»Erstaunliche Rigidität des Urteils«
Neoliberale Dogmen erhalten verfassungsrechtliche Weihen. Ein Gespräch mit
Peter Grottian
Peter Grottian ist Professor für Politologie an der Freien Universität Berlin
und Sprecher der Initiative Berliner Bankenskandal
Das Bundesverfassungsgericht hat Finanzhilfen des Bundes für das mit 60
Milliarden Euro verschuldete Berlin abgelehnt. Überrascht Sie das?
In zweierlei Hinsicht. Eigentlich war ich fest davon
ausgegangen, daß die extreme Haushaltsnotlage der Stadt zumindest symbolisch
anerkannt werden und sich daran ein langgestreckter Verhandlungsprozeß zwischen
Bund und Berlin anschließen würde. Mehr noch erstaunt mich aber die Rigidität
des Richterspruchs, weil er dem Land ein knallhartes Sparprogramm auf der
Ausgabenseite diktiert, ohne die Einnahmeseite auch nur zu berücksichtigen.
Welches Signal geht davon aus?
Mit der Entscheidung wird das neoliberale Dogma, staatliche
Aufgaben auf ein Minimum zu reduzieren, praktisch zum Regierungsauftrag erklärt
– ganz egal, mit welchen sozialen Zumutungen und Verwerfungen dies einhergeht.
Das Gericht hat ein bedingungsloses Autonomieprinzip der Länder dekretiert.
Dieses besagt: Wenn ein Land, aus welchen Gründen auch immer, in eine
Haushaltsnotlage gerät, muß es sich gefälligst selbst aus dem Schlammassel
ziehen. Damit sind auch die beiden seinerzeit zugunsten Bremens und des
Saarlands getroffenen Verfassungsgerichtsurteile faktisch revidiert.
Die Karlsruher Richter sehen in Berlin noch längst nicht
alle Einsparpotentiale ausgeschöpft, speziell in den Bereichen Kultur,
Hochschulen und Wissenschaft. Was läßt dies für die Zukunft fürchten?
Das hängt von der Reaktion der Regierenden ab: Der
SPD-PDS-Senat kann sich dafür entscheiden, das neoliberale Diktat aus Karlsruhe
auf Teufel komm raus durchzuziehen, so wie es Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD)
ohnehin immer vorschwebte. Oder die Verantwortlichen versuchen, eine breite und
vernünftige Debatte über Lösungen anzuregen, die für die Regierenden bis dato
nicht in Frage gekommen sind.
Woran denken Sie dabei?
Wenn Karlsruhe den Ländern schon ein Höchstmaß an
Haushaltsautonomie abverlangt, dann müßte dies auch für die Einnahmenseite
gelten. Dabei denke ich beispielsweise an eine Notlagensteuer, mit welcher
Spitzenverdiener und Unternehmer zur Finanzierung des Berliner Gemeinwesens
herangezogen werden könnten. Ein weiterer Vorschlag wäre ein Moratorium für den
Schuldendienst.
Was könnte das Urteil für die Berliner Linkspartei im Falle einer
fortgesetzten Regierungsbeteiligung bedeuten?
Auf das Verhalten der Ex-PDS darf man gespannt sein. Ich gehe
davon aus: Wenn sich die Regierung den Karlsruher Vorgaben bedingungslos beugt,
wenn sie alle öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften verscherbelt, wenn sie
Hartz-IV-Empfänger mit neuen Demütigungen traktiert, Studiengebühren einführt
und die Bildungs-, Hochschul- und Kulturausgaben weiter kürzt – dann wird die
Linkspartei bei den nächsten Wahlen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.
Interview: Ralf Wurzbacher
junge Welt vom 20.10.2006
Bundesverfassungsgericht verwirft Finanzklage Berlins - Schallende Ohrfeige
Kommentar
Kräftiger hätte die höchstrichterliche Ohrfeige für die Berliner Politiker
nicht ausfallen können. Die Klage um mehr Geld wurde Bürgermeister Wowereit und
seinen Freunden nur so um die Ohren gehauen. Und das Klatschen dringt laut bis
nach Bremen und bis ins Saarland. Die Botschaft an die politisch
Verantwortlichen ist klar: Regelt euren Kram selbst !
Die Richter haben das leidige Thema der Länderfinanzen und der
Länderneuordnung dorthin zurückgegeben, wo es hingehört, in die Politik. Die
Abfuhr für das Land Berlin mindert auch die Chancen des Landes Bremen auf
weitere Finanz-Spritzen des Bundes.
Die Richter haben Hilfen nur als letztes Mittel, als Ultima Ratio,
zugelassen. Zuvor müssten alle Sparmöglichkeiten ausgeschöpft sein. Und prompt
verlautet schon aus der Bundesregierung, dass dies im Falle Bremens und des
Saarlandes noch nicht geschehen sei. Das heißt, Bremen wird dem Kurs folgen
müssen, den Berlins Bürgermeister Wowereit nun vorgegeben hat: Sparen auf Deubel
komm raus!
Die Karlsruher Juristen sind unerbittlich. Sie fordern, alles bis zum letzten
Cent auszureizen. Das reicht vom Verscherbeln des Familiensilbers bis zur
Erhöhung von Gebühren, also etwa auch der Kindergarten-Gebühren.
Hier können sich Politiker nicht mehr beliebt machen. Wenn sie die Vorgabe
ehrlich vollziehen, werden sie ihr Image und ihre Akzeptanz bei der Wählerschaft
schädigen. Es ist vorauszusehen, dass sie das nicht tun werden. Deshalb werden
die "armen" Länder weiter in die Schuldenfalle schlittern, immer nach dem
frischen Motto: " Ein Staat kann nicht pleite gehen".
Auch der Verweis Bremens auf die vom Bundesverfassungsgericht in seinem
früheren Spruch anerkannte Bedürftigkeit des Landes wird nichts nützen.
Ausdrücklich weist Karlsruhe jetzt auf die zeitliche Begrenztheit der damals
zuerkannten Hilfen hin. Mit anderen Worten: Das war einmalig. Also ist für
Bremen guter Rat teuer.
Neben der Forderung, den Gürtel bis zum letzten Loch zu schnallen, haben die
Richter den Politikern auch noch empfohlen, sich weiter Gedanken um den
Föderalismus zu machen. Mit anderen Worten, sie sollen überlegen, ob die Länder
eigentlich alle so noch zu halten sind.
Objektiv ist das bei der jetzigen Gesetzeslage in der Abgaben- und
Steuerfrage nicht der Fall. Die Finanzbeziehungen der Länder und des Bundes
müssen neu geregelt werden. Das heißt nicht zwingend, dass die Existenz Bremens
in Frage gestellt ist. Die Diskussion aber wird sich wieder beleben. Und nach
diesem Urteil bleibt kein Thema tabu.
Es gab Zeiten, in denen in der gesellschaftlichen Diskussion beklagt worden
ist, dass Karlsruhe und nicht die Politik die Weichen stelle. Nun hat sich das
Verfassungsgericht nicht für zuständig erklärt und damit kurioserweise doch
wieder Politik gemacht.
Weser Kurier vom 20.10.2006
Die armen Schlucker sehen sich auf ihrem Weg bestätigt
Alle Regierungschefs der Bundesländer loben das Urteil
Peter Mlodoch
Immer, wenn eine der gepanzerten Limousinen vor dem
Luxushotel in Bad Pyrmont vorfährt, brandet bei den 100 zumeist älteren und mit
Kameras bewaffneten Zaungästen freundlicher Applaus auf. Die Parade der
Länderfürsten war gestern bei herrlichem Herbstwetter eine willkommene
Abwechslung im Kuralltag. Beifall gibt es aber auch von den beklatschten Herren
selbst. In Abwesenheit von Klaus Wowereit, der erst am späten Nachmittag zur
Jahresministerpräsidentenkonferenz stoßen soll, loben ausnahmslos alle
Regierungschefs das Urteil. Sogar die Arme-Schlucker-Länder Bremen und Saarland
gewinnen dem Karlsruher Spruch nur positive Seiten ab. "Die Entscheidung ist
eine Aufforderung, unseren Klageweg weiter zu verfolgen", meint Saarlands
Ministerpräsident Peter Müller (CDU). Auch Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen
(SPD) denkt nicht daran, die Klage auf neue Finanzspritzen des Bundes
zurückzuziehen. Einig sind sich alle Ministerpräsidenten, dass sie ihre
Finanzbeziehungen auf neue Beine stellen müssen. "Das Urteil ist ein deutlicher
Fingerzweig für die Föderalismusreform II", sagt Bayerns Regierungschef Edmund
Stoiber (CSU). "Wir müssen jetzt wirklich was tun", meint Hessens
Ministerpräsident Roland Koch (CDU). "Es gibt eine Menge von Dingen zu regeln,
die in der Verantwortung der Länder stehen." Welche das genau sind, da hört die
große Übereinstimmung allerdings auf. Niedersachsens Ministerpräsident Christian
Wulff (CDU) bekennt sich zum Länderfinanzausgleich, schränkt aber gleich wieder
ein, dass die Solidarität nicht grenzenlos sei. "Es kann nicht sein, dass ein
Land, das sich mehr leistet als andere, Geld von diesen anderen bekommt." Wulff
und Stoiber sprechen sich für einen nationalen Stabilitätspakt aus. Parlamente
dürften neue Schulden nur noch mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschließen, fordert
der Niedersachse, sein bayrischer Amtskollege bringt Schuldenverbote, Sanktionen
bei Verstößen und ein Frühwarnsystem ähnlich wie auf EU-Ebene bei den
Maastricht-Kriterien ins Spiel. "Wir müssen jetzt Regeln aufbauen, die den
Ländern verstärkt Vorgaben machen, die das Grundgesetz und die europäische
Stabilitätspolitik nicht einhalten", pflichtet Baden-Württembergs Regierungschef
Günther Oettinger (CDU) bei. Eines mag kein Regierungschef aus dem Spruch des
Verfassungsgerichts herauslesen: den Auftrag zur Länderneugliederung. Darauf
hebe das Gericht nirgendwo ab, jubiliert Böhrnsen. "Das ist ein deutliches
Signal an alle, die einer solchen Scheinlösung kurzfristig das Wort reden." Das
tun in Bad Pyrmont aber noch nicht einmal die Ministerpräsidenten der großen
Länder wie Oettinger oder Koch. Auch für Nordrhein-Westfalens Regierungschef
Jürgen Rüttgers (CDU) stellt sich die Frage nicht: "Gerade die Tatsache, dass es
kleine Länder gibt, dass es Stadtstaaten gibt und dass es große Länder gibt,
macht doch den Reiz des Föderalismus aus." Der Applaus der Kleinen ist ihnen
gewiss.
Weser Kurier vom 20.10.2006
"Acht zu null ist ein Wort"
Die Spitzenpolitiker der Großen Koalition halten eine Finanzreform und
Länder-Neugliederung für utopisch
Von Dietrich Eickmeier
Seit gestern gilt Hans Eichel in Berlin als Prophet. Eichel
habe schon vor eineinhalb Jahren, erinnern sich Mitarbeiter, das Karlsruher
Urteil richtig vorhergesagt. Je mehr Klagen, je mehr verfassungswidrige
Länderhaushalte, so die damalige These des Bundesfinanzministers, desto größer
werde die Chance, "dass wir nicht zahlen müssen". Und so war man in der
Bundesregierung über die Abweisung der Berlin-Klage "nicht wirklich überrascht".
Doch "acht zu null ist schon mal ein Wort" sagt ein Berater von Kanzlerin Angela
Merkel. Noch mehr als über die unerwartete Einstimmigkeit der Richter zeigt man
sich im Bundesfinanzministerium über die Verschärfung der Kriterien für
Haushaltsnotlagen durch die Verfassungsrichter erfreut: "Das ist eine
Vorentscheidung für das Saarland und Bremen", heißt es in der Umgebung von
Minister Peer Steinbrück. Der hätte sich eine Niederlage in Karlsruhe finanziell
gar nicht leisten können, weil trotz derzeit sprudelnder Steuerquellen eine
Milliarden-Mehrausgabe für die Hauptstadt einer "Selbstgefährdung" des
Bundesetats gleich gekommen wäre. Finanzstaatssekretärin Barbara Hendricks
sprach von einer "erheblichen Präzedenzwirkung" des Urteils nicht nur für die
noch anhängigen Klagen - sie bewertete die Karlsruher Leitlinie auch als einen
"entscheidenden Eckpfeiler" für eine Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen,
wie sie die Große Koalition vereinbart hat und wie sie auch die Karlsruher
Richter für nötig halten - ohne dafür inhaltliche oder zeitliche Vorgaben zu
machen. Dennoch hofft Volker Kröning, Obmann der SPD-Bundestagsfraktion für die
so genannte Föderalismusreform II, dass sich durch das Karlsruher Urteil die
Finanzdebatte "nach einem halben Jahr des Stillstands wieder belebt". Denn das
Gericht, so der Bremer Abgeordnete, habe die "Verantwortung an die Politik
zurück gegeben", weil die geltende Rechtslage "für die Verhütung und Beseitigung
von Haushalts-Notlagen nicht ausreicht". Doch Skepsis ist durchaus angebracht.
Bund und Länder hätten sich bislang nicht einmal auf die Besetzung einer
gemeinsamen Arbeitsgruppe einigen können, stellen die Fraktionsgeschäftsführer
Norbert Röttgen (CDU) und Olaf Scholz (SPD) frustriert fest. Auch ein
hochrangiges Kabinettsmitglied zeigt sich "nicht zufrieden" mit der Entwicklung
und spricht von einer "schlechten Zeit" für Finanzreformen. Die meisten hätten
"andere Sorgen" sagt er, zudem trauten sich die Ministerpräsidenten der Länder
"gegenseitig nicht". Ernüchtert ist man auch im Kanzleramt angesichts der
schlechten Erfolgsaussichten für die Finanzreform, auch wenn sich offiziell noch
niemand davon verabschiedet hat. In noch weitere Ferne ist wohl auch der Traum
einiger Staatsreformer gerückt, die Zahl der Bundesländer von 16 auf sieben oder
acht zu reduzieren. Zwar rechnet Kröning damit, dass "die Neugliederungs-Debatte
wieder hochkommt". Doch aus dem Karlsruher Urteil, da ist er sich mit dem
Verfassungsrechtler Christian Waldhoff einig, "lässt sich dafür nichts
herauslesen". Zudem, sagt der Bonner Professor, diese Frage "politisch sowieso
utopisch ist". Wohl wahr. Schon Alt-Kanzler Helmut Kohl hatte, aus Erfahrung
vieler Debatten klug geworden, Mitte der 90-er Jahre gesagt, er werde sich "für
den Rest meines Daseins in dieser Frage nie mehr engagieren". Und die Erkenntnis
seines Amtsnachfolgers Gerhard Schröder, dass "zwei Arme noch keinen Reichen
ergeben", hat Sachsens CDU-Ministerpräsident Georg Milbradt erst kürzlich ins
Fabelhafte gesteigert: "Ich kenne nicht mal ein Märchen, in dem aus drei Armen
ein Reicher wurde."
Weser Kurier vom 20.10.2006
Finanzsenator nach dem Urteil: Die Wurst hängt jetzt höher
Hier Zuversicht, dort Skepsis - Reaktionen auf den Richterspruch
Von Wigbert Gerling
Der Stadtstaat Berlin ist als Kläger vor dem
Bundesverfassungsgericht abgeblitzt, der Senat des Stadtstaats Bremen, der mit
vergleichbarer Zielsetzung die Juristen angerufen hat, bleibt optimistisch:
Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) betonte nach dem Urteil gestern, er sei "sehr
zuversichtlich, dass das Gericht zu dem Ergebnis kommen wird: Bremen hat einen
verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf weitere Hilfen der
Solidargemeinschaft". Skepsis hingegen beim Bremer Wirtschaftswissenschaftler
Rudolf Hickel: "Die Aussichten, dass wir das bekommen, was wir verdient hätten,
sind wohl nur noch gering." Bremen hatte sich im April an das Verfassungsgericht
gewandt, um Finanzhilfen zu erstreiten. Anders als Berlin, so Böhrnsen, könne
Bremen Fakten vorlegen, die eine "extreme Haushaltsnotlage" belegten.
CDU-Bürgermeister Thomas Röwekamp erklärte, die Entscheidung zu Berlin habe
keine vorbestimmende Wirkung für den Ausgang des Bremer Verfahrens. Bremen habe
gespart, müsse aber nun "die Eigenanstrengungen noch einmal verstärken."
Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos) war zur Urteilsverkündung in Karlsruhe.
Sein Fazit: "Die Wurst hängt jetzt höher." Bremen werde die Ausgaben noch einmal
genauer unter die Lupe nehmen. "Auch Vermögensveräußerungen," so der
Ressortchef, "müssen geprüft und gegebenenfalls umgesetzt werden."
Bürgerschaftspräsident Christian Weber (SPD) war ebenfalls dort: "Die Maßstäbe
für die Gewährung von Hilfen sind strenger geworden." Die Aussichten Bremens vor
Gericht seien allerdings im Vergleich zu Berlin besser." Bremen ist nicht
Berlin," betonte CDU-Fraktionschef Hartmut Perschau. Bremen sei 1992 eine
"extreme Haushaltsnotlage" bescheinigt worden, allerdings seien die vorher
gesagten Einnahmen dann auf Grund der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung
nicht eingegangen. Der Hinweis der Richter, Berlin habe immer noch viele
Wohnungen als Vermögenswert, kurbelte in Bremen postwendend die Debatte um einen
Verkauf der Bremer Anteile an der Gewoba an. Hickel: "Ich sage es ungern, aber
es ist ein Wink des Gerichts mit dem Zaunpfahl." Karoline Linnert,
Fraktionschefin der Grünen, hält es "für dringend notwendig", dass nun noch
besser begründet wird, "warum Bremen eine eigene Wohnungsbaugesellschaft
braucht". Es gebe eine soziale Verantwortung gegenüber den Mietern, deshalb
könne dieser wichtige Sektor nicht privaten gewinnorientierten Unternehmen
überlassen werden. Linnert liest aus dem Urteil heraus, dass die Richter es
offenbar leid seien, über Nothilfen für Länder zu befinden. SPD-Parteichef Uwe
Beckmeyer warnte davor, das Urteil einfach auf Bremen zu übertragen. Er
erinnerte an den Vorschlag zur Gründung eines zentralen nationalen
Entschuldungsfonds. Nach Einschätzung von FDP-Chef Uwe Woltemath wird Bremen,
nachdem Berlin abgeblitzt sei, wohl "kein zusätzliches Geld mehr bekommen."
Weser Kurier vom 20.10.2006
Berlin verliert - Bremen kämpft weiter
Verfassungsgericht: Haushaltsnotlage der Bundeshauptstadt ist aus eigener Kraft
zu überwinden
Trotz eines Schuldenbergs von mehr als 60
Milliarden Euro erhält Berlin nicht mehr Geld vom Bund. Das
Bundesverfassungsgericht wies gestern die Klage auf Anerkennung einer extremen
Haushaltsnotlage ab. Der Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen und sein
Finanzsenator Ulrich Nußbaum sind gleichwohl zuversichtlich, dass sie mit ihrer
eigenen Klage erfolgreich sein werden.
Während das Urteil in Berlin als bitter empfunden wurde, begrüßten es die
anderen Bundesländer als Bestätigung ihrer eigenen Finanzpolitik. Die
Ministerpräsidenten kündigten auf ihrer Konferenz in Bad Pyrmont an, eine
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu erarbeiten.
Nach Überzeugung der Karlsruher Richter befindet sich Berlin zwar in einer
angespannten Haushaltslage. Diese könne das Land aber "mit großer
Wahrscheinlichkeit" aus eigener Kraft überwinden. Bundeshilfen zur Sanierung
eines Landes seien nur als letzter Ausweg möglich, wenn eine Existenzbedrohung
nicht anders abzuwehren sei. Der Senat fällte seine Entscheidung einstimmig mit
acht zu null Stimmen.
Das Gericht mahnte Regelungen zum Umgang mit Not leidenden Landeshaushalten
an. Obwohl Karlsruhe bereits 1992 auf das Problem hingewiesen habe, sei das
Instrumentarium des geltenden Finanzausgleichs mit der Bewältigung von
Haushaltssanierungen einzelner Länder überfordert.
Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sagte, die Vorgaben im Grundgesetz
zur Schuldenaufnahme bei Bund und Ländern müssten präziser gefasst werden. Bei
der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen plädierte er für pragmatische
Lösungen. Eine zu groß angelegte Neuordnung könnte auch scheitern, warnte er.
Mit Blick auf die ebenfalls gegen den Bund klagenden Länder Bremen und
Saarland sprach der Minister von "erheblicher Präzedenzwirkung" des Urteils.
Bremen und Saarland wollen jedoch an ihren Klagen festhalten. Bremens
Bürgermeister Jens Böhrnsen sagte, er sei "sehr zuversichtlich, dass das Gericht
zu dem Ergebnis kommen wird: Bremen hat einen verfassungsrechtlich verbrieften
Anspruch auf weitere Hilfen". Anders als Berlin könne man Fakten vorlegen, die
eine "extreme Haushaltsnotlage" belegten. Finanzsenator Ulrich Nußbaum räumte
ein: "Wir müssen die Eigenanstrengungen deutlich verschärfen."
Von den Ministerpräsidenten der Länder wurde das Urteil einhellig gelobt. Sie
sind sich einig, dass sie ihre Finanzbeziehungen auf neue Beine stellen müssen.
Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff bekennt sich zum
Länderfinanzausgleich, schränkt aber ein: "Es kann nicht sein, dass ein Land,
das sich mehr leistet als andere, Geld von diesen anderen bekommt."
Die Richter betonen: "Eigenständigkeit und politische Autonomie bringen es
mit sich, dass die Länder grundsätzlich für die haushaltspolitischen Folgen
autonomer Entscheidungen selbst einzustehen und eine kurzfristige Finanzschwäche
selbst zu überbrücken haben." Die Probleme Berlins lägen bei den nach wie vor zu
hohen Ausgaben. Der Vergleich mit Hamburg zeige, dass Berlin für Hochschulen,
Wissenschaft und Kultur deutlich mehr ausgebe. Zudem könne das Land seine
Einnahmen zum Beispiel durch den Verkauf der landeseigenen Wohnungen verbessern,
so die Richter.
Weser Kurier vom 20.10.2006
Berlin hofft auf Karlsruhe
. . . und auf rund 35 Milliarden Euro
Von Peter Gärtner
Es hat sich etwas Erstaunliches getan in Berlin. Der
Schuldenberg steigt nicht mehr, jedenfalls nicht durch handfeste Ausgaben. Hätte
die Stadt keine Verbindlichkeiten, für die sie allein in diesem Jahr 2,4
Milliarden Zinsen zahlen muss, dann wäre der Landeshaushalt das erste Mal seit
langer Zeit ausgeglichen. Thilo Sarrazin ist der erste Politiker seit dem
Mauerfall, der schonungslos auf die Ausgabenbremse getreten ist. "Die Kinder
schrein, die Eltern fliehn, da hinten kommt der Sarrazin", heißt es gern auf den
Protestplakaten. Beliebt hat sich der Sozialdemokrat damit nicht gemacht. Aber
es wird inzwischen an der Spree anerkannt, dass an einer konsequenten
Sparpolitik kein Weg mehr vorbeiführt. S-Bahn-Fahrkarten kosten mehr, Theater
und Oper auch. Die Beamten müssen nun mehr arbeiten, die Lehrer mehr
unterrichten. Und nirgends in der Republik ist der Kita-Platz für gut
verdienende Familien teurer als in Berlin.Dabei ist Haushaltskonsolidierung in
der Hauptstadt ein qualvoller Prozess. Denn den Ehrgeiz, aus eigener Kraft zu
wirtschaften, hat man den Berlinern in Ost und West in den Jahrzehnten der
Teilung gründlich ausgetrieben. Beide Stadthälften galten bis zum Mauerfall als
üppig subventionierte Schaufenster der jeweiligen Systeme - in der armen DDR
stöhnte die gesamte Republik über die Bevorzugung Ostberlins, im reichen Westen
fiel die Alimentierung Westberlins nicht weiter auf. Dass in diesen Tagen gern
an die frühere Teilung erinnert wird, liegt nicht am nahenden 9. November,
sondern an dem am Donnerstag erwarteten Spruch des Bundesverfassungsgerichts in
Karlsruhe.Das höchste deutsche Gericht wird darüber entscheiden, ob die
Bundesregierung und die anderen Länder dazu verpflichtet sind, Berlin beim
Schuldenabbau zu helfen. Denn dass die Finanzlage der 3,5-Millionen-Stadt extrem
ist, bestreitet niemand. Der Schuldenberg ist auf über 61 Milliarden Euro
angewachsen und aus eigener Kraft nicht abzutragen. Sarrazin hat nicht nur in
den vergangenen Jahren seine Hausaufgaben erledigt, er hat auch Karlsruhe
"transparente Kontrolle" und einen "öffentlichen Nachweis" für die Verwendung
der "ausschließlich zur Entschuldung" gedachten Hilfen zugesichert.In der
Finanzverwaltung steigt parallel zur Empörung mancher Geberländer über die
Wahlversprechen der Volksparteien SPD und CDU (letztes Kita-Jahr beitragsfrei,
später auch die ersten beiden) die Hoffnung, dass Berlin tatsächlich eine Chance
zur Entschuldung erhält. Dabei geht es nicht um eine konkrete Summe; doch analog
zum BVG-Urteil von 1992, als eine extreme Haushaltsnotlage der Länder Bremen und
Saarland anerkannt wurde, dürfte die Hauptstadt mit einer Übernahme von gut der
Hälfte der Schulden rechnen. Das liefe dann auf eine Summe von 35 bis 40
Milliarden Euro hinaus. Dass sich in Berlin inzwischen vieles geändert hat, das
geben selbst die Kassenwarte der anderen Bundesländer zu - zumindest hinter
vorgehaltener Hand.
Weser Kurier vom 18.10.2006
Mit dem Rücken an der Wand
Warum der Bremer Finanzsenator das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu
Berlin mit Spannung erwartet
Von Wigbert Gerling
Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe - für finanziell notleidende
Länder ist dies die Adresse der Hoffnung. Dort residiert das
Bundesverfassungsgericht, das morgen darüber entscheidet, ob das Land Berlin ein
Anrecht auf finanzielle Hilfen des Bundes hat. Es geht um Berlin, aber es ist
auch eine Bremer Delegation vor Ort, weil sie aus dem Urteil in eigener Sache
ihre Schlüsse ziehen möchte. Schließlich liegt am Schloßbezirk 3 auch ein
entsprechender Antrag des kleinsten Bundeslandes vor. Grundlage ist das, was
Juristen einen Normenkontrollantrag nennen. Es wird überprüft, ob eine geltende
politisch-gesetzgeberische Praxis mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Dreh-
und Angelpunkt ist der Verfassungsartikel Artikel 107. Demnach muss
sichergestellt sein, "dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder
angemessen ausgeglichen wird". Viel wichtiger aber für das Verfahren: Es könne
per Gesetz bestimmt werden, "dass der Bund aus seinen Mitteln leistungsschwachen
Ländern Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihren allgemeinen Finanzbedarfs
gewährt". Das Klagen der klagenden Länder: Wir stehen finanziell mit der Rücken
zur Wand, sind in einer "extremen Haushaltsnotlage", aber der Bund gewährt
trotzdem nicht die grundgesetzlich möglich Hilfe. Flankiert von Gutachten
renommierter Finanzwissenschaftler hatten Berlin und auch Bremen solche
Normenkontrollanträge in Karlsruhe eingereicht - die Regierung an der Spree vor
drei Jahren, ihre Amtskollegen an der Weser erst Anfang April dieses Jahres.
Wann die Bremer Klage verhandelt wird, steht noch nicht fest. Eindeutig aber
ist, dass nicht nur Berlin klamm ist, sondern auch das Land Bremen. Drei
Milliarden Euro nimmt es jährlich ein, gibt aber vier Milliarden aus. Jahr für
Jahr muss also eine Milliarde zusätzlicher Schulden aufgenommen werden. Die
Ausgaben für Zinsen sind für 2006 mit rund 580 Millionen Euro kalkuliert.
Stattlich ist auch ein anderer Ausgabenposten, der nicht von heute auf morgen
entscheidend verändert werden kann: Für das Personal im öffentlichen Dienst
müssen pro Jahr rund 1,3 Milliarden Euro hingelegt werden. Unterdessen ist der
Schuldenberg in Bremen ist auf rund 13,5 Milliarden Euro angewachsen, Tendenz
täglich steigend. Während Berlin juristisch gesehen Anfänger ist, was diesen
Normenkontrollantrag angeht, kann Bremen als erfahren eingestuft werden. Das
reicht zurück bis in die 80er Jahre. Damals stellte Bremen einen
Normenkontrollantrag und forderte unter anderem eine höhere "Einwohnerwertung",
ein Ausgleich dafür, dass die Metropole Bremen so mancherlei finanziell
unterhält, was auch die Niedersachsen nebenan gerne nutzen. Das Theater ist da
nur ein Beispiel. Der 27. Mai 1992 wurde unter finanzpolitischem Blickwinkel ein
historisches Datum für Bremen. Karlsruhe erkannte die "extreme Haushaltsnotlage"
an, mit dem Bund wurde daraufhin eine Sanierungsvereinbarung geschlossen -
Bremen bekam von 1994 bis 1998 pro Jahr 1,8 Milliarden, damals noch nicht Euro,
sondern D-Mark. Anschließend wurde geprüft, ob Bremen aus dem Gröbsten heraus
war. Fazit: Nein. Also gab es bis 2004 weitere Hilfszahlungen, wenn auch mit
abnehmender Tendenz - von anfangs 1,8 Milliarden Mark im Jahr bis zuletzt 700
000 Mark. Insgesamt bekam das Land von 1994 bis 2004 umgerechnet 8,5 Milliarden
Euro. Seither ist Schluss. Nun klagt Bremen erneut. Berlin ist ein Stadtstaat,
Bremen auch; Berlin ist hoch verschuldet, Bremen auch; Berlin will Bundeshilfe,
Bremen auch. Wegen solcher Parallelen fährt Finanzsenator Ulrich Nußbaum morgen
nach Karlsruhe, um sich das Urteil der Richter ganz genau anzuhören. Für ihn
wäre der Donnerstag ein guter Tag, sagte er gestern, wenn das Verfassungsgericht
an seiner früheren Rechtsprechung festhielte und das "bündische" Grundprinzip
untermauerte: dass Bund und Länder als Solidargemeinschaft einstehen und
aushelfen müssen, wenn ein Partner in Not ist.Wenn Berlin eine "extreme
Haushaltsnotlage" bescheinigt wird, aus der eine Finanzhilfe abgeleitet werden
könnte, rechnen Fachleute damit, dass die Richter den Ländern noch deutlicher
konsequente Eigenleistungen bei der Haushaltskonsolidierung abverlangen.
Überdies könnten weitere Hilfszahlungen an noch schärfere Kontrollen der armen
Ländern gekoppelt werden.
Weser Kurier vom 18.10.2006
Interview mit Hickel und Dannemann zu dem mit Spannung
erwarteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Professor Rudolf Hickel: Er ist
Direktor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen. Der
Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler beschäftigt sich seit Jahren mit den
ökonomischen und fiskalischen Grundlagen des Stadtstaates Bremen.
Professor Günter Dannemann war von 1994
bis 2002 Staatsrat beim Senator für Finanzen in Bremen, bevor er eine Tätigkeit
als Honorarprofessor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität
Bremen aufnahm.
Frage: Morgen wird das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zum
Normenkontrollantrag des Landes Berlin in Sachen
Bundesergänzungszuweisungen/Haushaltssanierung verkünden. Gibt es im Vorfeld
Hinweise darauf, wie das Gericht entscheiden wird?
Hickel: Es gibt, je nach Betroffenheit, ganz
unterschiedliche Spekulationen darüber. Das Bundesverfassungsgericht wird
voraussichtlich zur Klage Berlins auf Finanzhilfen ein sehr grundsätzliches
Urteil fällen, das dann auch auf den Stadtstaat Bremen anzuwenden ist.
Dannemann: Mir sind keine Hinweise
bekannt. Die Bandbreite der vielen Spekulationen reicht von glatter Ablehnung
bis zur vollen Bestätigung des Berliner Wunsches nach Teilentschuldung von 35
Milliarden Euro.
Rechnen Sie damit, dass die Kriterien, die das Gericht schon
einmal 1992 in einer Entscheidung über den gleichen Fragenkomplex angelegt hat,
auch diesmal gelten?
Im Prinzip ja: Am Beispiel Berlin wird
erneut definiert werden, was ein Hauhaltsnotlagenland ist. Strenge Kriterien zum
Umfang der Finanzhilfen und vor allem zu deren Verwendung werden festgelegt
werden.
1992 hat das Gericht eine extreme Haushaltnotlage des
Saarlands und Bremens anhand der Zinssteuerquote und der
Kreditfinanzierungsquote festgestellt. Da das Gericht sich in der Kontinuität
seiner Rechtsprechung bewegen dürfte, erwarte ich, dass diese Kriterien nicht
über den Haufen geworfen, sondern allenfalls ergänzt werden.
Der Bund wurde 1992 aufgefordert, ein Haushaltsnotlage-Gesetz vorzulegen, in
dem geregelt wird, wie mit der Verschuldung der Länder und mit
Ergänzungszuweisungen umzugehen ist. Dieses Gesetz gibt es bis heute nicht. Wird
das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber erneut anmahnen?
Davon ist auszugehen. Jedoch, dem
Gericht wird wohl der Mut fehlen, einen Vorschlag zur Schaffung eines Fonds zur
Entschuldung der klammen Länder für einen Neustart des Föderalismus zu
unterbreiten.
Vermutlich ja. Gesetzliche
Verfahrensregelungen, wie eine extreme Haushaltsnotlage diagnostiziert,
therapiert oder präventiv verhindert werden kann, gibt es bisher nicht. Ich
könnte mir vorstellen, dass das Gericht seinen Auftrag von 1992 präzisieren
wird.
Wird das Gericht überhaupt eine konkrete Entscheidung
vorlegen, oder wird es vielmehr Wege beschreiben, wie über den Themenkomplex zu
befinden sein soll?
Es wird keine konkreten Entscheidungen
vorlegen, aber die Grundprinzipien zur Beantwortung beider Fragen beschreiben.
Spannend ist die Frage, ob das Gericht für Länder, die Sanierungshilfen
erhalten, die Einsetzung eines Sparkommissars fordert.
1992 haben die Verfassungsrichter den
Mut gehabt, Modellrechnungen zur Höhe der notwendigen Hilfen für das Saarland
und Bremen zu erstellen. Ich erwarte nicht, dass sie sich noch einmal so weit
vorwagen. Sie werden aber zumindest Wege aufzeigen, wie der Haushalt Berlins
gerettet werden kann. Spannend für Bremen wird sein, ob die Richter auf die 1992
von ihnen geforderten Maßnahmen zur Verstärkung der Wirtschaftskraft eingehen.
Rechnen Sie damit, dass das Gericht im Zusammenhang mit der
Schuldenproblematik eine föderale Neugliederung des Bundesgebiets fordert?
Nein! Ich gehe davon, dass die
Neugliederung von Ländern nicht grundsätzlich gefordert wird. Aber, wie schon in
den Urteilen 1992 und 1999, wird es Hinweise in diese Richtung geben. Die
berechtigte Forderung Bremens, die Verteilung der Finanzen fair zu regeln, wird
leider auch nicht im Urteilsspruch gegenüber dem Gesetzgeber gefordert werden.
Die Richter haben bereits 1992 auf die
Möglichkeit hingewiesen, das Bundesgebiet neu zu gliedern. Eine Wiederholung
oder Verschärfung dieses Hinweises ist denkbar. Bremen ist durch seine
überdurchschnittliche Wirtschaftskraft Geberland bei Steuern und Sozialbeiträgen
und finanziert Berlin sowie die ostdeutschen Länder kräftig mit.
Weser Kurier vom 18.10.2006
Pro Sekunde 33 Euro mehr Schulden
Bund der Steuerzahler weiht Schuldenuhr ein - Finanzsenator: Ein paar Jahre
zu spät
Von Christian Dohle
Zwei Jahre lang hat der Bund der Steuerzahler nach einem
Standort für die Schuldenuhr gesucht, gestern nun ging sie in Betrieb - an der
Fassade der FDP-Zentrale an der Ecke Violenstraße / Buchtstraße. Aktueller Stand
kurz nach der Enthüllung: Knapp 13 Milliarden Euro. Wochenlang hatte der Bund
der Steuerzahler die Zahl für den Starttag recherchiert, in der sowohl die
Schulden der Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven als auch die der
Sondervermögen enthalten sind. Um 33 Euro wächst der Schuldenberg nach
Steuerzahler-Hochrechnungen jede Sekunde, um mehr als 2,8 Millionen Euro jeden
Tag, um gut eine Milliarde Euro im Jahr. Das Auge kommt bei der Aktualisierung
in Sekundenbruchteilen nicht mehr mit. Die letzte Ziffer der elfstelligen Zahl
ist kaum noch zu erkennen. Der Landesvorsitzende des Bundes der Steuerzahler,
Axel Gretzinger, beklagte bei der Einweihung die viel zu geringen
Sparanstrengungen des Landes im Sanierungszeitraum. "Die Auflagen vom Bund und
den anderen Ländern sind nicht hart genug gewesen. Man hätte mehr Sparen
verlangen müssen." Ausbaden müssten das jetzt die künftigen Generationen, denn
schon jetzt betrage die Pro-Kopf-Verschuldung fast 20 000 Euro, mahnte
Gretzinger. Rechne man die Schulden des Bundes hinzu, seien es gar mehr als 30
000 Euro. FDP-Chef Peter Bollhagen nutzte die Einweihung der Schuldenuhr für
eine politische Abrechnung: Das SPD-CDU-Bündnis sei zwar als Sanierungskoalition
gestartet, erinnerte der Liberale. Doch trotz 8,5 Milliarden Euro Bundeshilfen
hätte das Land mehr Schulden als je zuvor. Bollhagens Fazit: "Die Koalition ist
gescheitert." Kritisch äußerte sich auch Finanzsenator Ulrich Nußbaum
(parteilos) zum Finanzgebaren seiner Vorgänger. Süffisanter Kommentar: "Die
Schuldenuhr kommt ein paar Jahre zu spät.
Weser Kurier vom 12.05.06
Aktueller denn je
Von Rudolf Hickel
John Kenneth Galbraith, das Ökonomen-Genie aus den USA, ist
im Alter von 97 Jahren gestorben. Der Ökonom, Sozialkritiker, Berater der
Präsidenten Roosevelt und Kennedy sowie Diplomat schrieb über 33 Bücher und eine
kaum zu überschauende Flut an Aufsätzen. In seinem berühmt gewordenen Buch "The
affluent society" von 1958 warnte er bereits vor einer heute in Deutschland
aktuellen Politik der Spaltung zwischen "öffentlicher Armut und privatem
Reichtum". Auch die ökologischen Folgen des entfesselten Wirtschaftswachstums
kritisierte er schon in den 1950er Jahren. Als echter Liberaler, der die
Chancengleichheit unabhängig vom sozialen Status herstellen wollte, gilt er
heute als profiliertester Kritiker des Neoliberalismus.
Mit Superlativen gilt es sparsam umzugehen. Dennoch darf John
Kenneth Galbraith als einer der ganz großen Analytiker und Reformer des modernen
Kapitalismus bezeichnet werden. Mit einer ungeheuerlichen Schreibwut hat er
dessen Triebkräfte aus Vermachtung und Interessengegensätzen sowie dessen
Krisenanfälligkeit beschrieben. Allerdings ist seine Popularität in den letzten
Jahren geschrumpft. Den derzeit übermächtigen Glauben an die Erlösung durch die
neoliberal entfesselte Reichtumsmaschine Kapitalismus stören die galbraithschen
Botschaften von einer solidarischen Ökonomie. Sein Tod sollte zum Anlass
genommen werden, sein Werk für eine politisch gestaltete, solidarische
Wirtschaftsgesellschaft neu zu entdecken.
Galbraiths Erfolge sind auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum
einen formuliert er gut lesbar, provozierend, aufklärend, gespickt mit ätzendem
Witz. Zum anderen ist es die interdisziplinäre Methode, die Zusammenführung
verschiedener Fachdisziplinen. Obwohl er dem Theorierevolutionär John Maynard
Keynes aus Großbritannien oft widersprochen hat, große Übereinstimmungen sind
unübersehbar. Galbraith begründet - wie Keynes - die Notwendigkeit politischer
Gestaltung zur Vermeidung von Wirtschaftskrisen, zur Versorgung mit öffentlichen
Gütern und zur sozialen Absicherung gegen Risiken, die die Märkte für diejenigen
schaffen, die vom Erwerbseinkommen existenziell abhängig sind.
In dem 1967 vorgelegten Bestseller "Der moderne
Industriestaat" greift er die neueren Entwicklungen im "organisierten
Kapitalismus" auf. Hervorgehoben wird die voranschreitende Trennung der
Kapitaleigner - Shareholder - gegenüber der wachsenden Schicht von
Kapitalfunktionären. Aus heutiger Sicht hat Galbraith jedoch den in den letzten
Jahren ausgebauten Einfluss der Kapitaleigener gegenüber den Topmanagern
unterschätzt. Heute werden die Bosse auf den Vorstandsetagen durch die geballte
Macht der Kapitalgeber zur Renditesteigerung getrieben. Die Anpeitscher sind die
Agenten der Shareholder, vor allem die großen Fondsvertreter sowie die kleine
Clique hemdsärmeliger Analysten im Machtzentrum der New Yorker Börse.
In seinem wohl wichtigsten Werk "Gesellschaft im Überfluss"
steckt Galbraith die für die Wirtschaft wesentlichen Staatsaufgaben ab.
Ökonomisch bezahlbare Bedürfnisse werden durch die Profitwirtschaft bedient und
vorangetrieben. Während dadurch der Überfluss im privaten Reichtum wächst,
verarmen mangels Einkommen nicht nur die zahlungsunfähigen Konsumenten. Vor
allem verarmt der öffentliche Sektor, weil es keinen entsprechenden Mechanismus
zur Sicherstellung seiner notwendigen Produktion gibt. Privatwirtschaftlicher
Reichtum innerhalb sich ausbreitender öffentlicher Armut ist die Folge. Dies
belegen verwahrloste Städte, eine defizitäre Infrastruktur und riesige
Einkommensarmut.
Galbraith argumentiert für den Abbau dieses Ungleichgewichts
zwischen Staat und Privatwirtschaft. Er will die riesigen
Produktionsmöglichkeiten in den Wohlstand für Alle umsetzen und das heißt "Kampf
gegen die Armut". Die Überflussgesellschaft ist heute für Deutschland aktueller
denn je. Durch eine reichtumsschonende Steuerpolitik und Umschichtung der
Einnahmen und Lasten im föderalen Bundesstaat konzentriert sich derzeit in
Deutschland die öffentliche Armut auf die Gemeinden.
Weser Kurier vom 07.05.06
Starke Zweifel an Kompetenz der GBI
Vorwurf: Bei Gebäude-Anmietung für Kulturbehörde offenbar wieder nicht an
Behinderte gedacht
Von Peter Voith
Die Gesellschaft für Bremer Immobilien (GBI) beschreibt sich auf ihrer
Internet-Homepage als "ein kompetentes Team von etwa 100 Mitarbeitern", das sich
den "vielfältigen Herausforderungen rund um die Immobilie" stellt. Die Gemeinde
der Zweifler an der Kompetenz ist unterdessen gewachsen. Grund: Wieder mal seien
bei Raumplanungen für öffentliche Gebäude die Belange von Behinderten nicht
berücksichtigt worden. Es geht um den eigentlich in wenigen Tagen geplanten
Umzug der Kulturbehörde.
Die fast 40 Mitarbeiter, die bisher am Herdentor im
R+V-Versicherungsgebäude und an der Knochenhauerstraße untergebracht sind,
sollten in das Kulenkampff-Haus am Altenwall einziehen. Doch die Kulturbehörde
sträubt sich. Grund: Entgegen der Vereinbarung im Mietvertrag mit der GBI sei
die Barrierefreiheit nach DIN nicht gewährleistet. Inzwischen hat sich der
Landesbehindertenbeauftragte Joachim Steinbrück eingeschaltet und insbesondere
das Fehlen eines behindertengerechten Fahrstuhls bemängelt.
Der vorhandene Aufzug sei zu klein für Behinderte, die etwa
auf einen Elektro-Rollstuhl angewiesen sind. Ein zu kleiner Aufzug? So ein Fall
hatte die GBI erst vor wenigen Monaten in die Schlagzeilen gebracht. Damals war
das Sozialzentrum Süd betroffen. Die GBI hatte für die Mitarbeiter ein Gebäude
angemietet, dessen Aufzug ebenfalls nicht behindertengerecht war. Weder Eltern
mit Kinderwagen noch Elektro-Rollstuhlfahrer können in die oberen Etagen
gelangen. Zurück zur Kulturbehörde.
Das Kulenkampff-Haus hat sieben Etagen und auch einen
Fahrstuhl. Allerdings: Der ist etwa für Behinderte, die in einem
Elektro-Rollstuhl sitzen, zu klein. Es müsste also, um der DIN-Norm 18024 zu
entsprechen, ein größerer eingebaut werden. Doch dann, so die GBI, wäre die
Anmietung "nicht mehr wirtschaftlich" gewesen. Jetzt ist vorgesehen, die
Behinderten in einem Besprechungsraum in der ersten Etage zu empfangen. Problem:
Dazu müssen sie erst einmal einen so genannten Plattformlift benutzen.
Aber auch dazu wären sie auf fremde Hilfe angewiesen.
Landesbehindertenbeauftragter Joachim Steinbrück weist darauf hin, dass solche
Lifte aufgrund von Sicherheitsbestimmungen nur benutzt werden dürfen, wenn eine
zweite Person anwesend ist. Das widerspreche den Vorgaben der Barrierefreiheit,
die im Bremischen Behindertengleichstellungsgesetz (BremBGG) verankert seien.
Steinbrück: "Wer in der heutigen Zeit öffentliche Gebäude mit Barrieren baut
oder anmietet, diskriminiert Menschen mit Behinderung." Er erwarte deshalb, dass
es der GBI doch noch gelingt, einen neuen Aufzug zu installieren.
Das ist auch die Auffassung der Kulturbehörde. Florian Kruse,
Sprecher von Kultursenator Jörg Kastendiek (CDU), wollte sich zu dem Fall nicht
weiter äußern. Er erklärte lediglich: "Im Mietvertrag ist eine Barrierefreiheit
nach DIN vereinbart. Wir gehen davon aus, dass die GBI ihren Teil des Vertrages
erfüllt." Innerhalb der Behörde ist inzwischen Unruhe ausgebrochen. Die bangen
Fragen unter den Mitarbeitern lauten: Verschiebt sich jetzt der Umzugstermin?
Müssen wir unsere Urlaubspläne über den Haufen werfen?
Können wir überhaupt noch im alten Gebäude bleiben oder ist
dort schon ein Nachmieter gefunden? Oder ziehen wir doch schon ins Gebäude am
Altenwall und müssen dann vielleicht unter Baustellenlärm arbeiten? Oder sitzen
wir womöglich bald auf der Straße? "Soweit wird es nicht kommen", versicherte
ein Insider. "Aber wir werden es auf keinen Fall hinnehmen, dass wir jetzt
doppelt Miete zahlen müssen, wo uns der Umzug doch eigentlich Geld sparen
sollte." Man werde alle Kosten, die durch Versäumnisse der GBI entstanden seien,
der Gesellschaft in Rechnung stellen - "und zwar in voller Höhe", hieß es mit
verärgertem Unterton.
Die GBI erklärte auf Nachfrage, man habe der Kulturbehörde
bei einer gemeinsamen Besichtigung klarmachen können, dass das Gebäude "nicht zu
100 Prozent barrierefrei" umgebaut werden könne. Dazu hätte es eines neuen
Aufzugsschachtes bedurft. Und der, so GBI-Sprecher Matthias Cramer, wäre
"richtig teuer" geworden. Im übrigen wies er darauf hin, dass "öffentliche
Gebäude barrierefrei sein sollen und nicht müssen". Cramer: "Auch im Gesetz
steht ein Vorbehalt nach Maßgabe der Haushaltslage."
Der Fachdienst für Arbeitsschutz habe die Umbaupläne im
übrigen abgesegnet und festgestellt, dass die erforderlichen
Arbeitsplatzrichtlinien eingehalten würden. Freilich: Ob die GBI Begriffe wie
"barrierefrei" oder "behindertengerecht" tatsächlich ernst nimmt, daran zweifelt
man auch in der Sozialbehörde. Deren Mitarbeiter verhandeln inzwischen direkt
mit der Vermieterin des Gebäudes an der Großen Sortillienstraße, um den Anbau
eines behindertengerechten Fahrstuhls im Sozialzentrum Süd zu ermöglichen. Nur
am Rande beteiligt: das "kompetente Team" der GBI.
Beschränkt statt barrierefrei
Kommentar von Peter Voith
Das einstige Liegenschaftsamt,
das sich nun vornehm Gesellschaft für Bremer Immobilien mbH nennt, hat
sich inzwischen einen zweifelhaften Ruf erworben. Die Liste der
Kritikpunkte ist lang. Rechnungshof und Parlamentarier attestierten der
GBI umfangreiche Mängel bei der Schulsanierung, beim Verkauf von
leerstehenden Gebäuden (ehemalige Stadtbibliothek Neustadt) mangelhafte
Planung (Nachverhandlungen beim Verkauf von drei Häusern am Wall für ein
Justizzentrum) und Mängel im Controlling. Man könnte auch sagen: Erst
wird falsch geplant und dann auch noch Geld verplempert.
Und jetzt, wo es um die Belange
von Behinderten geht, achtet die GBI plötzlich aufs Geld? Sparen ist
notwendig. Aber bitte nicht an der falschen Stelle. Denn wenn ein Land
wie Bremen ein Behinderten-Gleichstellungsgesetz beschließt und sich
extra einen Behindertenbeauftragten leistet, heißt das für die
Herrichtung öffentlicher Gebäude: Wer A wie Aufzug sagt, muss auch B wie
barrierefrei sagen.
Politiker überlegen nicht zu
Unrecht, die Gesellschaft mit beschränkter Haftung in einen städtischen
Eigenbetrieb umzuwandeln, um die Ex-Behörde wieder enger an die Leine
nehmen zu können. Das Wörtchen "beschränkt" im Firmennamen - die GBI hat
es inzwischen mehrfach untermauert. |
Weser Kurier vom 05.05.06
Für eine Insolvenzordnung im Bundesstaat
Anmerkungen zur Klage des Landes Berlin auf Anerkennung einer
Haushalts-Notlage
Von Beate Jochimsen und Kai Konrad
... Das Bundesverfassungsgericht hatte mit dem Urteil 1992
die Empfehlung verbunden, das Problem innerhalb des föderalen Systems neu zu
ordnen. Das ist nicht geschehen. Das Land Berlin hat sich eigentlich nur
entsprechend der bestehenden Anreizlage verhalten. Seine Finanzlage ist
inzwischen beklemmend, und ohne Finanzhilfen wird es kaum gehen.
Ganz so unproblematisch wie 1992 mit dem Saarland und Bremen
wird das nicht werden. Die anderen Länder und der Bund sind klamm. Die Ansprüche
des Landes Berlin übersteigen die Summen, um die es 1992 ging. Von etwa 35
Milliarden Euro ist die Rede. Die Verschuldungslage hat sich in den vergangenen
zwölf Jahren bei vielen Ländern und dem Bund verschlechtert. Vielleicht hat beim
Schuldenmachen der Gedanke an mögliche Finanzhilfen der Bund-Länder-Gemeinschaft
im Falle der eigenen Haushaltsnotlage eine Rolle gespielt. Bestimmt jedenfalls
hat der Gedanke die Gläubiger beruhigt. Einige Länder haben vielleicht auch
Schulden gerade deshalb gemacht, damit sie mit dem Hinweis auf eigene
Finanzprobleme den Ansprüchen anderer Bittsteller besser begegnen können.
Von der Hilfe für das Land Berlin einmal abgesehen:
wie könnte eine wirksame
Verschuldungsbremse für die Zukunft denn aussehen? Verschiedene Vorschläge, etwa
des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, wollen den
Landespolitikern das Schuldenmachen erschweren. Interessant ist dabei der
Vorschlag einer geeigneten Insolvenzordnung für Länder. Eine solche Ordnung darf
dabei auf keinen Fall darauf gerichtet sein, bankrotte Länder und ihr
öffentliches Vermögen zu "liquidieren". Im Gegenteil: Im Falle der Überschuldung
soll die Insolvenzordnung das Land und seine Einwohner vor seinen Kreditgebern
schützen. Die Gläubiger sollen im Zuge des Insolvenzverfahrens einen Teil ihrer
Forderungen abschreiben und damit einen Beitrag zu den Sanierungslasten tragen.
Eine solche Insolvenzordnung würde Kreditgeber vorsichtiger machen. Sie würden
überlegen und prüfen, ob ein Land kreditwürdig ist. Ein hoch verschuldetes Land
würde keine zusätzlichen Kredite bekommen. Dieser Mechanismus wäre eine wirksame
Schuldenbremse...
SZ vom 08.04.06
Hoffnung auf mehr Geld
Föderalismusreform: Bremen setzt auf neue Steuerverteilung in Bund und
Ländern
Von Elke Gundel
Bundestag und Bundesrat haben sich gestern in erster Lesung
mit der Föderalismusreform befasst. Was halten prominente Bremer von dem
Vorhaben? Unsere Zeitung hat nachgefragt.
Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) sieht die Reform positiv:
Das föderale System werde gestärkt. Die Gefahr von Blockaden
zwischen Bundesrat und Bundestag sinke. Die Landesparlamente würden gestärkt.
Auch die verabredete zweite Stufe der Reform, mit der die
Bund-Länder-Finanzbeziehungen modernisiert werden sollen, sei für Bremen ein
wichtiger Punkt, um dem Paket zuzustimmen. Bremen setze dabei auf eine
aufgabengerechte Finanzausstattung der Länder. Das jetzige Finanzsystem verdecke
die tatsächliche wirtschaftliche Stärke Bremens "und macht uns zum Nehmerland".
Bremens CDU-Vorsitzender Bernd Neumann begrüßt die Reform:
"Für Bremen bringt die Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen
große Chancen. Das betrifft die Reform der Gesetzgebungskompetenzen und die
Neuordnung der Finanzverantwortung. Die Verlagerung von Kompetenzen auf die
Länder bietet gerade unserem Zwei-Städte-Staat die Möglichkeit, eigene Akzente
zu setzen. Auch bei den Änderungen zur Finanzverantwortung kann Bremen durch die
Neuerungen profitieren: Der Abbau der Mischfinanzierung eröffnet neue
Perspektiven, die die Handlungsfähigkeit Bremens erhöhen und die
Eigenständigkeit sichern. Nun gilt es, auch im Rahmen der zweiten Stufe der
Föderalismusreform zu einer gerechten Steuerverteilung zu gelangen - denn dann
ist Bremen lebensfähig."
Karoline Linnert, Fraktionsvorsitzende der Grünen, lehnt die
Reform ab:
Sie "birgt für Bremen viele Nachteile. Bundesmittel für
Strukturprogramme, besonders bei Bildung und Wissenschaft, wird es nicht mehr
geben. Allein aus dem Vier-Milliarden-Euro-Programm des Bundes für den Ausbau
von Ganztagsschulen hat Bremen 28 Millionen Euro bekommen. Die Finanzierung
solcher wichtigen Projekte wird künftig allein Ländersache sein. Was das für ein
Land wie Bremen mit enormen Haushaltsproblemen heißt, kann sich jeder ausmalen.
Gleiches gilt für die Hochschulfinanzierung. Umwelt- und Beamtenrecht sowie der
Strafvollzug werden weitgehend Ländersache. Dadurch droht ein Dumpingwettbewerb
zu Lasten der ärmsten Bundesländer. Eine Abwärtsspirale droht: Wer behandelt
seine Gefangenen am schlechtesten, wer bezahlt seinen Beamten am wenigsten und
wer hat die laschesten Umweltauflagen?"
Der Präsident des Bremer Oberlandesgerichts, Wolfgang
Arenhövel, ist zugleich Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.
Er hat die Bundestagsabgeordneten davor gewarnt, die Reform
im Schnelldurchlauf zu verabschieden. Gerade bei einer Reform, die in die
Grundstrukturen der Verfassung eingreift, müsse der Gesetzgeber nachweisen, dass
die einzelnen Regelungen sachlich begründet, notwendig und angemessen sind. Das
sei bisher nicht geschehen. "Gesetzgebungsblockaden zwischen Bund und Ländern
werden nicht verhindert, wenn den Ländern Kompetenzen eingeräumt werden in
Bereichen wie dem Strafvollzug und der Besoldung für Richter und Staatsanwälte,
die zwingend einer bundeseinheitlichen Regelung bedürfen."
Der Rektor der Bremer Uni, Wilfried Müller, erklärt:
"Die Konkurrenz zwischen den Universitäten dürfte zunehmen.
Nur noch forschungsstarke Unis werden dann die Chance haben, mit Aussicht auf
Erfolg in Berlin Förderanträge zu stellen. Auf Sonderprogramme, etwa zur
Überwindung des Numerus Clausus in bestimmten Fächern, dürfen die Hochschulen
dann nicht mehr hoffen. Damit müssen die Länder jetzt alleine fertig werden. Die
Wirkung der Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern hängt also
weitgehend vom konkreten Verhalten der Länder in den nächsten Jahren ab."
Martin Rode, Geschäftsführer des Bund für Umwelt und
Naturschutz Bremen, kritisiert:
"Viele verkennen Umweltschutz immer noch als Bremse für das
Wirtschaftswachstum. Die hohen deutschen Umweltschutzstandards sind jedoch Motor
für Innovation. Nicht umsonst ist Deutschland bei erneuerbaren Energien
technologisch führend. Weitreichende Anforderungen an Luftreinhaltung,
Abwasservermeidung, Wiederverwertung stofflicher Rückstände zwingen zu
Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen, wodurch im Hochlohnland Deutschland
zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen. Mit der Föderalismusreform sollen die
Länder das Recht bekommen, die Umweltstandards unter das Bundesniveau
abzusenken. Das führt zur Zersplitterung des deutschen Genehmigungsrechts mit
der Tendenz zum Ökodumping. Streit mit der EU ist so ebenfalls vorprogrammiert."
Weser Kurier vom 11.03.06
Die Reform des Föderalismus
Mehr Licht als Schatten
Kommentar von Dietrich Eickmeier
Für Angela Merkel ist die Sache klar. Die Föderalismusreform
beweise, dass nur die Große Koalition auch wirklich große Reformen zustande
bringen könne, sagt die Kanzlerin. Das klingt ein bisschen nach ängstlichem
Pfeifen im dunklen Wald. Denn jene, welche den über Jahrzehnte immer
undurchdringlicher gewordenen Gesetzes- und Kompetenzdschungel zwischen Bund und
Ländern lichten wollen, sind in den vergangenen Wochen ein wenig in die
Defensive geraten. Es wird also trotz breiter Mehrheit für Schwarz-Rot noch eine
Menge Überzeugungsarbeit notwendig sein.
Die Aufgabe lohnt allemal. Denn die Föderalismusreform, wie
sie die Koalition jetzt auf den Weg bringt, weist eindeutig mehr Licht als
Schatten auf. Es muss versucht werden, die Kompetenzen zu entflechten, um
lähmende Blockaden durch unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat
weitgehend zu vermeiden. Im Idealfall werden dann sogar die Finanzbeziehungen
überschaubarer und gerechter. Für Stadtstaaten wie Bremen liegt hier vielleicht
sogar die letzte Chance, auf Dauer die Eigenständigkeit bewahren zu können.
Die Zeit, in der die Staatsreform nur Freunde hatte, ist
dennoch vorbei. Mit der Zahl der Kompromisse im Gesamtpaket hat sich auch die
Zahl der Skeptiker und Kritiker - vor allem in der SPD-Bundestagsfraktion -
massiv erhöht. Staatsrechtler üben Kritik an der Zersplitterung des
Beamtenrechts, Umweltpolitiker beschwören wie ihre Bildungskollegen die Gefahren
einer Kleinstaaterei auf Kosten von Natur und Bildungswohl. Keine Frage: Das
Kompromiss-Paket birgt auch Risiken.
Vor allzu großem Pessimismus sei aber gewarnt. Nehmen wir das
Besoldungsrecht: Die Befürchtung, die reichen süddeutschen Länder würden künftig
massenweise hoffnungsvolle Nachwuchs-Staatsdiener aus dem armen Norden abwerben,
ist wohl übertrieben. Denn wer geht schon für 400 Euro mehr aus Bremen,
Neumünster, Oldenburg oder Hannover nach München oder Stuttgart, wenn dort
allein schon die Miete 500 Euro höher ist?
Zu fragen ist auch, ob die Länder wirklich so stark von einem
einheitlichen Umweltgesetzbuch, das es bislang ja noch gar nicht gibt, abweichen
werden. Zumal ja auch noch ein nachträglicher Korrekturmechanismus eingebaut
wird. Oder nehmen wir die Bildungspolitik: Da werden die Nord-Länder tatsächlich
aufpassen müssen, dass es beim Hochschulbau und bei der Wissenschaftsförderung
nicht tatsächlich zu einem Süd-Nord-Gefälle kommt. Wenn aber die Stärkung der
Länder in der Bildungspolitik schon als Rückfall in den Bildungsnotstand der
60-er Jahre betrachtet wird, dann ist das schlicht Panikmache.
Kein Zweifel, dass der Bund in Sachen Ganztagsschulen einen
wichtigen Impuls gegeben hat. Aber was ändert sich eigentlich sonst? Wer mit
Kindern von einem Bundesland ins andere umziehen musste, hatte bisher schon
regelmäßig Probleme mit der Schule. Andererseits haben die Länder aber mit der
Vereinbarung über einheitliche Bildungsstandards bereits eine richtige Lehre aus
PISA gezogen. Schließlich ist Bildungspolitik zunehmend auch eine
gesamtpolitische Aufgabe schon in kleinen regionalen Einheiten. Das
Bildungsgefälle innerhalb einer Stadt etwa liest sich doch wie ein Sozialatlas.
Da gibt es vor Ort viel zu tun.
Weser Kurier vom 07.03.06
Von der Beamtenbesoldung bis zum Wasserhaushalt
Der Gesetzesdschungel wird gelichtet: Was die Staatsreform bringt
Von Dietrich Eickmeier
Das erste ganz große Projekt der großen Koalition ist eine
umfassende Reform des Bundesstaats. Allein 25 Grundgesetz-Artikel sollen
geändert oder neu gefasst werden, um Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen und
langwierige Vermittlungsverfahren zu vermeiden. Der Anteil der in der
Ländervertretung zustimmungspflichtigen Gesetze soll von etwa 60 auf 35 bis 40
Prozent reduziert werden. Es bleibt aber dabei, dass der Bundesrat auch künftig
einem Gesetz zustimmen muss, wenn es erhebliche Kosten in den Ländern
verursacht. Auch die Kommunen dürfen in Zukunft nicht mehr per Bundesgesetz neue
Aufgaben und damit zusätzliche Kosten aufgeladen bekommen. Die Kernpunkte der
Reform:
Kompetenzen
Ladenschluss- und Gaststättenrecht, Strafvollzug, Spielhallen
und das Versammlungsrecht, das Presserecht und das Notariatswesen sind
Ländersache. Die Länder erhalten außerdem neue Kompetenzen für das
Demonstrationsrecht, den Strafvollzug, das Notarrecht und das Heimrecht, das
Pflegebedürftige und ihre Angehörige betrifft. Alleinige Bundeskompetenz sind
das Melde- und Ausweiswesen, der Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung
ins Ausland, das Waffen- und Sprengstoffrecht, das Kriegsfolgenrecht und die
Kernenergie.
Bildung
Die Rahmenkompetenz des Bundes entfällt. Die Länder sind
künftig allein zuständig für Schulen und Hochschulen. Der Bund zieht sich aus
dem Hochschulbau zurück. Die bislang vom Bund für diese bisherige
Gemeinschaftsaufgabe aufgewendeten Mittel werden zu 70 Prozent (695,3 Millionen
Euro) auf die Länder übertragen. Die restlichen 30 Prozent (298 Millionen Euro)
setzt der Bund künftig für "überregionale Fördermaßnahmen im Hochschulbereich"
ein. Dem Bund verbleibt die Zuständigkeit für Zugang und Abschlüsse an den
Hochschulen. Aber die Länder erhalten hier ein Abweichungsrecht von
Bundesregelungen. Eingriffe des Bundes bei der Finanzierung von
Bildungsprojekten wie Ganztageschulen soll es nicht mehr geben. Die Kompetenz
des Bundes für die berufliche Bildung bleibt erhalten. Der Bund kann also per
Bundesgesetz die Inhalte eines Lehrberufs festlegen.
Umwelt
Der Bund erhält im Umweltbereich, wo er bislang nur für die
Rahmengesetzgebung zuständig ist, Kompetenzen für den Naturschutz und die
Landschaftspflege sowie den Wasserhaushalt. Damit kann er erstmals ein
Umweltgesetzbuch schaffen. Davon dürfen die Länder künftig aber wiederum
weitgehend abweichen.
Beamte
Die Kompetenz für das Dienst-recht, die Besoldung und die
Versorgung der Landes- und Kommunalbeamten geht vom Bund auf die Länder über.
Der Bund kann künftig nur noch grundsätzliche Statusrechte entscheiden und auch
dies nur mit Zustimmung des Bundesrates. Das öffentliche Dienstrecht erhält eine
Öffnungsklausel. Das kann bis zur Abschaffung des Berufsbeamtentums gehen.
Innere Sicherheit: Das Bundeskriminalamt (BKA) und damit der Bund erhalten neue
und zusätzliche Kompetenzen. Das BKA ist damit für die Abwehr von Gefahren des
internationalen Terrorismus zentral zuständig.
Stabilitätspakt
In einem neuen Grundgesetzartikel wird die gemeinsame
Verpflichtung von Bund und Ländern zur Haushaltsdisziplin festgelegt. Etwaige
Strafzahlungen an Brüssel bei Verstößen gegen die Euro-Stabilitätskriterien
müssen vom Bund (65 Prozent) und den Ländern (35 Prozent) getragen werden. Dies
gilt auch für den Fall, dass Deutschland Strafen zahlen muss, weil es
EU-Richtlinien nicht umgesetzt hat.
Weser Kurier vom 07.03.06
Bremen hofft auf mehr Geld
Staatsreform: Böhrnsen setzt auf Ende der "Benachteiligung" bei
Steuereinnahmen
Von Dietrich Eickmeier
Gestern fiel in Berlin der Startschuss für die bislang
umfassendste Reform des deutschen Bundesstaats. Bremens Bürgermeister Jens
Böhrnsen (SPD) setzt dabei vor allem auf die zweite Stufe. Die verabredete
Neuordnung der Finanzbeziehungen bringe die große Chance für eine gerechtere
Steuerverteilung. "Die strukturelle Benachteiligung Bremens muss beendet
werden", fordert Böhrnsen. "So weit waren wir noch nie", meinte der Bremer
Bürgermeister gestern in Berlin gegenüber dem WESER-KURIER. Zuvor hatten
Bundesregierung und Ministerpräsidenten bei Stimmenthaltung
Mecklenburg-Vorpommerns dem von der schwarz-roten Koalition ausgehandelten
Kompromiss zur Föderalismus-Reform zugestimmt. Bremen, das zusammen mit Bayern,
NRW und Berlin beauftragt wurde, das Gesetzespaket mit allein 25
Verfassungsänderungen am Freitag im Bundesrat einzubringen, befinde sich damit
"in exponierter Position", betonte Böhrnsen. Deshalb habe man Bedenken - etwa
gegen die geplanten Kompetenzverlagerungen beim Beamtenrecht oder Strafvollzug -
zurückgestellt. Vor allem die Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und
Ländern sieht der Bremer Bürgermeister als Chance für das Haushaltsnotlageland
an: "Wir wollen dieses Tor nutzen". So will Böhrnsen erreichen, dass Bremen
seine wirtschaftliche Stärke (Platz zwei in der deutschen Rangliste) auch im
Finanzausgleich berücksichtigt bekommt. Denn davon bleibe bei den
Steuereinnahmen bislang "zu wenig übrig". Auch der besonderen Aufgabenstruktur
der Stadtstaaten müsse durch eine höhere Einwohnerwertung Rechnung getragen
werden. Vor allem aber sollen die Seehäfen als "nationale Aufgaben" mehr
"Anerkennung" finden. Böhrnsen: "Die Unterhaltung der Häfen kostet uns mehr als
100 Millionen Euro jährlich, der Bund zahlt uns aber nur elf Millionen." In den
Ausbau der Containerterminals investiere Bremen eine Milliarde Euro - das seien
"Ausgaben für das ganze Land, den Exportweltmeister Deutschland". Gestern gab es
erst einmal nur grünes Licht für den zweiten Anlauf zur Staatsreform durch
Kabinett, Ministerpräsidenten und die Fraktionen von Union (zwei Enthaltungen)
und SPD. Dort gab es die stärksten Vorbehalte dagegen, dass künftig die Länder
vom Bund mehr Zuständigkeiten in der Bildungs- und Hochschulpolitik, die
Kompetenz für den Strafvollzug, die Besoldung der Landes- und Kommunalbeamten
sowie Abweichungsmöglichkeit vom Umweltrecht des Bundes bekommen sollen. Im
Gegenzug wollen die Länder auf Zustimmungsrechte im Bundesrat verzichten.
Weser Kurier vom 07.03.06
Kein Sparpaket
Kommentar von Michael Brandt
Trotz der tagelangen Beratungen und der Beteuerungen, der
aktuelle Beschluss dokumentiere die Handlungsfähigkeit der Großen Koaliton: Das
vermeintliche 30-Millionen-Sparpaket, das die beiden Bürgermeister geschnürt
haben, ist nicht echt. Nur zum geringen Teil werden Mittel tatsächlich gekürzt,
kein Projekt wird gekippt.
Stattdessen werden die Neubau-Vorhaben, Anschaffungen und
Reparaturen in der Mehrzahl auf mehrere Jahre gedehnt oder ganz in die Zukunft
verschoben, um die Belastungen in den beiden Haushaltsjahren 2006 und 2007
gering zu halten. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bremen sie
letztlich doch bezahlen muss. Damit aber werden gleichzeitig die Spielräume in
den Jahren ab 2008 noch einmal enger.
Der jetzige Konsens wurde mit dem Wissen erkauft, dass den
Haushältern die tatsächliche Verzichtsdebatte noch bevor steht. Diesen dicken
Brocken schieben die Bürgermeister vor sich her.
Weser Kurier vom 01.03.06
Projekte werden über Jahre gestreckt
Senat segnet Vorschläge der Bürgermeister ab - Aktueller Haushalt um 30
Millionen Euro reduziert
Von Michael Brandt
Bremen will 2006 und 2007 je 30 Millionen Euro weniger
ausgeben, als ursprünglich geplant. Eine Liste, bei welchen Projekten die
Koalition den Rotstift ansetzt, präsentierten gestern Bürgermeister Jens
Böhrnsen (SPD) und Innensenator Thomas Röwekamp (CDU). In der Regel handelt es
sich allerdings um Streckungen und Verschiebungen. Bei der Innenbehörde wird
beispielsweise die Einführung des Polizei-Digitalfunks in die Länge gezogen. Das
bringt laut Senatserklärung für den Haushalt eine Million Euro. Weitere
Beispiele für Streckungen: Die Sanierung der Justizvollzugsanstalt, Sanierung
von Sportanlagen, Umbau des Überseemuseums, Erneuerung der Bühnentechnik am
Goetheplatz. Auch am Investitionszuschuss für die Bremer Straßenbahn AG soll
gekürzt werden, auch wenn dies mit den Betroffenen noch nicht verhandelt ist.
Bei der Städtebauförderung, beim Programm Wohnen in Nachbarschaften, bei den
Beiratsmitteln und beim Programm Soziale Stadt wird außerdem gekürzt. Die
Ressorts werden dabei unterschiedlich stark belastet. Die Innenbehörde etwa
trägt im laufenden Jahr rund 1,7 Millionen Euro bei, Bildung 2,4 Millionen und
Bau knapp 4,5 Millionen Euro. Die Kasse "Allgemeine Finanzen" liefert 5,6
Millionen Euro. Hieraus werden unter anderem Gebäudesanierungen finanziert.
Zusätzlich dazu hat sich der Senat auf eine Kürzung von zehn Millionen Euro in
diesem Jahr quer durch alle Dienststellen geeinigt. Damit soll ausgenutzt
werden, dass während der haushaltslosen Zeit ohnehin nur begrenzt Ausgaben
erlaubt sind. Bürgermeister Böhrnsen wehrte sich gestern dagegen, angesichts der
Verschiebungen und Streckungen von einem Finanztrick zu sprechen. Fakt sei, dass
der Haushalt 2006 und 2007 um je 30 Millionen Euro niedriger ausfalle. Böhrnsen:
"Wir sind zufrieden." Das vorliegende Zahlenwerk unterstreiche, dass der Senat
auch in schwieriger Zeit in der Lage sei, politische Entscheidungen zu fällen.
Thomas Röwekamp antwortete bereits im Vorgriff auf den Vorwurf, die
Haushaltsstrategie würde künftige Generationen belasten: "Es kann nicht alles in
diesem Doppelhaushalt passieren." Den Auftrag, die je 30 Millionen einzusparen,
hatte sich der Senat am 12. Dezember 2005 selbst erteilt. Maßstab für den
Betrag, um den es dabei geht, ist die Summe der Restmittel, die Jahr für Jahr
zwar im Haushalt vorhanden sind, aber von den Ressorts nicht abgerufen werden.
Der grüne Finanzpolitiker Jan Köhler übt Kritik am 30-Millionen-Beschluss. Er
sagt: "Die Große Koalition hat keine Probleme gelöst, sondern wie üblich
vertagt." Köhler befürchtet, dass die Entscheidung, Projekte zu strecken, zu
Lasten künftiger Haushalte gehen könnte. Einen Schlagabtausch am Rande lieferten
sich gestern CDU-Fraktionschef Hartmut Perschau und Finanzsenator Ulrich Nußbaum
(parteilos). Perschaus Aufschlag: Der Finanzsenator habe einmal mehr nicht zur
Lösung des Problems beigetragen. Die Finanzbehörde verweist als Antwort unter
anderem auf den Lösungsvorschlag in der 30-Millionen-Debatte. Perschau habe
offenbar in dieser Angelegenheit nicht mitbekommen, was passiere. Böhrnsen
sprang in einer weiteren Erklärung Nußbaum bei.
Weser Kurier vom 01.03.06 |