einen
Innovationswettlauf für mehr Ressourceneffizienz und umweltverträgliche
Produkte in Gang, der nach und nach alle Branchen erfasst.
Auch die
handelnden Personen verändern sich. Eine neue Generation von Managern
erlebt in ihrer Ausbildung, dass »Corporate Social Responsibilty« und
Ökomanagement selbstverständliche Bestandteile ihres Berufsbilds sind.
Heutige Ausnahmeerscheinungen wie der neue US-Finanzminister, der als
Chef von Goldman Sachs zugleich Präsident einer der größten
US-Naturschutzorganisationen war, müssen keine Ausnahmen bleiben.
Vor allem
in den USA, dem Mutterland privaten Wagniskapitals, ist eine grüne Welle
bei Unternehmensbeteiligungen und Gründungsfinanzierungen zu beobachten.
Allein im Sektor alternativer Energien wurden dort im vergangenen Jahr
rund 30 Milliarden Dollar investiert. »Grüne« Investmentfonds boomen.
Eine der
interessantesten neuen Entwicklungen vollzieht sich auf dem Finanzmarkt.
Bereits seit mehr als einem Jahrzehnt sind die großen Rückversicherer zu
Verbündeten im Kampf gegen die Erderwärmung geworden, weil die
Hurrikanschäden astronomische Größenordungen angenommen haben. Andere
ziehen nach: Investoren, die auf die mittel- und langfristige Stabilität
ihres Anlagekapitals angewiesen sind - wie etwa große Pensionsfonds in
den USA –, beziehen zunehmend klimarelevante, ökologische und soziale
Kriterien in ihre Entscheidungen ein. Sie erhöhen damit den Druck auf
Konzerne, sich diesen Fragen zu stellen.
Es ist
ein Anfang, nur reichen diese Veränderungen für sich genommen nicht aus,
um eine ökologische Wende in der nötigen Geschwindigkeit herbeizuführen.
Sie verweisen jedoch auf die Potenziale einer ökologischen
Marktwirtschaft und lenken den Blick auf neue Allianzen von Akteuren,
die sich bisher eher als Gegner denn als Partner kennengelernt haben. So
wird in den USA inzwischen die Bush-Regierung von Koalitionen aus
Umweltverbänden und klimabewussten Unternehmen unter Druck gesetzt,
verbindliche Ziele und Maßnahmen zur CO2-Reduktion anzugehen. Nicht die
Politik geht dort der Wirtschaft voran, sondern umgekehrt.
Es gibt
bereits viele solcher Allianzen, auch »Multistakeholder«-Initiativen
genannt. Als »liberalization’s unexpected consequences« bezeichnet ein
Artikel in der Harvard Business Review die zunehmende Kooperation von
internationalen Unternehmen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen.
So arbeiten 90 Unternehmen mit einem Gesamtjahresumsatz von 400
Milliarden Dollar zusammen mit Transparency International in der
Antikorruptionsinitiative PACI. Die International Union for the
Conservation of Nature schließt Verträge mit Unternehmen über
Konsultationen bei Investitionsprojekten und zur Weiterbildung von
Mitarbeitern. ABN Amro, die größte niederländische Bank, entwickelt
Mikrofinanzmodelle in Lateinamerika zusammen mit der Organisation Accion
International. BP kooperiert mit indischen NGOs bei Entwicklung und
Vertrieb eines hocheffizienten Kleinofens für den privaten Gebrauch in
ländlichen Gebieten, der die berüchtigten Atemwegserkrankungen beim
herkömmlichen Verfeuern von Biomasse verhindert. Die Liste lässt sich
fortsetzen.
Weitreichender noch als die Einzelkooperation von Unternehmen und NGOs
sind die Initiativen, die auf eine kooperative Regulierung von Märkten
zielen. Auch ihre Zahl wächst. Sie setzen da an, wo staatliche
Regulierung wegen fehlender internationaler Übereinstimmung nicht oder
noch nicht möglich ist. Und sie markieren eine neue Qualität der
Zusammenarbeit von Unternehmen, Zivilgesellschaft und unterstützenden
Regierungen: In der Extractive Industrie Transparency Initiative
arbeiten marktführende Öl- und Gaskonzerne und Regierungen mit
zivilgesellschaftlichen Organisationen, Investoren und
Entwicklungsbanken gemeinsam an dem Ziel, die Geldflüsse aus Öl- und
Gasprojekten in ressourcenreichen Ländern transparent zu gestalten. Bei
der Ethical Trading Initiative und Fair Labor Association geht es den
teilnehmenden Unternehmen, NGOs und Gewerkschaften um die Einhaltung der
Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Der
Kimberley-Prozess in der Diamantenindustrie ist in jüngster Zeit einem
breiteren Publikum durch das Schlagwort »Blutdiamanten« bekannt
geworden: Das inzwischen eingeführte Zertifizierungssystem für
Rohdiamanten hat zu erheblichen Fortschritten geführt. Ein weiteres
Beispiel ist der Forest Stewardship Council (FSC), der Holz und
Holzprodukte aus nachhaltiger Bewirtschaftung zertifiziert. Er erfasst
inzwischen fast zehn Prozent der kommerziellen Waldflächen. Großabnehmer
wie der US-Baumarkt Home Depot und der weltgrößte Verlag, Random House,
gehören zu den Kunden, die mit dem Label arbeiten.
Der
Finanzmarkt als Seismograf: Für jeden international tätigen Konzern ist
die Bewertung durch institutionelle Investoren von zentraler Bedeutung.
Etwa seit dem Jahr 2000 ist eine zunehmende Relevanz von
Nachhaltigkeitsindikatoren für das Rating von Unternehmen zu beobachten.
Pensionsfonds sprechen schon von einer fiduciary duty
(Treuhänderpflicht), solche Kriterien in die Geldanlage einzubeziehen,
um das Risiko für ihre Anleger zu reduzieren. Damit ernst gemacht hat im
vergangenen Jahr der weltgrößte Pensionfonds TIAA-CREF: Er verkaufte
seine Coca-Cola-Anteile (Marktwert 52,4 Millionen Dollar), nachdem
bekannt wurde, dass der Konzern gegen Kinderschutz, ILO- und
Umweltstandards verstoßen hatte.
Der
bislang erfolgreichste Zusammenschluss institutioneller Investoren ist
das Carbon Disclosure Project (CDP), das sich auf klimarelevante Risiken
und Daten konzentriert. Seit seiner Gründung im Jahr 2000 ist das CDP
von 25 auf 211 Investoren gewachsen und hat ein Anlagevolumen von
sagenhaften 31 Billionen Dollar. Das CDP befragt regelmäßig die 500
weltweit größten börsengelisteten Unternehmen zu Treibhausgas-Emissionen
und Emissionsminderungsprogrammen. Die Tätigkeit des CDP hat den Druck
auf Börsenaufsicht, Unternehmensleitungen und Wirtschaftsprüfer
verstärkt, transparente Berichtsstandards zu Klimarisiken zu entwickeln.
Was kann,
was muss Politik bewirken? Mit den neuen Dynamiken in der
Unternehmenswelt, dem Auftreten neuer Akteure und Allianzen wird
staatliche Regulierung nicht überflüssig. Originäre Aufgabe der Politik
bleibt es, den Märkten ökologische Zielvorgaben und einen ökologischen
Ordnungsrahmen zu geben. Im Kern geht es um Erwartungssicherheit
hinsichtlich umweltpolitischer Ziele, an denen Unternehmen ihre
Investitionen ausrichten müssen, sowie um Kostenwahrheit durch die
Einbeziehung ökologischer Folgekosten in die Preise für Energie,
Produkte und Dienstleistungen. »Die Preise müssen die ökologische
Wahrheit sagen«, das bleibt das A und O einer ökologischen
Marktwirtschaft. Die wichtigsten Hebel der Politik, um diese
Transformation zu beschleunigen, sind deshalb:
-
Umstellung des
Steuer- und Abgabensystems von der Besteuerung der Arbeit auf
Ressourcensteuern
-
Weiterentwicklung und Effektivierung des Emissionshandelssystems,
zunächst auf europäischer, im nächsten Schritt auf globaler Ebene
-
Verbindliche Zielkorridore für Energieeffizienz und erneuerbare
Energien, flankiert durch Förderprogramme für Forschung und
Entwicklung
-
Stärkung von Verbraucherrechten (Informationspflicht hinsichtlich
der Ökobilanz von Produkten und Materialien, erweitertes
Haftungsrecht bei Gesundheitsrisiken)
-
Verankerung internationaler Standards mit Blick auf Transparenz,
soziale Rechte und Umweltschutz in Freihandels- und
Investitionsabkommen
-
Verstärkter Transfer umweltfreundlicher Techniken in
Entwicklungsländer, um deren Wachstum in ökologische Bahnen zu
lenken.
Machen
wir uns keine Illusionen: Allein der absehbare Zuwachs der
Weltbevölkerung auf rund neun Milliarden Menschen wird das globale
Wirtschaftswachstum weiter ankurbeln. Die entscheidende Herausforderung
besteht deshalb darin, ein wachsendes Volumen an Gütern und
Dienstleistungen mit einer drastischen Minderung des Naturverbrauchs zu
kombinieren. Ohne konsequente staatliche und globale Ordnungspolitik
wird das nicht gelingen. Aber die ökologische Transformation der
Marktwirtschaft kann nicht nur »von oben« erfolgen. Sie muss durch eine
»ökologische Dynamik von unten« getragen werden, die Ökobauern und
Hightech-Unternehmen, Erfinder und Investoren, Umweltverbände und
aufgeklärte Konsumenten umfasst. Diese Dynamik zu beschleunigen, darauf
muss ökologische Politik abzielen.
Ralf Fücks ist Vorstand der
Heinrich-Böll-Stiftung, die den GRÜNEN nahesteht. Lange gehörte Fücks zu
den prägenden Männern der Partei. Ende der achtziger Jahre war er
Sprecher des Bundesvorstands und später Senator für Stadtentwicklung und
Umwelt in Bremen.
Kristina Steenbock berät Nichtregierungsorganisationen und ist
Sprecherin des Aufsichtsrats in der Heinrich-Böll-Stiftung. Ihre
Karriere begann bei Greenpeace, bevor sie Chefin der Deutschen
Energie-Agentur war. Diese fördert Erneuerbare Energien und
Energieeffizienz.
Die
Zeit vom 05.07.2007

Der Mythos vom Abstieg
Die Exporte steigen, neue Jobs entstehen. Trotzdem wächst die deutsche Wirtschaft nicht. Das hat wenig mit dem Standort D zu tun und viel mit der Wiedervereinigung und dem Euro.
Von R. von Heusinger und W. Uchatius
Die in Deutschland derzeit meisterzählte Geschichte ist ein großes Epos von Aufstieg und Niedergang. Aber sie läuft nicht im Kino, sondern bei Sabine Christiansen. Diese Geschichte handelt von einem Superstar, gegen den sich David Beckham oder Brad Pitt wie Winzlinge ausnehmen. Sie beschreibt geheimnisvolle Viren, die dem Helden die Lebenskraft rauben. Aber sie kommt nicht als Fantasy-Roman daher, sondern als Sachbuch. Denn es geht um die traurige Wirklichkeit. Illustration: Beck für DIE ZEIT
Die Geschichte erzählt von Deutschland. Einst war es eines der reichsten Länder der Welt.
Heute ist es der "kranke Mann Europas". Meint das Münchner ifo-Institut. Schreibt der britische Economist. Behauptet das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Verkünden Verbandsfunktionäre, Ökonomen und Politiker in Talkshows und Zeitungen.
Sie nennen auch die Krankheitserreger: die gesunkene Wettbewerbsfähigkeit. Die ausufernden Staats- und Sozialausgaben. Den inflexiblen Arbeitsmarkt. "Um diese vermeintlichen Probleme dreht sich seit Jahren fast die gesamte ökonomische Debatte", sagt Ullrich Heilemann, Wirtschaftsprofessor an der Uni Leipzig.
Aber entsprechen sie auch der ökonomischen Realität? Kann Deutschland tatsächlich mit dem Rest der Welt nicht länger mithalten?
Tatsache ist: Die deutsche Wirtschaft ist in den vergangenen zehn Jahren schwächer gewachsen als irgendeine andere in der Europäischen Union. Inzwischen liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt. So weit stimmt die Geschichte also. Die Frage ist nur, was die wahren Gründe für die Wachstumsschwäche sind.
Der Standort
Grundig, Voigtländer, Seidensticker. Fernseher aus Nürnberg, Kameras aus Braunschweig, Hemden aus Bielefeld. Die fünfziger Jahre waren noch Zeiten. Damals kostete ein Fabrikarbeiter nur ein paar Mark in der Stunde. Damals belieferten deutsche Unternehmen die halbe Welt.
Dann kamen die Japaner. Die Koreaner. Später die Chinesen. Und natürlich die Polen und Tschechen. Heute liegen die Arbeitskosten in der westdeutschen Industrie bei 26 Euro pro Stunde, in Osteuropa bei 5 Euro, in Ostasien noch niedriger. Keine Überraschung also, wenn hiesige Unternehmen auf den Weltmärkten das Nachsehen haben.
Oder doch eine Überraschung
Denn sie haben gar nicht das Nachsehen. Im Gegenteil. "Deutschland dominiert alle anderen", sagt Andreas Cors vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Tatsächlich sind in keinem großen Industrieland die Exporte in den vergangenen Jahren so stark gewachsen (siehe Grafik rechts).
Bei genauerem Hinsehen gehören die deutschen Arbeitskosten zwar zu den höchsten der Welt, aber seit 1995 stiegen die Löhne nach Angaben der OECD kaum – im Gegensatz zu den anderen Industrieländern. Was stieg, war die Produktivität deutscher Unternehmen. Die Innovationsoffensive, die der Kanzler ankündigte, ist in vielen Firmen längst Realität. "Wir sind technologisch weltweit führend", sagt Olaf Wortmann vom Maschinenbauverband VDMA. Infolgedessen haben sich die Lohnstückkosten weit günstiger entwickelt als in fast allen Konkurrenzländern. "Die Wettbewerbsfähigkeit ist in Deutschland kein Problem mehr", sagt Harald Jörg, Volkswirt bei der Dresdner Bank.
Die überraschende Qualität des Standorts D zeigt sich auch an einer zweiten Zahl: den ausländischen Direktinvestitionen. Hiesige Politiker und Funktionäre mögen das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft verloren haben, doch amerikanische und asiatische Konzernchefs denken anders. Seit 1998 verzeichnen die Statistiker einen kräftigen Zustrom ausländischen Kapitals nach Deutschland. Zuletzt konnte außer Frankreich kein Industrieland so viele Investitionen aus dem Rest der Welt anziehen.
Der Staat
Sechs Monate lang gehen sie zur Arbeit und bekommen kein Geld dafür. Sie sitzen im Büro, sie schuften in der Fabrik, aber das Gehalt kassiert der Fiskus. So ergeht es den Bundesbürgern Jahr für Jahr, jedenfalls denen, die einen Job haben. Der Bund der Steuerzahler hat es ausgerechnet: Die erste Jahreshälfte arbeiten die Deutschen quasi nur für den Staat. Für die Steuern und für die Sozialabgaben, für die Arbeitslosen-, die Renten- und die Krankenversicherung. Womöglich ist die Wirtschaftsleistung in Deutschland schwächer als anderswo, weil sich Leistung nicht lohnt.
Ein Blick auf die Fakten zeigt: Sie lohnt sich mehr als in den meisten europäischen Ländern. Bei der Steuer- und Abgabenquote (dem Verhältnis von Steuern und Sozialabgaben zur Wirtschaftsleistung) rangiert die Bundesrepublik im Mittelfeld. In wachstumsstarken Ländern wie Finnland, Schweden oder Frankreich greift der Staat seinen Bürgern allerdings weit tiefer in die Tasche (siehe Grafik rechts). Das erinnert an früher. "Noch in den sechziger Jahren lag die deutsche Sozialleistungsquote, und dann auch die Steuer- und Abgabenquote, europaweit mit an der Spitze", sagt Stephan Leibfried, Leiter des Zentrums für Sozialpolitik an der Uni Bremen. Damals war Deutschland Spitzenreiter beim Wachstum.
Seitdem ist der Sozial- und Steuerstaat in den meisten europäischen Ländern weit stärker gewachsen als hierzulande.
In Deutschland dagegen liegt der Anteil des Staatssektors an der Wirtschaftsleistung heute nicht höher als 1975. Im Westen ist er sogar leicht gesunken. Allerdings nicht auf das Niveau von Japan, mit seinem im internationalen Vergleich kleinen Staatssektor. "Trotzdem kamen die Japaner zehn Jahre lang nicht aus der Krise", sagt Peter Bofinger, Mitglied des Wirtschafts-Sachverständigenrats. Und fügt an: "Ein Zusammenhang zwischen Staatsquote und Wachstumsraten ist äußerst zweifelhaft."
Das zeigt auch folgende Überlegung: Eine Privatisierung der deutschen Sozialversicherungen ließe den Staatssektor schlagartig schrumpfen. Allerdings ist fraglich, ob den Deutschen dann tatsächlich mehr Geld für den Konsum bliebe. Wollten sie nicht auf jegliche Sicherheit verzichten, müssten sie weiter einen Großteil ihrer Arbeitszeit dafür verwenden, Rente, Krankenversicherung und Rücklagen für eine mögliche Arbeitslosigkeit zu erwirtschaften. Nur müssten sie die dann privat finanzieren. Wie in den USA, wo nach Berechnungen des Sozialforschers Jacob Hacker von der Uni Yale die Sozialausgaben einen ähnlich hohen Teil der Wirtschaftsleistung aufbrauchen wie im Wohlfahrtsstaat Deutschland – nur werden sie in Amerika stärker privat finanziert, bei teils schlechteren Leistungen.
Rechnet man dagegen die Sozialleistungen aus dem Staatssektor heraus, stellt man fest: "Der Staat ist in Deutschland nicht teurer als in den USA", so der Ökonom Ronald Schettkat von der Russell Sage Foundation in New York. Denn für Polizei oder Verwaltungspersonal wenden die Deutschen nicht mehr Geld auf als die Amerikaner.
Der Arbeitsmarkt
Vor 20 Jahren hieß er Josef Stingl, danach Heinrich Franke, dann Bernhard Jagoda, später Florian Gerster und heute Frank-Jürgen Weise. Die Bundesanstalt für Arbeit wurde in Bundesagentur für Arbeit umbenannt, aber die unangenehmste Aufgabe ihres Präsidenten ist geblieben: Monatlich muss er die Arbeitslosenzahl bekannt geben. Sie steigt immer weiter.
Was weniger bekannt ist: Im Westen der Republik hat seit Mitte der Neunziger auch die Zahl der Arbeitsplätze kräftig zugenommen (siehe Grafik links). Ausgerechnet in jenem Teil Deutschlands, in dem die meisten Beschäftigten unter Kündigungsschutz und Flächentarif fallen, lief die Jobmaschine – erst durch die weltweite Konjunkturkrise geriet sie ins Stocken.
Wie kommt es dann aber, dass die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren stetig stieg, bis auf viereinhalb Millionen?
"Das liegt zum einen an der gestiegenen Erwerbsneigung", sagt Gerhard Bosch, Vizepräsident des Instituts für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. In kaum einem Industrieland strebt ein so hoher Anteil der 25- bis 55-Jährigen auf den Arbeitsmarkt wie in Deutschland. Mit der Folge, dass es trotz Jobwachstums nicht genug Jobs gibt.
Vor allem aber liegt die wachsende Arbeitslosigkeit am Osten. Dort ist die Zahl der Jobs seit 1995 nicht gestiegen, sondern fast jedes Jahr gesunken. Ausgerechnet dort, wo nach Erkenntnis des DIW neun von zehn Unternehmen nicht mehr an den Flächentarif gebunden sind. Ein Grund, weshalb der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow folgert: "Selbst ein völlig liberalisierter Arbeitsmarkt wird die Wirtschaft nicht retten" (Interview: "Unnötig schmerzvoll").
Unter Schock
Wenn der Standort, der Staat und der Arbeitsmarkt als Erklärungen nicht so recht taugen, woran liegt die deutsche Wachstumsschwäche dann? "In der öffentlichen Diskussion wird meist übersehen, dass die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahren mehrere schwere Schocks zu verkraften hatte", sagt Dresdner-Bank-Volkswirt Harald Jörg.
Mindestens drei Schocks lassen sich identifizieren, welche die deutsche Wirtschaft schwer erschütterten, den Rest Europas aber verschonten. Die Wiedervereinigung. Die Einführung des Euro, die nur hierzulande negative Folgen hatte. Und die Bankenkrise.
Die Wiedervereinigung
Zuerst sah es so aus, als mache die Einheit alle reicher. Die Mauer fiel, die Ossis bekamen die D-Mark zum günstigen Kurs, kauften Autos und bauten Häuser. Durch Steueranreize der Regierung künstlich verbilligt, schossen Eigenheime und Bürogebäude aus dem Boden. Die Wirtschaft wuchs bundesweit. 1990 mit fünf, 1991 mit fast sechs Prozent. Solche Raten kennt man heute aus China.
Die Bundesbank fürchtete, das kräftige Wachstum werde die Wirtschaft überfordern. Tatsächlich schnellte die Inflationsrate nach oben. Als Antwort setzte die Bundesbank die Leitzinsen drastisch herauf.
Die Wirkung zeigte sich schnell: Kredite und neue Investitionen wurden teurer, Deutschland rutschte in die Rezession. Wegen der hohen Zinsen stieg auch der Kurs der D-Mark, was deutsche Produkte teurer und deutschen Exporteuren das Leben schwer machte. "Gleichzeitig erhöhte die Regierung im Krisenjahr 92 die Steuern und Sozialabgaben – und erdrosselte damit die Inlandsnachfrage", so der Ökonom Heilemann.
Das Ergebnis ist nun Thema in Talkshows und Zeitungen. Der Osten komme nicht auf die Beine, er ziehe den Westen mit in die Tiefe, warnt eine Kommission um den ehemaligen Hamburger Politiker Klaus von Dohnanyi. In Wahrheit hat die falsche Wirtschaftspolitik des Westens den Osten zum Dauerproblem gemacht. Erst wurde durch den günstigen Umtauschkurs und die Hilfen für den Bau ein Boom erzeugt, dann wurde er schlagartig abgewürgt, wovon sich die gesamtdeutsche Ökonomie bis heute nicht erholt hat. "Die zu restriktive Geld- und Fiskalpolitik hat die Wirtschaft destabilisiert", so der Hamburger Ökonom Jörg Bibow.
Die Folgen sind fatal. Um den Osten vor weiterem Absturz zu bewahren, müssen die alten Länder noch immer jährlich 4,5 Prozent der Wirtschaftsleistung dorthin transferieren. "Das dämpft das Wachstum im Westen", sagt ein hochrangiger Volkswirt der Bundesbank.
Als jedoch mit Beginn des neuen Jahrtausends die Debatte um den "kranken Mann Europas" begann, blieb der Hinweis auf die Wiedervereinigung meist aus.
Dabei hatte schon vor zwei Jahren der Sachverständigenrat berechnet, dass allein die Spätfolgen der so schlecht gestalteten Wiedervereinigung für zwei Drittel der Wachstumsschwäche verantwortlich seien.
Nirgends zeigt sich dies so deutlich wie am Bau. Seit 1995 gehen jedes Jahr weitere Firmen Pleite. "Der Bau belastet die deutsche Wachstumsperformance im internationalen Vergleich erheblich, die übrigen Sektoren dagegen halten mit dem europäischen Tempo recht gut mit", sagt Klaus Borger, Volkswirt bei der bundeseigenen Förderbank KfW. Borger hat für einen besseren Vergleich der tatsächlichen Wachstumsstärke Deutschlands die Bauwirtschaft aus dem BIP herausgerechnet. Und siehe da: Seit drei Jahren wächst Deutschland genauso schnell wie das übrige Euroland (siehe Grafik li nks).
Die Euro-Einführung
Am Anfang der Marktwirtschaft steht der Kredit: etwa für den Kauf von Maschinen, die ein Unternehmer braucht, um zu produzieren. Ohne Kreditwachstum kein Wirtschaftswachstum. In Deutschland aber wachsen die Kredite nicht.
Was das mit dem Euro zu tun hat? Ganz einfach. Die Währungsunion brachte den Deutschen nicht nur neue Münzen und Scheine, sondern auch neue Zinsen, und das hat für die Bundesrepublik eine ungleich größere Bedeutung. Denn die Zinsen sind der Preis, den ein Unternehmer für einen Kredit zu zahlen hat.
Bevor der Euro kam, galt die D-Mark in Europa als Leitwährung. Wer in Franc oder Lire einen Kredit aufnahm, musste Risikoaufschläge in Form höherer Zinsen zahlen. Denn die europäischen Währungen waren in ständiger Gefahr, gegenüber der D-Mark an Wert zu verlieren. Kredite in der deutschen Währung waren deshalb billiger und Investitionen hierzulande günstiger als im restlichen Europa. Heute gibt es in Euroland nur noch eine Währung und einen einheitlichen nominalen Zinssatz – und die deutsche Wirtschaft hat einen Vorteil verloren.
Tatsächlich hat sie jetzt sogar mit dem Nachteil hoher Zinsen zu kämpfen. Zwar ist der Zinssatz nominell überall in Euroland gleich. Bereinigt man ihn jedoch um die Inflationsrate, ergeben sich deutliche Unterschiede. Je niedriger die Inflation, desto höher die realen Zinsen. In Deutschland ist die Inflation so niedrig wie nirgendwo sonst in Euroland – weshalb die Realzinsen stiegen. "Steigende Realzinsen aber bremsen die Investitionstätigkeit der Unternehmen und damit das Wachstum", sagt Stefan Bergheim, Volkswirt bei der Deutschen Bank Research.
Theoretisch könnte die Bundesregierung den Zinsschock durch eine großzügigere Fiskalpolitik mildern. Soll heißen: Sie müsste vom Sparkurs abweichen, bis die Wirtschaft wieder Luft hat. Doch dieser Weg ist ihr verwehrt. "Da ist der widersinnige Stabilitätspakt vor, der eine vernünftige Reaktion der Fiskalpolitik verhindert", moniert Dieter Wermuth, Euroland-Chefvolkswirt der japanischen Großbank UFJ.
Die Kreditklemme
Wenn es einen Ort gibt, an dem der Puls der deutschen Wirtschaft schlägt, dann ist es der Bankensitz Frankfurt. Denn die Banken vergeben die Kredite.
Die Wiedervereinigung, das Ende des Baubooms, die Währungsunion – das hat Spuren in den Bilanzen der Finanzhäuser hinterlassen. Und damit die Schocks noch verstärkt. Fünf der sieben größten Banken haben 2003 zusammen mehr als zehn Milliarden Euro Verlust verzeichnet, weswegen sie mit neuen Krediten vorsichtig sind. Die Folge: Erstmals in der Geschichte der Republik schrumpft das Volumen der an Unternehmen ausgegebenen Darlehen (siehe Grafik rechts). Im restlichen Euroland dagegen wächst es mit rund fünf Prozent.
Vergangene Woche gab erstmals ein deutscher Bankmanager zu, dass diese Situation ein Problem darstelle. "Die Banken geben bei weitem nicht so viele Kredite, wie es für den Mittelstand erforderlich ist", sagte KfW-Chef Hans Reich dem Handelsblatt. Die Auftragsbücher vieler Firmen seien voll, könnten aber wegen fehlender Finanzierung nicht abgearbeitet werden.
Bei einer Umfrage des manager magazins unter 350 Mittelständlern in wirtschaftlichen Schwierigkeiten gaben 40 Prozent an, die Kreditvergabe sei ein Hauptproblem. Der Arbeitsmarkt rangierte weit dahinter, nur 15 Prozent hielten den Flächentarifvertrag für hinderlich.
Der Ausweg
Wenn der Mittelstand tatsächlich das oft zitierte Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist, warum diskutieren Politiker und Ökonomen über Probleme, die Mittelständler als drittrangig einschätzen? Natürlich ist niemand gegen noch mehr Wettbewerbsfähigkeit. Selbstverständlich können Sozialreformen dafür sorgen, dass Renten- und Krankenversicherung effizienter arbeiten und wieder mehr Geld in ihre Kassen fließt. Mit Sicherheit kann ein flexiblerer Arbeitsmarkt Wunder wirken – aber erst, wenn es wieder aufwärts geht.
Damit das jedoch eintritt, müssen die Banken wieder Kredite vergeben, muss die Last der hohen Realzinsen durch eine expansive Fiskalpolitik gemildert werden, muss endlich auch die Nachfrageseite der Wirtschaft ernst genommen werden, wie es Nobelpreisträger Solow fordert. Durch Lohnkürzen und Gürtel-enger-Schnallen ist dies kaum zu erreichen. Im Gegenteil. Die deutsche Vorstellung von einem "Wachstum durch Sparen" könnte am Ende ganz Euroland destabilisieren, fürchtet der Wirtschaftsweise Bofinger.
Die Zeit vom 15.04.2004

"Unnötig schmerzvoll"
Interview
Bundesregierung und Notenbank sollten die notwendigen Reformen flankieren – mit höheren Ausgaben und niedrigeren Zinsen, sagt der amerikanische Wachstumsforscher Robert Solow
DIE ZEIT: Deutsche Ökonomen behaupten oft, das magere Wirtschaftswachstum resultiere aus den Verkrustungen am Arbeitsmarkt. Stimmen Sie zu?
Robert Solow: Nur zum Teil. Es ist zwar richtig, dass der deutsche Arbeitsmarkt überreguliert ist und es deshalb schwerer ist als in anderen Ländern, neue, produktive Firmen zu gründen. Das hemmt das Wachstum. Aber was mich an der deutschen Reformdebatte schon immer gestört hat, ist ihre hundertprozentige Fixierung auf den Arbeitsmarkt als Grund allen Übels.
ZEIT: Konkret werden von hiesigen Experten häufig drei Maßnahmen genannt, um die deutsche Wirtschaft zu retten: eine deutliche Lohnsenkung für alle, mindestens 42 Stunden Arbeit pro Woche und dazu die vollständige Abschaffung des Kündigungsschutzes. Gehen diese Vorschläge in die richtige Richtung?
Solow: Nein. Denn selbst ein völlig liberalisierter Arbeitsmarkt wird die Wirtschaft nicht retten. Genauso wichtig sind Reformen und Deregulierung auf den Produktmärkten – zum Beispiel die Freigabe der Ladenöffnungszeiten, weniger Bürokratie bei der Gründung neuer Firmen oder weniger strenge Auflagen für die Nutzung von Land. Ich lebe nicht in Deutschland, aber was ich über die deutsche Wirtschaft herausgefunden habe, zeigt recht klar, dass in vielen Wirtschaftsbereichen Überregulierung und zu wenig Wettbewerb herrschen.
ZEIT: Sie denken an den Strommarkt, auf dem einige wenige Unternehmen die Preise hochhalten, oder den Meisterzwang in vielen Handwerksberufen?
Solow: Das sind Beispiele. Ich würde immer vorschlagen, den Arbeitsmarkt zu deregulieren, aber in noch stärkerem Maße die Märkte für Güter und Dienstleistungen. Wenn sich dort etwas in Richtung mehr Wettbewerb tut, kommt der Anstoß in der Regel aus Brüssel, nicht aus Berlin. Aber noch wichtiger für mehr Wachstum scheint mir etwas anderes zu sein: eine vernünftige Geld- und Fiskalpolitik.
ZEIT: Das heißt konkret?
Solow: Die Geld- und Fiskalpolitik muss expansiv sein, damit die Menschen mehr Jobs erwarten dürfen und damit sie die Härten der Arbeitsmarktreform bereitwilliger ertragen. Allein über Lohnsenkungen mehr Wachstum zu erwarten ist ein langwieriger und unnötig schmerzvoller Prozess.
ZEIT: Die gegenwärtigen Regeln Eurolands verbieten aber eine expansive Fiskalpolitik. Sie kennen doch den Stabilitäts- und Wachstumspakt?
Solow: Wenn der Stabilitäts- und Wachstumspakt einer vernünftigen Politik im Weg steht, sollte Deutschland all seine Energie aufwenden, um diesen Vertrag loszuwerden. Dieser Pakt ist ein Dinosaurier. Er war in Form der Maastricht-Kriterien vielleicht im Vorfeld der Währungsunion notwendig, jetzt aber ist er viel zu kurzfristig ausgerichtet und schadet mehr, als er nutzt. Unvorstellbar, dass die deutschen Politiker den Arbeitern zurufen: "Ihr allein müsst durch Lohnverzicht die deutsche Wirtschaft retten, weil wir durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt gehindert sind." Das kann nicht gut gehen.
ZEIT: Die Bundesregierung hat die ersten Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht. Die Menschen fürchten weitere Einschnitte, sparen mehr und konsumieren weniger. Das Wirtschaftswachstum springt nicht an.
Solow: Genau deshalb ist die Unterstützung der Reformen durch eine expansive Fiskalpolitik so ungeheuer wichtig.
ZEIT: Auch wenn der Schuldenstand Deutschlands dann über der Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandproduktes liegt, die der Stabilitätspakt vorgibt?
Solow: Die Arbeitsmarktreformen wirken sich negativ auf die Nachfrageseite der Wirtschaft aus, sie reduzieren die Konsumausgaben und die Investitionsausgaben – jeder Volkswirt weiß das. Also muss der Staat den erwarteten Nachfrageausfall kompensieren.
ZEIT: Warum weisen die deutschen Vorzeigeinstitutionen Bundesbank und Sachverständigenrat nie auf diese Zusammenhänge hin?
Solow: Bundesbank und Sachverständigenrat haben schon immer den theoretischen Glauben zu ernst genommen, dass es allein notwendig sei, die Inflation im Griff zu haben – und Produktion und Beschäftigung würden dann von selbst in ein Gleichgewicht kommen. Selbst wenn diese Theorie zutreffen sollte, dann höchstens ganz langfristig. Es gibt keinen guten Grund, so lange zu warten.
ZEIT: Kann man Denken und Handeln von Bundesbank und Sachverständigenrat dogmatisch nennen?
Solow: Dogmatisch ist ein schönes Wort dafür.
Das Gespräch führte Robert von Heusinger Die Zeit vom 15.04.0204

Klare Absage an längere Arbeitszeit
Bremer Experte Spitzley: Verkürzung ist richtiger Weg
Von Norbert Pfeifer
Bremen. Der Arbeitszeitexperte Helmut Spitzley vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen hält nichts von der aktuellen Debatte über längere Arbeitszeiten. Vielmehr müsse es darum gehen, das vorhandene Arbeitsvolumen auf mehr Schultern zu verteilen.
Spitzley will erst einmal falsche Vorstellungen aus der Welt schaffen. Deutschland sei alles andere als ein Freizeitweltmeister. Ein Vollzeitbeschäftigter arbeite hierzulande im Schnitt inklusive Überstunden 39,9 Stunden die Woche (EU-weit: 40 Stunden). An diesem Bild ändere sich auch nichts grundlegend, wenn man Urlaubs- und Feiertage berücksichtige: Die Jahresarbeitszeit von 1760 Stunden könne sich sehen lassen, in vielen EU-Staaten werde kürzer gearbeitet als in Deutschland.
Überhaupt sage die nackte Zahl der Arbeitszeit wenig aus. Entscheidend sei, was in einer Arbeitsstunde tatsächlich geleistet werde. In der Disziplin Produktivität schlage Deutschland Großbritannien - das Land mit der längsten Arbeitszeit in der EU - um Längen. "Wie wettbewerbsfähig die deutsche Wirtschaft daher ist, wird auch dadurch belegt, dass Deutschland weltweit am meisten exportiert."
Wer heute die Arbeitszeit weiter ausdehnen wolle, erreiche genau das Gegenteil des Gewünschten: nicht sinkende, sondern höhere Arbeitslosigkeit. Spitzleys zentrales Argument dabei: Nicht die Arbeitszeit, sondern die Nachfrage sei das Problem. Er verweist auf die aktuellen Beispiele Opel und Karstadt: Den Unternehmen mache in erster Linie die Kaufzurückhaltung zu schaffen.
Der Bremer Professor führt auch gesundheitliche und gesellschaftspolitische Argumente ins Feld: Menschen mit langen Arbeitszeiten litten überdurchschnittlich oft an Rückenschmerzen, Nervosität, Schlafstörungen und psychischer Erschöpfung. Außerdem bliebe bei einer weiteren Arbeitszeitverlängerung noch weniger Zeit für die Familie. "Regelarbeitszeiten von 40 und mehr Wochenstunden würden daher viele Frauen zurück in die Hausfrauenehe der 50er Jahre treiben." Oder sie zwingen, ohne Kinder zu leben, fügt Spitzley an.
Der Bremer wirbt für sein Modell der "Vollbeschäftigung neuen Typs". Die vorhandene Arbeit müsse auf alle Schultern verteilt werden. Statt im Schnitt 40 Stunden zu arbeiten, könne sich die Gesellschaft etwa auf eine "kurze Vollzeit" von 32 Stunden verständigen. Mit einem Bonus-Malus-System könne dies unterstützt werden: Wer mehr maloche, werde steuerlich stärker belastet, wer weniger arbeite, entsprechend entlastet. Eines ist für Spitzley dabei auch klar: Im Zweifel muss die Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erfolgen. Besser 30 Stunden mit weniger Geld als joblos und kein Arbeitseinkommen. Umfragen hätten ergeben, dass jeder Zweite weniger arbeiten würde, wenn er seine Arbeitszeit frei wählen könnte.
Überhaupt ist für ihn die Debatte um die schwächelnde Wirtschaft nur schwer nachvollziehbar. Auch bei einem Wachstum zwischen ein und zwei Prozent, wie es für dieses Jahr erwartet wird, steige der wirtschaftliche Reichtum. Werde nächstes Jahr auch "nur" ein Prozent mehr erreicht, würde wieder ein neuer Rekord aufgestellt. "Und wir tun so, als ob wir in einer armen Gesellschaft leben würden." Spannend für den Wissenschaftler ist vielmehr die Frage, wie man das zusätzliche Plus verteilt. Spitzleys Ideal: Bei einem Wachstum von zwei Prozent könne die Hälfte davon für die durchschnittliche Steigerung der Einkommen verwendet werden, die andere Hälfte für eine Arbeitszeitabsenkung. "Denn es gibt zwei Währungen für Wohlstand: Geld und Zeit."
Weser Kurier vom 09.11.2004
»Wo bleibt Euer Aufschrei?«
In der globalen Wirtschaft herrscht die pure Anarchie. Die Gier zerfrisst den Herrschern ihre Gehirne. Ein Wutanfall
Von Heiner Geissler
»Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.« Karl Marx/Friedrich Engels, 1848, »Manifest der Kommunistischen Partei«
146 Jahre später warten in Deutschland – als ob es nie eine Zivilisierung des Klassenkampfes gegeben hätte – Zehntausende von Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.
Nicht das Gespenst des Kommunismus, vielmehr die Angst geht um in Europa – gepaart mit Wut, Abscheu und tiefem Misstrauen gegenüber den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die ähnlich den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus in die Industriegesellschaft offensichtlich unfähig sind, die unausweichliche Globalisierung der Ökonomie human zu gestalten.
Unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes reden sie vielmehr einer anarchischen Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht, das Wort. 100 Millionen von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen in Europa und den USA und 3 Milliarden Arme, die zusammen ein geringeres Einkommen haben als die 400 reichsten Familien der Erde, klagen an: die Adepten einer Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt jenseits von Angebot und Nachfrage, Spekulanten begünstigt und langfristige Investoren behindert. Sie klagen an: die Staatsmänner der westlichen Welt, die sich von den multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander ausspielen lassen. Sie klagen an: ein Meinungskartell von Ökonomieprofessoren und Publizisten, die meinen, die menschliche Gesellschaft müsse funktionieren wie DaimlerChrysler, und die sich beharrlich weigern, anzuerkennen, dass der Markt geordnet werden muss, auch global Regeln einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit und der Produkte zerstört.
Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrisst. Die Menschen leben und arbeiten in einer globalisierten Ökonomie, die eine Welt der Anarchie ist – ohne Regeln, ohne Gesetze, ohne soziale Übereinkünfte, eine Welt, in der Unternehmen, Großbanken und der ganze »private Sektor« unreguliert agieren können. Die globalisierte Ökonomie ist auch eine Welt, in der Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden arbeiten und Terroristen Teilhaber an einer gigantischen Finanzindustrie sind und so ihre mörderischen Anschläge finanzieren.
Wo bleibt der Aufschrei der SPD, der CDU, der Kirchen gegen ein Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleinere Firmen wie Kadus im Südschwarzwald mit Inventar und Menschen aufkaufen, als wären es Sklavenschiffe aus dem 18.Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrendite und des Börsenwertes dichtmachen und damit die wirtschaftliche Existenz von Tausenden mitsamt ihren Familien vernichten? Den Menschen zeigt sich die hässliche Fratze eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus, wenn der Börsenwert und die Managergehälter – an den Aktienkurs gekoppelt – umso höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Der gerechte, aber hilflose Zorn der Lohnempfänger richtet sich gegen die schamlose Bereicherung von Managern, deren »Verdienst«, wie sogar die FAZ schreibt, darin besteht, dass sie durch schwere Fehler Milliarden von Anlagevermögen vernichtet und Arbeitsplätze zerstört haben.
Das Triumphgeheul des Bundesverbandes der Deutschen Industrie über die Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten noch in den Ohren, müssen marginalisierte und von der Marginalisierung bedrohte Menschen sich vom politischen und ökonomischen Establishment als Neonazis und Kommunisten beschimpfen lassen, wenn sie radikale Parteien wählen, weil es keine Opposition mehr gibt und sie sich mit einer Großen Koalition konfrontiert sehen, die offensichtlich die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt, in dem so tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, dass das Blut nur so spritzt, anstatt durch Bürgerversicherung und Steuerfinanzierung die Löhne endlich von den Lohnnebenkosten zu befreien. Nur Dummköpfe und Besserwisser können den Menschen weismachen wollen, man könne auf die Dauer Solidarität und Partnerschaft in einer Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Warum wird tabuisiert und totgeschwiegen, dass es eine Alternative gibt zum jetzigen Wirtschaftssystem: eine internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb?
Ideen verändern die Welt.
Auch in einer globalen Wirtschaft sind Produktion und Service ohne Menschen nicht möglich. Neue Produktionsfaktoren wie Kreativität und Wissen sind hinzugekommen. Aber das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Kapital ist geblieben. Die Kommunisten wollten den Konflikt lösen, indem sie das Kapital eliminierten und die Kapitaleigner liquidierten. Bekanntlich sind sie daran gescheitert. Heute eliminiert das Kapital die Arbeit. Der Kapitalismus liegt derzeit genauso falsch wie einst der Kommunismus.
Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.
Die Zeit 47/2004
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