Jetzt neu: Qualitätsarbeit im Jugendamt
Bürgermeister und
Sozialsenatorin legen umfassenden Maßnahmenkatalog für das Jugendhilfesystem vor
An zwei Stellen
will der Senat ansetzen, um Fälle wie den Tod des zweijährigen Kevin in Zukunft
auszuschließen. Erstens sollen Drogenabhängige nur noch in Ausnahmefällen ihre
Kinder behalten dürfen, wie Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) gestern sagte.
Zweitens soll das Jugendamt seinen Auftrag erfüllen, für das Kindeswohl zu
sorgen.
Dass letzteres in
Bremen in der Vergangenheit nicht funktioniert habe, bestätigte Sozialsenatorin
Ingelore Rosenkötter (SPD) gestern bei der Vorstellung von
Verbesserungsmaßnahmen im Amt für Soziale Dienste. "Es ist nicht an allen
Stellen so gearbeitet worden, wie es der sensiblen Aufgabe angemessen gewesen
wäre." Jetzt soll beispielsweise werktags bis 16.30 in jedem Sozialzentrum ein
Jugendamtsmitarbeiter erreichbar sein. Wie viele Neueinstellungen nötig sein
werden, damit im Ernstfall jemand nicht nur ans Telefon gehen, sondern auch zum
Kind fahren kann, blieb unklar. Mitarbeiter des Jugendamtes hatten nach dem Tod
Kevins beklagt, zu viel zu tun zu haben, um sachgerecht arbeiten zu können.
Dafür soll
mittels Fortbildung und Supervision die Qualität der Arbeit verbessert werden.
Auch neu: Die Vorgesetzten sollen ihre Leitungsaufgaben wahrnehmen. Dazu muss
allerdings eine Aktenführung sicher gestellt werden, die es ermöglicht, einen
Fall anhand der Akte überschauen zu können. Der Fallmanager von Kevin hat
Ermittlungen zufolge nur eine "Lose-Blatt-Sammlung" geführt, seine Arbeit soll
trotz hoher Fehlzeiten nicht kontrolliert worden sein.
Zusätzlich soll
es ein Notruftelefon geben, wo Kindeswohlgefährdungen gemeldet werden können.
Dieses soll auch nach Dienstschluss und am Wochenende erreichbar sein.
Sozialsenatorin Rosenkötter sprach von einer "Verzahnung" mit bereits
bestehenden Angeboten. Bisher bietet nur das Mädchenhaus eine 24-Stunden-Hotline
an.
Bis Mai soll
außerdem ein Krisendienst eingerichtet werden, der auch außerhalb der
Dienstzeiten in kritischen Fällen eingreifen kann. Weitere Neuerungen: Ein
Handlungsleitfaden zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung, ein Clearings-Ausschuss,
bei dem Fachkräfte über besonders schwierige Fälle gemeinsam entscheiden. Und:
Die MitarbeiterInnen im Amt für Soziale Dienste sollen per Dienstanweisung
verpflichtet werden, Strafanzeige beim Verdacht auf Kindesmisshandlung zu
stellen. Und noch: Statt bisher zwei soll es in Zukunft sechseinhalb Stellen für
Amtsvormunde geben, die anstelle der Eltern das Sorgerecht wahrnehmen.
Bürgermeister
Böhrnsen forderte auch eine "Mentalitätsveränderung". Nicht nur der Staat,
sondern alle Teile der Gesellschaft müssten besser hinschauen, wenn es um Kinder
geht. Böhrnsen deutete an, dass der Untersuchungsausschuss weitere notwendige
Veränderungen nahe legen könnte. Wie viel die angekündigten Maßnahmen kosten
werden, sagte er nicht. "Wir werden das ausgeben, was nötig ist." eib
taz vom
09.01.2007

Alles neu im
Jugendamt
Es reicht nicht
"Das Jugendhilfesystem wird
verbessert" versprechen SPD-Bürgermeister und SPD-Sozialsenatorin. Sie listen
notwendige Verbesserungen auf, die nicht überraschen, aber in ihrer Gesamtschau
schockieren.
Kommentar von Eiken Bruhn
Ein Beispiel: In
Zukunft soll rund um die Uhr jemand erreichbar sein, der sich um Kinder - und
hoffentlich auch Jugendliche - in Not kümmert. Bisher war Hilfe also
Glückssache.
Jetzt soll ein
Notruftelefon eingerichtet werden und eine Clearing-Stelle und ein Krisendienst.
Geld soll keine Rolle spielen, versichert der Bürgermeister. Doch sein Satz "Wir
werden das ausgeben, was nötig ist" offenbart ein Dilemma. Es wird nicht
reichen, hier und da ein paar Euro auszugeben, damit ein freier Träger eine
Honorarkraft für die Hotline einstellt. Es reicht auch nicht, mit Fortbildung
und Supervision für eine bessere Motivation im Amt zu sorgen. Die stellt sich
nur bei gleichzeitiger Arbeitsentlastung ein. Und solange die Träger der freien
Jugendhilfe in einem Konkurrenzkampf um knappe Mittel gegeneinander ausgespielt
werden, können die ihre Arbeit nicht so machen, wie sie es gerne wollten. Dass
die CDU aber eine generelle Zurücknahme des Spardrucks auf das Sozialressort als
"nötig" erachten wird, ist ausgesprochen unwahrscheinlich.
taz vom
09.01.2007

Kein zweiter Fall Kevin
Sozialbehörde überprüfte Schicksale von 1.000 Kindern in
einem Sofortprogramm
Von Rose Gerdts-Schiffler
Nach dem Tod des zweijährigen Kevin hatte
die Sozialbehörde ein Sofortprogramm gestartet, um die Lebensverhältnisse von
rund 1000 Kindern zu überprüfen, die in den vergangenen zwei Jahren zeitweise
aus ihren Familien herausgenommen worden waren. "Es gibt keinen zweiten Fall
Kevin", lautete das Fazit. Allerdings habe der Tod des Jungen strukturelle
Probleme in der Jugendhilfe aufgedeckt. Sozialstaatsrat Joachim Schuster (SPD)
bedankte sich gestern ausdrücklich bei den Sozialarbeitern, Fallmanagern und
Sachbearbeitern, die an der Prüfung der 1000 Kinderschicksale in Bremen in den
vergangenen Wochen mitgewirkt haben: "Da steckt ein Riesenengagement dahinter."
Nicht bei allen Betroffenen und ihren Familien sei es nötig gewesen, an der
Haustür zu klingeln. Viele hätten als Erziehungsmaßnahme einen Kindergartenplatz
oder eine Krabbelgruppe zugewiesen bekommen. "Wenn das Kind dort jeden Tag
hingebracht wird und die Betreuer uns sagen, dass es keine Auffälligkeiten gibt,
müssen wir da nicht persönlich erscheinen", sagte Heidemarie Rose,
Abteilungsleiterin Junge Menschen. Dasselbe gelte für Familien, in denen täglich
ein Familienhelfer vor Ort sei. Dort, wo keine Mitarbeiter Freier Träger
regelmäßig Kontakt zu den Kindern hätten, seien die Mitarbeiter zu den Familien
nach Hause gegangen. "Bei der Mehrheit lief alles richtig. In zehn bis 15
Prozent aller Fälle haben wir uns aber entschieden, Erziehungs- oder
Fördermaßnahmen zu intensivieren", sagte Schuster. So hätten die Sachbearbeiter
vermehrt Familienhebammen in betroffene Familien mit Säuglingen geschickt. Sie
kommen ein Jahr lang mindestens einmal die Woche, um belasteten Eltern beiseite
zu stehen. In zwei Fällen habe man die bereits eingeleitete Trennung vom
Elternhaus beschleunigt. Die Kinder seien in Pflegefamilien untergebracht
worden. Der stark in die Kritik geratene Fallmanager des kleinen Kevin hatte
noch 80 weitere Kinder betreut. Die Überprüfung seiner Fälle soll spätestens in
14 Tagen abgeschlossen sein, kündigte Schuster gestern an. Schon jetzt sei
deutlich, dass nicht nur das individuelle Versagen des Fallmanagers zum Tod des
Zweijährigen geführt habe, betonten Schuster und Rose übereinstimmend. "Es gibt
auch strukturelle Gründe." Nähere Angaben wollte der Staatsrat gestern dazu noch
nicht machen. Unabhängig davon sei aber klar, dass Helfer auch an Wochenenden
und nachts erreichbar sein müssten.
Weser Kurier vom 07.12.2006

Methadonarzt wird überprüft
Vergabepraxis fiel schon früher auf
Von Rose Gerdts-Schiffler
Nach Informationen unserer Zeitung läuft vor dem Hintergrund
des tragischen Todes des zweijährigen Kevin nun ein Prüfverfahren gegen einen
Bremer Methadonarzt. Der Mediziner soll den nicht leiblichen Vater des kleinen
Jungen, Bernd K., neben Methadon auch mit Diazepam und Ritalin versorgt haben.
Eine Mischung, die nicht zulässig ist. Die Bremer Methadonkommission soll den
Mediziner bereits im Frühsommer dieses Jahres aufgrund seiner Vergabepraxis
überprüft haben.Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer
wollten zu dem konkreten Fall keine Stellung beziehen. "Das unterliegt dem
Datenschutz", betonte Heike Delbanco von der Ärztekammer. Bei schwerwiegenden
Verstößen müssten sich Mediziner aber einem berufsgerichtlichen Verfahren
stellen. Außerdem könne ihnen von der Gesundheitsbehörde die Approbation
entzogen werden.Auch Günter Scherer von der Kassenärztlichen Vereinigung wollte
sich nur allgemein zu den Abläufen äußern. Demnach sei die Bremer
Methadonkommission paritätisch mit vier Vertretern aus der KV und den Kassen
besetzt. Die Kommission überprüfe in jedem Quartal stichprobenartig
Methadonpraxen in Bremen. Bei Auffälligkeiten müssten sich die Mediziner einem
Beratungsgespräch unterziehen, Leistungskürzungen in Kauf nehmen oder dürften
künftig kein Methadon mehr an Süchtige vergeben. Aktuell gebe es bei zwei
Medizinern in Bremen "Klärungsbedarf". Nähere Angaben wollte Scherer dazu nicht
machen.
Weser Kurier vom 24.11.2006
Diskussion um Pflichtuntersuchungen für Kinder
Zypries will Schwelle für gerichtliches Eingreifen senken
Unter dem Eindruck jüngster Fälle von Kindesmisshandlungen geht die Debatte
um Zwangsmaßnahmen für eine Früherkennung von Gewalt gegen Kinder weiter.
Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) will über den Bundesrat eine
gesetzliche Pflicht zur regelmäßigen Arztuntersuchung für Kinder bis zu fünf
Jahren durchsetzen.
"Der Fall Kevin und die vielen anderen traurigen
Kinderschicksale zeigen, dass dringender Handlungsbedarf besteht", betonte er.
Gegen eine Bestrafung von Eltern für den Fall, dass sie ihre Kinder nicht zur
Vorsorgeuntersuchung schicken, wendet sich der Präsident des Deutschen
Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. "Ich bin dafür, dass den Kindern geholfen
wird. Ich bin aber dagegen, dass die Eltern bestraft werden", sagte er der dpa.
Oft seien die Familien von gefährdeten Kinder arm. "Wer hier mit dem Entzug von
Kindergeld droht, verschlimmert die soziale Lage dieser Familien nur." Richtig
findet Hilgers dagegen den Vorschlag von Justizministerin Brigitte Zypries
(SPD), die Schwelle für ein gerichtliches Eingreifen gegen Eltern, die ihre
Kinder vernachlässigen, zu senken.
Das Bundesfamilienministerium bekräftigte die Ablehnung von
ärztlichen Zwangsuntersuchungen für Kinder. Familienministerin Ursula von der
Leyen (CDU) will in einem "Zentrum des Bundes für frühe Hilfen" alle
Informationen zur Kinder- und Jugendhilfe bündeln. Frühwarnsysteme zur Erkennung
von Gewalt gegen Kinder sollen regional aufgebaut werden.
In Fachkreisen der Bundesregierung wird auch darauf
verwiesen, dass sich die Familienexperten ganz überwiegend gegen
Pflichtuntersuchungen für Kinder aussprächen. In Bayern - so hieß es ferner -
seien gerade erst die Eingangsuntersuchungen an Schulen aus Kostengründen
abgeschafft worden.
Münchner Merkur vom 14.11.2006
Die Ratlosigkeit bleibt zurück
Der zweijährige Kevin ist auf dem Waller Friedhof beigesetzt worden - "Er
war doch noch so klein"
Von Jörg Esser
Ein
kleiner weißer Sarg steht in der dunklen Kapelle des Waller Friedhofs. Kerzen
leuchten. Wenige Kränze zieren den Sarg. Mit Rosen, mit einem Teddy, mit zwei
lachenden Spielzeugdrachen. Die kleine Trauergemeinde nimmt mit einer stillen
Feier Abschied vom zweieinhalbjährigen Kevin, dessen kurzes Leben ein einziges
Martyrium war. Ratlosigkeit bleibt zurück.
Kevin hatte nie eine Chance. Er kam am 23. Januar 2004 als
Kind einer drogenabhängigen Mutter zur Welt. Viel zu früh. Mutter und Kind
mussten zum Entzug. Die Mutter starb vor rund einem Jahr. Das Jugendamt übernahm
die Vormundschaft und ließ den kleinen Kevin bei seinem drogenabhängigen
Stiefvater. Eine tödliche Fehlentscheidung. Im Kühlschrank der Wohnung des
41-Jährigen wurde Kevins Leiche am 10. Oktober gefunden. Der zerschundene Körper
des kleinen Jungen wies Spuren von Misshandlungen auf.
Kevin starb eines gewaltsamen Todes. Wann, das steht bislang
noch nicht fest. Der Stiefvater sitzt in Untersuchungshaft. Gegen ihn wird wegen
Totschlags und Misshandlung von Schutzbefohlenen ermittelt. Er habe den Wunsch
geäußert, an der Beisetzung Kevins teilzu nehmen, war gestern zu erfahren. Doch
der wurde ihm verwehrt.
"Wir sind hier so voller Traurigkeit, voll bitterer Gedanken,
grübelnd nach dem Warum", sagte die evangelische Pastorin Jutta
Konowalczyk-Schlüter in ihrer Trauerpredigt. "Kevin hatte sein Leben noch nicht
gelebt, er war doch noch so klein."
Der irgendwie vorhersehbare Tod des kleinen Jungen hat die
Öffentlichkeit erschüttert. Bundesweit. "In unseren Köpfen und Herzen ist ein
widerspruchsvolles Konzert von Stimmen", formuliert es die Pastorin in ihrer
Trauerrede, "Schmerz, Ratlosigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung, Wut und
Trostlosigkeit - vieles geht durchein ander."
Das Bestattungsunternehmen hat dafür gesorgt, dass der kleine
Junge im Sarg eine Jeanshose und ein kariertes Oberhemd trägt. "Er ist
angezogen, wenn er in Gottes Ewigkeit heimkehrt, ein guter Gedanke", sagt die
Pastorin. Und weiter: "Bei Gott ist Kevin gut aufgehoben, ohne Schmerz, ohne
Leid." Womöglich sei dem kleinen Jungen viel erspart geblieben, hört man. Solche
Trauerfloskeln helfen gegen die Fassungslosigkeit.
Der kleine Sarg wird zum Grab gezogen. Die Trauergemeinde
folgt, nimmt an diesem tristen grauen Novembertag Abschied von Kevin. Die
Familie des Stiefvaters gehört dazu, Bürgermeister Jens Böhrnsen und seine Frau
Luise Morgenthal, Sozial-Staatsrätin Birgit Weihrauch, der Methadon-Arzt des
Stiefvaters, einige Nachbarn. Letztere haben vor dem Haus in Gröpelingen, in dem
Kevin so qualvoll starb, einen Apfeldornbaum gepflanzt, weil sie nicht einfach
zur Tagesordnung übergehen, sondern etwas ändern wollen.
"Es soll etwas bleiben. Kevin soll nicht umsonst gelebt haben
und gestorben sein", sagt Pastorin Konowalczyk-Schlüter. Die Ratlosigkeit aber
bleibt auch nach der Beisetzung zurück.
Kreiszeitung vom 14.11.2006]
Arztbesuch als Pflicht
Der Bremer Senat möchte, dass Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern
künftig Pflicht sind. Eine entsprechende Initiative will Bremen im Bundesrat
einbringen. Verbindliche Untersuchungen durch einen Kinderarzt sind für
Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) eine der notwendigen Schlussfolgerungen aus
dem Tod von Kevin.
taz vom 09.11.2006
Gerichtsmediziner: Kevin starb gewaltsam
Der zweijährige Kevin aus Bremen ist nach Angaben der Bremer
Landesregierung eines gewaltsamen Todes gestorben. Mögliche Todesursache sei ein
offener Oberschenkelbruch. Für eine solche Fraktur könne eigentlich kein Sturz
verantwortlich sein.
Der Bruch sei nicht behandelt worden und habe den Jungen eine
ganze Weile gequält. Das sagte am Freitag Senatssprecher Klaus Schloesser unter
Berufung auf Untersuchungen der Hamburger Gerichtsmedizin. «Kevin ist mit hoher
Wahrscheinlichkeit an den Folgen physischer Gewalt gestorben», erklärte
Schloesser.
Die Staatsanwaltschaft Bremen wollte diese Angaben nicht
bestätigen. «Es liegt noch kein abschließendes Rechtsgutachten der
Gerichtmedizin Hamburg zur Todesursache vor», sagte der Sprecher der
Staatsanwaltschaft, Frank Passade. Es gebe nur ein ergänzendes
«Knochengutachten». Dem sei zu entnehmen, dass der Oberschenkelbruch mit hoher
Wahrscheinlichkeit etwa ein bis zwei Wochen vor Kevins Tod entstanden sei. Wie
es dazu gekommen sei, sei weiter unklar. «Zum jetzigen Zeitpunkt verbieten sich
Spekulationen zur Todesursache.»
Polizisten hatten Kevins Leiche im Oktober im Kühlschrank des
drogensüchtigen früheren Lebensgefährten der Mutter entdeckt. Der Junge stand
unter Vormundschaft des Jugendamtes. Sein Tod löste bundesweit Entsetzen aus.
Kevin habe in seinem kurzen Leben viele Knochenbrüche
erlitten, sagte Schloesser. Zu einigen sei es aber erst nach dem Tod gekommen,
als der Drogensüchtige die Leiche in den Kühlschrank gesteckt habe.
Ein Untersuchungsbericht hatte
schwere Versäumnisse bei Mitarbeitern des Jugendamtes und Ärzten aufgezeigt.
Nach dem Bericht hätte der Junge noch leben können, wenn nicht gegen
Vorschriften verstoßen worden wäre. Als Folge der Behördenpannen war die Bremer
Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) zurückgetreten. Ein parlamentarischer
Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft hat mit der Aufarbeitung des
tragischen Falles begonnen.
dpa vom 10.11. 2006
Arbeitsaufnahme des Untersuchungsausschusses
Der Untersuchungsausschuss im Fall Kevin hat gestern seine
Arbeit aufgenommen. Unmittelbar nach den Weihnachtsferien, so der derzeitige
Fahrplan, sollen die ersten Zeugen vernommen werden. Bis dahin werden im
Untersuchungsausschuss Kindeswohl, wie er offiziell heißt, Papiere
durchgearbeitet. Wie im Anschluss an die erste Sitzung verlautete, sollen alle
"einschlägigen Unterlagen einschließlich der elektronischen Korrespondenz, der
Organigramme und der Verwaltungsanweisungen" zu Rate gezogen werden. Der
Ausschussvorsitzende Helmut Pflugradt (CDU): "Wir hoffen, dass der Senat schon
im Vorfeld die Akten zusammengestellt hat. Uns ist daran gelegen, dass der
Ausschuss seine inhaltliche Arbeit rasch aufnimmt."
Weser Kurier vom 04.11.2006
Suche nach Antworten im Fall Kevin kann beginnen
Bürgerschaft setzt einstimmig Untersuchungsausschuss ein
Von Michael Brandt
Die Bürgerschaft hat gestern einstimmig beschlossen, einen
Untersuchungsausschuss im Fall Kevin einzusetzen. Aufgabe des Ausschusses soll
es sein, Fehler im Behördenverhalten aufzuzeigen, die schließlich zum Tod des
zweijährigen Jungen geführt haben. Karoline Linnert, Fraktionsvorsitzende der
grünen Opposition, nannte den Fall "das größte Verwaltungsversagen in der
Geschichte Bremens. "Mit dem Beschluss setzt die Bürgerschaft innerhalb kurzer
Zeit bereits den zweiten Untersuchungsausschuss ein. Wie berichtet, soll ein
entsprechendes Gremium auch Licht ins Dunkel der Klinik-Affäre bringen. Karoline
Linnert nannte in ihrer Rede zahlreiche Beispiele aus den Akten, die es ihrer
Ansicht nach notwendig gemacht hätten, Kevin aus der Familie zu nehmen. Der
Junge sei mit einem Bruch des Unterschenkels, Brüchen der Unterarme und des
Schädels in die Kinderklinik eingeliefert worden. Warum, so Linnert gestern,
habe es keine Strafanzeige gegeben, warum keine Verhaftung desjenigen, der dies
getan habe? Auch nach Einschätzung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Carsten Sieling
hat das Hilfesystem komplett versagt. Er sprach auch die Geldfrage an. Wenn eine
neue Schwerpunktsetzung im Sozialressort nicht ausreiche, "dann müssen wir mehr
machen." Es wäre laut Sieling Aufgabe aller Senatsressorts, hier neue
Möglichkeiten zu eröffnen. Der Fall Kevin sollte Anlass sein, in großem Umfang
zu reagieren. Damit deutete Sieling zum Beispiel auf den Ausbau von
Ganztagsschulen. CDU-Fraktionschef Hartmut Perschau bezeichnete den
Untersuchungsausschuss als "ebenso alternativlos" wie den Rücktritt der
bisherigen Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD). Das Verhalten einiger Mitarbeiter
im Sozialamt mache ihn "schlicht fassungslos". Der Sachbearbeiter, der Kevins
Akte auf dem Tisch gehabt habe, habe auf sämtliche Hinweise mit "ganz
ungewöhnlicher Dickfelligkeit und ungewöhnlicher Selbstgerechtigkeit" reagiert.
Perschaus Frage: "Wie ist das möglich, dass über einen so langen Zeitraum nicht
reagiert worden ist." Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) bat im Parlament um
Verständnis dafür, dass Sofortmaßnahmen ergriffen würden, bevor der
Untersuchungsausschuss seinen Bericht vorlege. So seien bereits am Wochenende
Stellen zur Aufstockung des Amtes für Soziale Dienste ausgeschrieben worden.
Ziel sei es auch, neue Standarts für die Jugendhilfe zu entwickeln. Ein
Beispiel: Kinder in Problemfamilien sollten zweimal in der Woche von
professionellen Kräften besucht werden. "Das muss möglich sein und das wird
möglich sein. Das Wohl von Kindern steht über jeder Haushaltslage." Ferner
kündigte Böhrnsen einen Vorstoß an, die Vorsorge-Untersuchungen für Kinder im
Alter bis zu sechs Jahren verpflichtend zu machen. Dem Ausschuss gehören, auch
dem hat die Bürgerschaft gestern zugestimmt, sechs Mitglieder an. Es sind
Reimund Kasper, Hermann Kleen, Uta Kummer (alle SPD), Rita Mohr-Lüllmann, Helmut
Pflugradt (beide CDU) und Klaus Möhle (Grüne). Der Vorsitzende des Ausschusses,
Helmut Pflugradt, hat bereits für heute zur konstituierenden Sitzung eingeladen.
Weser Kurier vom 03.11.2006
Akte Kevin macht Böhrnsen fassungslos
Untersuchungsausschuss einhellig eingesetzt - 12 Abweichler
bei der Wahl der neuen Sozialsenatorin Rosenkötter
So viel Beifall der Koalition für die Sprecherin der
Opposition hat es lange nicht gegeben. Dabei ging es um einen
Untersuchungsausschuss, der Fehler in der Arbeit der Regierung aufklären soll.
Aber beim Thema Jugendamt scheinen derzeit alle einig: Einstimmig fiel auch der
Beschluss zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses.
Karoline Linnert (Grüne) hatte einige Details vom
gegenwärtigen Kenntnisstand berichtet, die völlig unerklärlich erscheinen
lassen, warum das Jugendamt nicht eingeschritten ist. So habe schon die Klinik Bremen-Nord, in der Kevin zur Welt kam,
erklärt, dass die Mutter mit der Sorge für das von Geburt HIV-infizierte Kind
überfordert sei. Bernd K., der vom Jugendamt wie ein Vater behandelt wurde, war
nicht der Vater von Kevin und die Vaterschaft auch rechtlich nie anerkannt. Auf
der Säuglingsstation hatte er aufgrund seines Verhaltens Hausverbot bekommen.
Dennoch fand der eine erste Kontrollbesuch des Jugendamtes
erst im August 2004 statt, sieben Monate nach der Geburt, angeregt durch die
Polizei. Die Kinderklinik stellte wenig später "multiple traumatische Frakturen"
beim Kind fest, Entwicklungsstörungen und Anzeichen von Kindesmisshandlung.
"Warum gibt es in unserer Gesellschaft da keine
Strafanzeige?", fragte Linnert. Offenbar hätten die Drogenhelferin der Mutter
und der Arzt, der Bernd K. das Methadon - und rechtswidrig auch andere Drogen -
verschrieb, zu den Eltern gehalten. "Kevin gibt es als Mensch in der Akte des
Jugendamtes nicht", so Linnert. Bürgermeister Jens Böhrnsen griff das Erstaunen
der Oppositions-Politikerin auf: Wenn sich bestätigen würde, dass Kevin schon
Ende Juli gestorben ist, würde das bedeuten, dass die Behörde acht Wochen lang
"die Akte bearbeitet hat und nicht wusste: Wie geht es dem Kind. Nicht
auszuhalten diese Vorstellung".
Im Anschluss an die Einsetzung des Untersuchungsausschusses
wurde Ingelore Rosenkötter (parteilos) zur Sozialsenatorin gewählt. Ihr fehlten
zwölf Stimmen aus den Reihen der Koalition.
taz vom 03.11.2006
Warum so viele Hilfsangebote scheiterten - eine Chronologie
des Wunschdenkens
Die nachfolgenden Links führen zur Dokumentation
Von Peter Voith
Es gab in Bremen so viele Menschen, die sich Sorgen um Kevin
machten und wirklich helfen wollten - warum der Kleine dennoch nur ein kurzes
Leben hatte, offenbart ein Blick in die Akten des Amtes für Soziale Dienste, die
Justiz-Staatsrat Ulrich Mäurer (SPD) ausgewertet hat. Was sie belegen,
dokumentieren wir in einer redaktionell überarbeiteten Chronologie.
Die 34-Jährige Sandra K., die seit 20 Jahren an der Nadel
hängt, an Aids erkrankt ist und deren Vater sich vor 28 Jahren das Leben nahm,
bringt ihren Sohn im Klinikum Bremen-Nord per Kaiserschnitt zur Welt. Kevin ist
eine Frühgeburt und leidet, kaum dass er das Licht der Welt erblickt hat, unter
Entzugserscheinungen. Sein Vater ist Bernd Kk., 39 Jahre alt, ebenfalls
drogenabhängig. Als er 14 Jahre alt war, nahm sich auch sein Vater das Leben.
Nach 47 Tagen wird Kevin trotz Bedenken des Klinikpersonals
zusammen mit seiner Mutter aus der Klinik entlassen. Zusammen mit dem -
vermeintlichen - leiblichen Vater nehmen sie an einer Entgiftungskur in
Heiligenhafen teil. Mit welchem Erfolg - dazu findet sich in der Akte kein
Hinweis.
Der Sachbearbeiter des Jugendamtes bietet der Familie Hilfen
an, doch sie schlägt diese aus. Man brauche keine Hilfe, es stünde alles
bestens. Der Sachbearbeiter wendet sich an den Arzt, der die Eltern mit der
Ersatzdroge Methadon therapiert und bittet ihn, die Eltern zu überreden,
vielleicht doch etwa dem Einsatz einer Familien-Hebamme zuzustimmen. Eine
Reaktion des Arztes ist in den Akten nicht dokumentiert. Ende Mai schreibt das
Klinikum Bremen Nord dem Sachbearbeiter, dass aus kinderärztlicher Sicht
erhebliche Bedenken bestehen, dass die Mutter das Kind versorgen könne. Falls
Probleme weiter auffällig würden, müsse erwogen werden, "das Kind von der
Betreuung der Eltern zu entfernen". Eine Reaktion des Amtes ist nicht
dokumentiert.
Die Polizeiwache schreibt einen Notlagenbericht an die
Jugendbehörde. Sandra K. sei mit ihrem Säugling abends betrunken durch die
Straßen spaziert, sie soll das Kind geschlagen, unter anderem mit der flachen
Hand auf das Auge gehauen haben. Den Beamten "erscheint zweifelhaft, ob die Frau
K. in der Lage ist, bei ihrem Kind eine sozial-adäquate Erziehung zu
gewährleisten".
Der Sachbearbeiter schickt die Polizeimeldung an den
Methadon-vergebenden Arzt, mit der Bitte, "diesbezüglich mit der Mutter zu
sprechen". Eine Reaktion des Mediziners ist nicht aktenkundig.
Kevin kommt mit diversen Knochen- und Rippenbrüchen -
teilweise älteren Ursprungs - in die Professor-Hess-Kinderklinik. Der Sachbearbeiter des Jugendamtes besucht den Vater. Der
führt die Beinverletzung auf das Kinderbett zurück, wo Kevin angeblich einmal
mit dem Bein zwischen den Sprossen hängen geblieben ist. Die Rippenbrüche
könnten durch die Nachbarin X entstanden sein, die Kevin auf dem Arm haltend zu
sehr gedrückt habe. Er und Kevins Mutter würden ihrem Kind niemals Leid zufügen.
Der Sachbearbeiter überzeugt sich "von einer gut aufgeräumten, nett
eingerichteten Wohnung". Weiter notiert er: "Auch das Kinderzimmer war liebevoll
eingerichtet und im Badezimmer befanden sich frisch gewaschene Stofftiere, die
dort zum Trocknen auslagen."
Mit einem Fahrplan für die weitere medizinische Betreuung
wird Kevin aus der Klinik entlassen.
Wieder wird die Polizei in die elterliche Wohnung Kevins
gerufen. Im Hausflur schläft seine unter Drogen und Alkohol stehende Mutter. Das
Kind schreit und hat eine rote Stelle auf der Stirn und auf der rechten Wange.
Die Beamten vermuten, möglicherweise habe die Mutter das Kind auf den Boden
fallen lassen, als sie einschlief. Zunächst kommt Kevin ins Diako und dann ins
Hermann-Hildebrand-Haus.
Der Methadon vergebene Arzt wendet sich an den Sachbearbeiter
und teilt mit, die Eltern wollten das Kind zurück haben. Er sehe keinen Grund,
ihnen das Kind vorzuenthalten - und erklärt: "Es gibt viele alkoholisierte
Mütter."
Kevin kommt zurück zu seinen Eltern und soll jetzt ambulant
von Mitarbeitern der Hans-Wendt-Stiftung unterstützt werden - im Rahmen des
Programms "Familie im Mittelpunkt".
Ein Kinderarzt vom Gesundheitsamt macht wegen eines Antrags
der Eltern auf Frühförderung ihres Kindes einen Hausbesuch und notiert, die
Wohnung mache einen "unaufgeräumten, chaotischen, aber nicht ungepflegten
Eindruck".
Bei einer Abschlusskonferenz protokollieren der
Sachbearbeiter und die Hans-Wendt-Mitarbeiter, dass die Eltern in den
vergangenen Wochen "sehr interessiert und kooperativ gewesen" seien. "Die Eltern
gehen sehr liebevoll und fürsorglich mit ihrem Sohn um, und es wird eine stabile
Bindung deutlich. Das Familienleben dreht sich um Kevin."
Kevins Kinderarzt meldet dem Jugendamt, er mache sich Sorgen
um das Kindeswohl, das Kind habe 500 Gramm abgenommen und sei extrem blutarm.
Eine kurzfristige Reaktion des Amtes auf diese Mitteilung ergibt sich aus den
Akten nicht.
Die Mutter von Kevin erleidet eine Totgeburt.
Wegen räuberischen Diebstahls wird Bernd Kk. zu anderthalb
Jahren auf Bewährung verurteilt. Kevin ist bei der Verhandlung gegen seinen
Vater, der schon 13 Jahre Gefängnis hinter sich hat, mit dabei.
Wieder wird die Polizei in die elterliche Wohnung gerufen,
diesmal von Kevins Vater selbst. Kevins Mutter raste aus, er wisse sich nicht
mehr zu helfen. Die Beamten sehen einen Kevin, der "von oben bis untern komplett
verdreckt" ist. Sie mahnen, das Kind benötige unbedingt mehr Pflege und Hygiene.
Zwei Mitarbeiterinnen des Sozialzentrums machen daraufhin
einen Hausbesuch und notieren, dass der Vater in erste Linie für die Versorgung
zuständig sei und er keinen "zugedröhnten Eindruck" gemacht habe. "Das Kind
musste von uns heute nicht in Obhut genommen werden."
Mehrfach erklärt Kevins Vater dem Jugendamt-Sachbearbeiter,
die Familie werde demnächst wegziehen. Erst ist von Alfeld, dann auch von
Hildesheim die Rede.
Kevins Mutter stirbt an einem Milzriss, ein Fremdverschulden
kann zunächst nicht ausgeschlossen werden. Kevin wird zum zweiten Mal ins
Hermann-Hildebrand-Haus gebracht, sein Vater wird in die Klinik Dr. Heines
zwangseingewiesen.
Das Familiengericht überträgt die Vormundschaft für Kevin auf
das Jugendamt.
Gegen erhebliche Widerstände des Hermann-Hildebrand-Hauses
und des Kinderarztes sorgen der Amtsvormund und der Sachbearbeiter dafür, dass
Kevin zurück zu seinem Vater kann.
Die Amtsrichterin erkundigt sich wegen der vorläufigen
Amtsvormundschaft nach dem Stand der Dinge und stellt die Frage: "Wo lebt Kevin
jetzt eigentlich?" Einen Tag später erklärt der Sachbearbeiter, der Vater sei
mehrere Wochen bei seinen Eltern in der Nähe Alfelds gewesen (wo er tatsächlich
nur ein paar Tage war).
Die Bewährungshelferin von Bernd Kk. erklärt dem
Sachbearbeiter, sie mache sich Sorgen, dass er (der Vater) mit der Versorgung
seines Kindes überfordert sei.
Bürgermeister Jens Böhrnsen (er ist ehrenamtlich für das
Hildebrand-Haus tätig) beauftragt Karin Röpke damit - nachdem er nun die Namen
der Kinder bekommen hat - , sich um zwei Fälle, darunter der von Kevin, zu
kümmern. Die Senatorin wiederum reicht den Auftrag an den Leiter des Amtes für
Soziale Dienste weiter, wird wenig später Entwarnung bekommen und die gute
Nachricht wiederum an Böhrnsen weiterleiten.
Um Kevin soll sich eine Tagespflegemutter kümmern, doch sein
Vater lehnt die Frau wegen ihrer syrischen Nationalität ab.
Dreimal insgesamt ist Kevin inzwischen dennoch bei der
Tagesmutter gewesen. Danach berichtet sie dem Jugendamt von einem Verband am Fuß
und blauen Flecken am Körper von Kevin.
Nachdem Kevins Vater mehrere Termine mit dem Jugendamt ohne
Begründung platzen gelassen hat, erscheint er jetzt doch - zusammen mit seinem
Sohn. Es ist nach Aktenlage das letzte Mal, dass der Fallmanager Kevin lebend
sieht.
Mehrfach versäumt Kevins Vater Termine, bei denen sein Sohn
beispielsweise vom Gesundheitsamt untersucht oder für den Spielkreis angemeldet
werden soll.
Kevins Vater gibt für den dritten Termin der Frühförderung
vor, sich eine falsche Zeit notiert zu haben. Als die Mitarbeiterin der frühen
Hilfen an der Wohnungstür klingelt, erklärt ihr Bernd Kk., jetzt sei "Kevin mit
Nachbarn zum Schwimmen".
Kevin kommt nicht zum Spielkreis. Die Familienrichterin fragt
abermals nach, wo das Kind jetzt ist und ob es noch vom Vater versorgt werde.
Der Sachbearbeiter antwortet, der Vater lebe mit Kevin nach wie vor unter der
alten Anschrift, es gebe regelmäßigen Kontakt.
Kevins Vater behauptet, sein Sohn sei in der Elternschule.
Eine Rückfrage dort ergibt: Kevin war nie dort. Der Amtsvormund macht am 4. und
5. des Monats Hausbesuche. Niemand öffnet die Tür. Der Vater hält das Amt weiter
hin: Es bestehe "Null Grund zur Sorge". Kevin gehe es gut. Zwei Wochen später
bereitet das Amt die Herausnahme des Jungen aus der Wohnung vor. Zum
Gerichtstermin am 25. September erscheint Bernd Kk. nicht.
Nachdem er auch zu diesem Gerichtstermin nicht kommt,
beschließt das Gericht sofort die Herausnahme des Kindes. (An dieser Stelle
endet die Fallakte.)
10. Oktober
Gewaltsam öffnet die Polizei die Wohnung von Bernd Kk. Die
Beamten finden die Leiche Kevins im Kühlschrank. Es ist ein grauenhafter
Anblick. Kevin ist vermutlich schon seit Juli tot. Er wurde etwa zweieinhalb
Jahre alt.
Weser Kurier vom 01.11.2006
Dem eigenen Helfer ausgeliefert
Kevin K.
Kommentar on Rose Gerdts-Schiffler
Der Name des Jungen, der im Januar 2004 mit
Heroin-Entzugserscheinungen im Klinikum Nord zur Welt kam und sofort auf die
Intensivstation verlegt wurde, kursierte schon nach wenigen Monaten in Bremer
Amtsstuben. Seine Mutter war seit ihrem 14. Lebensjahr drogensüchtig und
HIV-positiv. Nicht besser sah es um ihren Partner Bernd K. aus, einen
vorbestraften, süchtigen Mann, gewalttätig und psychisch auffällig.
Es gab wohl kaum ein Kind in Bremen, das jemals so viele
besorgte Fürsprecher fand und so jämmerlich zu Tode kam.
Da war die Familienhebamme, die sofort nach Kevins Geburt
Alarm schlug. Oder die Klinikärzte, die bezweifelten, dass die Eltern in der
Lage waren, Kevin zu versorgen. Der Kinderarzt des Jungen meldete sich mehrfach
beim Amt. Aber er stieß beim Fallmanager auf taube Ohren. So wie eine
Familienrichterin, die Polizei, der Leiter des Hermann-Hildebrand-Hauses, der
Bürgermeister, die Sozialsenatorin Karin Röpke . . .
Nichts und niemand, selbst das Engagement der eigenen
Senatorin schien den für Kevin zuständigen "Fallmanager" beeindrucken zu können.
Warum beantragte der Sozialarbeiter nicht, dass das Kind den Eltern entzogen
wird? Mit einem Schlag wäre er den komplizierten Fall und die vielen Akteure
losgeworden. Zumindest diesmal hätten fiskalische Gründe schon wegen des
Engagements der Politiker wohl nur eine untergeordnete Rolle gespielt.
Stattdessen informierte er die Behördenspitze falsch. Oder,
um es klarer zu sagen: Er log sie an. Doch warum? Und wieso legte der
Fallmanager so einen großen Wert auf die Meinung des Mediziners, der Kevins
Vater seit Jahren substituierte, während er alle Appelle von Kevins Kinderarzt
in den Wind schlug?
Fragen, die das Ermittlungsverfahren zu klären hat. Auch auf
den Untersuchungsausschuss wartet viel Arbeit. Denn innerhalb des Amtes gab es
keine funktionierenden Kontrollmechanismen gegenüber den eigenen Mitarbeitern.
Kevin war seinem Fallmanager regelrecht ausgeliefert. Die vorgelegte
Dokumentation offenbart nicht eine, sondern zig Fehlentscheidungen. Wer
garantiert, dass der Fallmanager nicht auch bei anderen Kindern versagt hat? Das
Jugendamt muss schleunigst sämtliche Akten akribisch überprüfen.
Weser Kurier vom 01.11.2006
Abgründe im Fall Kevin
Dokumentation des Bremer Rathauses offenbart Lügen und fehlende Kontrolle
Von Rose Gerdts-Schiffler
Keine noch so eindringliche Warnung von Medizinern, Juristen
oder der Polizei an das Jugendamt konnte Kevins Leben retten. "Der Maßstab aller
Dinge waren die Wünsche der Eltern." Zu diesem Ergebnis kam Staatsrat Ulrich
Mäurer, der gestern im Auftrag von Bürgermeister Jens Böhrnsen eine 60-seitige
Dokumentation zum Tod des Zweijährigen vorlegte. Das Aktenstudium des Juristen
offenbarte gleich mehrere Überraschungen. So habe die persönliche Intervention
der früheren Sozialsenatorin Karin Röpke und von Bürgermeister Jens Böhrnsen
zwar "erhebliche Aktivitäten im Amt" ausgelöst, für Kevin selber änderte sich
aber nichts. Als Karin Röpke 2006 in ihrer eigenen Behörde nachhakte, erhielt
sie, laut Mäurer, zur Antwort: "Es gibt keine Probleme mehr." Fakt war: Kevins
Lage wurde von Monat zu Monat dramatischer. Denn Bernd K., den die Behörden
irrtümlich als Kevins Vater ansahen, nahm keines der vielen Hilfsangebote an.
Der "Fallmanager", so die amtliche Bezeichnung für den zuständigen Mitarbeiter,
habe daraus aber keine Konsequenzen gezogen, sagte Mäurer. Zugleich zeige der
Fall, dass auch die Kontrolle des Fallmanagers durch die Vorgesetzten versagt
habe. Vermutungen, Kevins Tod sei durch den Sparzwang im Ressort mitverursacht,
erteilte Mäurer eine Absage. "Es waren keine fiskalischen Gründe, die zu Kevins
Tod führten." Alle Warnungen seien vom zuständigen Mitarbeiter mit "nichtssagenden
Kommentaren" beantwortet worden. Im Zusammenhang mit dem Tod von Kevins Mutter
im November 2005 geht die Staatsanwaltschaft inzwischen davon aus, dass "kein
Fremdverschulden" vorliegt. Nach Informationen unserer Zeitung aber steht auch
nach einem zweiten Gutachten nicht definitiv fest, wie Sandra K. zu Tode
gekommen ist.
"Die Unterlagen liefern keinen Anhaltspunkt für Spardruck"
Justizstaatsrat Ulrich Mäurer im Interview: Die nötige Kontrolle der Eltern
und die kritische Distanz zum Arzt des Vaters fehlten
Justizstaatsrat Ulrich Mäurer (SPD) hat anhand der Akten des
Amtes für soziale Dienste und des zuständigen Sozialzentrums Gröpelingen das
kurze Leben von Kevin, die Situation seiner Eltern und das Verhalten der
Behörden-Mitarbeiter rekonstruiert. Gestern stellte er seinen
Bericht vor.
Unsere Redakteurin Elke Gundel fragte ihn nach seinem Fazit.
Frage: Ist der Fall in den Unterlagen gut oder schlecht
dokumentiert?
Ulrich Mäurer: Die Informationen, die sich in den Akten über
die Situation der Eltern und das kurze Leben von Kevin finden, reichen bei
weitem aus, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Wer wissen wollte, wie es
wirklich um den Jungen steht, findet in den Akten genügend Hinweise, denen er
hätte nachgehen können. Außerdem finden sich dort zahlreiche Ansprechpartner,
die man hätte anrufen und fragen können.
Ihr Fazit?
Es gab immer wieder neue Hilfsangebote. Die Eltern haben sie
zum großen Teil abgelehnt. Das hatte, leider, keine Konsequenzen. Dabei macht
etwa die einschlägige fachliche Weisung des Amtes für Soziale Dienste klare
Vorgaben, wie zu verfahren ist: Sind die Eltern nicht in der Lage, die
vereinbarten Absprachen einzuhalten - zum Beispiel regelmäßige Arztbesuche -
kann ein Kind letztlich nicht in der Familie bleiben.
Die größten Versäumnisse?
Kurz gesagt: Es gab ein umfangreiches Hilfsangebot, aber die
nötige Kontrolle gegenüber den Eltern fehlte. Eine enge Begleitung der Familie
wurde von Anfang an nicht etabliert. Es gab keine regelmäßigen Hausbesuche. Das,
was die Eltern zum Beispiel dazu sagten, wie sich Kevin die vielen Knochenbrüche
zugezogen haben soll, wurde nicht überprüft. Es gab, obwohl das vorgesehen ist,
kein Kontrollsystem, das es dem Jugendamt ermöglicht hätte, rechtzeitig die
Gefährdung des Jungen zu erkennen.
Link zu den
Schlussfolgerungen (Teil 4 des Berichts von Ulrich Mäurer)
Mit Elefanten im Karton auf Hausbesuch
Wie sich Sozialarbeiter Detlev Bartsch um das Wohl von Problemkindern
kümmert - "Kevin? Das kann eigentlich nicht passieren"
Kevin - Vater Staat sollte sich um ihn kümmern und hat
versagt. Kevin ist tot, und wie viele Menschen, kann auch Detlev Bartsch das
nicht begreifen. Er ist einer von etwa 450 Sozialarbeitern in der Stadt, die
sich im Auftrag des Jugendamtes um Problemkinder kümmern. Auch wenn der
Mitarbeiter der Rot-Kreuz-Jugendhilfe „Kleine Marsch" leise Kritik am
Hilfesystem übt - „wir bekommen die Fälle manchmal zu spät" - dass in Bremen ein
Kind durch die Maschen des Systems schlüpfen kann, das will ihm bis heute nicht
in den Kopf. Wir wollten wissen, wie sich Sozialarbeiter um das Wohl von Kindern
kümmern und begleiteten den 49-Jährigen bei einem Hausbesuch.
Von Peter Voith
Unten im Hof fegt ein kalter Wind zwischen den mit Filzstift
bekritzelten Betonpfeilern hindurch. Es ist Donnerstag kurz vor halb zehn. Die
Kinder sind in der Schule. Kein Lärm. Der angrenzende Spielplatz ist leer. "Die
Eigentümer" der Wohnblocks im Fehrfeld, nur wenige Schritte entfernt vom
Ostertorsteinweg, mahnen: "Fußballspielen ist im Innenhof nicht erlaubt."
Schilder, die Junkies mahnen, auf dem Spielplatz keine Drogen zu konsumieren,
oder die die Eltern mahnen, ihre Kinder nicht zu schlagen, sind nicht zu finden.
Detlev Bartsch kennt die Wohnblocks und viele ihrer Bewohner
inzwischen gut. Der Hobbysportler und -fotograf entspricht so gar nicht dem
gängigen Klischee eines linken Sozialarbeiters mit Vollbart und selbst gedrehter
Zigarette. Er hat kurze Haare, einen Lodenmantel. "Manche Leute denken, ich sei
von der Kripo." Bartsch redet eher wenig. Und wenn, dann manchmal sogar
plattdeutsch. Der Sohn eines Schneidermeisters aus Norden ist seit 17 Jahren
Sozialarbeiter bei der Jugendhilfe des Roten Kreuzes. Heute hat er einen Termin
hier im Fehrfeld. Seine Klientin um 9.30 Uhr ist Britta Klein
(Namen von der Redaktion geändert), eine allein erziehende Mutter von
fünf Kindern, die von mehreren Vätern stammen. Bevor er bei Frau Klein im dem
sechsstöckigen Haus klingelt, sagt der 49-jährige Bartsch wegen der Vielzahl
seiner Kunden: "Ich könnte hier ein Büro aufmachen."
Britta Klein weiß, dass Bartsch heute einen Journalisten
mitbringt. Er hat sie vorher gefragt, ob sie einverstanden ist. Und sie habe
sofort eingewilligt. Sie verstehe, dass nach dem Fall Kevin die Öffentlichkeit
gern erfahren möchte, wie das Amt für soziale Dienste sich um die Kinder und
Jugendlichen kümmert, die in problematischen Verhältnissen aufwachsen. Sie habe
zu ihm, Bartsch, gesagt: "Bringen Sie ihn ruhig mit. Ich habe damit keine
Probleme."
Schnäppchen-Krokodil
Britta Klein, 40 Jahre alt, weiche Gesichtszüge, blond
gefärbte Haare mit einem modischen Kurzhaarschnitt, erwartet uns an der Tür der
Vier-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock. Auf dem Arm hält sie ihre fast zweijährige
Tochter Aline*. Die Kleine begrüßt Detlev Bartsch über beide Wangen strahlend
mit quietschvergnügten Brabbellauten.
Britta Klein und Bartsch setzen sich ins Wohnzimmer, das die
Mutter gleichzeitig zu ihrem Schlafzimmer gemacht hat. Zwei Tiere wohnen
ebenfalls in diesem Zimmer: ein Kanarienvogel im Käfig und eine Schildkröte in
einem Aquarium. Damit die Kröte nicht ganz allein ist, leistet ihr ein auf dem
Aquarienboden liegendes Krokodil Gesellschaft. Es ist aus Plastik. "Hab ich für
3,99 Euro bei Zimmermann gekauft", freut sich Britta Klein noch heute über
dieses Schnäppchen. Sie hält sich und ihre Familie mit Sozialhilfe und kleinen
Nebenjobs über Wasser.
Um das Gespräch zu beginnen, braucht Sozialarbeiter Bartsch
nur zwei Worte: "Was war?". Innerhalb von einer Woche, als Bartsch zuletzt seine
Klientin besuchte hatte, hat sich viel ereignet.
Britta Klein sprudelt los. Erzählt von ihrem ältesten Sohn,
der jetzt erfolgreich Basketball spielt, dass sie sich die Hacken abgerannt hat
nach günstigen Basketballschuhen, dass die älteste Tochter jetzt das erste Mal
eine Sechs in Mathe nach Haus gebracht hat . . .
Detlev Bartsch, als gebürtiger Ostfriese eigentlich
leidenschaftlicher Teetrinker, sitzt mit seiner Tasse Kaffee im Sessel - und
hört erst einmal nur zu. "Sammeln" nennt er das. "95 Prozent meiner Arbeit
bestehen aus Information, fünf Prozent aus Intervention", wird er später
erläutern. Zwischendurch nimmt er die kleine Aline auf den Arm. Und erkundigt
sich dann beiläufig, wie es um das Bettnässen der beiden Jungs steht. Britta
Klein strahlt. Sie hebt spontan den Daumen und strahlt vor Freude: "Ist vorbei.
Gott sei Dank." Sie ist froh darüber, natürlich. Weiß sie doch, dass es ihren
acht und zehn Jahre alten Jungs mega-peinlich war. Aber sie freut sich auch
deshalb darüber, weil sie jetzt "in der Woche vielleicht nicht mehr 20, sondern
nur noch 15 Maschinen Wäsche waschen" muss.
Hobbyfotograf Detlev Bartsch und Britta Klein - auch sie eine
begeisterte Fotografin - kennen sich inzwischen seit anderthalb Jahren. Er kam
in die Familie, weil die damals 38-jährige irgendwann von selbst beim Amt für
soziale Dienste vorstellig wurde wegen großer Probleme, die sie mit ihrem damals
14-jährigen Sohn hatte. Beide schrieen sich dauernd an: "Wir hatten nur noch
Stress pur." Sie ging zum Amt, saß dort vor dem Sachbearbeiter und sagte: "Ich
kann nicht mehr. Ich brauche Hilfe".
Der Case-Manager im Jugendamt - früher hieß er in der
Sozialarbeiterbranche "der Fallführende" - reagierte prompt und entschied sich
für eine "ambulante Maßnahme zur Sicherstellung des Kindeswohls", von denen es
im Stadtgebiet etwa 1200 gibt. Der Fall-Manager rief Detlev Bartsch an. Mit ihm
hatte er in den vergangenen Jahren gute Erfahrungen gemacht. Im Behördenjargon
wurde der gelernte Sozialpädagoge als "Erziehungsbeistand" nach Paragraph 30
Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJG) eingesetzt. Erziehungsbeistand - ein Wort,
das der 49-jährige Wahlbremer aus der Neustadt nicht gerne mag. Denn: "Wenn man
einem Kind helfen will, muss man seiner ganzen Familie helfen. Man kann sie
nicht einfach aus dem Kontext rauslassen."
Elefanten als Vater, Mutter, Kind
Zu Beginn eines neuen "Falles" hat Bartsch meistens einen
Schuhkarton dabei. Darin befinden sich Elefanten, aus Holz, Messing, Perlmutt,
Kunststoff, alle verschieden groß. Die Mütter, Väter und Kinder sollen ihr Bild
vom Zustand der Familie auf den Tisch stellen. Stehen Vater, Mutter, Kind
nebeneinander, gucken sie sich gegenseitig an, stehen sie weit voneinander weg?
So erfährt Bartsch vieles, was er für seine künftige Arbeit wissen muss -
spielerisch. So war es am Anfang auch bei Britta Klein und ihren fünf Kindern.
Demnächst will er den Karton wieder mitnehmen und sehen, ob sich im Familienbild
etwas verändert hat - um zu erkennen, an welchen Stellen vielleicht noch
nachgeholfen werden muss.
Geholfen hat er heute wieder: Britta Klein, weil sie jemanden
zum Zuhören hatte und sich wieder sortieren konnte. Das kommt auch den Kindern
zugute. Sie werden es mit einer etwas entspannteren Mutter zu tun haben, wenn
sie aus der Schule kommen. Gute Ratschläge hat Bartsch während des Gesprächs
nicht verteilt. Das mache er nie. Denn: "Ratschläge sind auch Schläge."
Die Stunde ist vorbei und Bartsch will sich langsam vom Stuhl
erheben, da holt Britta Klein noch schnell ihr Portemonnaie, um mir ein
Gruppenfoto ihrer fünf Kinder zu zeigen: "Sind doch süß, nicht? Ich lieb sie
über alles." Auch wenn sie ihre fünf Kids "manchmal gegen die Wand . . ." Sie
macht eine Pause. Sagt dann: "Aber da muss man sich eben beherrschen." Das hat
sie gelernt. Auch dank Bartsch, der ihr in Gesprächen, Rollenspielen ("Was
würden Sie an Stelle ihres Sohnes jetzt machen?") und viel positivem Beistand
ein neues Selbstwertgefühl geben konnte. Bartsch wird nachher sagen: "Die Arbeit
macht Spaß, diese Familie ist auf einem guten Weg." Den er aber auf jeden Fall
noch weiter begleiten müsse, damit die Kinder nicht doch noch auf die schiefe
Bahn geraten.
Britta Klein weiß das. Sie ist froh, in Detlev Bartsch einen
Anprechpartner gefunden zu haben. Und sie ist stolz darauf, dass der
Sozialarbeiter ihr seine Handy-Nummer gegeben hat - für Notfälle. Sie guckt
Bartsch an: "Die Nummer gibt er nicht jedem."
Schon heute freut sie sich auf den nächsten Termin, nächste
Woche. Dann werden sie sich vielleicht mal wieder zum Spaziergang durch den
Bürgerpark oder am Werdersee verabreden oder zum Kaffee im Viertel. Wenn
erforderlich, verabredet er sich auch mit einem der Kinder, geht mit ihnen ins
Überseemuseum, ins Universum oder in die Botanika. "Wenn man sich bewegt, kommen
die besten Gedanken", zitiert Bartsch "irgend so einen schlauen Mann". Nicht in
der Familie von Britta Klein, aber in manch’ anderen Fällen ist er mit den
Kindern auch schon mal zum Schwimmen gefahren. "In Badehose oder Badeanzug kann
ich mir die Kinder anders anschauen. Und entdecke vielleicht auch, dass sie
blaue Flecke haben . . ."
Netzwerke mit Nachbarn
Bei Britta Klein hat Bartsch, selbst Vater zweier 19 und 16
Jahre alter Söhne, keine Furcht, dass sie ihre Kinder misshandeln könnte. Aber
Hilfe wird sie trotzdem weiter brauchen, um ihr Leben und das ihrer Kinder in
den Griff zu bekommen. Bartsch hilft ihr dabei, auch mit ganz praktischen
Dingen: schreibt Briefe an die GEZ, um sie von den Gebühren befreien zu lassen.
Er redet mit Klassenlehrern, Kindergärtnerinnen, Ärzten. Oder er vermittelt der
Familie einen ihm bekannten Schüler, um den Computer des ältesten Sohnes auf
Vordermann zu bringen. Oder er macht eine Nachbarin mit Britta Klein bekannt,
die gelegentlich auf ihre Kinder aufpassen würde. "Netzwerke schaffen" nennt
Bartsch diese Strategie, die der sozialen Entfremdung entgegen wirken soll.
Britta Klein hat sie dankbar angenommen. Sie glaubt: "Das mit dem kleinen Kevin
konnte nur passieren, weil die Leute sich nicht kennen, obwohl sie im selben
Haus wohnen."
Detlev Bartsch macht sich auf den Weg zu seinem Büro im
Buntentorsteinweg. Dort wartet der nächste Besprechungstermin mit einer
psychisch gestörten Mutter von drei Kindern. Außerdem muss er noch einen Vermerk
über das heutige Gespräch mit Britta Klein schreiben. "Berichte schreiben gehört
dazu. Ich muss mich schließlich einer Qualitätskontrolle stellen - gegenüber
meinem Arbeitgeber und gegenüber dem Jugendamt." Das hatte im Hilfeplan
bestimmte Ziele formuliert, und der Sozialarbeiter muss sich nach einer
bestimmten Frist in Fallkonferenzen fragen lassen, ob und inwieweit er sie
erreicht hat.
Als er gegen Mittag sein Büro betritt, blinkt die Lampe des
Anrufbeantworters. Ein Mitarbeiter vom Amt für soziale Dienste bittet ihn,
schriftlich zu bestätigen, dass das Kindeswohl seines Klienten Fabian Kurz*
gewährleistet ist, und wie oft er den Jungen in den letzten Wochen gesehen hat.
Detlev Bartsch sagt spontan: "Das ist auch eine Folge von
Kevin, das haben die sonst nie gemacht." Genervt von der Anfrage ist er nicht.
"Ich finde das gut. Kontrolle muss sein." Er sinniert vor sich hin: "Das nächste
Mal lasse ich den Termin mit dem Case-Manager des Jugendamtes vielleicht in der
Familie stattfinden." Dann könne der Fall-Bearbeiter, der heutzutage
hauptsächlich Schreibtisch-Arbeit erledigen müsse, mit eigenen Augen sehen, wie
es um die Kinder stehe. Detlev Bartsch ist das Vier-Augen-Prinzip wichtig. Denn
er sieht die Gefahr, dass man als alter Hase in dem Geschäft auch betriebsblind
werden kann. Deshalb sei es erforderlich, dass junge Kollegen nachrücken, mit
neuen Ideen, anderen Sichtweisen.
Checkliste für Grenzfälle
Wenn er sich selbst unsicher ist, wie es um das Wohl des
Kindes bestellt ist, dann druckt er sich die "Checkliste Kindeswohlsicherung"
aus, die das Stadtjugendamt Recklinghausen entwickelt hat. In dem mehrseitigen
Bogen kreuzt er Fragen mit den Ampelfarben grün, gelb und rot an. Beantwortet er
die meisten Fragen - etwa: Wie steht es mit dem Recht auf altersgemäße
Ernährung, auf Zärtlichkeit, Geborgenheit, auf ausreichende Körperpflege usw. -
mit Grün und Gelb, dann ist das Kindeswohl gesichert. Taucht indes überwiegend
Rot auf, dann gibt es keine Frage: "Familie als hohes Gut hin oder her - dann
muss das Kind raus aus der Familie. Und zwar sofort."
Wie im Fall Kevin. Dass der kleine Junge trotzdem in der
Familie geblieben ist, das will Detlev Bartsch "bis heute nicht in den Kopf".
Weser Kurier vom 19.11.2006
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