Bremen beschließt Obduktionspflicht
Kinder
werden bei unklarer Todesursache untersucht
Von Michael Brandt
Kinder im
Alter bis zu sechs Jahren werden in Bremen künftig bei unklarer Todesursache
automatisch obduziert. Eine entsprechende Gesetzesänderung hat die Bürgerschaft
gestern mit großer Mehrheit beschlossen. Bremen nimmt damit unter den
Bundesländern eine Vorreiterrolle ein. Dem Gesetz liegt der Verdacht zugrunde,
dass viele Kindstötungen in der Vergangenheit nicht entdeckt worden sind.
In Bremen
wird eine Obduktionspflicht für Kinder unter sechs Jahren eingeführt.Die
Obduktionspflicht ist eine direkte Folge des Falles des damals zweijährigen
Kevin, der im Oktober 2006 tot in einer Wohnung gefunden worden war, im
Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters. Kevin hatte unter staatlicher
Obhut gestanden. Ein weiterer Fall, der jetzt in den Unterlagen wieder
auftaucht, stammt aus dem November 2009. Der Totenschein eines zwei Monate alten
Säuglings war zunächst auf plötzlichen Kindstod ohne Erklärung ausgestellt
worden. Bei einer anschließenden Obduktion entdeckten die Ärzte dann eine
Schädelfraktur.
Nach
Auskunft der Gesundheitsbehörde liegt die Zahl der jährlichen Fälle von
sogenanntem plötzlichen Kindstod in Bremen im einstelligen Bereich. Unklar ist,
wie hoch der Anteil gewaltsamer Todesfälle daran ist. In den Unterlagen zur
gestrigen Entscheidung beruft sich das Gesundheitsressort auf verschiedene
Untersuchungen in Europa. So geht zum Beispiel eine Untersuchung davon aus, dass
auf eine entdeckte Kindstötung in Deutschland zwei unentdeckte kommen. Eine
österreichische Studie kommt zu dem Schluss, das zwischen fünf und zehn Prozent
der plötzlichen Kindstode tatsächlich auf Gewalteinwirkung zurückgehen.
"Wir gehen
von einer Dunkelziffer aus", sagte Gesundheits- und Sozialsenatorin Ingelore
Rosenkötter (SPD) in einer Debatte, die im Parlament betont sachlich und
zurückhaltend geführt wurde. Innere Blutungen infolge eines Schütteltraumas
könnten zum Beispiel nur durch eine Obduktion erkannt werden, schilderte die
Senatorin. Auch der Tod durch Erstickung fällt in diese Kategorie.
Im Gesetz
ist eine Widerspruchsmöglichkeit für die betroffenen Eltern enthalten. Sie
müssen innerhalb von 24 Stunden nach dem Tod ihres Kindes von einem Richter
gehört werden und können sich dabei gegen die Obduktion wenden. Dieses Passus
ist im Laufe der vergangenen Monate verändert worden. Zunächst sollte es keine
Möglichkeit für die Eltern zur Stellungnahme geben. Eine Handlungsanweisung für
alle beteiligten öffentlichen Stellen soll noch erarbeitet und demnächst der
Gesundheitsdeputation vorgelegt werden. Damit soll geregelt werden, wie das
Gesetz im Detail umgesetzt wird. Und Ende 2013 soll überprüft werden, ob die
neue Regelung greift.
Mit der
Obduktionspflicht werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen geht es darum, ein
mögliches Geschwisterkind zu schützen. Zum anderen setzen die Gesetzgeber auf
eine präventive Wirkung. Die CDU-Abgeordnete Sibylle Winther erklärte dazu: "Wir
müssen uns fragen, was wir tun können, um diese Fälle zu vermeiden. Wenn durch
diesen Automatismus auch nur ein Kinderleben gerettet werden kann, hat sich das
Gesetz gelohnt." Sie geht davon aus, dass die Bundesländer sehr genau beobachten
werden, ob sich die neue Regelung in Bremen bewährt.
Bereits im
Juni hatte die Bürgerschaft der Obduktionspflicht in erster Lesung zugestimmt.
Vorangegangen war eine lange Auseinandersetzung unter anderem mit
Elternverbänden. Kritik kam zum Beispiel vom Kinderschutzbund, von dessen Warte
aus das Gesetz die Eltern unter Generalverdacht stelle. Selbst der Senat hatte
wegen der gegensätzlichen Positionen eine Entscheidung zunächst ausgesetzt. Im
Herbst hatte außerdem der Rechtsausschuss der Bürgerschaft Experten zu einer
Anhörung eingeladen.
Monique
Troedel (Linke) beschrieb gestern das Spektrum der Einschätzung mit knappen
Worten: "Zwischen Klarheit und Generalverdacht." Sie sieht das Gesetz als
Chance, Kinderleben zu sichern. Und Winfried Brumma (SPD) fasste die Diskussion
der vergangenen Monate so zusammen: "Wir haben sehr sorgfältig gearbeitet." Das
Bremer Gesetz, ist er sicher, werde Vorbildfunktion für die Länder haben.
Dem Gesetz
stimmten gestern alle Fraktionen zu. Die Gruppe der FDP stimmte dagegen. Sie
hält nach Worten des Vorsitzenden Oliver Möllenstädt den staatlichen Eingriff in
diesen privaten Bereich für unverhältnismäßig. Das Gesetz tritt nach der
amtlichen Veröffentlichung in Kraft, voraussichtlich in rund zwei Wochen.
Weser Kurier vom
26.01.2011

Kevin-Urteil ist rechtskräftig
Das Urteil
gegen Kevins Ziehvater ist rechtskräftig. Laut Landgericht haben weder
Verteidigung noch Staatsanwaltschaft Revision gegen die Entscheidung des
Schwurgerichts II eingelegt. Bernd K. war vergangene Woche wegen
Körperverletzung mit Todesfolge sowie der vorangegangenen Kindesmisshandlungen
zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.
Wie lange
der 43-Jährige tatsächlich im Gefängnis sitzen wird, ist jedoch offen. Denn das
Gericht hat Bernd K., der eine jahrzehntelange Karriere als Drogen- und
Alkoholabhängiger hinter sich hat, auferlegt, sich einer Therapie zu
unterziehen. Zunächst muss der 43-Jährige drei Jahre absitzen, dann folgt die
Therapie, die nach Einschätzung des vom Gericht bestellten psychiatrischen
Gutachters etwa zwei Jahre dauern wird. Sollte die Therapie erfolgreich
verlaufen, wird Bernd K. anschließend aus der Haft entlassen. Bricht er die
Therapie dagegen ab, muss er zurück ins Gefängnis.
Kevins
Leiche war am 10. Oktober 2006 stark verwest im Kühlschrank seines Ziehvaters
gefunden worden.
Weser Kurier vom
14.06.2008

Freundlicher
Händedruck - und Schweigen
Der Prozess gegen Kevins
Ziehvater im Geflecht der Paragrafen - ein Rückblick auf 29 Verhandlungstage
Nach
29 Prozesstagen gestern nun das Urteil: Zehn Jahre Haft für Kevins Ziehvater. Es
waren lange Prozesstage, teilweise zäh, bestimmt von Gutachtern, juristischen
Auseinandersetzungen, die nicht nur das Publikum ermüdeten. Es war das
Eintauchen in eine Welt, die dem normalen Bürger weitgehend verschlossen ist.
Unser Mitarbeiter Volker Junck blickt zurück auf eine mühsame Wahrheitssuche im
Gerichtssaal.
Die meiste
Zeit fand der Prozess im großen Schwurgerichtssaal 218 statt - im Rücken die
rumpelnde Straßenbahn, die manches Gesagte übertönt. Gegenüber den Presseplätzen
der Angeklagte Bernd K. Er sagte, bis auf ein Schlusswort des Bedauerns, nichts.
Mit seinen
13 Jahren Knast, der Hepatitits, der jahrzehntelangen Alkohol- und Drogensucht
sieht er gar nicht wie ein Schwerkrimineller und auch nicht so kaputt wie andere
Junkies aus der Szene aus. Und schon gar nicht wie dieses grausame Monster, das
die Öffentlichkeit vor Augen hat. Mit dem Zöpfchen im Nacken wirkt er eher wie
ein übrig gebliebener Hippie.
Reglos wie
eine Statue sitzt er all die Prozesstage ab, nur einmal bricht seine oft
beschriebene Aggressivität durch, als ihn ein Fernsehteam von Buten & Binnen
filmt. Da greift er sich eine Lampe und leuchtet dem Kameramann in die Linse.
Ungepixelte Veröffentlichungen vom Angeklagten sind untersagt, als es die
Bild-Zeitung einmal "aus Versehen" tut, erhält sie vom Gericht Fotoverbot im
Saal. Die Richter machten wahr, was sie im Vorfeld den Redaktionen mehrfach
ausdrücklich angedroht hatten.
Es ist die
Routine der Prozesstage. Kaum sind die Handschellen abgenommen, begrüßen ihn die
beiden Pflichtverteidiger mit freundlichem Händedruck. Rechtsanwalt Thomas
Becker hat ihn schon früher vertreten und deshalb mit Jörg Hübel auch die
Pflichtverteidigung zum Tagessatz von rund 350 Euro übernommen. 350 Euro - für
Normalbürger eine Menge Geld. Aber so mancher Rechtsanwalt könnte das Geld wohl
auch leichter verdienen, als den ganzen Tag in so einem Prozess zu sitzen.
Ein Job wie jeder andere
Für die
Anwälte ist es ein Job wie jeder andere, den sie nach den Regeln ihres
Berufsstandes erledigen und dabei auch alle Möglichkeiten der
Strafprozessordnung nutzen. Das sieht dann so aus, dass Hübel aufwändige
toxikologische Gutachten von Kevins Haarproben anzweifelt, nach denen der kleine
Junge auch Kokain, Methadon und Ritalin bekam.
Er fordert
den hundertprozentigen Nachweis der Substanzen über ihre Abbauprodukte. Auch das
gehört zu einer Verteidigung mit allen Finessen.
Über die
beiden ständig anwesenden Sachverständigen aus Hannover und Hamburg - ihr
Stundensatz beträgt 70 Euro - geht der Blick nach vorn zum Schwurgericht II mit
dem Vorsitzenden Helmut Kellermann, den beiden Berufsrichterinnen und den beiden
Schöffen. Einer droht öfter einzunicken, erleidet auch einen Schwächeanfall, und
alle Beobachter bangen, ob er denn bis zum Ende durchhält. Er schafft es - und
mit ihm ein paar Stammzuhörer auf den harten Bänken hinter der Barriere. Die
Zeichnerin ist fast immer dabei, ebenso ein Herr im blauen Blazer.
Zeugen aus Kanada
Vorsitzender
Kellermann mit seinen meterdicken Aktenbergen behält meist die Ruhe, zieht das
Verfahren mit unendlicher Geduld durch. Schließlich will er zu einem
wasserdichten Urteil ohne Aussicht auf Revision kommen - koste es was es wolle.
Zeugen, die schon da waren, werden auf Verlangen von Verteidigung oder
Anklagevertreter noch einmal gehört.
Die meisten
haben schon im Untersuchungsausschuss ausgesagt, doch ihre Einlassungen dürfen
vor Gericht nicht verwendet werden. Es hat schon Unterhaltungswert, wenn der
Vorsitzende von seinen vergeblichen Versuchen berichtet, eine nach Kanada
entschwundene Zeugin aufzuspüren. Sie bleibt unauffindbar.
Die
Verteidiger und Staatsanwalt Daniel Heinke geraten sich einige Male heftig in
die Wolle. Für den Ankläger, der inzwischen das Büro des neuen Innensenators
Ulrich Mäurer leitet, ist es der letzte große Auftritt vor Gericht. Man spürt,
dass er sich einen nachhaltigen Abgang verschaffen will. Unbeirrt hält er bis
zum Plädoyer am Mordvorwurf fest. "Mutig", finden einige Kollegen. Andere werfen
ihm vor, eher die öffentliche Gefühlslage bedienen zu wollen. Denn bei aller
Grausamkeit des Verbrechens - der juristische Nachweis einer vorsätzlichen
Tötungsabsicht ist ein Drahtseilakt im Geflecht der Paragrafen.
Seltsam mattes Verteidiger-Plädoyer
Und die
Gegenseite? "Freispruch - was denn sonst", hatte Thomas Becker noch zur
Verfahrenshälfte die Richtung der Verteidigung angegeben. In einem seltsam
matten Vortrag plädierte er nun auf "maximal Körperverletzung mit Todesfolge"
und öffnete damit immerhin einen Strafrahmen von drei bis 15 Jahren für seinen
Mandanten. Vielleicht war er einfach nur froh, es erst einmal hinter sich zu
haben.
Weser Kurier vom
06.06.2008

CDU mahnt
Verbesserungen an
Kritik: Personalmangel im
Jugendamt
Von Elke Gundel
Das
Sozialressort müsse "endlich aus dem Fall lernen", betonte die Vize-Chefin der
CDU-Bürgerschaftsfraktion, Rita Mohr-Lüllmann, gestern nach dem Urteil gegen
Kevins Ziehvater. Das Ende des Prozesses rufe "das schreckliche Martyrium, das
der Junge durchmachen musste, wieder in Erinnerung". Für sie sei entscheidend,
dass das Sozialressort und Senatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) aus dieser
Katastrophe Konsequenzen zögen. "Das kann ich bisher nicht feststellen." Noch
immer, betonte Mohr-Lüllmann, beklagten Sachbearbeiter eine zu dünne
Personaldecke im Jugendamt. Zudem habe es viel zu lange gedauert, bis das
Notruftelefon geschaltet war und dessen Nummer beworben wurde. "Ich fürchte,
dass noch längst nicht alles getan worden ist, damit sich der Fall Kevin nicht
wiederholen kann."
Rosenkötter
dagegen betonte, die Verbesserung des Kinderschutzes und die Bekämpfung von
Kinderarmut seien weiter ihre wichtigsten Anliegen. Mittlerweile seien viele
Initiativen zur Verbesserung des Kinderschutzes auf den Weg gebracht worden.
Dieses Jahr würden dafür knapp 1,6 Millionen Euro und 2009 gut 1,8 Millionen
Euro bereitgestellt. Unter anderem seien 30 Mitarbeiter mehr im Bereich
Kinderschutz tätig. Zudem habe im April das Projekt "TippTapp - Gesund ins
Leben" begonnen, dessen Ziel es ist, Eltern von Neugeborenen zu Hause zu
besuchen und zu unterstützen.
Weser Kurier vom
06.06.2008

"Arbeit in
einem Hochrisikobereich"
Der Berliner Erziehungswissenschaftler
Reinhart Wolff über die Kinder- und Jugendhilfe in Bremen
Nach Kevins
Tod hat Bremen im Herbst 2007 ein bundesweit beispielloses
Qualifizierungsprogramm zum Thema Kinderschutz gestartet. Für die Mitarbeiter
des Jugendamtes ist es verpflichtend; eingeladen sind aber auch die
Beschäftigten der freien Träger, Polizei, Kinderärzte, Hebammen und
Familienrichter - und die Eltern. Der Berliner Erziehungswissenschaftler
Reinhart Wolff (68)
hat das Programm mit seinem Team des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung
gestaltet. Unsere Redakteurin Elke Gundel sprach mit ihm darüber.
Frage: Was ist Ihnen bei Ihren
Schulungen in Bremen aufgefallen?
Reinhart
Wolff: Es gibt ein riesiges Bedürfnis sich auszutauschen, voneinander zu lernen
und besser zu werden - trotz der extrem schwierigen Arbeitsbedingungen.
Gleichzeitig gibt es aber auch Ängste und Zweifel, ob es diese Chance auf
Austausch und Weiterentwicklung in Bremen noch einmal gibt. Die Mitarbeiter
befürchten, dass Veränderungen nicht möglich sind, weil sie erlebt haben, wie
Bremen in den vergangenen 20 Jahren die realen Möglichkeiten der Jugendhilfe
dramatisch beschnitten hat.
Sie beziehen sich auf den Spardruck?
Ja. Bremen
hat kein Geld. Deshalb haben sich in den vergangenen Jahren die
Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter in der Jugendhilfe drastisch
verschlechtert. Parallel dazu hat sich die Lebenssituation der Familien in den
Problem-Stadtteilen verschärft. Problemdichte und Hilfebedürftigkeit sind also
gestiegen; die Möglichkeiten zu helfen, sind aber stark eingeschränkt worden.
Die Sozialarbeit in Bremen wurde
umstrukturiert: Die Mitarbeiter im Jugendamt wurden zu Fall-Managern, die
konkrete Arbeit in den Familien übernahmen freie Träger. Was halten Sie davon?
Das ist ein
bürokratisches Sparkonzept, das wortreich als modern verkauft wurde. Die
Realität ist: Das regional organisierte Jugendamt hat viele Stellen verloren.
Neue Leute wurden lange Zeit nicht eingestellt. Mussten Stellen wiederbesetzt
werden, haben Mitarbeiter aus anderen Bereichen des Amtes für Soziale Dienste
diese Posten übernommen - obwohl sie dafür nicht speziell ausgebildet waren. Die
Fall-Manager hat man zwar so genannt, aber nicht ausreichend für ihre neue
Aufgabe geschult. Moderne Konzepte des Fall-Managements sehen eine zweijährige
Weiterbildung vor - sie umfassen auch die konkrete Arbeit in Krisensituationen
und den ersten Kontakt mit hilfebedürftigen Familien. Ein fundiertes
Fall-Management konnte sich so in Bremen nur in Ansätzen entwickeln. Es wurde im
wesentlichen ein Sparprogramm umgesetzt, dabei entstand eine strukturelle Lücke.
Was für eine?
Eine Lücke
zwischen Jugendamt, freien Trägern, Familien, Polizei, Familiengericht. Man kann
nicht davon ausgehen, dass die Mitarbeiter dieser verschiedenen Einrichtungen
von heute auf morgen dazu in der Lage sind, miteinander zu kooperieren. Das muss
man gemeinsam entwickeln. Das ist in Bremen lange nicht geschehen. Es gab in
Bremen keine Kultur einer tragfähigen Kooperation, und es gab auch keine
Methodik dafür. Wir versuchen das in unserem Qualifizierungsprogramm
nachzuholen.
Ist
die mangelnde Kultur der Kooperation in der Jugendhilfe eine Bremensie?
Nein, das
ist überall so. Das Besondere an Bremen ist aber, dass es das ärmste Bundesland,
das Armenhaus der Nation ist. Das heißt auch, dass sich in Bremen bestimmte
problematische Entwicklungen früher und schärfer abzeichnen, als in reicheren
Gegenden Deutschlands. Die Erfahrung der Katastrophe, das katastrophale Versagen
bei Kevin, ist eine Warnung für die gesamte Jugendhilfe in Deutschland.
Man muss aus der Katastrophe lernen?
Es gibt
keinen anderen Weg. Erstaunlicherweise gibt es aber in Deutschland keine
wissenschaftliche Untersuchung einer solchen Katastrophe. Weder bei Kevin, noch
bei einem anderen Kind, das vernachlässigt und misshandelt worden ist, bis es
starb.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Dass ein
fundiertes System der Qualitätssicherung in den Jugendämtern eingeführt werden
muss, möglichst mit wissenschaftlicher Begleitung von außen. Man muss sich
klarmachen: Die Mitarbeiter der Jugendhilfe arbeiten in einem Hochrisikobereich.
Sie sollen Familien unter schwierigsten Bedingungen und oft in höchster Not
helfen. Dabei muss man seine Arbeit ständig reflektieren, um sicherzustellen, ob
man richtig liegt. In anderen Hochrisikobereichen, zum Beispiel im Luftverkehr,
ist so etwas wie die Flugsicherung selbstverständlich. Alles andere wäre auch
nicht zu verantworten. Und wenn McDonald’s wegen schlechten Fleischs in die
Kritik gerät, starten die eine Qualitätsoffensive - und sind inzwischen in ihrem
Bereich führend, was die Bewältigung einer schweren Unternehmenskrise betrifft.
Auch die Jugendhilfe braucht eine Qualitätsoffensive. Und nicht nur einmal,
sondern ständig. Denn schließlich verändert sich auch unsere Gesellschaft
ständig - und mit ihr die Familien, die Hilfe brauchen.
Von welchen derzeitigen Problemen haben
Ihnen die Mitarbeiter der Bremer Jugendhilfe berichtet?
Dass der
Druck auf beiden Seiten enorm zugenommen hat. Die Eltern spüren, dass jetzt
genauer hingeschaut wird und ihnen die Kinder früher weggenommen werden. Die
Zahl der Fremdplatzierungen ist in Bremen nach dem Tod von Kevin um die Hälfte
gestiegen. Das sorgt schon jetzt für eine Haushaltslücke. Bisher ist nicht klar,
wie das finanziert werden soll. Und es gibt bei Drogenabhängigen, die ein Kind
bekommen, die Tendenz, nicht mehr in Bremen zu entbinden, sondern im Umland.
Weil es in Bremen die Verabredung gibt, Kinder von drogenabhängigen Eltern
früher aus der Familie zu nehmen als bisher. Das alles hat die Belastung der
Mitarbeiter weiter erhöht. Es sind zwar neue Kollegen eingestellt worden, aber
nicht in dem Maße, wie die Fallzahlen gestiegen sind.
Weser Kurier vom
06.06.2008

Bremer
Jugendamt ist rund um die Uhr erreichbar
Kinder- und Jugendschutztelefon
wird abends und am Wochenende von freien Trägern betreut - Fachleute suchen
Familien notfalls auch nachts auf - Geringe Bezahlung
Von Rose Gerdts-Schiffler
Die
Mutter ist es leid. Endgültig. Ihre Kinder sollen weg, bloß weg. Das schreiende
Baby mit den blauen Flecken am ganzen Körper drückt sie der Nachbarin in den
Arm, das Kleinkind einer Bekannten. Dann verschwindet sie. Aufgelöst meldet sich
die Nachbarin beim Kinder- und Jugendschutztelefon, das rund um die Uhr sieben
Tage die Woche besetzt ist.
"Manchmal
frage ich mich, was eigentlich vor der Einrichtung dieser Notrufnummer mit
solchen Kindern passiert ist", sagt Janine Habbe. Die Sozialpädagogin arbeitet
beim Mädchenhaus. Im Wechsel mit ihren Kolleginnen betreut sie das Telefon am
Wochenende. Werktags meldet sich tagsüber an diesem Telefon ein
Behördenmitarbeiter. Ab 16.30 Uhr bis zum nächsten Morgen sind es Fachleute des
Kinderschutzzentrums und am Wochenende die Frauen vom Mädchenhaus. Ein
ineinander abgestimmtes Hilfesystem - eines, dem angeblich die
Behördenmitarbeiter abhanden kommen.
Nach
Dienstschluss beim Jugendamt stehen nämlich nicht nur die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Kinder- und Jugendschutztelefons bereit, um zu beraten, zu
beruhigen oder schnelle Hilfe zu organisieren. Zudem haben auch zwei Fachkräfte
Bereitschaftsdienst, um sofort zu den betroffenen Familien rauszufahren. Dieses
Duo setzt sich zusammen aus einem Behördenmitarbeiter und der Fachkraft eines
freien Trägers.
"Die meisten
sind unglaublich engagiert", sagt Karin Dölling vom Mädchenhaus überzeugt. Doch
nach Informationen unserer Zeitung soll die Zahl derjenigen Behördenmitarbeiter
schrumpfen, die bereit sind, nachts in krisengeschüttelte Familien zu gehen, und
am Morgen danach wieder ihren normalen Dienst anzutreten. "So etwas geht nicht
nebenbei", heißt es immer wieder intern. Petra Kodré, Sprecherin der Sozial- und
Jugendbehörde, widerspricht der mehrfach geäußerten Kritik. "Die Zahl der
Behördenmitarbeiter ist in den vergangenen Monaten stabil geblieben und wir
versuchen, den Kreis der Kollegen sogar noch zu erweitern."
Beim
Kinderschutzzentrum betreuen nachts Honorarkräfte das Kinder- und
Jugendschutztelefon. "Das sind alles erfahrene Psychologen und Sozialpädagogen",
betont Doris Bendig. Viele seien dem Kinderschutzzentrum schon seit Jahren
verbunden. Doch ab 23 Uhr erhalten die Fachleute nur noch 4,50 Euro für ihre
Rufbereitschaft. "Das ist in Ordnung, wenn sich in der Nacht niemand meldet.
Aber wenn jemand drei, vier Krisengespräche in der Nacht hat und noch die
Berichte bis zum nächsten Morgen schreiben muss, ist die Bezahlung nicht mehr
angemessen", gibt Geschäftsführer Hinrich Länger zu bedenken.
Es war
Kevins Tod, der zur Einrichtung des Kinder- und Jugendschutztelefons in Bremen
führte. Ob im Untersuchungsausschuss oder bei den öffentlichen Debatten, immer
wieder mussten sich Vertreter des Jugendamtes anhören: "Sie sind ja tagsüber nie
zu erreichen." Statt ausgebildeter Pädagogen mussten sich nachts überforderte
Polizisten der verstörten Kinder und Jugendlichen annehmen, Krisen beurteilen
und über weitere Schritte entscheiden.
Mit der
verbesserten Erreichbarkeit des Amtes wird nun auch das Leid vieler Bremer
Kinder sichtbar. Kaum eine Noteinrichtung hat zurzeit noch einen freien Platz
anzubieten. Ganz schlecht sieht es bei der Unterbringung von gefährdeten
Säuglingen aus. "Wir überlegen gerade, zwölf weitere Plätze vorübergehend in
Bremen einzurichten", sagt Behördensprecherin Petra Kodré auf Nachfrage.
Damit nicht
ein einzelner Mitarbeiter über das weitere Schicksal eines gefährdeten Kindes
entscheidet, gilt seit Kevin an vielen Stellen im Amt das Vier-Augen-Prinzip.
Die
Mitarbeiter des Hintergrunddienstes rücken nachts jedoch stets aus, ohne sich
Informationen über den prügelnden Vater, die betrunkene Mutter oder den
psychotischen Bruder besorgen zu können. Damit erhöht sich das Risiko, etwas zu
übersehen oder gar selbst zum Opfer zu werden. So wie im Falle einer
Sozialarbeiterin, die wegen einer Kindeswohlgefährdung in eine kriminell stark
belastetete Familie fahren wollte. Um sich sicherer zu fühlen, bat sie um zwei
Polizeibeamte als Begleitschutz. Sie bekam mehr: "Unter zwölf Leuten gehen wir
da nicht rein", belehrte sie ein Polizeiführer.
Das Kinder-
und Jugendschutztelefon ist rund um die Uhr mit Fachleuten besetzt. Es ist
erreichbar unter der Bremer Telefonnummer : 6991133
Weser Kurier vom
06.06.2008

Strukturen im Jugendamt schuld an Kevins Tod
Nach Auffassung des Bremer
Untersuchungsausschusses zum Fall Kevin sind strukturelle Defizite im Jugendamt
schuld am Tod des Kleinkindes.
Zwar habe das
persönliche Versagen des Fallmanagers und des Amtsvormundes des Jungen eine
große Rolle gespielt, sagte der Vorsitzende des Ausschusses, Helmut Pflugrath
(CDU), einen Tag vor Veröffentlichung des Abschlussberichtes am Donnerstag auf
ddp-Anfrage. Das individuelle Versagen sei aber nur möglich gewesen, weil die
Strukturen im Amt dies ermöglicht hätten.
„Hätte die
Dienst- und Fachaufsicht funktioniert, hätten dem Fallmanager und dem
Amtsvormund solche gravierenden Fehler auf Dauer nicht unterlaufen können“,
fügte er hinzu. Zwar gebe der Bericht des Ausschusses auch die Empfehlung,
künftig mehr Personal einzusetzen. Fakt sei aber, dass der Fallmanager von Kevin
nicht überarbeitet war. Es habe kein quantitatives, sondern ein qualitatives
Problem gegeben. „Er war mit dem Fall überfordert“, sagte der CDU-Politiker.
„Dabei hätten die Vorgesetzten eingreifen müssen.“
Kevin war am 10.
Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden. Der Junge,
der unter staatlicher Obhut stand, war vermutlich schon Ende April oder Anfang
Mai an den Folgen schwerster Misshandlungen gestorben. Der parlamentarische
Untersuchungsausschuss hatte mehrere Monate die Hintergründe des Falles
aufgeklärt und legt am Freitag seinen Abschlussbericht vor.
Welt im Spiegel
vom 19.04.2007

Staatsrat Schuster: "Im Moment will ich alles"
Mehr Personal in
den Sozialzentren, einen Krisendienst, mehr Familienhebammen - die Finanzierung
ist ungeklärt
eib
17 zusätzliche
Stellen in den sechs Bremer Sozialzentren sind nach einer Studie des Essener
Instituts für Sozialplanung und Organisationsentwicklung (INSO) notwendig, damit
die Case-Manager sich so für Kinder und Jugendliche einsetzen können, wie es ihr
Job verlangt. Dazu gehörten unbedingt Hausbesuche, um die Familien kennen zu
lernen und sinnvolle Maßnahmen bei freien Trägern in Auftrag geben zu können,
formulieren die INSO-Gutachter im September vergangenen Jahres. Einen Monat
bevor Kevin tot aufgefunden wurde. Danach ließ es kaum ein Politiker aus zu
betonen, wie notwendig Hausbesuche sind - für die den Case-Managern aber nicht
nur im Fall Kevin keine Zeit geblieben war.
Der Personalrat
der Amts-MitarbeiterInnen fordert jetzt, endlich Konsequenzen aus dem von der
Sozialsenatorin in Auftrag gegebenen Gutachten zu ziehen, das den Personalbedarf
in den Sozialzentren ermitteln sollte. Ob tatsächlich alle 17 Stellen bewilligt
werden, sei nicht entscheidend, so Personalrat Wolfgang Klamand. "Aber es muss
etwas passieren."
Dieser Ansicht
ist auch Sozial-Staatsrat Joachim Schuster (SPD). Nur: Über Zahlen will er nicht
sprechen. Wie viele Stellen geschaffen werden können, hänge davon ab, wie viel
Geld bewilligt würde, sagt er. Und wie viel von diesem übrig bleibt, wenn die
anderen Maßnahmen umgesetzt werden, die Schuster gestern ankündigte. So möchte
er für das Gesundheitsamt so viele Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern
haben, dass alle Kinder in Problemstadtteilen drei Mal im ersten Lebensjahr
besucht werden können. Das würde etwa 25 Prozent der Bremer Bevölkerung
betreffen. Weiteres Geld braucht er für den Krisendienst, der nachts und am
Wochenende Familien aufsuchen soll, in denen Kinder gefährdet sein könnten.
Welche Prioritäten er setzen wird, wenn er nicht genügend Mittel für alle drei
Maßnahmen bekommt, konnte Schuster nicht sagen. "Im Moment will ich alles."
Akuten Bedarf sieht er auch in der Trennungs- und Scheidungsberatung - "die
findet faktisch nicht statt" - und in der Erziehungsberatung, die vor drei
Jahren zusammengestrichen wurde.
Das
INSO-Gutachten hat die Arbeit der Case-Manager in Bausteine zerlegt und
verspricht eine genaue Aussage darüber, welche Auswirkungen Personaleinsparungen
auf die Qualität der Arbeit haben. Klamand und Schuster sind sich darin einig,
dass die Personalausstattung kaum schlechter sein kann.
taz
vom 02.03.2007

Rosenkötter sieht "erhebliche Defizite im Jugendhilfesystem"
Senatorin kündigt neue Kultur im
Amt an - Anhörungen beendet
Von Rose
Gerdts-Schiffler
Der
Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" hat gestern seine öffentlichen Anhörungen
beendet. In einer ersten Wertung sagte der Vorsitzende Helmut Pflugradt (CDU):
"Die Vernehmungen von 82 Zeugen in zweieinhalb Monaten haben organisierte
Verantwortungslosigkeit und strukturelles Versagen im Amt für Soziale Dienste
und im Jugendamt aufgezeigt." "Starb Kevin, der sich zum Zeitpunkt seines
gewaltsamen Todes unter staatlicher Vormundschaft befand, aufgrund individuellen
Versagens oder aufgrund struktureller Mängel im Amt für Soziale Dienste?
Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) mochte gestern darüber nicht
urteilen, sah aber erhebliche Defizite im Jugendhilfesystem. "Mangelhafte
Aktenführung, Probleme im Casemanagement, schlechte Erreichbarkeit des Amtes,
mangelnde Dienst- und Fachaufsicht und eine eingeschränkte Kommunikation mit
Freien Trägern sowie anderen Behörden", zählte die 53-jährige Senatorin im
Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" gleich mehrere Schwachstellen auf. Nach der
Analyse der Probleme, in die auch die Ergebnisse des Ausschusses mit
eingeflossen seien, werde sie sich nun mit aller Kraft dafür einsetzen, die
Mängel zu beheben und einen zweiten "Fall Kevin" zu verhindern, kündigte
Ingelore Rosenkötter mit fast schon feierlicher Stimme an. Die Führungskräfte
sollten zudem darin geschult werden, ihre Mitarbeiter zu fordern, zu führen, zu
unterstützen und wenn nötig, sich auch in ihre Arbeit einzumischen. Ihr
Staatsrat Joachim Schuster, der Arnold Knigge im vergangenen Jahr im Amt folgte,
skizzierte vor dem Ausschuss, was sein Ressort bislang umgesetzt hat. Jede
Meldung einer Kindeswohlgefährdung durch Nachbarn oder Angehörige einer Familie
würden demnach während der Bürozeiten im Amt zentral angenommen. Abends, nachts
oder an den Wochenenden liefen die Anrufe beim Kinder- und Jugendschutztelefon
des Bremer Kinderschutzzentrums auf. Dort säßen kompetente Gesprächspartner, die
im Notfall sofort die Polizei einschalten würden. Alle Fremdmeldungen müssen an
die Stadtteilleitung weitergegeben und in den Wochenkonferenzen vorgestellt
werden. Die Sozialzentren seien ebenso personell aufgestockt worden wie das
Familienhebammenprogramm und die Erziehungsstellen. "Als Sofortmaßnahme haben
unsere Mitarbeiter 1000 Kinder in Risikofamilien besucht oder sich fachkundige
Einschätzungen von Erziehern und Lehren eingeholt, die die Kinder täglich
sehen", berichtete der Staatsrat. In acht Fällen seien geplante Hilfsmaßnahmen
beschleunigt worden. Nur zwei Kinder habe das Amt aus ihren Familien nehmen
müssen. "Zwei weitere Kinder hätten allerdings gereicht, Bremen in die
Weltpresse zu bringen", kommentierte Hermann Kleen (SPD) trocken. Nach
Überzeugung seines Parteigenossen Joachim Schuster zeigten die Zahlen
allerdings, dass bei der Masse der betroffenen Kinder die bisherigen
Hilfsangebote ausreichten. Zudem liege die Schwelle, ein Kind aus einer
belasteten Familie herauszunehmen, "nach Kevin" deutlich niedriger. Am Rande
bestätigte Ingelore Rosenkötter, dass der frühere Amtsleiter Jürgen Hartwig in
Kürze eine Stelle an der Hochschule antreten werde. Dabei solle sich Hartwig mit
der demografischen Entwicklung sowie mit den Aufgaben der Länder nach der
Föderalismusreform beschäftigen.
Weser Kurier vom
02.03.2007

Röpke sieht "Einzelfall"
Zum Abschluss seiner Aufarbeitung der Hintergründe des Falles
Kevin hat der Untersuchungsausschuss gestern "Kindeswohl" die Sozialsenatorin
Karin Röpke und den Staatsrat Arnold Knigge befragt. Sie sei "persönlich
erschüttert" gewesen von dem tragischen Tod des Kindes Kevin, erklärte Röpke, es
handele sich aber um einen "Einzelfall". Für den Tod von Kevin könnten "keine
finanziellen Hintergründe" verantwortlich gemacht werden. Knigge erklärte, er
könne "systemische Fehler" nicht erkennen.
taz vom 01.03.2007

Ex-Senatorin Röpke vor dem Kevin-Ausschuss
Kein Fehler an der Spitze?
Das war schon eindrucksvoll: Die Spitze des Sozialressorts
hat alles richtig gemacht. Das ist die gemeinsame Auffassung von Ex-Senatorin
Karin Röpke, Ex-Staatsrat Arnold Knigge und Ex-Sozialamtsleiter Jürgen Hartwig.
Die CDU-Abgeordnete Rita Mohr-Lüllmann im Ausschuss brachte das auf die Formel,
offenbar müsse es sich dann um ein "kollektives individuelles Versagen"
gehandelt haben.
Kommentar von Klaus Wolschner
Ausdrücklich
hatte sich Röpke hinter den Sozialamtsleiter Jürgen Hartwig gestellt, der habe
"viel aushalten müssen" und einen "sehr schweren Job" gehabt, im Umgang mit
MitarbeiterInnen eben nur einen Mangel an "Empathie". Der lange Jahre für den
Sozialbereich verantwortliche Staatsrat Knigge, der aufgrund des Klinikskandals
- wenige Wochen bevor die Leiche von Kevin entdeckt wurde - zurückgetreten war,
meinte, Struktur und Stategie der Neuorientierung der bremischen Sozialpolitik
unter seiner Regie seit 1999 seien richtig gewesen.
Als wäre es nicht ein Problem der Leitung, wenn
MitarbeiterInnen in großer Zahl ihre Arbeitsbedingungen genauso ablehnen wie
Fachaufsicht. Da kann man nur hoffen, dass die neue Führung im Sozialressort
ahnt, dass drei Finger zurück auf den zeigen, der mit einem Finger auf die
Untergebenen zeigt.
taz vom 01.03.2007

"Der 10. Oktober war wie ein Albtraum"
Untersuchungsausschuss befragt die frühere Sozialsenatorin Karin Röpke und
ihren Ex-Staatsrat Arnold Knigge
Von Rose Gerdts-Schiffler
Bei der Frage nach dem 10. Oktober 2006, dem Tag, an
dem Kevins Leichnam im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, droht die
Stimme der Zeugin im Ausschuss zu brechen. "Das war ein Albtraum", sagt Bremens
frühere Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) schließlich und quält sich dann durch
die Erinnerungen an einen Tag, an dem ihre Kolleginnen sie morgens weinend im
Büro begrüßten. Eine Stunde zuvor hatten Sozialarbeiter und Polizisten den
zweijährigen Kevin aus der Wohnung seines Ziehvaters an der Kulmer Straße in
Gröpelingen holen wollen. Doch sie kamen zu spät. Nicht Tage, sondern Monate.
Dass das tote Kind aus dem Kühlschrank der kleine Junge war, bei dessen Fall
Karin Röpke Anfang Januar 2006 auf Bitten von Bürgermeister Jens Böhrnsen
persönlich nachgehakt hatte, wurde der Senatorin nach ihren gestrigen Aussagen
erst im Laufe des 10. Oktober klar - der zweite Schock nach der bitteren
Erkenntnis, dass ein Kind unter staatlicher Vormundschaft grausam zu Tode
gekommen war. Vor dem Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" schildert die
51-jährige Sozialdemokratin, wie sie am späten Nachmittag den Entschluss fasste,
zurückzutreten. "Bis heute bin ich fassungslos, dass so etwas passieren konnte,
obwohl der Amtsleiter und die Senatorin an dem Fall dran waren." Doch der
Fallmanager habe falsche Berichte angefertigt. Darin sei unter anderem von
Hausbesuchen die Rede gewesen, die nie stattgefunden hätten, nennt Karin Röpke
ein Beispiel. Die direkten Vorgesetzten wiederum hätten den Fallmanager nicht
kontrolliert. Nach ihrer Überzeugung gab es nämlich gleich mehrere Gründe, warum
Kevin aus der Familie hätte genommen werden müssen. "Die Eltern hatten mehrfach
getroffene Vereinbarungen mit dem Amt nicht eingehalten." Im gleichen Atemzug
bricht Karin Röpke eine Lanze für ihre früheren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter. "Die große Mehrheit hat in dem Spannungsfeld zwischen Hilfe,
Kontrolle, Unterstützung und vor dem Hintergrund des Spardruck sehr engagiert
gearbeitet." Und dann fügt sie hinzu: "Ebenso wie Amtsleiter Jürgen Hartwig. Der
hatte einen unheimlich schwierigen Job." Rund 90 Prozent des Budgets im
Sozialressort seien nicht verhandelbar, sondern müssten aufgrund gesetzlicher
Ansprüche ausgezahlt werden. "Dennoch musste ich mich wiederholt öffentlich
dafür rechtfertigen, dass ich angeblich meine Hausaufgaben nicht gemacht und
nicht genug gespart habe", sagt die Ex-Senatorin bitter. Dabei hatte Karin Röpke
gemeinsam mit ihrem damaligen Staatsrat Arnold Knigge abenteuerliche
Spardebatten abzuwehren. Angeblich 93 Millionen Euro könnte die Senatorin
einsparen, hieß es in dem Papier einer Projektgruppe. "Völliger Unsinn", urteilt
der frühere Staatsrat Arnold Knigge, der gestern ebenfalls als Zeuge geladen
war. Auch die 40 Millionen Euro, die seine Senatskollegen wenig später immerhin
noch zu entdecken meinten, seien aus der Luft gegriffen gewesen. "Das lief so
ähnlich wie beim Schlachter. Darf es gerne noch etwas weniger sein?". Sein
früheres Ressort habe unter größten Anstrengungen zwölf Millionen Euro,
gestreckt über zwei Jahre, als gerade noch machbar errechnet. Da andere Ressorts
im Haushaltsnotlageland ebenso zu kämpfen gehabt hätten, sei oft heftig im Senat
gestritten worden. "Das war nicht vergnügungssteuerpflichtig", beschreibt der
ehemalige Staatsrat das Klima in der Runde. Der Tod des kleinen Jungen habe
jedoch nichts mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu tun gehabt, ist
Arnold Knigge überzeugt. Die Kontrolle im Sozialzentrum Gröpelingen allerdings
habe versagt - wie auch der Fallmanager des Jungen. Mit seinem Fazit, dass er im
Amt keine "systemischen Schwächen oder strukturelle Fehler" erkennen könne, ruft
Arnold Knigge den heftigen Protest der Ausschussmitglieder hervor. Klaus Möhle
(Bündnis 90 /Die Grünen) erinnert den Zeugen daran, dass keine vernünftige
Vertretungsregelung existierte. Hermann Kleen (SPD) zählt auf, dass es bei
Risikomeldungen kein Vier-Augen-Prinzip und kein geordnetes Berichtswesen
gegeben habe. Auch die Fachaufsicht sei nicht geregelt gewesen. Rita
Mohr-Lüllmann (CDU) stellt fest, dass das System "immerhin kollektives
individuelles Fehlverhalten" zugelassen habe, und der Ausschussvorsitzende
Helmut Pflugradt resümiert: "Es gab strukturelle Fehler im Amt."
Weser Kurier vom
01.03.2007

Antworten in Technokraten-Deutsch
Untersuchungsausschuss
"Kindeswohl" vernahm gestern den ehemaligen Amtsleiter Jürgen Hartwig
Von Rose
Gerdts-Schiffler
Der
Untersuchungsausschuss im Fall Kevin begann gestern mit einem kleinen Eklat. Der
Personalrat hatte anlässlich der Vernehmung des früheren Amtsleiters Jürgen
Hartwig zu einer Versammlung im Raum II in der Bürgerschaft aufgerufen und damit
die Platzkapazitäten gesprengt. Ordner zwangen schließlich einige Zuhörer, den
Raum wieder zu verlassen.
Viele Mitarbeiter
des Amtes für soziale Dienste waren bereit, dicht gedrängt an der Wand zu
stehen, um die Vernehmung ihres früheren Amtsleiters mitzuerleben. Trotz der
spürbar kritischen Grundhaltung gegen den 55-Jährigen, blieben Zwischenrufe oder
diskreditierende Bemerkungen aus. Dennoch bestand Ausschussvorsitzender Helmut
Pflugradt (CDU) darauf, dass einige Zuhörer, die auf dem Boden Platz genommen
hatten, den Raum wieder verließen. "Der Tod von Kevin hat mich sehr
erschüttert", leitete der versteinert wirkende ehemalige Amtsleiter Jürgen
Hartwig seine persönliche Erklärung ein.
Dann ging es bis
16 Uhr nur um Reformen, Privatisierungen, Prozesse und Strukturen im Amt. Der
55-jährige Zeuge beschrieb in nüchternen Sätzen, dass er ab seinem ersten
Arbeitstag 1999 das Amt komplett umbauen sollte. Dies habe eine Höchstbelastung
von allen abverlangt. "Da gab es keine Zeit zum Luftholen und keine Möglichkeit,
die Theorie mit der Wirklichkeit vor Ort in persönlichen Gesprächen zu
überprüfen", ließ der Ex-Amtsleiter erstmals Selbstkritik durchklingen. Trotz
des Personalmangels sei die Kindeswohlsicherung aber stets vorgegangen. "Und
wie?", wollte der Vorsitzende wissen.
"Durch
Prioritätensetzung und Abschichtung der Arbeit", lautete die kryptische Antwort.
Zweimal will Helmut Pflugradt wissen, ob der Ex-Amtsleiter etwas über die
damalige Stimmung im Amt sagen könne. Die Antwort des Zeugen erschöpft sich im
Zitieren von Studien und der Beschreibung von Leitbildern und Konzepten.
Ein
Technokratendeutsch das viele Sätze gebiert wie: "Wir mussten die
Qualitätsbeschreibungen verpreisen." Oder: "Bei den Hilfen zur Erziehung hatte
ich die Produktgruppenverantwortung." Der Ausschussvorsitzende unterbricht den
Zeugen schließlich mit einer rhetorischen Frage: "Haben Sie gar nicht
mitbekommen, dass zwischen Ihren sicher hervorragenden fachlichen Weisungen und
der Wirklichkeit an der Basis Welten klafften?"
Damit spielte
Helmut Pflugradt auf die innere Verweigerung vieler Sozialarbeiter an, zu
"Fallmanagern" zu werden. Eine klare Antwort erhielt er nicht. Am Nachmittag
ging es schließlich um Kevins Schicksal. Den Namen des Kindes hatte Jürgen
Hartwig erstmals im Januar 2006 von der Sozialsenatorin Karin Röpke gehört. Er
forderte eine Chronologie an, in der die verstorbene Mutter als der gewalttätige
Elternteil beschrieben wurde.
Diese Festlegung
sorgte beim Ausschuss für Verwunderung, da auch der Ziehvater des Kindes als
Gewalttäter bekannt war. Deutlich wurde, dass sich der Amtsleiter auf die
positiven Kurzberichte zu Kevin aus dem Sozialzentrum verlassen und den
Führungskräften vertraut hatte. Erstaunt stellte Hermann Kleen (SPD) fest, dass
Jürgen Hartwig nicht auf die Einhaltung der eigenen Weisung zum Umgang mit
drogenabhängigen Eltern bestanden hatte.
Weser Kurier vom
28.02.2007

Leserbriefe
Betr.: "Rätsel um vorgeführten Kevin", taz bremen vom
16.02.2007
"Familienrichterin kritisiert Jugendamt", taz bremen vom
09. 02.2007
Leserbrief von JAN BLECKWEDEL
aus Bremen , er arbeitete 20
Jahre als Psychologe und Therapeut in der Familien- und Lebensberatung und ist
seit 1998 selbständig als Supervisor:
Betrachten wir nun nüchtern, was der Untersuchungsausschuss
bisher zum Fall des Systems der Bremer Kinder- und Jugendhilfe ans Licht
gebracht hat: 1. Das System ist systematisch kaputt gespart worden. 2. Die
Strategien und Konzepte des Sparens erweisen sich als nicht Ziel führend,
produzieren enorme gesellschaftliche Folgekosten und sind zum Teil
gesetzeswidrig. 3. Die Organisation zeigt sich chaotisch, die Kommunikation
erscheint gestört, handwerklich gibt es enorme Mängel. 4. Leitungen und
Mitarbeiter beschreiben sich als unzureichend fortgebildet, überfordert,
desorientiert, demotiviert, krank oder ausgebrannt. Es gibt genügend Engagement
und Kompetenz im System, dieses kann sich jedoch nicht durchsetzen. Vertrauen,
Motivation und Wertschätzung werden im System systematisch verbrannt. 5. Es gibt
weder eine funktionierende Kontrolle noch eine Evaluation. 6. Die Spitzenbeamten
und die verantwortlichen Politiker haben von all dem gewusst oder mussten es
wissen. Es gab und gibt nachweislich jede Menge detaillierte Hinweise, Anzeigen,
Kritiken und Warnungen von innen und außen. Das alles wurde nicht gehört, nicht
beantwortet, schöngeredet, unterdrückt oder im System bis zur Unkenntlichkeit
wegdiskutiert. Stattdessen wurden teure fachfremde Berater dafür bezahlt, ein
dysfunktionales System wider alle Regeln guter Organisationsentwicklung
durchzusetzen und ideologisch zu rechtfertigen. 7. Man hat sich selbst belogen
und die Öffentlichkeit über die wahren Zustände getäuscht. Werden die
verantwortlichen Spitzenpolitiker sich zu ihrer Verantwortung bekennen und sich
für den Trümmerhaufen, den sie hinterlassen, entschuldigen? Das würde den Weg
frei machen für einen Neuanfang, die Aufräumarbeiten werden allerdings Jahre
dauern.
REINHOLD BECKMANN, ehemaliger
Sozialarbeiter im Amt für Soziale Dienste, aus Bremen:
Auch Senatsdirektoren und Staatsräte hatten ihre Hände im
Spiel, wenn es darum ging, die Kosten der Jugendhilfe zu drücken und
Stelleneinsparungen durchzusetzen. Niemals hätte ein Amtsleiter dies von sich
aus gewagt. Alle haben ihren Amtseid geleistet, versprochen, die Gesetze zu
achten und Schaden abzuwenden. Das genaue Gegenteil haben sie getan: gesetzliche
Bestimmungen durch eigene Anweisungen ausgehebelt. Ihre Fürsorgepflicht
gegenüber den eigenen Mitarbeitern völlig vergessen, sie vielmehr zu Straftaten
im Amt nicht nur verleitet, sondern sogar genötigt. Den sozialpädagogischen
Fachkräften haben sie im Widerspruch zum Gesetz die Fachkompetenz zur
Entscheidung über die Hilfegewährung entzogen und fachfremden Mitarbeitern
übertragen. Der gesetzliche Anspruch der Eltern auf Hilfe in erzieherischer Not
wurde mit einem Federstrich beseitigt. Der Datenschutz - die Grundlage jeder
vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Hilfesuchenden - wurde den
wirtschaftlichen Interessen bedenkenlos geopfert. Jede fachliche Kommunikation
zwischen Amtsleitung und Fachkräften wurde total unterbunden. Alle Hinweise auf
rechtswidrige Abläufe im Amt wurden stets ignoriert. Alles dies geschah nicht
erst jetzt, sondern seit mindestens 1991.
taz vom 26.02.2007

Das schlechte
Gefühl beim Chef
Der Ex-Leiter des Amtes für
Soziale Dienste, Jürgen Hartwig, sagt im Untersuchungsausschuss, er habe selbst
zu wenig Luft gehabt, um sich um Mitarbeiter-Sorgen kümmern zu können
Von Eiken Bruhn
Der Saal ist
voll. So voll, dass diejenigen, die keinen Stuhl mehr ergattern konnten, sich
auf den Boden setzen oder stehen bleiben. Die meisten der Neugierigen arbeiten
oder arbeiteten im Amt für Soziale Dienste und sie wollen ihren Ex-Chef sehen,
der gestern als Zeuge im Untersuchungsausschuss "Kevin" vernommen wurde: Jürgen
Hartwig. Seit 1983 ist der ehemalige Soldat und promovierte
Erziehungswissenschaftler im öffentlichen Dienst Bremens beschäftigt, von 1999
bis 2006 leitete der 55-Jährige das Amt für Soziale Dienste. Nachdem am 10.
Oktober vergangenen Jahres ein zweijähriger Junge tot im Kühlschrank seines
Ziehvaters gefunden wurde, wurde Hartwig vom Dienst suspendiert. Das Kind Kevin
war kein unbekanntes, es stand unter Aufsicht des Jugendamtes. Die wegen des
Falls zurückgetretene Senatorin Karin Röpke hatte Hartwig gebeten, sich um den
Jungen zu kümmern, nachdem sie Hinweise erhalten hatte, dass das Amt seiner
Arbeit nicht nachkam.
Noch bevor er
Angaben zu seiner Person macht, schiebt Hartwig eine Erklärung vorweg. Als hätte
er Sorge, dass er sie später vergessen könnte. "Kevins Tod hat mich sehr
betroffen gemacht", sagt er. Äußerlich anzumerken ist ihm diese Betroffenheit
nicht, von zehn bis 17 Uhr wird er vernommen, in der ganzen Zeit bleibt seine
Stimme gleich bleibend ruhig, frei von jeglicher Emotion.
Hartwig weiß,
dass ihm wenige im Raum wohl gesonnen sind, nicht wegen Kevin, sondern wegen
seiner von vielen als autoritär empfundenen Amtsführung und der rigiden
Umsetzung eines politisch gewollten Sparkurses. Im Untersuchungsausschuss wollen
die Abgeordneten herausfinden, inwiefern der finanzielle Druck, den sie mit zu
verantworten haben, Umstände begünstigen, unter denen ein Kind zu Tode kommen
kann - obwohl es sogar der Senatorin bekannt ist, dass es misshandelt wird.
Ob er im
Nachhinein denke, er habe in seiner Amtszeit irgendetwas falsch gemacht, wollen
die Abgeordneten mehrfach von ihm wissen. "Diese Frage stellt sich mir nicht",
lautet Hartwigs Antwort. Er schildert die Vielzahl der Umstrukturierungen im
Amt, die er nach politischen Vorgaben "umzusetzen hatte", die Programme, die er
"einführen musste". Ob er nicht mitbekommen habe, dass die Konzepte von seinen
Untergebenen nicht umgesetzt wurden, dass es eine tiefe Kluft zwischen ihm und
den Mitarbeitern vor Ort gab? Hartwig antwortet auf kaum eine Frage mit "ja"
oder "nein". Meistens holt er zu umständlichen Erklärungen aus über
"Steuerungsmodelle" und "Produktgruppen-Management". Nach zwei Stunden gesteht
er erstmals etwas "selbstkritisch" ein: "Die qualitative Betrachtung im Feld
durch mich hätte intensiviert werden müssen", sagt er. Und meint, dass er keine
Ahnung hatte, unter welchen Umständen die Leute im Amt arbeiten und seine
Vorgaben umsetzen. Allerdings treffe ihn dafür keine Schuld, erklärt er. Er
selbst habe so viel zu tun gehabt, dass er dafür einfach "keine Luft" hatte.
Immerhin gibt er zu, dass die Einsparungen zu viel Personal gekostet haben, eine
Einsicht, die ihn aber erst in den letzten zwei Jahren ereilte. Er habe sich nie
an die Presse gewandt, sondern weiter seinen Job gemacht und das Gespräch mit
der Senatorin und dem Staatsrat gesucht. Offenbar ohne einschneidende
Ergebnisse.
Auf die Frage, ob
er gemerkt hat, dass Leute Angst vor den Gesprächen mit ihm hatten, bei denen
sie ihre Arbeit legitimieren mussten, sagt er: "Man hat doch immer so ein
schlechtes Gefühl, wenn man zum Chef muss, das ging mir auch so, wenn ich zum
Staatsrat musste."
taz vom
28.02.2007

Einzelfall im fehlerhaften System
Untersuchungsausschuss "Kevin"
geht in die letzte Runde
Von Volker Junck
Der
Parlamentarische Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" zum Todesfall Kevin geht in
die Schlussphase. Vom 27. Februar bis 1. März sind noch der suspendierte Leiter
des Amtes für Soziale Dienste, Jürgen Hartwig, Heidemarie Rose,
Abteilungsleiterin "Junge Menschen und Familie" in der senatorischen Behörde,
Ex-Staatsrat Arnold Knigge, Ex-Senatorin Karin Röpke und ihre Amtsnachfolgerin
Ingelore Rosenkötter in den Zeugenstand geladen.
Anschließend
zieht sich der Ausschuss zur internen Beratung zurück und wird dann seinen
Abschlussbericht vorlegen. Ohne dem Gremium vorgreifen zu wollen, kann als
Ergebnis der umfangreichen Zeugenbefragungen festgestellt werden: Beim Fall
Kevin handelt es sich um ein außergewöhnliches Einzelschicksal, bei dem so
ungefähr alles schief gelaufen ist, was schief laufen kann. Das tragische
Versagen Einzelner - allen voran des Fallmanagers - ist allerdings eingebettet
in ein System der Jugendhilfe, bei dem vieles nicht stimmt. Zeugen berichteten
von einem Klima der Angst, wenn die fiskalischen Zielvorgaben nicht erreicht
wurden. Alle organisatorischen Umbauten in den Sozialzentren seit 2001 hätten
letztlich nur das Ziel von Einsparungen gehabt.
Das bestritt der
Leiter des zentralen Controllings auch gar nicht. Er berichtete vom ewigen Kampf
mit den erst zwölf, dann sechs Sozialzentren, das vorgegebene Budget
einzuhalten. Ständig sei mehr Geld ausgegeben worden, als im Haushalt eingesetzt
war - im Jahr 2003 etwa 74 statt 64 Millionen Euro und im vergangenen Jahr auch
wieder 75 Millionen statt 69,5 Millionen Euro. Vor diesem Hintergrund bekommen
die positiven Meldungen aus dem Statistischen Landesamt, nach denen Bremens
Einwohnerschwund endlich gestoppt sei, eine ganz andere Wertung: Die Zahlen aus
dem Sozialressort belegen einen überdurchschnittlich hohen Zuzug
hilfebedürftiger Familien und Einzelpersonen aus anderen Bundesländern.
Im Klartext: Das
kleinste Bundesland bekommt immer mehr Probleme aus der gesamten Republik
aufgehalst, für die es zahlen muss. So auch für Kevins Ziehvater, der über das
Straffälligen-Hilfesystem einer privaten Organisation nach Bremen gekommen war
und derzeit in der forensischen Abteilung des Klinikums Bremen Ost untergebracht
ist.
Auch im
Einzelfall Kevin wurde nicht gespart: Den drogenabhängigen Eltern ist alle
erdenkliche Hilfe - von der Familienhebamme über eine Tagesmutter bis zur
Einzelförderung des zurückgebliebenen Kindes - angeboten worden. Theoretisch gab
es ein dichtes Netzwerk von ambulanten Hilfen, das allerdings zurückgewiesen
wurde. Zu den großen Versäumnissen des Fallmanagers gehörte beispielsweise, dass
ein schriftlicher Kontrakt, wie ihn die Dienstanweisung für den Umgang mit
substituierten Eltern zwingend vorschreibt, nie geschlossen wurde. In den Akten
fehlt auch der vorgeschriebene Hilfeplan.
Zu all dem hätte
sich der Fallmanager vor dem Untersuchungsausschuss äußern sollen, ließ sich
aber als dauerhaft krank entschuldigen. Die Parlamentarier hätten ihn zum
Beispiel gern gefragt, weshalb er über Hausbesuche bei Kevins Eltern berichtete,
die nachweislich nie stattgefunden haben. Da die Staatsanwaltschaft gegen ihn
ermittelt, hätte er wahrscheinlich ohnehin von seinem Recht auf
Zeugnisverweigerung Gebrauch gemacht. Doch nach dem Untersuchungsausschuss steht
das strafrechtliche Verfahren gegen Kevins Ziehvater an, und da wird die Justiz
notfalls auf eine medizinische Begutachtung zurückgreifen, um den Fallmanager
zur Aussage zu zwingen.
Der Ausschuss hat
nicht nur die Aufgabe, alle Umstände bis zu Kevins Auffinden im Kühlschrank des
Ziehvaters am 10. Oktober vergangenen Jahres aufzuklären, sondern stellt auch
immer wieder die Frage: Wie lässt sich ein ähnlich tragischer Fall künftig
verhindern? Die Sozialbehörde hat inzwischen neue Sicherungen bei Schwachstellen
eingebaut. Es wurden "Dienstanweisungen zum Umgang mit Dienstanweisungen"
verfügt. Ab Jahresmitte wird mit einer neuen Software endlich die elektronische
Akte eingeführt. Einige dringend benötigte Stellen - zum Beispiel bei
Amtsvormundschaften - wurden trotz des geltenden Stellenstops besetzt.
Doch Bremen ist
und bleibt nun einmal ein Haushaltsnotlageland und kann nur versuchen, seine
Ressourcen in der Jugendhilfe zu optimieren. Trotz des engen Finanzrahmens, das
zeigt der Ausschuss, scheint da noch einiges möglich zu sein.
Weser Kurier vom
17.02.2007

Rätsel um vorgeführten Kevin
Die Stadtteilleiterin in Bremen-Gröpelingen erinnert sich an
ein gesundes Kind, das ihr als "Kevin" vorgestellt wurde
Hat der Ziehvater des toten Kevin das Amt für Soziale Dienste
getäuscht, indem er im April mit einem anderen, gesunden Kind zu einem
Dienstgespräch kam? Die zuständige Stadtteilleiterin Ulla Hempel hat diesen
bösen Verdacht entstehen lassen. "Das Kind, was ich am 20. April 2005 in meinem
Dienstzimmer auf dem Schoß hatte, ist auf mich zugelaufen und hatte blau-grüne
Augen", da ist sie sich sicher. Als sie nach dem Tod von Kevin ein Foto von
einem Jungen mit braunen Augen in der Zeitung sah, habe sie spontan schon
gedacht: Das ist nicht Kevin. Vollends ins Grübeln gekommen war sie, als ihr der
SPD-Ausschussvertreter Hermann Kleen entgegenhielt: "Sie sind die einzige, die
jemals Kevin haben laufen sehen." Auch die Kripo geht nach der Obduktion davon
aus, dass Kevin nur krabbeln konnte. Aber die Stadtteilleiterin blieb gestern
bei ihrer Aussage und verwies auf ihr gutes visuelles Gedächtnis. Sie ist
diejenige, die in den Monaten nach dem April der Amtsleitung mitgeteilt hatte,
Kevin gehe es gut.
Die Aussage wirft diverse Fragen auf, denn zum Beispiel waren
sowohl Amtsvormund wie Casemanager dabei in der betreffenden Besprechung. Aber
die hatten Kevin auch nicht so oft gesehen, das ist eines der Probleme in der
von den Unternehmensberatern von Roland Berger inspirierten Organisationsform
des "Amtes für Soziale Dienste": Die Mitarbeiter und Casemanager sollen vom
Schreibtisch aus den Fall verwalten, die "Dienstleistungen" der freien Träger
von Sozialhilfe koordinieren und auf die Kosten achten, aber Sozialarbeit im
eigentlichen Sinne sollen sie selbst nicht leisten.
Der derzeit amtierende stellvertretende Amtsleiter war
gestern als Zeuge vor dem Ausschuss geladen und brachte seine Überzeugung zum
Ausdruck, dass "zu 98 Prozent gute Arbeit gemacht wird im Amt für soziale
Dienste". Nach dem Tod von Kevin herrsche eine "extreme Sensibilität", und es
seien verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet worden, um Mängel der
Organisationsstruktur und der Kommunikation zu besprechen. Eine funktionierende
Fachaufsicht scheint es allerdings bis heute nicht zu geben - "wenn ich das per
ordre de mufti mache, bringt uns das nicht weiter", sagte der Amtsleiter. kawe
taz vom 16.2.2007

Abteilungsleiter nimmt seinen Hut
Konsequenz aus Missständen im
Amt für Soziale Dienste - Suspendierter Leiter Hartwig kommt nicht zurück
Von Volker
Junck
Von einem "wilden
Aktionismus" als Reaktion auf den Todesfall Kevin berichteten Mitarbeiter vom
Amt für Soziale Dienste (AfSD) beim Untersuchungsausschuss "Kindeswohl". Einige
neue Stellen wurden genehmigt. Doch bei der Jugendhilfe liege immer noch vieles
im Argen, wie es gestern Frank Lammerding beschrieb. Er ist
Noch-Abteilungsleiter "Junge Menschen und Familie" sowie stellvertretender
Leiter des Jugendamtes. Der hochrangige Bedienstete hat inzwischen den Job
gekündigt und wechselt als Abteilungsleiter zum Landesinstitut für Schule (LIS).
Dort wird er unter anderem für Qualitätssicherung und Organisation des
Zentral-Abiturs zuständig sein. Als Begründung für seinen Ausstieg bei der
Sozialbehörde führt er Kompetenzgerangel zwischen Ressortspitze und Amt für
Soziale Dienste, zu geringe Haushaltmittel oder die schlechte
Personalausstattung an. So würden vakante Stellen - wenn überhaupt - nur intern
durch fachfremde Mitarbeiter aus anderen Behörden ersetzt. Auch auf der
Leitungsebene seien erhebliche Defizite durch die Besetzung von freien Stellen
mit Sachbearbeitern entstanden. Laut Lammerding gebe es auch immer noch recht
unterschiedliche Interpretationen dazu, was ein Case-Manager (Fallmanager)
eigentlich sei. Im Fall von Kevin, das stellte der Ausschuss gestern noch einmal
nachdrücklich fest, war dessen Fallmanager vor allem ein Lieferant laufender
Fehlentscheidungen, die zum unsagbaren Leid und Tod des Zweijährigen geführt
hatten. Inzwischen ist die Position von Jürgen Hartwig, der kurz nach dem
Auffinden von Kevins Leiche am 10. Oktober vergangenen Jahres von seinen Posten
als Leiter des Amtes für Soziale Dienste (AfSD) und des Jugendamtes suspendiert
wurde, bundesweit ausgeschrieben. Der promovierte Erziehungswissenschaftler soll
einen Forschungsauftrag an der Hochschule erhalten. Da ihm bisher keine
persönliche Mitschuld am Tod von Kevin oder schwere Dienstvergehen nachgewiesen
wurden, erhält er seine vollen Beamtenbezüge der Besoldungsgruppe B 3 (6.172
Euro pro Monat) zumindest bis September 2009. Bis dahin läuft sein befristeter
Vertrag bei der Sozialbehörde. Kommissarischer Amtsleiter ist sein
Stellvertreter Frank Nerz, den der Untersuchungsausschuss gestern ausgiebig
befragte. Er berichtete, gerade von einer Personalversammlung des Amtes zu
kommen, auf der die Mitarbeiter ihre tiefe Verunsicherung als Folge der
Berichterstattung über den Fall Kevin geäußert hätten. Die meisten von ihnen
stünden unter einem enormen Arbeitsdruck. So sei auch die Anzahl der
Überlastanzeigen seit dem 10. Oktober "sprunghaft angestiegen." Nerz bekannte,
mitverantwortlich für die Einsparungen beim Personal gewesen zu sein. "Da wurde
der Bogen überspannt, da sehe ich meinen Anteil am Tod von Kevin." Auch er
forderte eine Qualifizierungs-Offensive bis in die Führungsebene des Amtes.
Derzeit stünden dafür aber lediglich zwölf Euro pro Jahr und Mitarbeiter zur
Verfügung. Mit Spannung wurde am Abend der zweite Auftritt der Stadtteilleiterin
"Junge Menschen" im Sozialzentrum Gröpelingen / Walle erwartet. Sie hatte
beim ersten Mal angegeben, dass Kevin bei einer Fallkonferenz auf sie zugelaufen
sei. Dabei blieb sie auch gestern, obwohl der Junge nachweislich nur krabbeln
konnte. Damit hatte sie auch bei der Kripo den Verdacht ausgelöst, Kevins
Ziehvater sei im Amt mit einem fremden Kind erschienen.
Weser Kurier vom
16.02.2007

Präsentierte der Ziehvater statt Kevin ein fremdes Kind?
Mitarbeiterin
des Jugendamts äußert schweren Verdacht / Sozial-Staatsrat Schuster: Nicht
auszuschließen - Fallmanager bleibt heute fern
Von Volker Junck
Der Fall Kevin
wird immer bizarrer. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass der Ziehvater
schon während der letzten Lebensmonate des Zweijährigen und nach dessen Tod im
Mai vergangenen Jahres mit einem fremden Kleinkind unterwegs war.
Für einiges
Erstaunen hatte die Aussage einer Zeugin im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl"
gesorgt, der Zweijährige sei während einer Fallkonferenz im Jugendamt Walle /
Gröpelingen auf sie zugelaufen. Andere Zeugen hatten dagegen übereinstimmend
berichtet, das stark entwicklungsgestörte Kind einer drogenkranken und
HIV-infizierten Mutter sei nie gelaufen, sondern nur gerobbt.
Nun bestätigte
die Zeugin gegenüber unserer Zeitung ihren auch schon bei der Kripo zu Protokoll
gegebenen Verdacht, dass sie im April vergangenen Jahres nicht Kevin, sondern
ein ganz anderes Kleinkind auf dem Arm gehabt habe. Dieses Kind sei völlig
normal entwickelt gewesen und hatte nach ihrer Erinnerung auch eine andere
Augenfarbe als der in verschiedenen Medien abgebildete Kevin.
Vor dem
Untersuchungsausschuss hatte auch der substituierende Arzt von Kevins Ziehvater
angegeben, den Mann im Juni vergangenen Jahres - also eindeutig nach Kevins Tod
- mit einem Kind gesehen zu haben. Er könne sich aber auch irren.
Doch der
Verdacht, dass der Ziehvater ein fremdes Kind zur Vertuschung von Kevins
schweren Misshandlungen und der Verwahrung der Leiche in seinem Kühlschrank
benutzt haben könnte, wird durch verschiedene Aussagen gestärkt. So werden dem
Ziehvater ein außergewöhnliches schauspielerisches Talent und großer
Trickreichtum im Umgang mit Sozialeinrichtungen bescheinigt. "Er hat uns alle
reingelegt", sagte eine Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss. Sozial-Staatsrat
Joachim Schuster meinte gestern zu dem Verdacht: "Wir haben keine Beweise,
können es aber nicht ausschließen". Zumindest würde es einige Ungereimtheiten
erklären.
Der Mann, der
heute im Untersuchungsausschuss am ehesten etwas dazu sagen könnte, wird dies
nicht tun. Kevins "Fallmanager" hat dem Ausschuss mitgeteilt, dass er wegen
Krankheit nicht erscheinen wird und dazu auch ein amtliches Attest vorgelegt. Er
ist seit dem Auffinden der Kindesleiche im Oktober vergangenen Jahres
dienstunfähig. Gegen ihn ermittelt auch die Staatsanwaltschaft.
Weser Kurier vom
13.02.2007

Lautstarke
Vorwürfe an den Amtsleiter
Ausschuss-Vorsitzender sieht
Versagen auf der ganzen Linie / Verdacht über Kindestausch erhärtet
Von Volker
Junck
Im
parlamentarischen Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" wurde es gestern laut.
Ungewöhnlich laut sogar: Der sonst um moderate Töne bemühte Vorsitzende Helmut
Pflugradt nahm sich den Zeugen Erwin Böhm, Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen
/ Walle, ordentlich zur Brust und warf ihm Versagen auf der ganzen Linie im Fall
Kevin vor. Keine Kontrolle der ihm unterstellten Stadtteilleiterin "Junge
Menschen", keine ordentliche Dienstaufsicht über den für Kevin direkt
verantwortlichen Fallmanager, keine Akteneinsicht zum Drama um den Tod des
Zweijährigen. Helmut Pflugradt konnte es nicht fassen, wie der Amtsleiter für
den Bereich Gröpelingen / Walle den Fall so schluren lassen konnte. "Sie haben
den Amtsleiter (Jürgen Hartwig) für Soziale Dienste hinters Licht geführt",
donnerte er dem Zeugen am Ende einer vielstündigen Vernehmung entgegen. Die für
die damalige Senatorin Karin Röpke verfasste Chronologie der Ereignisse bis zu
Kevins Auffinden in der Kühltruhe des Ziehvaters am 10. Oktober vergangenen
Jahres sei erlogen, weil sie auf falschen Berichten der Stadtteilleiterin Junge
Menschen und Kevins Fallmanagers beruhten. "Ich musste annehmen, dass die
Berichte der unmittelbar Beteiligten stimmen", verteidigte sich Böhm. Pflugradt
wunderte sich auch lautstark, warum Böhm zu dem ihm bekannten Gerücht, Kevins
Ziehvater habe der Behörde ein falsches Kind präsentiert, keine Aktennotiz
angefertigt habe. "Das ist ja schließlich keine Kleinigkeit." Wie gestern
berichtet, hatte die Stadtteilleiterin bei der Kripo angegeben, dass Kevins
Ziehvater zu einer Fallkonferenz im April vergangenen Jahres ein Kind
mitgebracht habe, das auf sie zugelaufen sei. Da der stark entwicklungsgestörte
Kevin aber nach übereinstimmenden Aussagen nur kriechen konnte, müsse es ein
fremder Junge gewesen sein. Dieser Verdacht findet sich auch in den Akten der
ermittelnden Staatsanwaltschaft gegen Kevins Ziehvater. Weitere Nahrung erhielt
der ungeheuerliche Verdacht gestern durch einen Hinweis von Ausschuss-Mitglied
Klaus Möhle, dass Kevin laut Obduktionsbericht fast nie das Tageslicht gesehen
habe. Verschiedene Menschen in Gröpelingen - so die Pastorin der evangelischen
Gemeinde - haben den Ziehvater nach eigener Aussage aber des öfteren mit einem
munteren Kind beim Einkaufen und auch sonst in der Öffentlichkeit gesehen.
Inzwischen wurde auch bekannt, dass der Ziehvater nach dem Tod von Kevins
drogenkranker und HIV-infizierter Mutter Ende 2005 eine neue Freundin mit einem
Kind hatte, was zumindest den vertrauten Umgang bei der Fallkonferenz erklären
würde. Auch eine nach dem Tod der Mutter eingesetzte Familienhelfern hatte keine
Auffälligkeiten an dem Kind entdeckt. Laut Obduktionsbericht war Kevin bis zu
seinem Tod im Mai vergangenen Jahres aufs Schwerste misshandelt worden und wies
zahlreiche Knochenbrüche und Blutergüsse auf.Zu all dem wird der Ausschuss wohl
die Stadtteilleiterin befragen, die für morgen Nachmittag noch einmal in den
Zeugenstand geladen wurde. Bei ihrem ersten Auftritt hatte sie unter Tränen
eingeräumt: "Ich bin von einem Junkie aufs Kreuz gelegt worden." Nun muss sie
sich auch noch den Vorwurf gefallen lassen, für Kevins Fallmanager unstimmige
Berichte geschrieben und die Dienstanweisung der senatorischen Behörde zum
Umgang mit substituierten Eltern umgangen zu haben. Diese schreibt strenge
Kontrollen von Eltern und Kindern auf Drogen mit Urin- oder Haarproben vor, wie
gestern Herbert Holakovsky, Leiter im Referat Erzieherische Hilfen bei der
senatorischen Behörde, erläuterte. Sein Chef Frank Lammerding, Abteilungsleiter
Junge Menschen und Familie im Amt für Soziale Dienste, hat inzwischen seinen
Abschied genommen. Der Ausschuss-Vorsitzende zitierte gestern aus einem Brief
Lammerdings an alle Mitarbeiter, nach dem eine moderne Jugendhilfe bei den
derzeitigen Strukturen in Bremen nicht möglich sei. Der für gestern geladene
Fallmanager legte dem Ausschuss eine amtliche Bescheinigung vor, dass er krank
sei. Wie sein Amtsleiter bestätigte, hatte er erhebliche Alkoholprobleme, die er
aber in den Griff bekommen habe.
Weser Kurier vom
14.02.2007

Familienrichterin kritisiert Jugendamt
Untersuchungsausschuss "Kevin": Richterin vermisst Entscheidungsstärke bei
Amts-MitarbeiterInnen
eib
Mangelnde
Entscheidungsfähigkeit attestierte gestern die Bremer Familienrichterin Sabine
Heinke einem Großteil der MitarbeiterInnen im Bremer Jugendamt. Viele wüssten
gar nicht, welche Kompetenzen sie hätten oder vertrauten der eigenen
Einschätzung einer Familiensituation nicht, sagte Heinke, die seit 1978 als
Juristin im Familienrecht tätig ist und vor dem Untersuchungsausschuss "Kevin"
aussagte. Häufig würden die SozialarbeiterInnen sie und ihre KollegInnen fragen,
was in einem Fall geschehen solle, anstatt selbst aktiv zu werden. "Dabei sind
das doch die Fachleute", kritisierte Heinke. Als Juristin sei sie auf die
Einschätzungen der Jugendamtsleute angewiesen, die sie in Berichten oder während
einer Verhandlung einfordere. "Doch nur wenige beziehen tatsächlich eine
fachliche Position", sagte Heinke.
Häufig würden die
FallmanagerInnen aber auch den FamilienrichterInnen Entscheidungen überlassen,
weil sie keine Hoffnung hätten, dass eine Maßnahme von den Vorgesetzten
genehmigt würde. "Wenn ich das anordne, können sie nicht anders." Ein
Dauerkonflikt sei etwa der begleitete Umgang, wenn Kinder ein getrennt von ihnen
lebendes Elternteil nicht alleine sehen sollen. Statt direkt beim Amt darum
bitten zu können, dass eine Sozialarbeiterin bei einem Treffen dabei ist, müsse
erst ein Prozess geführt werden. Außerdem fehle immer noch eine verlässliche
Trennungs- und Scheidungsberatung.
Nur mit Geldnot
ließe sich die Untätigkeit vieler Jugendamtsmitarbeiter nicht erklären, glaubt
Heinke. "Die Probleme gab es schon immer, auch vor den Sparrunden", außerdem
kenne sie eine Reihe von MitarbeiterInnen, die immer noch mit Engagement die
Interessen der Kinder vertreten würden. Besonders gute Erfahrungen habe sie mit
dem Sozialzentrum Hemelingen gemacht. Als Positiv-Beispiele nannte sie außerdem
die Jugendämter in Bremerhaven und Osterholz-Scharmbeck, in denen ihres Wissens
nach klarere Hierarchien und Arbeitsanweisungen bestünden.
Der Leiter des
Sozialzentrums Vahr, Erich Ernst Pawlik, gab gestern den Schwarzen Peter, der
derzeit beim Jugendamt liegt, an die Abgeordneten zurück. Die Sparrunden hätten
dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche nicht das bekommen würden, was sie
bräuchten, sagte er. "Dafür sind Sie verantwortlich."
taz vom
09.02.2007

Zuständig für über 70 Fälle mit gut 130 Kindern
Gröpelinger
Sozialarbeiterin sieht sich als Einzelkämpferin - "Vorgesetzte haben keinen
Überblick"
Von Arno Schupp
Wie wird im Amt
für Soziale Dienste die Fachaufsicht für die Fallmanager wahrgenommen? Diese
Frage stand gestern im Mittelpunkt des parlamentarischen
Untersuchungsausschusses "Kindeswohl". Die Antwort einer 53-jährigen
Sozialarbeiterin war ernüchternd. "Die Vorgesetzten können keinen Überblick über
unsere Arbeit haben. Wir sind eigentlich eher Einzelkämpfer."
Die
Wochenkonferenzen der Casemanager würden sich im Sozialzentrum Gröpelingen /
Walle im Wesentlichen mit der Bewilligung von kostenpflichtigen Maßnahmen
beschäftigen. An die letzte Dienstbesprechung, bei der fachliche Weisungen
besprochen worden sind, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Eine Fachberatung
mit der Leitungsebene gebe es in Gröpelingen gar nicht, gab sie zu Protokoll.
Auch zum
Austausch mit den Kollegen bleibe allenfalls "zwischen Tür und Angel" Zeit. Mehr
lasse die enorme Arbeitsverdichtung im Sozialzentrum am Schiffbauerweg nicht zu.
"Ich betreue 60 Kostenfälle, habe zehn Beratungsfälle sowie zehn Vorgänge aus
dem Familienrecht. Das sind unterm Strich rund 130 Kinder", rechnete sie dem
Ausschuss-Vorsitzenden Helmut Pflugradt (CDU) und den anderen Mitgliedern des
Gremiums vor. Wo bleibe bei dieser Arbeitsbelastung noch Zeit für Gespräche mit
den Kollegen? Auch eine feste Vertretungsregelung, wie sie in anderen
Sozialzentren umgesetzt wird, gibt es nach Angaben der 53-Jährigen in
Gröpelingen nicht - oder "nur in Notfällen". Für ein genaues Studium der
betreffenden Akte fehle dann wiederum die Zeit.
Und selbst wenn
die Gelegenheit da sein sollte, ist das Aktenstudium offenbar schwieirig. "Im
Sozialzentrum Süd werden nicht alle Akten sauber geführt", erklärte gestern eine
Mitarbeiterin der Innenrevision des Amtes für Soziale Dienste. Unübersichtliche handschriftliche Vermerke, ein nicht verlässlich
funktionierendes System der Wiedervorlage sowie Akten mit inaktuelle Angaben zu
einzelnen Personen machte die 33-Jährige als Mängel aus.
Beinahe Bestnoten
gab sie dafür einer Akte des Casemanagers von Kevin, die sie als sehr geordnet
beschrieb. Diese Akte spielte für die Innenrevisorin eine Rolle beim Ausarbeiten
einer Chronologie des Falls Kevin, die den Zeitraum Januar 2004 bis Februar 2006
umfasst. Nach Kevins Tod am 10. Oktober habe sie diese Chronologie ergänzt,
wobei ihr der Inhalt im Beisein des inzwischen suspendierten Amtsleiters Jürgen
Hartwig diktiert worden sei.
Dass die
Gröpelinger Probleme nicht alleine an den Strukturen der Sozialen Dienste liegen
können, wurde gestern bei der Vernehmung eines dritten Zeugen deutlich. Der
57-jährige Fallmanager aus dem Sozialzentrum Süd klagte zwar auch über eine hohe
Arbeitsbelastung, gleichwohl funktioniere die Zusammenarbeit mit der
Leitungsebene, an der er "absolut keine Kritik" habe. Auch an der Kooperation
unter den Fallmanagern, die ein funktionierendes Vertretungssystem
praktizierten, gebe es nichts auszusetzen. Ob sich im Sozialzentrum Süd ein
Kollege diesem Kreis entziehen könne, wie es Kevins Casemanager in Gröpelingen
gemacht habe, wollte Pflugradt wissen. "Nein. Das kann bei uns mit Sicherheit
nicht passieren."
Weser Kurier vom
08.02.2007

Richterin
verlässt sich nicht mehr auf Atteste zur Drogenfreiheit
Konsequente Überprüfung ergab:
Bescheinigungen waren falsch - Untersuchungsausschuss fordert weitere Unterlagen
an
Von Elke Gundel
"Von manchen
Mitarbeitern bekommt man keinen Bericht. Nie. Die muss ich vorladen." Sabine
Heinke (50), Familienrichterin, schilderte dem Untersuchungsausschuss
"Kindeswohl" gestern, welche Erfahrungen sie in fast 30 Jahren mit dem Jugendamt
gesammelt hat. Es gebe einige Mitarbeiter, die sich engagiert für die Interessen
von Kindern und Jugendlichen einsetzten. Gleichzeitig erlebe sie aber häufig
Kollegen, die die Kinder, denen sie helfen sollen, gar nicht kennen. Kritik übte
Heinke auch an den Berichten, mit denen die Jugendamts-Mitarbeiter ihre Anträge
vor Gericht begründeten. "Eine fachliche Stellungnahme fehlt darin sehr oft."
Häufig hapere es schon bei den Formalien. So vermisse sie immer wieder Angaben
zum Vater, zu weiteren Verwandten und deren Lebensverhältnissen. "Hätte ich zum
Beispiel gewusst, dass Bernd K. nicht der Vater von Kevin ist, wäre ich an die
Sache ganz anders herangegangen." Habe sie es mit drogenabhängigen Eltern zu
tun, überrede sie diese inzwischen grundsätzlich dazu, sich einer
Drogenkontrolle zu unterziehen. Anordnen könne sie das nach geltendem Recht
nicht. Ergebnis: Alle ärztlichen Atteste, die bescheinigten, die Süchtigen
würden keine illegalen Drogen mehr nehmen, waren falsch. Sie gehe davon aus,
betonte Heinke, dass die Atteste nicht wissentlich falsch ausgestellt wurden:
Die Ärzte seien von den Junkies betrogen worden. "Viele geben fremden Urin ab."
Sie habe den früheren Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig mehrfach schriftlich über
die Probleme informiert. "Ich habe keine Antwort bekommen." Als Kevins Mutter im
November 2005 starb, habe das Jugendamt beantragt, einen Amtsvormund für den
Jungen zu bestimmen. Das habe sie getan: Ein Behörden-Mitarbeiter bekam das
volle Sorgerecht. Damals, berichtete Heinke, habe sie nichts über den Fall
gewusst, außer: "Mutter tot, Vater im Krankenhaus, das kleine Kind im Heim." Der
Antrag des Jugendamtes habe vier Zeilen umfasst, als Vater sei Bernd K. genannt
worden. Rolf-Dieter von Bargen, Leiter der Innenrevision im Sozialressort, hat
Kevins Schicksal für die Ressortspitze rekonstruiert. In seinem Bericht gibt er
vielen die Mitschuld am Tod des Kindes - auch Sabine Heinke. Die Richterin,
findet von Bargen, hätte merken müssen, dass Bernd K. nicht der "juristische
Vater" war: Er taucht in der Geburtsurkunde nicht auf, und Kevins Mutter hat ihn
nie als dessen Vater anerkannt. Hätte die Richterin darauf hingewiesen, so von
Bargens Logik, hätte der Amtsvormund die Feststellung der Vaterschaft
konsequenter betrieben - und Kevin wäre nicht wieder in der Obhut des süchtigen,
gewalttätigen Bernd K. gelandet. Die Abgeordneten schüttelten den Kopf: "Ich
halte das für richtig falsch, was Sie da schreiben", polterte Hermann Kleen
(SPD). Schließlich habe Sabine Heinke dem Amtsvormund das volle Sorgerecht
übertragen. Der habee damit alle Möglichkeiten gehabt, Kevin im Heim zu lassen
und die Vaterschaft zu prüfen. Empört reagierten die Abgeordneten auch auf eine
andere Information: Von Bargen hatte für seinen Bericht unter anderem mit Kevins
Fallmanager gesprochen. Von diesem Gespräch wie von allen anderen gebe es
Protokolle, sagte er. Die Protokolle aber sind nicht bei den Unterlagen, die das
Rathaus an den Ausschuss weitergeleitet hatte. Das soll nun nachgeholt werden.
Und das Rathaus, kündigte Ausschuss-Vorsitzender Helmut Pflugradt (CDU) an,
erhalte einen Beschwerdebrief.
Weser Kurier vom
09.02.2007

Tränen, emotionale Ausbrüche und Selbstvorwürfe
Befragung der Stadtteilleiterin
im Jugendamt Walle/Gröpelingen ließ viele Fragen offen - Konnte Kevin wirklich
laufen
Von Volker
Junck
Tränen im
Untersuchungsausschuss. Mit einem hoch emotionalen Auftritt der
Stadtteilleiterin "Junge Menschen" des Amtes für Soziale Dienste Walle /
Gröpelingen ging gestern die Wahrheitssuche im Fall Kevin weiter. "Ich mache mir
die schwersten Vorwürfe. Wie konnte das nur passieren?", schluchzte die
unmittelbare Vorgesetzte des Fallmanagers von Kevin. Wie konnte es bis zum
grauenvollen Tod des Zweijährigen kommen, der am 10. Oktober vergangenen Jahres
im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde? Warum wurde ein Hilfeplan ohne
Erwähnung der schweren Verletzungen des misshandelten Jungen und seiner
Entwicklungsstörungen aufgestellt? Warum hat Kevins Fallmanager sich nie in den
wöchentlichen Fallkonferenzen geäußert? Wie ist es zu erklären, dass seine
Vorgesetzte dem Amtsleiter noch von einem sich normalisierenden Leben bei dem
Ziehvater berichtete, als Kevin schon längst tot war? Warum akzeptierte das
Jugendamt die Ablehnung einer Tagesmutter durch den Ziehvater mit der
Begründung, dass die Frau Ausländerin sei und sein Kind ein ordentliches Deutsch
lernen solle? Der Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt und die anderen
Mitglieder des Gremiums stellten etliche Fragen und ernteten neben Tränen und
dramatischen Ausbrüchen viel Schulterzucken bei der Zeugin. Die 51-Jährige
führte die katastrophale personelle und materielle Ausstattung im Amt für ihr
Versagen an. Sie verwies immer wieder auf den Amtsvormund, dem sie voll vertraut
habe. Zum Erstaunen des Ausschusses stellte sie sich vor den ihr unterstellten
Fallmanager, der normale Arbeit geleistet und keine Alkoholprobleme gehabt habe.
Pflugradt erinnerte sie daran, dass die Innenrevision der Behörde ein ganz
anderes Bild vom Fallmanager gezeichnet habe: Berge unerledigter Akten oder frei
erfundene Hausbesuche bei Kevins Ziehvater. Für Verwunderung sorgte auch ihre
Schilderung, dass Kevin bei einer Fallkonferenz im April vergangenen Jahres auf
sie zugelaufen sei. Hermann Kleen: "Sie sind die einzige, die Kevin jemals
laufen gesehen hat." Bisher hätten alle Zeugen berichtet, dass der als Frühchen
einer drogenkranken und HIV-infizierten Mutter geborene Junge nur krabbeln
konnte. Auf die Frage von Klaus Möhle, wie es zu einer so gravierenden
Fehleinschätzung von Kevins Ziehvater kommen konnte, brach es aus der Zeugin
heraus: "Er hat uns alle geleimt und mit seinem schauspielerischen Talent
gegeneinander ausgespielt." Dabei habe er allerdings auch auf die Unterstützung
seines substituierenden Arztes Detlef Schäfer bauen können. Der sei nicht nur
Arzt, sondern auch Vertrauter gewesen. Als Beispiel für das Lügengebäude von
Kevins Ziehvater führte sie dessen Geschichte vom Tod seines Vaters und den
Besuchen bei der trauernden Mutter in der Nähe von Kassel an. Deshalb sei sie
ziemlich fertig gewesen, bei einer Nachfrage im September vergangenen Jahres den
durchaus lebendigen Vater am Telefon zu haben und von der Mutter zu erfahren,
dass ihr Sohn seit Weihnachten nie mehr da gewesen sei, weil er seinen
Halbbruder zusammengeschlagen hatte. "Passen Sie gut auf sich auf, sonst macht
er ein Sieb aus Ihnen", habe die Mutter sie noch gewarnt. "Und was ist nach dem
10. Oktober passiert, als Kevin tot im Kühlschrank gefunden wurde?", wollte der
Ausschuss wissen. "Ein ganzer Stadtteil in Hysterie", antwortete die Zeugin.
Jeder habe jeden wegen Kindesmisshandlung angezeigt. Sie selbst sei nicht nur im
Amt, sondern auch Zuhause bedroht und beleidigt worden. Das Schicksal Kevins
verfolge sie unaufhörlich, weshalb sie froh sei, nun eine andere Aufgabe zu
erhalten.
Weser Kurier vom
02.02.2007

Ging Budgetplanung vor Kindeswohl?
Innenrevision durchleuchtet Amtsstrukturen im Fall Kevin - Auch die
Vorgesetzten des Fallmanagers haben versagt
Von Rose Gerdts-Schiffler
Mit Spannung wird am kommenden Donnerstag die Zeugin Ulla H.
vor dem Ausschuss "Kindeswohl" in der Bürgerschaft erwartet. Als
Stadtteilleiterin war sie die direkte Vorgesetzte von Kevins Fallmanager. In
einem vertraulichen Bericht der Innenrevision wird der Stadtteilleiterin "eine
gefilterte und unvollständige" Berichterstattung vorgeworfen.
Auf 90 Seiten analysiert der Innenrevisor die
"Verwaltungsstrukturen und Ablaufprozesse" im Bereich der Erziehungshilfen unter
Berücksichtigung des tragischen Endes des kleinen Jungen. Lediglich eine Seite
widmet er dem Amtsvormund von Kevin.
Es sei unverständlich, warum dieser keine
Vaterschaftsfeststellungsklage eingereicht habe, wunderte sich der Revisor. Die
Antwort gab eine nichtöffentliche Sitzung des Ausschusses. Dort erfuhren die
verblüfften Mitglieder kürzlich, dass der Amtsvormund sehr wohl wusste, dass
Bernd K. nicht Kevins leiblicher Vater war. Detlef Schäfer, Arzt von Bernd K.,
gab an, er habe den Amtsvormund persönlich darüber informiert.
Dennoch blieb der Junge nach dem ungeklärten Tod seiner
Mutter weiter in der Obhut von Bernd K. Als "nicht nachvollziehbar" wertete der
Revisor die Begründung für diese Entscheidung des Amtsvormundes. Dieser hatte
ausgeführt, der Mann sei ansonsten selbstmordgefährdet.
Verwunderung und Kritik klingen auch hinsichtlich der Rolle
von Ulla H. durch. Die Stadtteilleiterin war laut Aktenlage seit Februar 2006 in
den Fall Kevin eingebunden. "Es fällt auf, dass die von ihr verfassten Berichte
nicht immer vollständig den tatsächlichen Sachverhalt widerspiegelten", schreibt
der Revisor. So habe sie dem Amtsleiter mitgeteilt, dass Kevin im Programm
"Frühe Hufen" betreut werde. Zugleich verschwieg die Stadtteileiterin jedoch,
dass die Eingangsuntersuchung für die "Frühen Hufen" gar nicht stattgefunden
hatte, da Bernd K. gleich drei Termine versäumt hatte und somit die
Unterstützung für den kleinen Jungen gar nicht anlaufen konnte.
Selbst nachdem sie erfahren hatte, dass Bernd K. das Amt von
hinten bis vorne belogen habe, dauerte es noch vier Wochen, bis Kevin endlich
aus der Wohnung geholt werden sollte, rügt der Prüfer.
Kritik auch am Sozialzentrumsleiter: Bernd K. sei eine
"tickende Zeitbombe", hatte sein Arzt Detlef Schäfer in einem Schreiben an den
Sozialzentrumsleiter gewarnt und auf die prekäre finanzielle Situation des
Mannes hingewiesen. "Aus der Akte geht nicht hervor, dass der
Sozialzentrumsleiter auf diese bedrohliche Situation reagiert hat", heißt es in
dem Bericht.
In dem Prüfbericht findet sich auch ein Schriftstück von
September 2005, das zu belegen scheint, dass das Kindeswohl der Budgetplanung
untergeordnet wurde und nicht anders herum. Es handelt sich um einen Brief an
die Fallmanager: "Liebe Kollegin, lieber Kollege, bis zum Jahresende gibt es
keine stationären Heimaufnahmen mehr. Neufälle werden nur nach Fallgruppe 1
genehmigt " (geringerer Unterstützungsbedarf als Fallgruppe 2, Anm. der
Redaktion). Als Begründung heißt es in dem Brief lapidar, dass die "vereinbarten
Zielvorgaben zwischen Amtsleiter und Sozialzentrumsleitung" nicht eingehalten
werden konnten.
Weser Kurier vom
31.01.2007

"Brutalität" vom Amts wegen
"Wir sind gedrillt worden, auf Kosten zu gucken": Wie die Sparvorgaben im
Amt für Soziale Dienste durchgesetzt wurde, das berichteten gestern Zeugen vor
dem Untersuchungsausschuss Kindeswohl
Von Klaus Wolschner
"Es war ein Alptraum", "nicht auszuhalten". Mit diesen Worten
beschrieb die Leiterin der Abteilung "Wirtschaftliche Hilfen" im Sozialzentrum
Gröpelingen / Walle, Marianne Riesenberg, gestern vor dem Untersuchungsausschuss
"Kindswohl" die Controlling-Sitzungen im Amt für Soziale Dienste. Amtsleiter
Jürgen Hartwig habe die Sparvorgaben durchgesetzt - rücksichtslos. "Dafür habe
ich ihn gehasst." Oft sei sie heulend aus den Controlling-Sitzungen
herausgegangen, berichtete sie, und gesagt: "Das kann Bremen doch nicht wollen,
eine Sozialpolitik in dieser Brutalität." Gesetzlicher Auftrag der sozialen
Dienste? "Jetzt hieß es Budget!" Wer behauptet, es sei nicht um die Kosten
gegangen? "Wir sind gedrillt worden, auf Kosten zu gucken", formulierte
Riesenberg.
Sozialarbeiter L., der zuvor als Zeuge vernommen wurde, hatte
berichtet, seit dem Tod von Kevin sei alles anders geworden. Notwendige
kostenträchtige Hilfsmaßnahmen gingen ohne Probleme durch. Der Bürgermeister
habe gesagt, Geld dürfe da keine Rolle spielen. Das Hermann-Hildebrand-Haus für
die Notunterbringung von Kindern, das 2005 einen dramatischen Rückgang an
zugewiesenen Kindern verzeichnen hatte, sei übervoll.
Sehr konkret beschrieb L., wieso die Mitarbeiter im Amt so
unzufrieden mit dem Zustand ihrer Institution nach diversen Strukturreformen
sind: Früher habe er einen kleinen Bezirk gehabt, habe dort präsent sein können
und seine Problemfamilien gekannt. Er habe sogar mal einen Jugendlichen mit zu
sich nach Hause genommen, wenn der für einen Tag versorgt werden musste.
Sozialarbeit sei eben "Beziehungsarbeit". Heute sei er "Case Manager" -
"leider". Zu zwei Dritteln müsse er am Schreibtisch arbeiten, Tabellen
ausfüllen, Anträge schreiben. Die konkrete Sozialarbeit müsse er an freie Träger
delegieren. "Das ist eine Sache, die mir nicht passt." Das Wort "Hausbesuche"
sucht man in den Dienstanweisungen für "Case Manager" vergeblich.
Offenbar ist L. nicht der einzige, der die derzeitige
Organisationsform innerlich ablehnt. Teilweise haben sich alte Arbeitsstrukturen
informell erhalten, Fachaufsicht "brauche ich eigentlich nicht", sagte L. Und er
lehne es ab, bei der fachlichen Beurteilung von Maßnahmen die Kostenschere im
Kopf zu haben. Aber es sei eben so, "dass wir uns damit auch infiziert haben",
bekannte er.
Als der Tod von Kevin bekannt wurde, habe er einen Antrag auf
vorzeitigen Ruhestand gestellt, weil ihm klar geworden sei, dass er eigentlich
nicht verantworten wolle, was er jeden Tag nicht tun könne.
Wie der Kostendruck vom zuständigen Staatsrat Arnold Knigge
ins Sozialamt kam, das schilderte anschließend Marianne Riesenberg. Wenn etwa in
Tenever die Krause-Wohnungen abgerissen würden, berichtete sie, frage niemand,
wohin die Menschen zögen: nach Gröpelingen, weil es da preiswerten Wohnraum
gebe. Dann stiegen dort die Fallzahlen an - und in der Controling-Sitzung werde
das den dortigen AbteilungsleiterInnen als persönliches Versagen vorgehalten.
Riesenberg war gestern noch empört darüber. "Ich bin keine Versagerin",
versicherte sie dem Ausschuss, "soll ich denn das Trinkwasser vergiften in
Walle?"
Amtsleiter Hartwig habe noch ein anderes Druckmittel zur
Senkung der Fallzahlen gehabt: Vakante Stellen wurden nicht oder nicht so
schnell besetzt.
taz vom
01.02.2007

Wer schützt das Sozialamt vor dem Sparzwang?
Der Fall Kevin hatte System
Beobachter des Untersuchungsausschusses Kevin haben ab und an
darüber spekuliert, ob am Ende die Schuld für die schlimme Kindesmisshandlung
von Staats wegen nur den kleinen Mitarbeitern angelastet werden.
Kommentar von Klaus Wolschner
Nach dem gestrigen Vernehmungstag sind solche Befürchtungen
gegenstandslos. Da ist eine Referatsleiterin mit einer Klarheit und einem
beeindruckenden Engagement aufgetreten. Und einer bewundernswerten Vorstellung
von der Aufgaben einer Führungskraft. Und nachdem sie den Ausschuss auf diese
Weise für sich eingenommen hatte, beschrieb sie die politisch gewollte Struktur,
die die Sozialarbeit in Bremen vor die Hunde gehen ließ. Selbst der Amtsleiter,
den sie für seinen Job "gehasst" habe, habe eben nur perfekt funktioniert für
seine Auftraggeber, erklärte sie dem Ausschuss. Der Ausschussvorsitzende war so
perplex von diesem Vortrag, dass er nur kurz meinte: "Ich habe keine Fragen
mehr."
Noch hat niemand ausgerechnet, was das Wort des
Bürgermeisters "Auf Geld darf es nicht ankommen" in der Umsetzung durch die
Sozialzentren in den letzten Monaten gekostet hat. Die Stunde der Wahrheit für
die Parlamentarier kommt aber, wenn der Sozialhaushalt 2007 um den
erforderlichen Betrag korrigiert werden muss.
taz vom 01.02.2007

Morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit
Personalratsmitglied Wolfgang Klamand berichtete Ausschuss
von einem "verheerenden Klima" im Bereich Ambulante Dienste
Von Rose Gerdts-Schiffler
Mehrfach fiel gestern im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl"
der Name der verstorbenen Sozialsenatorin Hilde Adolf. "Seit ihrem Tod wurde im
Amt nicht mehr inhaltlich entschieden, sondern hauptsächlich nach fiskalischen
Gesichtspunkten", sagte Wolf gang Klamand, Personalratsmitglied im Amt für
Soziale Dienste.
Über drei Stunden lang gewährte der frühere Sozialarbeiter
den Ausschussmitgliedern tiefe Einblicke in den Sozialdienst Junge Menschen. So
habe eine Mitarbeiterbefragung bereits vor einigen Jahren ergeben, dass das
Klima nicht nur schlecht, sondern "verheerend" sei. Damals hätten 71 Prozent
keine Perspektive mehr für sich im Amt gesehen. " Ging es dabei um einen
möglichen beruflichen Aufstieg ?", will der Vorsitzende Helmut Pflugradt von dem
Zeugen wissen. Doch der winkt ab. "Es ging im wesentlichen darum, nicht morgens
mit Bauchschmerzen zur Arbeit und nachmittags mit Kopfschmerzen wieder nach
Hause zu gehen." Das Ergebnis der Befragung sei auch deshalb so fatal gewesen,
weil Sozialarbeit von der hohen Motivation des Einzelnen lebe. Doch eben diese
habe drastisch gelitten. So hätte es im Jahr 2001 im Bereich "Ambulante Dienste
Junge Menschen" noch 150 Stellen gegeben. "Heute sind es noch 103 Stellen."
Viele Teilbereiche der Arbeit seien privatisiert und ausgegliedert worden. "Das
wurde den Mitarbeitern als Arbeitsentlastung verkauft. Doch viele Sachbearbeiter
sagen, dass sie mehr Arbeit haben als zuvor." So räumte der 57-Jährige auf
Nachfrage unumwunden ein, dass bei Krankheit keine tägliche Erreichbarkeit der
Fallmanager oder seines Teams gewährleistet sei.
Der Sozialarbeiter von heute solle als Fallmanager die Hilfen
für die Familien koordinieren und dazu auf ein Netz von Trägern zurückgreifen
können. Ein theoretisches Konstrakt, das nach Ansicht von Klamand nicht viel mit
der Bremer Wirklichkeit zu tun habe. Viele seiner Kollegen - aber auch einige
Vorgesetzte aus den Sozialzentren - hätten immer wieder signalisiert, dass das
"Fallmanagement" so nicht funktioniere. Denn: "Sozialarbeit ist Beziehungsarbeit
und lebt von persönlichem Kontakt zu den Klienten", betonte das
Personalratsmitglied und fügte hinzu: "Wir kannten früher unsere Familien im
Stadtteil, konnten präventiv eingreifen und mussten nicht vom grünen Tisch aus
arbeiten und entscheiden." Doch alle quaüfizierten Stellungnahmen zu den
Umstrukturierungen seien im Sande verlaufen. Ebenso wie die Überlastungsanzeigen
seiner Kollegen. "Die Amtsleitung hat solche Anzeigen zurück an die Leiter der
Sozialzentren geschickt, und dann wurden nur die Arbeitsabläufe der
Sachbearbeiter überprüft." Mehr Personal habe es nicht gegeben.
Nach dem Tod der früheren Sozialsenatorin Hilde Adolf hätten
sowohl der Personalrat als auch die Mitarbeiter im Amt hauptsächlich mit
Staatsrat Arnold Knigge zu tun gehabt. "Dem ging es mehr um fiskalische als um
inhaltliche Themen." Damit seien Sparvorgaben erfüllt worden, die zuvor von der
Politik beschlossen worden seien, wandte sich der Zeuge an die Politiker der
unterschiedlichen Parteien im Ausschuss.
Von dem früheren Amtsleiter Jürgen Hartwig hätten sich die
Mitarbeiter jedoch gewünscht, dass er ab einem bestimmten Punkt der Sparvorgaben
gesagt hätte: "Bis hierhin und nicht weiter."
Weser Kurier vom
31.01.2007

"Hartwig vertrat brutale Sozialpolitik"
Führende Mitarbeiterin eines Sozialzentrums kritisiert ihren mittlerweile
suspendierten Amtsleiter
Von Rose Gerdts-Schiffler
An Courage mangelt es dieser Frau nicht. Gebannt
lauschten gestern die Mitglieder des Untersuchungsausschusses "Kindeswohl" den
temperamentvollen Ausführungen einer Mitarbeiterin aus dem Sozialzentrum Gröpelingen / Walle. Für die Controllinggespräche mit ihrem Amtsleiter Jürgen
Hartwig fand Marianne R. nur eine Bezeichnung: " Der Albtraum." Während die
Referatsleiterin für wirtschaftliche Hilfen spricht, schlägt sie immer wieder
mit der Handkante auf den Tisch. 25 Mitarbeiter sind ihr unterstellt. "Und ich
will, dass es denen gut geht. Denn nur dann können Menschen gut arbeiten." Die
Belastung im Amt sei aber so mörderisch, dass man nicht gesund alt werden könne.
"Das ist doch pervers", ereifert sich die Zeugin. Auch der damals geforderte
Umgang mit den Klienten regt sie bis heute auf. Als Marianne R. (51) von Hermann
Kleen (SPD) gefragt wird, wie ihr Verhältnis zum inzwischen suspendierten
Amtsleiter Jürgen Hartwig war, sucht sie lange nach Worten. "Herr Hartwig hat
seinen Job perfekt gemacht", tastet sie sich mühsam an ein offenbar hoch
emotionales Thema heran. "Aber er stand für eine brutale Sozialpolitik." In den
Controllinggesprächen mit ihm hätten sich die Vertreter des Sozialzentrums "wie
auf der Anklagebank" gefühlt, wenn einmal wieder mehr Kinder als geplant in
teure Maßnahmen untergebracht werden mussten. Ende April 2006 hatte die
Referatsleiterin ihre erste und einzige Begegnung mit Kevins Ziehvater Bernd K.
Der Name des drogenabhängigen Mannes habe mit 170 anderen auf einer so genannten
Krankenkassenliste der Bagis (Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und
Soziales) gestanden. Alle seien als erwerbsunfähig eingestuft worden. Bernd K.
sei einer der wenigen gewesen, die sich gegen diesen Status gewehrt hätten. "Und
er hatte Recht. Schließlich hatte die Bagis ihn damit von jeder Förderung
abgeschnitten." An dem Freitagnachmittag vor dem langen Mai-Wochenende 2006 habe
Bernd K. völlig aufgelöst vor ihr gestanden. Ihm sei der Schweiß in Strömen
ausgebrochen, und er habe immer wieder gestammelt, dass er endlich dringend Geld
brauche. Zu dem Zeitpunkt hatte die Bagis die Zahlungen an Bernd K. eingestellt.
"Dabei waren die verpflichtet, zu zahlen", erinnert sich Marianne R. wütend. Als
die Referatsleiterin erfuhr, dass Bernd K. zu Hause auch noch ein Kind zu
versorgen hatte, nahm sie sich kurzentschlossen des Falles an und fand
schließlich in einem der Büros auch noch einen Ansprechpartner. Wenig später
hielt Bernd K. eine Chipkarte für einen Geldautomaten in der Hand. "Ich habe
anschließend die Bagis-Leitung aufgefordert, dass so etwas nicht noch mal
passieren darf." Der Teamleiter der Bagis, Stefan G., sollte gestern die
Argumentation seiner Behörde vortragen, meldete sich aber krank. Wie berichtet,
hatte die Bagis Kevins Ziehvater vom 1. bis zum 28. April kein Arbeitslosengeld
II mehr überwiesen. Er und Kevin waren somit in dieser Zeit völlig mittellos.
Inwieweit die finanzielle Krise eine Rolle bei Kevins Tod spielte, ist noch
offen. Laut Obduktionsbericht soll Kevin zwischen Ende April und Anfang Mai an
den Folgen von diversen Misshandlungen gestorben sein. Während der Teamleiter
der Bagis krankheitsbedingt passen musste, sagte ein 62-jähriger Fallmanager aus
dem Bremer Westen aus. Deutlich distanzierte sich der erfahrene Sozialarbeiter
von dem Begriff und vor allem der Arbeitsweise des heutigen "Casemanagers". Die
Organisationsform sei den Sozialarbeitern übergestülpt worden. "Früher habe ich
zwei Jungs, deren Mutter plötzlich ins Krankenhaus musste, einfach mal mit nach
Hause genommen. So eine Beziehungsarbeit gibt es nicht mehr. Heute sitzen wir
fast nur noch am Schreibtisch und schieben Hilfen hin und her."
Weser Kurier vom
01.02.2007

"Es hat niemanden interessiert"
Amtsvormund war für 230 Kinder
zuständig - Mitarbeiter schlugen vergeblich Alarm
Von Rose
Gerdts-Schiffler
Der ehemalige
Amtsvormund von Kevin ist gestern von einem regelrechten Blitzlichtgewitter im
Haus der Bürgerschaft empfangen worden. Nicht gekommen war dagegen der stark in
die Kritik geratene Fallmanager. Er hatte angekündigt, nicht aussagen zu wollen
und ein ärztliches Attest vorgelegt, um sich den kurzen, öffentlichen Auftritt
ganz zu ersparen.Gegen beide Männer laufen zur Zeit strafrechtliche
Ermittlungen. So erklärte denn auch der 64-jährige Amtsvormund in Begleitung
seines Anwaltes Gerhard Baisch, dass er über Kevin keine Aussagen vor dem
Ausschuss machen wolle. Spannend wurden seine Ausführungen dennoch.Im März 2000
hatten Amtsvormünder aus ganz Deutschland auf einer Fachtagung in Ostdeutschland
Standards für ihre Arbeit formuliert. Von den Leitlinien der "Dresdner
Erklärung", konnten die Bremer Amtsvormünder aber nur träumen. So heißt es
darin: "Eine persönliche Beziehung zum Mündel ist unablässig." Um dies
gewährleisten zu können, sollte ein Vormund nicht mehr als 50 Fälle betreuen.
Andernorts, so der 64-Jährige gestern, würden Fallzahlen zwischen 60 und 70
Kindern noch als akzeptabel angesehen. In Bremen betreuten die drei
Amtsvormünder mit 2,75 Stellen jedoch insgesamt 640 Mädchen und Jungen. "Bei 95
Prozent dieser Kinder ging es um den Entzug des Sorgerechts - also keine
leichten Fälle", betonte der Sozialpädagoge, der versetzt wurde und zur Zeit
keine Mündel mehr betreut. Zuletzt habe er rund 230 Fälle auf dem Tisch gehabt.
Ruhig schilderte der Mann, wie oft seine Kollegen und er die Amtsleitung auf die
Missstände aufmerksam gemacht hätten. "Wir haben allen nur denkbaren Gremien
gesagt, dass dies zu viele Mündel pro Person sind. Wir haben
Überlastungsanzeigen geschrieben und es öffentlich dem Amtsleiter auf einer
Personalversammlung vorgehalten - aber es hat niemanden interessiert." Heftiges
Nicken seiner beiden Kollegen, die gestern Nachmittag als Zuhörer mit im Raum
saßen. Mit so vielen Mündeln habe er sich auf die Fallmanager und die
beteiligten Institutionen verlassen müssen, sagte der 64-Jährige. Insgesamt habe
er mit 104 Einrichtungen wie dem Familiengericht, Schulen, Vereinen sowie Freien
Trägern in Kontakt gestanden. Da den Amtsvormündern keine Schreibkraft zur
Verfügung stehe, habe er den halben Tag am Computer zugebracht, um alle Vorgänge
festzuhalten. Ein Gutachten des Bremer Erziehungswissenschaftlers Jürgen Blandow
mit Vorschlägen, wie Amtsvormünder entlastet werden könnten, sei in "schwarzen
Löchern" des Amtes verschwunden. Nach einem erneuten kritischen Vorstoß einer
Kollegin habe ihn der frühere Amtsleiter Jürgen Hartwig mit den Worten
angesprochen: "Jetzt kann ich Ihre Nörgelei etwas besser verstehen." Geändert
habe sich aber nichts. Das scheint erst jetzt der Fall zu sein. So hatte, wie
berichtet, Sozialstaatsrat Joachim Schuster Anfang Januar angekündigt, die 2,75
Stellen der Bremer Amtsvormünder auf 6,5 Stellen aufzustocken. Anschließend
hörte der Ausschuss noch eine 57-jährige Fallmanagerin aus dem Bremer Westen.
Auch sie sprach von einer großen Arbeitsbelastung, die den Mitarbeitern keine
Zeit lasse, Akten von Kollegen vor einem Hausbesuch durchzusehen oder die
eigenen Akten bis in alle Details ordentlich zu führen. Sie selber sei nur
halbtags beschäftigt: "Mehr könnte ich nicht verarbeiten."
Weser Kurier vom
18.01.2007

Familienrichterin kritisiert Jugendamt
Bert K. hatte das
Sorgerecht für Kevin und überließ ihn einem Fremden. "Kein Einzelfall", sagt die
Familienrichterin
Binnenschiffer war er, bei der Marine diente er, dann das Studium.
"Diplom-Sozialarbeiter" sei er, gab Bert K. gestern vor dem
Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" an, und bis vor kurzem hatte der 64-Jährige
als Amtsvormund das Sorgerecht für etwa 240 Bremer Kinder und Jugendliche inne.
Auch für Kevin, den Polizeibeamte am 10. Oktober tot im Kühlschrank seines
Ziehvaters Bernd Kk. fanden.
Warum der
Vormund, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf Vernachlässigung
der Fürsorgepflicht ermittelt, den Jungen monatelang seinem Ziehvater überließ,
ist unklar. Gestern vor dem Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" verweigerte er
dazu jede Aussage. Klar dagegen ist: Der Ziehvater war - entgegen seiner
Behauptungen - weder biologischer noch rechtlicher Vater Kevins. Und als
Pflegevater wäre er niemals in Frage gekommen.
Der Amtsvormund,
dem das Familiengericht nach dem Tod von Kevins Mutter im November 2005 das
Sorgerecht übertrug, hätte den Umgang des Ziehvaters mit Kevin demzufolge
jederzeit und sogar ohne jeden Gerichtsbeschluss unterbinden können. Zweifel am
Vater-Status von Bernd K. kamen dem Amtsvormund allerdings erst im Frühjahr
2006. Der Ziehvater müsse seiner Vaterschaft beurkunden lassen, andernfalls
wolle er eine Aberkennungsklage einreichen, hält der Vormund da fest. Weder das
eine noch das andere geschah. Im Sommer 2006 erkennt der Vormund, dass der
Ziehvater gar nicht der Vater Kevins ist - weswegen auch die von ihm geplante
Klage auf Aberkennung der Vaterschaft keinen Sinn machte. Kevin ist zu diesem
Zeitpunkt bereits tot.
Als weder
rechtlicher noch biologischer Vater habe Bernd K. eigentlich "null Besitzrecht
am Kind" gehabt, sagt Sabine Heinke, die Familienrichterin, die den Fall
betreute. Fehlentscheidungen im Sorge- und Umgangsrecht, die auf mangelnden
Informationen beruhten, seien allerdings "kein Einzelfall". Schuld daran sei
unter anderem das Bremer Jugendamt, das häufig "keine ordentlichen Infos"
liefere, was Elternschaften und Verwandtschaften angehe. "Die achten da nicht
drauf, kucken da nicht hin", klagt Heinke, es gebe "kein systematisches
Vorgehen" und "keine vernünftigen Datenstammblätter" für die Kinder mit
Informationen über Eltern und Verwandte - "ein Saftladen."
Bert K. verwies
gestern auf die hohe Arbeitsbelastung der Amtsvormünde in Bremen. Klagen darüber
seien stets auf taube Ohren gestoßen. sim
taz vom
18.01.2007

Akten blieben nach
"Super-Gau" vier Wochen liegen
Vorgesetzte von Kevins Fallmanager geraten zunehmend in die Kritik - Fälle
des Amtsvormundes sind bis heute nicht überprüft
Von Rose Gerdts-Schiffler
Das Versagen der Behörde im Fall Kevin ging, so scheint es,
weit über den Tod des kleinen Jungen hinaus. Am 10. Oktober wurde sein Leichnam
im Kühlschrank des Ziehvaters gefunden. Am selben Tag machte der Begriff vom
"Super-Gau" im Amt die Runde. Doch es dauerte noch vier Wochen, bis jemand die
übrigen Akten des Fallmanagers überprüfte. Der parlamentarische
Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" hatte gestern den Innenprüfer Gisbert Tümmel
als Zeugen geladen. Der erfahrene Verwaltungsangestellte hatte am 6. November
vergangenen Jahres damit begonnen, alle Akten von Kevins Fallmanger zu sichten,
zu sortieren und zu bewerten. Wie berichtet, sah er in elf Fällen "dringenden
Handlungsbedarf. " Wiederholt hakte Hermann Kleen (SPD) nach, wann dem
45-jährigen Prüfer die Tragweite des Falles Kevin klar geworden sei. "Am selben
Tag, als Kevin tot aufgefunden wurde", lautete die prompte Antwort. Drei, vier
Mal habe er die Akte durchgeblättert und sofort bemerkt: "Das ist ein
Super-Gau". So sei den Verantwortlichen schnell klar gewesen, dass der
zuständige Fallmanger an vielen Stellen höchst unprofessionell oder gar
überhaupt nicht gehandelt habe. Fassungslos stellte Kleen fest: "Dennoch hat
fast vier Wochen keine aktive Durchsicht der anderen Akten stattgefunden."
Zögernd nickt der 45-jährige Zeuge und versucht das fehlende Handeln mit einem
Schock aller Beteiligten zu erklären. Kevins Akte liefere noch einen der am
besten dokumentierten Fälle des Sachbearbeiters, sagte Tümmel dann. Bei anderen
Kindern sei Post nicht bearbeitet oder beantwortet worden, Hilfepläne von den
Eltern nicht unterschrieben oder Formblätter nicht komplett ausgefüllt worden.
In 19 seiner insgesamt 78 Fälle war der Sachbearbeiter nie tätig. Andere Akten
hatte er nicht an Kollegen weitergereicht, obwohl diese ab einem bestimmten
Alter für die Kinder zuständig gewesen seien. Tümmels vernichtendes Fazit: "Der
Casemanager hat keine aktive Fallsteuerung betrieben, sondern nur
ereignisbezogen reagiert. Und das sogar oft nur nach wiederholten Mahnungen."
Mit anspruchsvolleren Fällen sei er nicht klar gekommen. Auf Drängen des
Ausschussvorsitzenden Helmut Pflugradt rang sich Tümmel zu der Aussage durch,
dass der Vorgesetzten des Mannes "solche Missstände eigentlich nicht über zwei
Jahre hätten verborgen bleiben dürfen". Auch die Tatsache, dass der Fallmanager
nie einen problematischen Fall im Team vorgestellt habe, hätte auffallen müssen.
Mehrfach unterstreichen sich die Journalisten das, was dann kommt: "Eine
Regelprüfung hat im Sozialdienst Junge Menschen nie stattgefunden."
Selbstkritisch merkte Tümmel an, dass ihm dies als Mitarbeiter der Innenprüfung
nicht aufgefallen sei. Mit Kopfschütteln quittierten die Ausschussmitglieder am
Ende der Befragung, dass die Fälle von Kevins Amtsvormund bis heute nicht
überprüft wurden. Das Argument, gegen den Mann liefen zur Zeit strafrechtliche
Ermittlungen, lassen sie nicht gelten: "Schließlich geht es doch um weitere
mögliche Kindeswohlgefährdungen. "
Weser Kurier vom
17.01.2007

Kevin nicht allein - weitere Kinder betroffen
Innenrevisor
Gisbert Tümmel stellt gravierende Mängel in der Arbeitsweise von Kevins
Sozialarbeiter fest
Von Nina Kim Leonhardt
Der Innenrevisor
des Amtes für Soziale Dienste, Gisbert Tümmel, entdeckte 15 weitere Akten von
Kindern, bei denen dringend notwendige Hilfsmaßnahmen unterblieben. Er war nach
dem Fund von Kevins Leiche damit beauftragt, alle 79 Akten des zuständigen
Fallmanagers zu prüfen und wurde gestern vom parlamentarischen
Untersuchungsausschuss dazu befragt.
Tümmel stellte in
seinem Bericht gravierende Mängel in der Aktenführung und Arbeitsweise des
Fallmanagers fest. Viele Dokumente waren doppelt vorhanden, vorgegebene
Formblätter waren unvollständig ausgefüllt und Akten nicht ordnungsgemäß
weitergeleitet worden. Sobald die Kinder das Alter von 12 Jahren überschritten
und damit nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des Sozialarbeiters fielen,
wurden ihre Akten nicht mehr von ihm bearbeitet. Der Fallmanager habe zudem
durchgängig Angaben Dritter vertraut und sich kein eigenes Bild von der
Situation der Kinder verschafft. Er sei immer nur dann aktiv geworden, wenn
andere Ämter oder SozialarbeiterInnen an ihn herangetreten seien. Je komplexer
der Fall, so Tümmel, desto mangelhafter die Bearbeitung seitens des
Fallmanagers.
Wie es möglich
war, dass dieser über Jahre hinweg so chaotisch arbeiten konnte, ohne dass es
jemandem auffiel - trotz wöchentlicher Konferenzen sowie der
Dienstaufsichtspflicht der Sozialbehörde - konnte auch Tümmel nicht beantworten.
Das Amt sei über sich selbst erstaunt. Die sonst üblichen Regelprüfungen hätten
im Sozialdienst für junge Menschen "nicht stattgefunden", weil die Prüfungen
anlässlich konkreter Beschwerden so häufig vorkamen, sagt Tümmel. Bei
Stichproben wäre eventuell aufgefallen, dass der Sozialarbeiter sogar
Polizeiberichte über unhygienische Wohnverhältnisse und plötzlichen Kindstod in
einer anderen Familie ignorierte. Tümmel selbst hatte nach seiner Revision
einige der schwierigen Fälle an andere Sozialarbeiter weitergeleitet. Von den
restlichen Akten sei anzunehmen, dass sie jetzt von der Nachfolgerin von
Kevins-Fallmanager bearbeitet würden. Weitere Maßnahmen, zum Beispiel zur
Verbesserung der internen Kommunikation, seien ihm noch nicht bekannt.
taz vom
17.01.2007

"Familiensituation ist wichtig"
Dafür, dass durchs Sparen in
Bremen das Kindeswohl gefährdet ist, sieht Helmut Pflugradt (CDU) "keine
Anhaltspunkte".
Der Vorsitzende des
Kevin-Untersuchungsausschusses im taz-Interview
Interview:
Eiken Bruhn
taz: Herr Pflugradt, der Untersuchungsausschuss geht in die dritte Woche. Wie
zufrieden sind Sie mit dem Verlauf?
Helmut Pflugradt:
Zufrieden ist nicht das richtige Wort. Bei vielem, was ich bisher gehört habe,
ist deutlich geworden, dass an vielen Stellen eine Dienstaufsicht fehlt und dass
die Kooperation und Koordination zwischen den Dienststellen nicht funktioniert.
Zum Beispiel zwischen der PiB (Pflegekinder in Bremen, Anm. d. Red.) und
Jugendamt oder Bewährungshilfe und Jugendamt. Da gab es im Fall Kevin viele
Puzzle-Teile, die nicht zusammengesetzt wurden.
Aber es läuft doch darauf hinaus, dass der verantwortliche Fallmanager alles
wusste - und nichts unternommen hat.
Das ist richtig,
aber ein solches individuelles Versagen ist nur bei strukturellen Mängeln
möglich, wie ich sie gerade geschildert habe. Ich möchte aber auch ganz deutlich
sagen, dass es bisher keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass finanzielle
Gründe dabei eine Rolle gespielt haben. Es ist keine Maßnahme unterblieben.
Außer das Kind rechtzeitig aus der Familie zu nehmen. Der Leiter des
Kinderheims, in dem Kevin zweimal kurz war, hat 2005 nur noch halb so viele
Kinder in Obhut bekommen wie die Jahre davor.
Aber er hat
keinen einzigen Fall nennen können, bei dem einem Kind diese Inobhutnahme
verweigert wurde.
Wie hätte er das auch tun sollen, da er ja nur die Kinder sieht, die von Polizei
oder Jugendamt gebracht werden?
Ich bleibe dabei,
es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass finanzielle Gründe dabei eine Rolle
gespielt haben.
Im
Untersuchungsausschuss geht es sehr viel um die Familienverhältnisse. Haben Sie
ein Bild davon gewinnen können, wie es in Kevins Familie ausgesehen hat?
Es ist recht
eindeutig, dass der Ziehvater von Kevin das Problem in der Familie war. Der
hatte offenbar schauspielerische Fähigkeiten. Das haben nicht alle gemerkt, die
mit der Familie zu tun hatten. Ich erwarte aber von professionellen Helfern,
dass sie erkennen, wenn ihnen etwas vorgespielt wird.
Wozu müssen Sie sich eigentlich die Beziehung von Kevins Eltern erklären lassen?
Schließlich soll doch geklärt werden, wie ein Kind unter staatlicher Aufsicht zu
Tode kommen kann.
Die
Familiensituation ist sehr wichtig für den Gesamteindruck.
Auch ob die Mutter während ihrer Schwangerschaft angemessene Muttergefühle
hatte?
Eine solche Frage
habe ich nie gestellt.
Aber auch Sie haben nachgefragt, wenn es um die Persönlichkeiten der Eltern
ging. Ist das nicht eher in den Gerichtsverfahren interessant, in denen die
individuelle Schuld und Motive geklärt werden?
Ich sage es noch
einmal, im Untersuchungsausschuss geht es um die Strukturen im
Jugendhilfesystem, aber auch um den Fall Kevin. Den muss man insgesamt
ausleuchten.
Werden denn auch noch Zeugen gehört, die nichts zu Kevin zu sagen haben, sondern
zu den Zuständen in der Jugendhilfe?
Ja,
selbstverständlich.
Bürgermeister Jens Böhrnsen hat vergangene Woche gesagt, dass Geld keine Rolle
spielen soll, wenn es um Verbesserungen im System geht. Nun haben Sie gerade
gesagt, dass es keinen finanziellen Mangel gibt. Steht da ein Koalitionsstreit
bevor?
Das habe ich so
nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass es bisher keine Anhaltspunkte dafür gibt,
dass in Bremen das Kindeswohl gefährdet ist, weil gespart wird. Sollte sich
herausstellen, dass bestimmte Maßnahmen erforderlich sind, dann muss man das
Geld dafür bereitstellen.
Auch für mehr Mitarbeiter im Amt für Soziale Dienste?
Dazu muss man
erst einmal klären, welchen Bedarf es konkret gibt.
taz vom
15.01.2007

Keine Verzahnung, keine Kontrolle
Helfer ohne
Infos in hoch problematische Familien geschickt - Untersuchungsausschuss legt
Probleme offen
Von Rose Gerdts-Schiffler
Kevins Tod hat
alle führenden Medien Deutschlands beschäftigt. Über Wochen suchten Scharen von
Journalisten nach immer neuen Abgründen - und wurden fündig. Der
Untersuchungsausschuss versprach denn auch nicht viel Neues. Doch die meisten
Beobachter wurden überrascht. Eine Zwischenbilanz.
Mehr als 30
Zeugen und Zeuginnen mussten seit dem 18. Dezember im Saal 2 der Bürgerschaft
Platz nehmen. Oft unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen. Darunter Frauen
und Männer, die sich weit über das normale Maß hinaus um das Schicksal des
kleinen Jungen gesorgt, immer wieder Alarm geschlagen und sich wiederholt bei
der zentralen Stelle, dem Fallmanager des Kindes, gemeldet hatten. Dort, so
scheint es bislang, wurden sie aber lediglich vertröstet, abgewimmelt oder gar
belogen.
Wichtigen
Akteuren, wie dem Arzt von Kevins Ziehvater Bernd K. oder dem Leiter des
Kinderheimes Hermann Hildebrand soll der Fallmanager gar vorenthalten haben,
dass der Junge schwer misshandelt worden war. Die Aussagen des Fallmanagers
stehen noch aus.
Was die
bisherigen Ergebnisse des Gremiums so erschreckend macht, ist jedoch nicht al
lein das krasse Fehlverhalten eines Einzelnen. Viele Beteiligte waren nah an dem
süchtigen Paar dran. Viele sahen, dass es Tag für Tag nur mühsam eine Fassade
von Normalität aufrecht hielt, hinter der sich Gewalt und Sauf-Exzesse
verbargen. Und mittendrin ein Kind. "Drogen-Baby", nannten manche Zeugen Kevin
und beschrieben in der Sprache der Insider mit diesem Begriff ein Kind, das
problematisch und gesundheitlich schwer angeschlagen ist. Trotz dieser tiefen
Einblicke schauten einige dieser Fachleute dem Elend wochen- oder gar jahrelang
zu. Sie mahnten, appellierten, aber "stampften nicht mit dem Fuß auf ", wie es
sich der stark in die Kritik geratene Arzt von Kevins Ziehvater inzwischen
selber anlastet. Deutlich zeigten die Zeugenaussagen, dass die Dienstanweisungen
im Amt gut waren. Ihre Umsetzung im Fall Kevin aber war katastrophal, die
Kontrolle durch Vorgesetzte gleich Null. Erschreckend auch, mit wie wenigen
Vorinformationen die unterschiedlichsten Helferinnen in diese höchst
problematische Familie geschickt wurden und sich schicken ließen. Eine
professionelle Verzahnung der Akteure scheint in Bremen bislang zu fehlen.
Deswegen auf dem
Berufsstand "Fallmanager" herumzuhacken, verbietet sich. Viele ringen sehr
engagiert um ihre Schützlinge. Und zwar, wie deutlich wurde, unter miserablen
personellen Bedingungen. Im März 2006 schlugen einige Sozialarbeiter an der
Behördenspitze vorbei Alarm und prangerten in unserer Zeitung an, dass nun auch
noch der Fachdienst "Aufsuchende Familienberatung" für Eltern mit "maximalen
Problemen und minimalen Hoffnungen" eingestellt werden sollte. Ihr Appell
verpuffte. Die Kinder- und Jugendhilfe war zu diesem Zeitpunkt zu einem rein
finanzpolitischen Thema verkommen.
Weser Kurier vom
13.01.2007

Praxis
durchsucht und Akten beschlagnahmt
Bremer Arzt soll Kevins
Ziehvater einen illegalen Medikamentencocktail verschrieben haben
Von Rose
Gerdts-Schiffler
Der Vorstand der
Kassenärztlichen Vereinigung will diesen Monat darüber entscheiden, ob der
Bremer Arzt Detlef Schäfer süchtige Patienten weiter mit dem Drogenersatzstoff
Methadon substituieren darf. Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass die
Praxisräume des Arztes im Ostertor wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz durchsucht und Patientenakten beschlagnahmt worden sind.
Bei zehn
Patienten soll der Mediziner mehr Mittel als üblich verschrieben haben. Nach
Auskunft der Staatsanwaltschaft prüft zur Zeit ein Sachverständiger, ob die
Verschreibungen medizinisch indiziert sind oder gegen das Betäubungsmittelgesetz
verstoßen. Zumindest im Fall von Kevins Ziehvater soll Schäfer nach
Informationen unserere Zeitung einen brisanten und illegalen "Cocktail" über
einen langen Zeitraum verschrieben haben. Wie mehrfach berichtet, handelt es
sich dabei um den Drogenersatzstoff Methadon sowie Diazepam und Ritalin. Ritahn,
ein Stimulat, das bei so genannten ADS-Kindern paradoxerweise beruhigend wirkt,
darf an Erwachsene nicht verschrieben werden. Nach Auskunft eines mit der
Substitutionsbehandlung vertrauten Arztes nehmen aber manche Süchtige
Beruhigungsmittel wie Diazepam, um nachts schlafen zu können, und morgens ein
Stimulat, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein gefährlicher
Medikamentencocktail, der Menschen, je nach Dosierung, unruhig, aufgedreht und
aggressiv werden lässt sowie ihre Frustrationstoleranz und Impulskontrolle stark
einschränken kann. In Kombination mit Methadon sei eine solche Verschrei-bung
entgegen aller Vorschriften.
Die
Methadonkommission hatte bereits empfohlen, dem Arzt die Erlaubnis zur
Substitution zu entziehen. Die endgültige Entscheidung darüber will am 22.
Januar der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung fällen.
Weser Kurier vom
13.01.2007

Wunsch nach einer "Rama-Familie"
Eine Bewährungshelferin
schildert Kevins Eltern als unauffällig - auch in ihrem Bemühen um einen guten
Eindruck
Von Eiken Bruhn
"Eine Familie wie
aus der Rama-Werbung" habe Bernd K., der Ziehvater des verstorbenen Kindes Kevin
darstellen wollen, sagte gestern im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" die
damalige Bewährungshelferin der etwa ein halbes Jahr vor Kevin gestorbenen
Mutter des Kindes.
Bei einem Besuch
im April 2005 sei ihr aufgefallen, dass die Familie sich sehr angestrengt habe,
einen "normalen Eindruck" zu machen. Ein solches Verhalten erlebe sie in ihrer
Arbeit sehr oft, so die Bewährungshelferin. Vor allem die Männer würden
versuchen, einen guten Eindruck zu hinterlassen. "Wenn die Frauen alleine sind,
sind sie auch bereit, über Probleme zu sprechen." An Kevin sei ihr nichts
Ungewöhnliches aufgefallen, er habe nicht schüchtern oder gar verängstigt
gewirkt, erinnerte sich die Frau, deren Aufgabe es ist, die Einhaltung von
Bewährungsauflagen zu kontrollieren. Obwohl es keinen konkreten Anlass gab,
wandte sich die Bewährungshelferin dennoch an das Jugendamt. Das würden sie und
ihre Kolleginnen bei suchtkranken Frauen routinemäßig machen - um sicher zu
gehen. Eine offizielle Vereinbarung gebe es jedoch nicht. Der Mitarbeiter im
Jugendamt habe ihr im Fall Kevin gesagt, dass man alles im Griff habe.
Als unauffällig
beschrieb auch ein Arzt die Familie, der sie zweimal zur Entgiftung in einer
Klinik in Heiligenhafen hatte. Er machte sehr deutlich, dass er substituierten
Drogenabhängigen nicht generell die Fähigkeit absprechen würde, ihre Kinder
aufzuziehen. Er stimmte allerdings der Überzeugung einer zuvor gehörten
Sozialarbeiterin zu, dass eine Substituierung alleine nicht ausreiche. "Nur mit
Chemie geht das nicht."
Mit Verweis auf
seine Schweigepflicht verweigerte gestern Thomas Becker, Anwalt von Bernd K.,
die Aussage. Er soll eine maßgebliche Rolle dabei gespielt haben, dass Kevin
nicht ins Heim oder zu einer Pflegefamilie kam. Bernd K. befindet sich in
Untersuchungshaft. Am 10. Oktober wurde Kevins Leiche in seinem Kühlschrank
gefunden. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er an Misshandlungen durch
Bernd K. starb.
taz vom
12.01.2007

Das Bild von einer "Rama-Familie"
Bewährungshelferinnen blickten
schnell hinter die mühsam aufrecht erhaltene Fassade von Kevins Eltern
Von Rose
Gerdts-Schiffler
Keine Fotos.
Keine Filmaufnahmen. Rechtsanwalt Thomas Becker bestand gestern vor dem
Untersuchungsausschuss darauf, nicht abgelichtet zu werden und berief sich
zugleich auf seine Schweigepflicht. So konnten die Ausschussmitglieder seine
Rolle in dem endlosen Drama Kevin nur aus den Akten nachvollziehen. Nach
Aussagen einer Zeugin hatte Thomas Becker als Anwalt von Kevins Ziehvater nach
der Geburt des Jungen vehement die Rechtsauffassung vertreten, dass das Kind
trotz der großen Bedenken der Klinikärzte den suchtkranken Eltern überlassen
werden müsse. Doch da ihn Bernd K. bis gestern nicht von der Schweigepflicht
entbunden hatte, war die Befragung des Notars und Rechtsanwalts schnell zu Ende.
Dafür sagten gestern zwei Bewährungshelferinnen vor dem Untersuchungsausschuss
aus. Die erste Zeugin hatte Kevins Mutter Sandra K. ab 2004 "betreut und
kontrolliert". Die Mutter habe stets schläfrig und sehr verlangsamt gewirkt,
erinnerte sich die Bewährungshelferin. So langsam, dass die Windel ihres Kindes
vermutlich längst wieder voll gewesen sei, bis sie sie endlich gewechselt habe.
Besorgt stattete sie ihrer Klientin im April 2005 einen angemeldeten Hausbesuch
ab. Die Wohnung war aufgeräumt und "das Paar versuchte höflich und normal wie
eine Rama-Familie rüberzukommen. Bernd K. machte auf besonders nett. Es wirkte
nicht authentisch", fasste die 48-Jährige ihren damaligen Eindruck zusammen.
Diesen teilte sie auch dem Fallmanager vom Jugendamt mit. Das Telefonat sei von
ihm jedoch schnell beendet worden. Die Bewährungshelferin plädierte für eine
enge Zusammenarbeit der Bewährungshilfe und des Jugendamtes im Rahmen eines
Kooperationsvertrages. Denn: "Wenn Kinder im Spiel sind, müssen alle hingucken,
ob es klappt und sich darüber austauschen." Bei ihrem Hausbesuch habe sie Kevin
auf dem Schoß gehabt und mit ihm gespielt. "Der Junge war schmal und klein. Aber
sonst fiel mir nichts Ungewöhnliches an ihm auf." Ihre Kollegin kümmerte sich ab
Sommer 2005 um Bernd K., der zu diesem Zeitpunkt vom Amtsgericht zu einem Jahr
und sechs Monaten wegen Diebstahls und räuberischer Erpressung zur Bewährung
verurteilt worden war. "Bernd K. war wortgewandt, wollte alles richtig machen
und vermittelte den Eindruck, dass er sich um die Dinge kümmerte." Wenige Wochen
nach dem Tod von Sandra K. saß Bernd K. im Januar 2006 im Flur der
Bewährungshilfe. "Er war außer sich, sehr aggressiv und weinte, da er Angst
hatte, dass man ihm das Kind wegnehmen könnte." Der Frau gelang es, Bernd K. zu
beruhigen. "Aber er vermittelte den Eindruck, Amok zu laufen, wenn er das Kind
verlieren sollte." Hoch besorgt alarmierte die Bewährungshelferin den
Fallmanager, der ihre Einschätzung geteilt und sie beruhigt habe, dass "gerade
weiter überlegt werde". Die Bewährungshelferin bat den Fallmanager, sie auf dem
Laufenden zu halten. Als sie mehrere Wochen lang nichts hörte, meldete sie sich
im März 2006 bei dem Mann. Wieder habe der Fallmanager auf "geplante Maßnahmen"
verwiesen. Wie ihre Kollegin hielt sie jedes Telefonat in einer schriftlichen
Aktennotiz fest. Nach März 2006 habe sie sich nicht mehr bei dem Fallmanager
gemeldet. "Es ist ja auch nicht meine Aufgabe, das Jugendamt zu kontrollieren."
Weser Kurier vom
12.01.2007

"Vernünftige Ansätze"
Reaktionen auf geplante
Änderungen
Von Elke
Gundel
Verhaltener
Applaus von der CDU, Kritik von den Grünen - das sind die Reaktionen auf die
geplanten Umstrukturierungen im Jugendamt. Sie enthielten "vernünftige Ansätze",
erklärte der jugendpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Michael Bartels. Das
gelte vor allem für die Frage, ob Kinder bei drogenabhängigen Eltern bleiben
können.
Die CDU
plädiere dafür, "immer zu Gunsten der Sicherheit und Gesundheit des Kindes zu
entscheiden und nicht nach dem therapeutischen Mehrwert für den Drogenentzug der
Eltern". Mit Blick auf das geplante Kinder-Nottelefon sagte Bartels, seine
Fraktion habe der SPD schon vor einem Monat einen Antrag zugeleitet, in dem es
um die Einrichtung einer solchen Hotline ging. "Ich verstehe nicht, warum die
SPD-Fraktion bis heute nicht zugestimmt hat."
Jens Crueger,
jugendpolitischer Sprecher der grünen Fraktion, gehen die Veränderungen im
Jugendhilfesystem dagegen nicht weit genug. "Die Finanzierung ist bislang völlig
ungeklärt", kritisierte er. Der Senat müsse "endlich ein vernünftiges Personal- und Finanzierungskonzept" vorlegen.
Weser Kurier vom
10.01.2007

Amtsvormund versetzt
Disziplinar-
und Strafverfahren laufen
Von Elke Gundel
Der
Mitarbeiter, der die Amtsvormundschaft von Kevin übernommen hatte, ist
mittlerweile in einem anderen Bereich der Sozialbehörde tätig. Das bestätigte
Sozialstaatsrat Joachim Schuster (SPD) auf Nachfrage. Hintergrund: Gegen den
Mann laufe ein Disziplinarverfahren.
Außerdem
ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen möglicher Verletzung der Fürsorgepflicht.
Wie berichtet, hatte das Amtsgericht das Jugendamt als Vormund für Kevin
bestellt, nachdem dessen Mutter im November 2005 gestorben war. Auch gegen den
für Kevin zuständigen Sachbearbeiter läuft laut Schuster ein
Disziplinarverfahren. Zudem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts
auf Verletzung der Fürsorgepflicht. Der Mitarbeiter sei momentan krank
geschrieben, hieß es.
Wenn im Bereich
der Amtsvormundschaften demnächst 6,5 Stellen geschaffen sind, müssten sich die
einzelnen Mitarbeiter im Schnitt um etwa 100 Mündel kümmern, erklärte Schuster.
Das entspreche dann in etwa dem bundesweiten Durchschnitt, der bei 80 bis 100
Fällen pro Amtsvormund liege. Zwar gebe es Länder, in denen die Fallzahlen
niedriger lägen. "Als Haushalts-Notlageland müssen wir uns aber am Durchschnitt
des Bundes orientieren", sagte der Staatsrat.
Kevins Leiche
ist am 10. Oktober im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden
worden. Zu diesem Zeitpunkt war der Zweijährige nach den bisherigen
Erkenntnissen knapp ein halbes Jahr tot. Der Junge starb an den Folgen schwerer
Misshanalungen. Die Ermittler halten seinen Ziehvater für den Täter.
Weser Kurier vom
10.01.2007

Kevin sollte seinen Vater "stabilisieren"
Untersuchungsausschuss befragt Sozialarbeiterinnen und den Leiter des Hermann
Hildebrand Hauses
Von Rose Gerdts-Schiffler
Mit Grauen
erinnerte sich eine Sozialarbeiterin an ihre Arbeit im Jugendamt. "Viele
Kollegen waren ständig überlastet, aber zugleich sprach man nur noch von Kunden,
Produkten und Case-Managern." Gemeinsam mit einer Kollegin sowie Joachim Pape,
dem Leiter des Hermann Hildebrand Hauses, sagte sie gestern im
Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" aus.
Die
Sozialarbeiterin wechselte im Jahr 2002 frustriert in die "Pflegekinder in
Bremen GmbH". In diesem Zusammenhang lernte sie Kevins Familie erstmals 2005
kennen. Um endlich eine Unterschrift der Eltern für eine in Anspruch genommene
Kurzzeitpflegestelle zu erhalten, suchte sie das Paar zu Hause in Gröpelingen
auf. "Die Mutter war betrunken und der Mann strömte ein Gewaltpotential aus. Die
Familie war nicht okay. Ich hatte den Eindruck: Hier stimmt gar nichts."
Wenige Monate
später meldete sich Kevins Fallmanager bei ihr und bat sie, eine Tagespflege für
den Jungen zu finden. Die Mutter des Kindes sei verstorben und der Vater mit der
Situation überfordert. Empört will sie den Mann darauf hingewiesen haben, dass
eine Tagespflege für das Kind nicht ausreiche. Auf ihre Skepsis habe der
Fallmanager nur mit den Worten reagiert: "Der Vater muss jetzt stabilisiert
werden."
"Ich habe meine
Meinung nicht vehement genug vertreten. Das war mein Fehler", räumte die Frau
aufgewühlt ein. Weniger selbstkritisch reagierte gestern ihre 56-jährige
Kollegin. Die Sozialarbeiterin war zuständig für die Tagesmutter von Kevin. Nach
nur drei Tagen hatte sich die Tagesmutter im März 2006 telefonisch bei der
Sozialarbeiterin gemeldet und ihr von mehreren Verletzungen des Kindes
berichtet. " Sie sagte mir, dass Kevin blaue Flecken am Rücken habe, sprach von
einer offenen Wunde, einem geschwollenen Penis und möglicherweise einem
gebrochenen Fuß." Da die Tagesmutter das Kind nicht wieder an den Vater
herausgeben wollte, habe sie dringend um eine sofortige Entscheidung gebeten.
Die Sozialarbeiterin erreichte den Fallmanager kurze Zeit später und schilderte
ihm die Beobachtungen der Tagesmutter. Doch wie sich einige Tage später
herausgestellt habe, habe der Fallmanager die Position des Vaters akzeptiert,
das Kind nicht weiter zu der Tagesmutter zu bringen, da er sich nicht mit ihr
verstehe. Damit habe sie mit dem Fall nichts mehr zu tun gehabt.
Fassungslos
haken die Ausschussmitglieder nach: "Wie konnten sie mit dieser Entscheidung
zufrieden sein?" Und: "Warum stand nicht die ärztliche Notfallversorgung des
Kindes im Mittelpunkt?" Die Antworten der Zeugin blieben vage. Auch für ihre
unvollständige, nur stichwortartige Aktenführung, die sie zum Teil selber nicht
mehr lesen konnte, wollte sie keine Verantwortung übernehmen: "Bei der
Arbeitsbelastung kann man die Akten nicht mehr so führen, wie es wünschenswert
wäre."
Schließlich
befragte der Ausschuss Joachim Pape, den Leiter des Hermann Hildebrand Hauses,
in dem Kevin zweimal untergebracht war. Der 53-jährige Sozialpädagoge hatte in
den vergangenen Monaten eine Schlüsselrolle in der Aufarbeitung des tragischen
Falles eingenommen.
"Bei seinem
zweiten Aufenthalt in unserem Haus hatte Kevin nur 500 Gramm in einem Jahr
zugenommen und krabbelte trotz seiner 22 Monate nur auf den Unterarmen",
erinnerte sich Pape. Vergeblich hat er darum gekämpft, den Jungen mehrere Wochen
im Heim zu behalten, damit eine gründliche Diagnose erstellt werden kann. Der
Fallmanager aber wollte Kevin kurzfristig entlassen. Zugleich beruhigte er Pape,
dass im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter kein Fremdverschulden vorläge.
Tatsächlich sind die Umstände bis heute nicht endgültig geklärt. Von Kevins
Misshandlungen weiß Pape zu dem Zeitpunkt nichts. "Sonst hätte ich das Kind wohl
nicht herausgegeben." Dafür wusste Pape, dass Sparen "ein wichtiges Ziel" in der
Behörde war. So informierte er denn auch seinen Vorstand, als die Behörde im
Jahr 2005 nicht mal mehr halb so viele Kinder wie in den Jahren zuvor in die
Obhut des Heimes gab.
Weser Kurier vom
10.01.2007

Arzt: Kevin war "immer so still"
Arzt wusste von Anfang an, dass
Bernd K. nicht der leibliche Vater war und trat dennoch als sein Fürsprecher auf
Von Rose
Gerdts-Schiffler
Warum
trat der Arzt von Kevins Eltern über zwei Jahre lang als hoch engagierter
Fürsprecher für ein Paar auf, dessen Begleitung er von Anfang an als "explosives
Krisenmanagement" empfand? Gestern, so schien es, gab Detlef Schäfer im
Untersuchungsausschuss erstmals eine Antwort darauf und wartete zugleich mit
weiteren Überraschungen auf.So berichtete der 54-jährige Mediziner, der das Paar
seit Jahren mit dem Ersatzstoff Methadon substituierte, dass er davon wusste,
dass Bernd K. nicht Kevins Vater war. "Die Mutter hatte mir erzählt, dass Kevin
einer Vergewaltigung entstammte."
Dennoch setzte er
sich auch nach dem Tod der Mutter im November 2005 dafür ein, dass der Junge
beim Ziehvater blieb. Mehrfach deutete Schäfer gestern an, was ihn dazu bewegt
hatte. "Mir ist auch schon mal ein Kind weggenommen worden. Ich wusste, wie sich
das anfühlt." Im Gegensatz zu manch anderen Zeugen vermittelte der Mediziner
gestern das Bild eines Mannes, den Selbstvorwürfe plagen. "Ich frage mich, wie
blind war ich, dass ich diese vielen Knochenbrüche bei Kevin nie bemerkt habe."
Allerdings habe
er Kevin auch "nie ausgepackt". Auffällig sei nur gewesen, wie still der kleine
Junge stets gewesen sei. "Stillgestellt?", hakte der Ausschussvorsitzende Helmut
Pflugradt nach. "Dies", so der Mediziner nachdenklich, "habe ich mich im
Nachhinein auch gefragt." Schäfer wirft dem Jugendamt vor, ihn nicht gründlich
informiert zu haben. "Ich wusste nichts von den Kindesmisshandlungen. Das wurde
mir seitens des Paares und des Fallmanagers verschwiegen." Dafür wusste er, dass
die Eltern von Anfang an viele als absolut notwendig erachtete
Unterstützungsmaßnahmen boykottierten oder abbrachen, rückfällig wurden, dass
die Mutter trank und dass vor allem der Fallmanager in diversen Situationen
nicht reagierte.
Schäfer erinnerte
sich daran, "mal entsetzt, "mal verwundert" gewesen zu sein oder die Situation
als "unerträglich" empfunden zu haben. Doch er blieb bei seiner Entscheidung,
den "relativ stabilen Vater" weiter darin zu unterstützen, das Kind zu behalten.
Noch im April 2006 mahnte er schriftlich die Leitung des Jugendamtes an, sich
bei der Bagis dafür einzusetzen, dass Bernd K. sein ihm zustehendes Geld
bekomme. Der inzwischen allein erziehende Vater drohe sonst "zur tickenden
Zeitbombe" zu werden. Eine düstere Prophezeiung. Gerichtsmediziner haben Kevins
Tod auf Ende April bis Ende Mai datiert. Dem entgegen steht die Aussage des
Arztes, Kevin noch am 5. Juli 2006 lebend gesehen zu haben.
Dies wiederholte
der Mediziner auch gestern, fügte aber einschränkend hinzu: "Soweit ich mich
erinnere." Für Verwunderung bei einigen Ausschussmitgliedern hatte zuvor der
Auftritt des 61-jährigen Sozialarbeiters vom Verein "Ani avati" gesorgt. Der
Mann hatte Kevins Eltern jahrelang psychosozial begleitet. Differenziert
beschrieb er dem Ausschuss, dass Bernd K. zwar der Ruf eines "wilden,
gewalttätigen Hauers" vorauseilte, dieser aber auch sehr weiche, sensible und
bedürftige Seiten gehabt habe. An die Geburt von Kevin hätten sich die
irrationalen Hoffnungen des Paares geknüpft, dass nun endlich "alles gut werde."
Kevin habe gerade
Bernd K. "alles bedeutet". Er selber habe die Elternschaft des Paares als großes
Unglück empfunden. In einem Schreiben an alle Beteiligten hatte der Mitarbeiter
des Vereins im Jahr 2004 skizziert, unter welchen strikten Auflagen eine
Elternschaft des Paares zu verantworten sei. Tatsächlich wurde kaum eine der
Auflagen eingehalten. Erschütternde Einblicke in die Arbeit von "Fallmanagern"
gab eine Sozialarbeiterin aus Gröpelingen. Der ständig thematisierte Kostendruck
habe bei allen Mitarbeitern zu einer Veränderung geführt. Die Zahl der
Krisenfälle sei gestiegen, die Zahl der Mitarbeiter gesunken.
"Man bemühte sich
nur noch, die eigenen Sachen wegzukriegen. Die Feinfühligkeit für die eigenen
Kollegen war nicht mehr da." So fiel denn auch niemandem auf, dass Kevins
Fallmanager kaum eigene Fälle in den "Teamsitzungen" zur Beratung vorstellte.
Eine Aufsicht durch eine Vorgesetzte gab es nur in der "Wochenkonferenz".
Einziges Thema darin: Maßnahmen, die Geld kosteten. "Wie konnte in dieser
Organisationsform eine Dienstaufsicht gewährleistet werden?", will Pflugradt von
der Zeugin wissen. Die Frau schweigt lange. Dann ringt sie sich den Satz ab:
"Das müssen sie meine Vorgesetzte selber fragen."
Weser Kurier vom
11.01.2007

Das Kind sehen,
nicht die Akte
Bürgermeister und
Sozialsenatorin kündigen Umstrukturierungen im Jugendamt an
Von Elke
Gundel
Kevins tragischer
Tod führt nun zu weitreichenden Veränderungen im Jugendamt: Entscheidungen "nur
nach Aktenlage" sind tabu, Kinder aus Risikofamilien müssen mindestens zweimal
in der Woche "von Fachpersonal" gesehen werden, statt zwei soll es künftig 6,5
Stellen für Mitarbeiter geben, die Amtsvormundschaften übernehmen. Ein
Leidensweg wie der von Kevin dürfe sich nicht wiederholen, sagte Bürgermeister
Jens Böhrnsen (SPD).
Er stellte die
Neuerungen gestern mit Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter und Sozialstaatsrat
Joachim Schuster (beide SPD) vor. Drogenabhängigen Eltern, die mit dem
Ersatzstoff Methadon behandelt werden, könne in der Regel nicht zugetraut
werden, dass sie ein Kind verantwortungsvoll versorgen. So formulierte Böhrnsen
die gültige Grundhaltung. Nur wenn sie sich als zuverlässig erwiesen, alle
Auflagen erfüllten und keine illegalen Drogen mehr nähmen, könne ein Kind bei
süchtigen Eltern bleiben - natürlich nur mit intensiver Unterstützung etwa eines
Familienhelfers, einer Tagesmutter oder einer Familienhebamme. Auf dem Papier
gilt diese Linie schon lange, wurde aber nicht immer strikt befolgt. Böhrnsen
sprach in diesem Zusammenhang von " organisierter Unverantwortlichkeit": "Es
wurde nicht konsequent genug hingeschaut."
Was die
Finanzierung der eingeleiteten Umstrukturierung angeht, nannte der Bürgermeister
keine Zahlen. Aber er betonte: "Das Kindeswohl steht über jeder Haushaltslage."
Bremen werde das ausgeben, was nötig sei, um die Kinder- und Jugendhilfe
effektiv zu verbessern.
Kevins Schicksal
habe die Bevölkerung stark "sensibilisiert", sagte Ingelore Rosenkötter. Bei der
Sozialbehörde seien "weit mehr" Hinweise auf möglicherweise vernachlässigte
Kinder eingegangen als sonst. Das habe in rund 100 Fällen dazu geführt, die
betroffenen Mädchen oder Jungen aus den Familien zu nehmen. Nun werde ein
Notfall-Telefon geschaltet, über das das Jugendamt rund um die Uhr erreichbar
sei. Demnächst soll außerdem ein Krisendienst die Arbeit aufnehmen, der Familien
in akuten Schwierigkeiten sofort besuchen kann. Entscheidungen "nur nach
Aktenlage" würden nicht mehr akzeptiert. "Die Mitarbeiter müssen wieder
verstärkt in die Familien gehen", betonte Rosenkötter. Kinder aus Risikofamilien
müssten mindestens zweimal wöchentlich von einer Fachkraft gesehen werden - zum
Beispiel vom Sozialarbeiter der Behörde, einer Tagesmutter, einem
Kita-Mitarbeiter oder einer Familienhebamme.
Für die
Aktenführung würden verbindliche Standards eingeführt. Die Entscheidungen des
jeweiligen Sachbearbeiters müssten "transparent und nachvollziehbar" sein. Nur
dann sei gewährleistet, dass etwa eine Urlaubsvertretung oder die Vorgesetzten
mit den Unterlagen arbeiten können. Jeder Verdacht auf Kindesmisshandlung müsse
künftig gemeldet werden. Zudem wolle Bremen - notfalls auch im Alleingang -
Regelungen zu verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen von Kindern zwischen sechs
Monaten und fünfeinhalb Jahren einführen.
Kevin war am 10.
Oktober tot im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden worden.
Bei der Obduktion der Leiche wurden 24 zum Teil ältere Knochenbrüche gefunden.
Fazit der Gerichtsmediziner: Der Zweijährige wurde immer wieder misshandelt, bis
er starb - die jüngsten Knochenbrüche habe der Junge höchstens 24 Stunden
überlebt. Die Ermittler schreiben dem Ziehvater die Misshandlungen zu. Der Mann
sitzt in Haft und schweigt.
Weser Kurier vom
09.01.2007

Kevin erlitt einen
grausamen Tod
Die Staatsanwaltschaft hat die
endgültigen Obduktionsergebnisse für den misshandelten Kevin veröffentlicht. Der
Junge starb an den schrecklichen Verletzungen, die ihm sein Ziehvater zufügte.
Noch 24 Stunden vor seinem Tod erlitt der Zweijährige nicht weniger als fünf
Knochenbrüche.
Der zweijährige Kevin aus Bremen ist ohne
Zweifel an den Folgen von Misshandlung gestorben. Der beschuldigte Ziehvater
wird laut Staatsanwaltschaft voraussichtlich wegen schwerer Misshandlung und
Totschlags oder sogar Mord durch Unterlassung angeklagt.
Das rechtsmedizinische Gutachten habe
ergeben, dass Kevin maximal 24 Stunden vor seinem Tod fünf Knochenbrüche
zugefügt worden seien, teilte die Bremer Behörde am Donnerstag mit. Als Folge
sei Knochenmarkfett in die Lunge eingedrungen, was die feinen Verästelungen
verstopft und letztlich zu Herzversagen geführt habe.
Alle fünf Brüche sind laut
Obduktionsbericht an Stellen, die bereits früher schon einmal gebrochen waren.
Insgesamt seien 24 Frakturen an 19 Körperstellen gefunden worden. Zudem gebe es
den Verdacht auf die Misshandlung von Genitalien. "Wir können jetzt erahnen,
welches Martyrium das Kind durchgemacht hat“, sagte Oberstaatsanwalt Dietrich
Klein. Es übersteige aber noch immer jede Vorstellungskraft.
Der Todeszeitpunkt konnte durch die
Obduktion nicht eindeutig geklärt werden. Rein medizinisch ist laut
Staatsanwaltschaft nur klar, dass er Wochen vor dem Auffinden liegen muss. Kevin
war am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank des drogensüchtigen Ziehvaters
gefunden worden, der wegen des Verdachts auf Totschlag verhaftet wurde.
Vermutlich liege der Todeszeitpunkt
zwischen Ende April und Mai. Sozialarbeiter hatten Kevin zuletzt im April
gesehen. Angaben vom Arzt des Vaters und der Großmutter mütterlicherseits, die
das Kind angeblich noch im Juli gesehen haben wollen, würden derzeit überprüft.
Kevins Ziehvater Bernd K., der zu der Tat
schweigt, befindet sich derzeit in der Psychiatrie und verbüßt eine ältere
Strafe. Der Anklagezeitpunkt steht noch nicht fest. Zuvor muss der Mann
psychiatrisch begutachtet werden.
Die Welt vom 04.01.2007

24 Brüche an 19 Körperstellen
Weiter deckte eine Untersuchung Mängel bei der Arbeit
des Sozialamtes auf. Kinderschützer fordern, langfristig umzusteuern.
Von Jenny Busche
Nur ein Bruchteil der Aufmerksamkeit, die
jetzt dem Schicksal des kleinen Kevin aus Bremen zuteil wird, hätte ihm zu
Lebzeiten ein Martyrium erspart. Dann wäre es nicht zu den brutalen
Misshandlungen gekommen, die zum Tod des zweijährigen Jungen geführt haben.
"Fünf frische Knochenbrüche wurden Kevin
maximal 24 Stunden vor seinem Tod zugefügt: rechter Oberarm, Speiche an den
Unterarmen rechts und links, Oberschenkel links und Schienbein rechts", trägt
Jörn Hausschild, Sprecher der Staatsanwaltschaft Bremen, aus dem
gerichtsmedizinischen Gutachten vor. "Wir können jetzt erahnen, welches
Martyrium das Kind durchgemacht hat", sagte Oberstaatsanwalt Dietrich Klein
gestern bei der Vorstellung des Gutachtens in Bremen. Es übersteige aber noch
immer jede Vorstellungskraft.
Alle fünf Brüche befinden sich laut
Obduktionsbericht an Stellen, die bereits früher schon einmal gebrochen waren.
Insgesamt seien 24 Frakturen an 19 Körperstellen gefunden worden. Zudem gebe es
den Verdacht auf Misshandlung von Genitalien. Kevin war am 10. Oktober 2006 tot
im Kühlschrank des drogensüchtigen Ziehvaters Bernd K. gefunden worden, der
wegen des Verdachts auf Totschlag verhaftet wurde. Vermutlich liegt der
Todeszeitpunkt zwischen Ende April und Mai. Sozialarbeiter hatten Kevin zuletzt
im April gesehen.
Bernd K., der zu der Tat schweigt,
befindet sich derzeit in der Psychiatrie und verbüßt eine ältere Strafe. Der
Anklagezeitpunkt steht noch nicht fest, der Mann muss noch psychiatrisch
begutachtet werden.
"Das gesamte Obduktionsergebnis macht
mich tief betroffen", sagte die neue Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD).
"Wir arbeiten mit Hochdruck an Verbesserungen im Jugendhilfesystem, damit sich
eine solche Leidensgeschichte bei keinem anderen Kind wiederholt." Konkrete
Maßnahmen dazu will sie nächste Woche präsentieren.
Dem Amt für soziale Dienste werden
schwere Versäumnisse vorgeworfen. Der Ausschuss "Kindeswohl", der im Dezember
mit der Vernehmung der Zeugen begann, brachte die mangelnde Vernetzung der
Sozialbehörden zutage. Die damalige Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) war nach
Kevins Tod zurückgetreten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen Verletzung
der Fürsorgepflicht gegen Kevins Betreuer. Auch gegen den Amtsvormund wird
straf- und disziplinarrechtlich ermittelt.
"Das Amt für soziale Dienste hat zu wenig
Personal, um den Aufgaben nachzukommen", kritisiert Cornelia Bein,
Bereichsleiterin der Stiftung Alten Eichen in Bremen. Zusätzlich zu den 73,45
Planstellen im Bereich "Junge Menschen" seien zwar inzwischen zehn neue
Mitarbeiter eingestellt worden - allerdings befristet für ein Jahr.
Cornelia Bein beobachtet die
Entwicklungen mit Skepsis. Zwar sei man wieder wacher geworden, was die
Kindeswohlsicherung bedeute, doch bleibe abzuwarten, ob die Bewegung nachhaltig
wirke. "Die Politik muss sich entscheiden, wohin sie Gelder schwerpunktmäßig
verteilen will. Die richtige Hilfe ist auf Dauer gesehen volkswirtschaftlich
gesehen nicht kostspieliger", so Bein. Als eine Ursache für das Versagen der
Verantwortlichen sieht sie den Mangel an Kommunikation zwischen dem Amt für
soziale Dienste und den freien Trägern sowie zwischen den verschiedenen Stellen
innerhalb des Amtes.
Der Fall Kevin ist noch nicht
abgeschlossen. Vom 9. bis 11. Januar vernimmt der Untersuchungsausschuss weitere
Zeugen. Die Bremer Bürgerschaft will den Abschlussbericht noch vor der
Landtagswahl am 13. Mai vorlegen.
Hamburger Abendblatt vom 05.01.2007

Ein Leben voller Schmerzen
Drei Monate nach dem Fund der Leiche des zweijährigen
Kevin liegt das rechtsmedizinische Gutachten vor: Danach ist der Junge eindeutig
an den Folgen körperlicher Misshandlung gestorben
Von Eiken Bruhn
Das Kind Kevin ist an den Folgen
körperlicher Misshandlung gestorben. Zu diesem Schluss kommen Bremer und
Hamburger Gerichtsmediziner, deren gemeinsames Gutachten gestern von der Bremer
Staatsanwaltschaft vorgestellt wurde. 24 Knochenbrüche zählten die Mediziner.
Sechs datieren sie auf den September 2004, als der neun Monate alte Junge
verletzt in die Klinik eingeliefert worden war. Die anderen Verletzungen sollen
ihm in seinen letzten vier Lebensmonaten zugefügt worden sein, als Kevin mit dem
Lebensgefährten seiner im November 2005 gestorbenen Mutter lebte.
"Als makabres Detail" wertete
Oberstaatsanwalt Dietrich Klein die Erkenntnis, dass viele der Brüche so
genannte Refrakturen waren. So waren Kevins linkes Schienbein, seine linke
Ellenbogenspeiche, ein Oberarm dreimal, sein Schädel zweimal gebrochen. Solche
Verletzungen seien typisch für misshandelte Kinder, so Klein. Bernd K. hatte
behauptet, Kevin habe sich im Haushalt verletzt. Zustande gekommen sein könnten
die Verletzungen durch Schlagen des Kopfes auf eine harte Fläche, durch
Stauchen, Schlagen oder Verdrehen der Gliedmaßen. Die Rippenbrüche könnten von
einem Zusammendrücken des Brustkorbs stammen, führte Klein aus. Dass Kevins
Mutter ihren Sohn misshandelt haben könnte, schloss er aus. "Laut Zeugenaussagen
war sie eine besorgte Mutter."
Zum Tode Kevins führten die letzten fünf
Brüche, unter anderem des Oberschenkelknochens, die eine so genannte
Fett-Embolie auslösten. Dabei gelangen Fetttröpfchen in die Blutbahn, bei Kevin
kam es daraufhin zu einem Herzstillstand. Den Todeszeitpunkt konnten die
Mediziner nicht bestimmen, da die Leiche des Kindes schon zu stark verwest war.
Die Staatsanwaltschaft geht derzeit davon aus, dass Kevin im Zeitraum Ende April
bis Ende Mai dieses Jahres gestorben ist. Gefunden haben ihn Polizisten im
Oktober, als das Jugendamt Kevin in eine Pflegefamilie geben wollte - im
Kühlschrank seines Stiefvaters. Näher eingrenzen ließe sich der Todeszeitpunkt
nur in Zusammenhang mit weiteren Zeugenaussagen, so der ermittelnde
Staatsanwalt.
Als unbrauchbar könnte sich dabei der
Eintrag des Methadon-Arztes von Kevins Stiefvater herausstellen, der sich im
Juli notierte, Kevin und Bernd K. gesehen zu haben. In seiner Zeugenbefragung
habe der Arzt eingeräumt, dass die Notiz ein Falsch-Eintrag sein könne, so der
ermittelnde Staatsanwalt Daniel Heinke. Auch gegen diesen Arzt, der sich stets
dafür eingesetzt hatte, dass Kevin bei seinem Stiefvater bleibt, läuft ein
Ermittlungsverfahren. Ihm wird ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz
vorgeworfen, weil er Bernd K. zusätzlich zum Methadon noch andere, unerlaubte
Präparate verschrieben hatte. Weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen den für
Kevin zuständigen Fallmanager im Jugendamt und den Amtsvormund, der das
Sorgerecht für das Kind hatte.
Bernd K. befindet sich derzeit in
Untersuchungshaft in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung im Klinikum
Ost. Er wird verdächtigt, Kevin schwer misshandelt und Hilfe unterlassen zu
haben. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft hat er sich bisher nicht zu den
Umständen von Kevins Tod geäußert. Anklage kann erst erhoben werden, wenn ein
psychiatrisches Gutachten zur Schuldfähigkeit vorliegt. Das Ermittlungsverfahren
gegen Bernd K. zum Tod von Kevins Mutter wurde mittlerweile eingestellt. Der
Verdacht, ihr tödlicher Milzriss sei auf Schläge ihres Freundes zurückzuführen,
konnte nicht erhärtet werden.
taz vom 05.01.2007

Rote Karte für den Arzt von Bernd K.?
Lizenz zur Methadonvergabe gefährdet
Von Elke Gundel
Der Arzt, der Kevins drogenabhängigen
Ziehvater Bernd K. mit dem Ersatzstoff Methadon behandelt hat, könnte nach
Informationen unserer Zeitung schon bald die Genehmigung zur Methadonvergabe
verlieren. Die Entscheidung darüber wird in den nächsten Wochen erwartet. Der
Arzt war gestern in seiner Praxis nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.
Alle Ärzte, die Drogenabhängige mit Methadon versorgen, werden dem Vernehmen
nach unter anderem von einer Kommission kontrolliert, die von Kassenärztlicher
Vereinigung (KV) Bremen und den Krankenkassen gebildet wird. Das Gremium
überprüft die Mediziner stichprobenartig. Nach Informationen unserer Zeitung war
der Arzt, der Bernd K. jahrelang betreut hat, dabei aufgefallen. Der damalige
Verdacht: Er habe den Beigebrauch von illegalen Drogen bei Methadon-Patienten
geduldet. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV, Günter Scherer, gab
dazu gestern mit Hinweis auf den Datenschutz keine Auskunft. Er bestätigte
lediglich, dass die so genannte Qualitätssicherungs-Kommission "Methadon", ein
Gremium der KV, kürzlich empfohlen habe, einem Arzt die Genehmigung zur
Methadonvergabe zu entziehen. Wie berichtet, ermittelt nun auch die
Staatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gegen den
Mediziner aus dem Viertel. Hintergrund: Er hatte Bernd K. nicht nur Methadon
verschrieben, sondern auch andere Präparate. Nun wird geprüft, ob das in diesem
Fall zulässig war. Außerdem laufen Verfahren wegen Verletzung der
Fürsorgepflicht gegen zwei Mitarbeiter der Sozialbehörde: gegen den für Kevin
zuständigen Sachbearbeiter und den Amtsvormund des Kindes. Und Bernd K. dürfte
sich in absehbarer Zeit wegen Kevins Tod vor Gericht verantworten müssen. Die
Ermittler werfen ihm schwere Kindesmisshandlung und Tötung durch Unterlassen
vor. Auch im Zusammenhang mit dem Tod von Kevins Mutter - sie war im November
2005 an einem Milzriss gestorben - ist gegen Bernd K. ermittelt worden. Das
Verfahren ist jedoch inzwischen eingestellt worden. Laut Staatsanwaltschaft ließ
sich der Verdacht, Bernd K. könnte gegenüber seiner Partnerin gewalttätig
gewesen sein und den Milzriss so verursacht haben, nicht erhärten.
Weser Kurier vom
06.01.2007

Prüfbericht als Offenbarungseid
Kommentar von Rose Gerdts-Schiffler
Kevins Fallmanager scheint nicht nur im
Fall des Zweijährigen auf fatale Art und Weise versagt zu haben, sondern auch
bei anderen Kindern, die voll und ganz auf ihn angewiesen waren. Ein
Strafverfahren wird im kommenden Jahr die individuelle Schuld des Fallmanagers
zu klären haben.
Der jetzt vorliegende Prüfbericht aus der
Behörde zeigt jedoch, dass neben den betroffenen Eltern weitere Menschen
Verantwortung an dem Tod von Kevin und dem Leid vieler anderer Kinder mittragen.
Denn der Sachbearbeiter konnte sich eine
chaotische Aktenführung leisten, peinliche Auftritte vor Gericht und eine
oberflächliche Vorbereitung auf Wochenkonferenzen. Er konnte auf Hausbesuche
gefährdeter Kinder verzichten, ohne sich jemals gegenüber Vorgesetzten
rechtfertigen oder sich in seine Akten schauen lassen zu müssen. So scheint es,
als habe die Dienstaufsicht gegenüber dem Sachbearbeiter völlig versagt. Ein
strukturelles Problem, das schleunigst analysiert und behoben werden muss
Weser Kurier vom
30.12.2006

Weitere Kinder gelten als gefährdet
Behörde kontrollierte sämtliche Akten von Kevins
Fallmanager - Elf Mal "dringender Handlungsbedarf"
Von Rose Gerdts-Schiffler
War das qualvolle Leben und der Tod von
Kevin eine Verkettung unglücklicher Umstände und menschlicher
Fehlentscheidungen? Die unserer Zeitung vorliegende Überprüfung aller Akten des
Fallmanagers von Kevin widerspricht dem klar. In elf seiner 79 Fälle sieht die
Innenprüfung "dringenden Handlungsbedarf" und eine Gefährdung der betroffenen
Kinder. "Vertraulich" steht auf der brisanten Unterlage der Sozialbehörde. Dies
wird sie wohl nicht lange bleiben. Zu massiv sind die fachlichen
Fehlentscheidungen des Fallmanagers, seine Tatenlosigkeit in vielen Fällen, in
denen er dringend hätte eingreifen müssen, und das scheinbar blinde Vertrauen
auf die beschönigenden Aussagen der betroffenen Väter und Mütter. Der
Innenprüfung lagen 79 Akten des Sachbearbeiters vor. Dabei fällt auf, dass rund
20 von ihnen seit Jahren längst abgeschlossen sind oder schon lange keine Arbeit
mehr verursachen. "Eine Art Bodensatz, der wohl den Zweck hatte, nach außen
stets ausgelastet zu wirken", vermutet ein Insider. Dabei hatten die Prüfer
Mühe, manche Schicksale der Kinder überhaupt nachzuvollziehen. Im Fall eines
zwölfjährigen Mädchens mussten sie die Unterlagen erst selber einsortieren, bei
einem Jungen lag einer von drei Bänden ohne Aktendeckel auf einem Schrank im
Zimmer des Sachbearbeiters. Mal hatte er sein hilfebedürftiges Klientel nach
Vornamen in der Akte eingeordnet, mal nach den Nachnamen. "Dieser
Bearbeitungszustand ist unakzeptabel", so das Fazit des Prüfers. Zu Beginn
scheint sich der Fachmann noch über die Entscheidungen seines Kollegen zu
wundern. Mehrfach merkt er an, dass der Fallmanager vor Gericht keine eigene
Bewertung des Falles vornimmt, sondern lediglich die Haltung der Eltern
wiedergibt. An anderer Stelle kritisiert er, dass lediglich die abgebrochenen
Hilfsmaßnahmen seitens der Eltern gut belegt seien. Wiederholt äußert er
"Zweifel am methodischen Vorgehen". Doch im weiteren Verlauf der Prüfung wird
der Ton des Prüfers immer fassungsloser. So empfiehlt er im Fall eines
elfjährigen Jungen, "die Sachlage neu aufzurollen". Hinsichtlich eines
sechsjährigen Mädchens, dessen Mutter trotz "krisenhafter Entwicklungen in der
Familie" niemanden an sich heran lässt, teilt der Fallmanager dem
Familiengericht mit, eine Aussage zur aktuellen Situation sei nicht möglich, da
kein Kontakt zur Mutter zustande komme. Als "Krönung" in diesem Fall bezeichnet
der Prüfer, dass ein Gerichtstermin wegen der Erkrankung der Mutter zwar
verschoben werden musste, dabei aber völlig ungeklärt blieb, wo das Kind in
dieser Zeit blieb. Die Vorlage für eine Wochenkonferenz, in der über das weitere
Schicksal zweier Brüder beraten werden sollte, beurteilt der Prüfer als
"oberflächlich". Wiederholt moniert der Fachmann, dass bestimmte Kinder nie in
Augenschein genommen und der Fallmanager trotz Hinweisen zur Gefährdung des
Kinderwohls keine Hausbesuche gemacht habe. Die Kritik gipfelt in der
Feststellung: "Die vorgetragene Position (des Fallmanagers, Anm. der Redaktion)
in einem Scheidungsverfahren hält der Unterzeichner für schlicht peinlich."
Weser Kurier vom
30.12.2006

Arzt aus dem Klinikum
beruft sich auf Schweigepflicht
Vermeintlicher Vater Bernd K. lässt
Erklärung verlesen
Von Volker Junck
Parlamentarischer Untersuchungsausschuss
"Kindeswohl" zum Tode von Kevin: Ein geladener Zeuge aus dem Klinikum Bremen Ost
berief sich vorgestern auf seine ärztliche Schweigepflicht und verlas eine
Erklärung von Bernd K., die ihn ausdrücklich daran band. Der
Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt (CDU): "Das müssen wir akzeptieren." Er
entließ den Zeugen unbefragt. Im Raum blieb bei manchem Beobachter die Frage
offen, wieso andere Ärzte, Sozialarbeiterinnen, Polizisten, Drogenberater oder
Familienhelferinnen detaillierte Angaben gemacht und sich nicht auch auf ihre
berufliche Schweigepflicht berufen haben? Die Erklärung liegt in den besonderen
Umständen: Aus Bernd K., der während der Ermittlungen zunächst als Kindesvater
galt, ist inzwischen der "vermeintliche Kindesvater" geworden, weil eine
DNA-Analyse ergab, dass er nicht Kevins biologischer Vater ist. Da er auch nicht
mit der Mutter verheiratet war und kein Sorgerecht besaß, hat er rein juristisch
keine Verbindung zu Kevin und gilt allein als Beschuldigter an dessen Tod. Bei
der verstorbenen Mutter Sandra K. geht der Untersuchungsausschuss von einem
"mutmaßlichen Willen zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht" aller
Geheimnisträger aus. Dies lässt die geltende Rechtsprechung zu. Für den Jungen
liegt dem Ausschuss eine Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht durch
seine Großmutter und vom Amtsvormund vor.Der behandelnde Arzt von Bernd K. im
Klinikum Bremen Ost teilte immerhin mit, dass dieser sicher verwahrt in der
Forensik untergebracht sei. Wann und unter welcher Beschuldigung gegen ihn
Anklage erhoben werden soll, steht nach Aussage der Staatsanwaltschaft erst
fest, wenn das endgültige Gutachten zur Todesursache von Kevin vorliegt. Die
Beteiligung verschiedener Institute gestalte dies ungemein aufwändig. Ein
Strafverfahren gegen Bernd K. wegen der möglichen Beteiligung am Tod von Kevins
Mutter ruhe derzeit. Laut rechtsmedizinischem Gutachten ist die HIV-infizierte
und drogenkranke Sandra K. im November vergangenen Jahres eindeutig infolge
eines Milzrisses verblutet. Die Ursache für diesen Milzriss ist bis heute nicht
geklärt. Ein damals an dem Einsatz beteiligter Polizist hatte ausgesagt, dass
Bernd K. die Rettungskräfte behindert habe und geflüchtet sei. Da er aber
ziemlich betrunken gewesen war, hätte man ihn schnell wieder einfangen und
fesseln können.
Weser Kurier vom
22.12.2006

Kopfschütteln im
Untersuchungsausschuss
Familienhelferin zeichnet das Bild einer
heilen Welt - Erschütternde Aussagen der Tagesmutter
Von Volker Junck
Kopfschüttelnd verfolgten gestern Zuhörer
und Parlamentarier die Vernehmung einer Sozialarbeiterin im
Untersuchungsausschuss "Kindeswohl". Ihnen wurde eine heile Welt geschildert,
die mit den bekannten Fakten über Kevins kurzes Leben und sein qualvolles
Sterben so gar nicht zusammenpassen wollte. Kevins Mutter war im November 2004
betrunken im Treppenhaus mit dem vernachlässigten Baby im Arm gefunden worden,
woraufhin die Polizei den Jungen ins Hermann-Hildebrand-Haus brachte.
Nach Schilderung der Polizei wurde jedoch
eine Sozialarbeiterin beim Familienkrisendienst ohne jede Information über die
Familiensituation beauftragt, Kevin wieder nach Hause zu holen. In den folgenden
sechs Wochen will sie weder etwas von den Alkoholproblemen des Paares noch
sonstige Auffälligkeiten bemerkt haben. Sie schilderte eine intakte Welt mit
großer Fürsorge für Kevin, der mit Bio-Kost ernährt worden sei und auch sonst
viel Zuwendung erfahren habe.
Sie berichtete von Bernd Ks Bekehrung zum
christlichen Glauben und akzeptierte auch seine Erklärung, die gerade verheilten
Knochenbrüche stammten aus einer heftigen Umarmung durch eine Nachbarin." Haben
sie das wirklich geglaubt?", fasste Ausschuss-Mitglied Birgit Busch (SPD) nach
und Kollege Klaus Möhle (Grüne) zeigte sich "sehr verwundert" ob dieser
Darstellung. Rita Mohr-Lüllmann (CDU): "Und die Unterernährung ist Ihnen auch
nicht aufgefallen? "Ein anderes Bild zeichnete der Arzt Johann Ebend als
Gutachter vom Gesundheitsamt, der den entwicklungsgestörten Kevin zum gleichen
Zeitpunkt für eine Förderung durch "Frühe Hilfen" untersuchte.
Er schilderte die Mutter als kaum
ansprechbar, da sie zum Methadon offenbar auch ständig Alkohol und anderen
"Beigebrauch" konsumiert habe. "Mich hat sehr verwundert, wie das Kind in einer
Familie mit dieser Vorgeschichte bleiben dufte", fasste er seinen Eindruck
zusammen. Doch seine Anrufe beim Jugendamt hätten nichts bewirkt. Zwei
Polizisten vom Gröpelinger Revier berichteten gestern von einigen Einsätzen in
der Kulmer Straße, wenn die Streitigkeiten zwischen Kevins Mutter und Bernd K.
eskalierten.
So mussten sie die betrunkene Sandra K.
auch einmal zur Ausnüchterung mit auf die Wache nehmen. Der dramatischste
Einsatz habe am 12. November vergangenen Jahres stattgefunden, als die Polizei
von Rettungskräften zur Unterstützung gerufen wurde, weil sie der tobende Bernd
K. daran hinderte, die sterbende Sandra K. zu versorgen. Bis heute ist nicht
geklärt, ob sie an Aids, an einem Milzriss oder durch ihre allgemeinen
Lebensumstände mit jahrelangem Drogenkonsum gestorben ist.
Nach ihrem Tod wurde ein Amtsvormund für
Kevin bestellt. Doch gegen alle Warnungen auch aus dem Hermann-Hildebrand-Haus
bekam Bernd K. den kleinen Kevin zurück. Mit leiser Stimme schilderte die aus
Syrien stammende Tagesmutter
Tagesmutter das weitere Martyrium Kevins. Zusammen mit einer befreundeten
Frau stellte sie etliche Hämatome an Kevins Körper fest. Die Frauen
fotografierten die blauen Flecken, einen wahrscheinlich gebrochenen Fuß und
informierten den zuständigen Fall-Manager beim Jugendamt. Doch der erstattete
nicht etwa Anzeige, sondern berichtete Bernd K. von den Anrufen der Frauen, die
darauf von diesem so massiv bedroht wurden, dass sie nur noch Angst hatten. So
verlief auch das Angebot der Tagesmutter im Sande, Kevin kostenlos in Pflege zu
nehmen.
Ein als Zeuge geladener Arzt aus der
Psychiatrie im Klinikum Bremen Ost verwies gestern auf seine Schweigepflicht und
verweigerte jede Aussage. Zumindest ließ er wissen, dass Bernd K. in der
geschlossenen forensischen Abteilung untergebracht ist..
Weser Kurier vom 18.12.2006

Nur die Spitze des Eisbergs
In Hannover hätte der Fall Kevin so
nicht passieren können. Diesen Eindruck erweckte gestern ein Mitarbeiter des
Jugendamtes Hannover. Denn da gibt es einen "Krisendienst", der sich rund um die
Uhr bereit hält für akute Fälle. Und wenn es dringend ist, dann entscheidet der
Sozialarbeiter vor Ort, ein Kind aus einer Familie herauszunehmen.
Kommentar von Klaus Wolschner
Kevin wäre diesem Krisendienst mehrfach
begegnet. Dass ein offenbar überforderter Mitarbeiter des Amtes für Soziale
Dienste über Monate alle Alarmzeichen ignorieren oder verdrängen und immer
allein entscheiden kann, wäre in Hannover kaum vorstellbar. Eine Bremer
Delegation wird demnächst nach Hannover pilgern, um sich das System des
Krisendienstes erklären zu lassen. Dem Untersuchungsausschuss sei dank.
Aber was ist eigentlich mit der
fachlichen Aufsicht im Bremer Amt? Wenn die "Akte Kevin" so katastrophal geführt
wurde - wie sehen die anderen Akten aus? Wenn viele im Sozialamt wussten, dass
der Case-Manager von Kevin überfordert war von seinem Beruf - warum passierte
nichts? Wie sieht es mit der Fachaufsicht aus? Wie kann es sein, dass so viele
Hinweise an das Amt versickerten? Offenbar kommt im Untersuchungsausschuss Kevin
nur die Spitze eines Eisberges ans Tageslicht.
taz vom 21.12.2006

Kevins vorletzte Chance
Vor dem Untersuchungsausschuss schildert
die Pflegemutter ihre Erfahrung mit Kevin und dem Amt für Soziale Dienste
Am dritten Verhandlungstag des
Untersuchungsausschusses "Kindeswohl" war die
Tagesmutter als Zeugin geladen, die im
Frühjahr 2006 eingeschaltet worden war. Der Stiefvater lehne die Tagesmutter ab,
weil sie eine "Türkin" sei, steht in der Akte des Case-Managers von Kevin. Die
Abgeordneten staunten gestern nicht schlecht, was passiert war - aus Sicht der
Tagesmutter.
Die Frau, eine Syrerin, hat immer wieder
Kinder aus schwierigen sozialen Umständen in Pflege. Zurückgeblieben, schwach,
unterernährt sei Kevin gewesen. Sie sei entsetzt gewesen, wie eingeschüchtert
sich das Kind gegenüber dem Vater zeigte. Der habe ihr ein Fläschchen mit
aufgelösten Magnesium-Tabletten und Salzstangen für die Ernährung in die Hand
gedrückt.
An ihrem
dritten Pflegetag habe Kevin nicht längere Zeit stehen können. Eine andere
Mutter war gerade zu Besuch, die beiden Frauen nehmen den Verband am Fuß ab -
und entdecken einen offenbar gebrochenen Fuß. Dann blaue Flecken an mehreren
Körperstellen, eine Verletzung an der Hand. Die beiden Frauen rufen beim Amt für
Soziale Dienste an, erreichen lange Zeit niemanden, dann erzählen sie - eine
Stunde lang - dem Pflegedienst von den Verletzungen, sagen, dass man dem Mann
das Kind nicht anvertrauen dürfe. Antwort des Pflegedienstes, so die
Tagesmutter: Es sei kein Geld da für eine Pflege. Sie habe so sehr Mitleid
gehabt, dass sie dem Pflegedienst angeboten habe, Kevin so aufzunehmen. Sie
erhalte ohnehin nur 50 Cent pro Stunde. Antwort des Pflegedienstes: Ohne Geld -
das gehe nicht.
Die beiden Frauen erreichen dann doch den
Case-Manager, erzählen von den Verletzungen, fragen, was sie machen sollen. Der
habe erklärt, er kümmere sich. Ohne sofortige Hilfe werde Kevin bei seinen
Verletzungen den nächsten Tag nicht überleben, habe sie gesagt, erinnert sich
die Pflegemutter.
Offenbar hatte der Case-Manager den
Stiefvater direkt von den Vorwürfen unterrichtet. Der holte jedenfalls Kevin
überstürzt ab - und brachte ihn nie wieder. Dass Kevin einem Kinderarzt
vorgeführt wurde, ist aus den Akten nicht ersichtlich. kawe
taz vom 21.12.2006

Zu wenig Geld für Kinder in Not
Leserbriefe zu: "Der Tod war schneller als das Amt",
taz vom
11.10.2006
Leserbrief von SABINE WEBER,
Geschäftsführerin Mädchenhaus Bremen e.V.:
Die Entscheidung, ob und wie in dieser
Stadt ein Kind oder Jugendliche/r innerhalb der Jugendhilfe versorgt wird, ist
schon seit längerem viel zu sehr geprägt von finanziellen Eckwerten und so
genannten Zielzahlen. Die Fachlichkeit blieb immer mehr auf der Strecke, die
Angst vor "dem ersten toten Kind" wurde immer größer.
Die politische Entscheidung, in der
Jugendhilfe "ambulant vor stationär" zu steuern, hatte katastrophale Folgen.
Natürlich ist die Familie für Kinder und Jugendliche der wichtigste Ort, aber
leider ist er nicht immer der richtige. Es hat in der Vergangenheit auch in
unserer Einrichtung viele Fälle gegeben, in denen Mädchen in ein Familiensystem
zurückwollten, das extrem gestört und auch nicht mehr reparabel war. Diese
Jugendlichen gehen zurück aus dem tiefen Bedürfnis heraus doch noch die
Zuwendung und Geborgenheit zu bekommen, die ihnen in ihrem bisherigen Leben
versagt wurde. Das sind die Kevins und Jessicas, die überlebt haben, die
teilweise schwerst traumatisiert sind und denen in unserem Jugendhilfesystem zu
wenig, zu spät oder gar nicht geholfen wird.
Was den Verantwortlichen aber auch immer
bekannt ist, das sind die teilweise massiven Einwände der Fachkräfte der freien
Träger, die mit diesen Familien arbeiten. Diese fachlichen Einschätzungen und
Warnungen wurden in den letzten Jahren zunehmend ignoriert und übergangen. Und
dies auch aus finanziellen Gesichtspunkten.
Leserbrief von CHRISTIANE RENZELMANN und WOLFGANG
KLAMAND, Personalrat beim Amt für Soziale Dienste , Bremen:
Das Kind Kevin ist tot. Ihm gehört unsere
Trauer und auch Scham darüber, dass so etwas möglich ist. Dafür Verantwortliche
- egal an welcher Stelle - werden die Verantwortung mit den entsprechenden
Konsequenzen übernehmen müssen. Es gibt aber noch die andere Seite derselben
Medaille. Mit unglaublicher Hysterie wird eine ganze Berufsgruppe in der Luft
zerrissen. Ein verdächtigter Mitarbeiter wird vor seiner Wohnung belagert.
BehördenmitarbeiterInnen werden namentlich öffentlich gebranntmarkt, obwohl es
mehr Fragen als sichere Antworten gibt.
Die KollegInnen im Ambulanten
Sozialdienst Junge Menschen - übrigens nicht nur da! - arbeiten unter ungeheurem
Druck. Fast jede/r KollegIn hat mehrere vergleichbar schwere Betreuungsfälle wie
den von Kevin. Vor ca. zehn Jahren waren ungefähr 200 (!) SozialarbeiterInnen
für Kinder und Jugendliche und deren Familien im Amt zuständig, heute sind es
noch knapp 120. Die Budgetrahmen werden nicht von den MitarbeiterInnen im Amt,
sondern auf politischen Ebenen entschieden. Die JugendamtsmitarbeiterInnen
müssen die Vorgaben unter großem Druck und mit viel bürokratischem Aufwand
einhalten.
Lesebrief von GERHARD TERSTEEGEN
aus
Bremen (früher Regierungsdirektor im Jugend- und Sozialressort):
Der kleine Kevin ist nicht zuletzt Opfer
einer Lebenslüge der Bremer Jugendhilfepolitik geworden. Die Lebenslüge der
vergangenen Jahre hieß: Budgets für Jugendhilfe-Maßnahmen und -Personal lassen
sich stetig weiter absenken, ohne dass dies zum Nachteil von Kindern und
Jugendlichen und deren Familien gereicht.
Das Sparen in der Jugendhilfe verband
sich stets mit Organisations-"Reformen", Personalabbau, Privatisierungen und
Veränderungen der Regelwerke (=fachliche Weisungen). Die "Neujustierung" nach
primär fiskalischen Vorgaben wurde in der Regel als fachlicher Fortschritt
ausgegeben. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich die Leitungskräfte im
Jugend-Ressort und im Amt für soziale Dienste (=Jugendamt) diesen verfälschenden
Sprachregelungen angepasst oder sie sich zu eigen gemacht.
Lesebrief von PETER HARTUNG
aus Nidda:
Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig hat all
diese Reformen mit Ehrgeiz und Vehemenz vorangetrieben, um - als ehemaliger
Referent im Finanzressort - unter Beweis zu stellen, dass man Sparvorgaben des
Senats auch im Jugendbereich organisatorisch auf stramme Weise exekutieren
könne.
Aufgrund steigender Fallzahlen sind in
den letzten Jahren die Kosten für Heimunterbringung oder Inobhutnahme durch eine
Pflegefamilie in den Kommunen rasant angestiegen. Es ist kein Geheimnis, dass
intern die finanzpolitische Vorgabe existiert, diese Kosten zu senken und im
Rahmen der so genannten Fallkonferenzen auf Verbleib der gefährdeten Kinder in
den Ursprungsfamilien hingewirkt wird. Deshalb steht an allerletzter Stelle der
Schutzaspekt mit Inobhutnahme. Zuvor versucht die Jugendhilfe die Familie zu
stabilisieren, ein unterstützendes Umfeld zu organisieren, Bildungs- und
Lernangebote zu entwickeln, ortsnahe Hilfe anzubieten.
Ergänzend ist anzumerken, dass es
durchweg politischer Wille der meisten Kommunalfraktionen ist, die
Jugendhilfekosten aufgrund der hohen Sozialhaushaltdefizite zu begrenzen bzw. zu
senken. Deshalb sind die aktuellen politischen Äußerungen zum Thema nichts
anderes als scheinheilige Krokodilstränen.
taz vom 16.10.2006

Hilfe mit der Schere im Kopf
Kritische Thesen für den Untersuchungsausschuss zum Fall
Kevin - Heute beginnt die Zeugenvernehmung
Von Wigbert Gerling
Es ging um die Qualität der Hilfe für
Kinder und Jugendliche in Not – die Veränderungen im Jugendamt aber seien nach
dem Vorbild von "Sanierern in Unternehmen“ abgelaufen, unterstützt von "meist
fachfremden externen Beratern“. So heißt es in einem Papier, das zu den Akten
für den Untersuchungsausschuss gehört, der die Hintergründe im Fall Kevin
beleuchten will und heute im Haus der Bürgerschaft mit der Zeugenvernehmung
beginnt. Im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl“, heißt es im
Einsetzungsbeschluss, sollen die "Ursachen des mutmaßlichen Versagens der
zuständigen Behörden im Fall des zweijährigen Kevin“ ermittelt werden.
Die "Steuerungs- und Kontrollfunktionen“
der Verwaltung würden unter die Lupe genommen. Überdies werde geprüft, ob
Behördenweisungen zur Gefährdung des Kindes beigetragen hätten und wie sich die
Haushaltspolitik in der Jugendhilfe ausgewirkt habe. Die Haushaltspolitik spielt
auch eine tragende Rolle in der kritischen Bestandsaufnahme, die bei den
Parlamentariern im Ausschuss eingegangen ist. Verfasser ist
Gerhard Tersteegen, einst Regierungsdirektor im Jugend- und Sozialressort
und seit kurzem Pensionär. "Der tragische Tod des kleinen Kevin,“ schreibt er,
"ist nicht zu erklären ohne einen kritischen Rückblick auf die Umorganisationen
im Bremer Jugendamt seit 1999, die in der Tendenz eine Entfachlichung dieser
Behörde zur Folge hatte.“
Tersteegen fügt eine Liste von Thesen an,
die den Abgeordneten einen Eindruck davon vermitteln sollen, "unter welchen
atmosphärischen und fachlichen Bedingungen die Arbeit der ambulanten Dienste in
den vergangenen Jahren vonstatten ging“. Eine zentrale These des Verfassers: Die
Arbeit in der Verwaltung sei immer mehr von wirtschaftlichen Maßstäben bestimmt
worden ("Ökonomisierung des Amtes“). Hilfeleistungen für Kinder und Jugendliche
in schwierigen Lebenslagen seien in betriebswirtschaftlicher Manier als
"Produkte“ etikettiert, die Klienten als "Kunden“ betrachtet und dabei fachliche
Belange in den Hintergrund gedrängt worden. Der frühere Regierungsdirektor: "Im
Kern des neuen Controlling stand die Überwachung der Sparvorgaben.“
An die Stelle der notwendigen fachlichen
Steuerung und Kontrolle sei eine vorrangig fiskalische Lenkung getreten, was bei
"nicht wenigen Fachkräften innere Ängste“ ausgelöst habe. Entscheidungen über
Hilfsmaßnahmen seien von der "Schere im Kopf“ beeinflusst worden. Folgt man den
Einschätzungen des Autors der Thesen, dann hat sich die Leitung des Jugendamtes
"weniger als fachliche Sachwalterin der Interessen und Rechte der Klienten im
Geiste des Jugendhilfe-Gesetzes gezeigt, denn als loyale Erfüllerin von
Spar-Imperativen“. Und: "Alle Versuche, die neuen – rein spar-orientierten –
Denkweisen im Jugendamt kritisch zu beleuchten und einer Fachdiskussion
auszusetzen, wurden energisch torpediert.“ Tersteegen hatte bereits zum Auftakt
der Umorganisationen in einem Fachartikel vor möglichen Folgen gewarnt und in
einer Zuspitzung die Frage formuliert, ob am Ende nicht die fiskalischen
Interessen der Verwaltung wichtiger würden als die Verbesserung der Lebenslagen
von Hilfsbedürftigen – "eine verhängnisvolle Affäre?“
Weser Kurier vom 18.12.2006

Berichte von "furchtbaren
Konferenzen"
Mitarbeiter des Klinikums Bremen-Nord schildern
Gesprächsrunden mit Kevins Eltern und der Drogenhilfe
Von Volker Junck
War es das Versagen Einzelner? Oder
stimmt die ganze Struktur der Familienhilfe nicht? Um diese zentrale Frage
kreisten die Zeugenvernehmungen auch am zweiten Tag des Untersuchungsausschusses
"Kindeswohl“ zum qualvollen Tod von Kevin. Der niedergelassene Kinderarzt Volker
Rongen-Telscher, der das Vorsorgeheft von Kevin geführt hat, vertrat gestern die
These, dass der Tod des Zweijährigen eine Folge grober organisatorischer
Schwächen und Fehlentwicklungen beim Amt für Soziale Dienste und dem Jugendamt
gewesen ist. Von einem funktionalen Netzwerk könne keine Rede sein.
Die Vernehmung des Arztes im Sitzungssaal
im Haus der Bürgerschaft nahm breiten Raum ein und gipfelte in der Aussage, dass
der Junge "überall hin, nur nicht zu diesem Vater gehört habe“. Spätestens,
nachdem Kevin als völlig unterernährtes Baby mit unübersehbaren Zeichen von
schweren Misshandlungen in die Professor Hess-Kinderklinik eingeliefert worden
war, hätte das Jugendamt die "Reißleine“ ziehen müssen. Warum dies nicht schon
nach seiner Geburt als Frühchen einer drogenkranken und HIV-infizierten Mutter
im Januar 2004 passiert ist, versuchten gestern Oberarzt Christian Ribbentrop
von der Kinderabteilung im Klinikum Bremen-Nord und die leitende
Sozialarbeiterin Anne Kahle-Greffath zu erklären.
Sie berichteten von einem gut
funktionierenden Betreuungskonzept für substituierte Mütter am Klinikum,
allerdings habe es erhebliche Schwierigkeiten bei der Abstimmung mit der
kommunalen Drogenhilfe gegeben. Sie schilderten "furchtbare Konferenzen“ mit
Vertretern der kommunalen Drogenhilfe, Kevins Eltern und deren substituierendem
Arzt. Dabei habe Bernd K., der vom Ausschuss immer noch als Kindesvater
bezeichnet wird, obwohl er es nachweislich nicht war, auch Morddrohungen gegen
Anne Kahle-Greffrath ausgestoßen. "Wir haben in erster Linie das Kindeswohl im
Auge und die Drogenhilfe das der Abhängigen“, meinte sie gestern.
So sei es auch zum "Hinauskegeln“ der
Familienhebamme gekommen. Ribbentrop schilderte, wie Bernd K. auch die
Stationsärztin und Schwestern der Gynäkologie derart massiv bedroht hatte, dass
er ihm schließlich Hausverbot erteilen musste. Trotz allem habe man sich auf den
"kleinstmöglichen Kompromiss“ verständigt und Kevin mit dem Paar nach Hause
gegeben – unter der Auflage einer Entgiftungstherapie in der Suchtklinik
Heiligenhafen.
Über das Ergebnis sei nie ein Bericht in
Bremen eingegangen. Fest steht, dass Sandra K. bis zu ihrem Tod im November
vergangenen Jahres neben Methadon auch Tabletten und reichlich Alkohol
konsumierte. So schilderte ein Streifenpolizist einen Einsatz zu spätabendlicher
Stunde bei einer betrunkenen Frau, die laut Zeugen ihr Kind auf der Straße durch
die Luft geschleudert habe. Es sei Kevins Mutter mit einem Pegel von knapp zwei
Promille gewesen. "Und was haben Sie dann gemacht?“, wollte der
Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt vom Beamten wissen. "Einen Bericht an die
Sozialbehörde geschrieben und nie wieder etwas davon gehört“, antwortete der
Polizist.
Es kam auch mehrmals die Fähigkeit von
Drogenabhängigen zur Sprache, mit den Angeboten der Familienhilfe zu jonglieren,
Mitarbeiter verschiedener Institutionen gegeneinander auszuspielen und eine
heile Fantasiewelt vorzugaukeln. Dies ist dem Paar offensichtlich auch bei einem
Sozialarbeiter vom Dienstleister "Frühe Hilfen“ gelungen, der auch auf
mehrmaliges Nachfragen hin keinerlei bedrohliche Anzeichen bei Kevin bemerkt
haben will.
Weser Kurier vom 19.12.2006

Auftakt zum Untersuchungsausschuss
"Kevin" Bremen ist
überall
Kommentar von Peter Voith
Der Name Kevin ist inzwischen zum Synonym für das vereinzelte
Versagen des Staates geworden, Kinder vor gewalttätigen Eltern angemessen zu
schützen. Gestern Kevin aus Bremen, Jessica aus Hamburg und Benjamin aus
Stendal, heute der verdurstete Leon aus Sömmerda - und morgen? Hoffen wir, dass
uns weitere Todesfälle von verwahrlosten Kindern erspart bleiben. Aber Hoffen
allein reicht nicht. Eine kritische Bestandsaufnahme des staatlichen
Hilfesystems ist gefragt. Dazu bietet der gestern begonnene
Untersuchungsausschuss eine einmalige Gelegenheit. Und es möge keine Kreis- oder
Stadtverwaltung behaupten - wie nach dem Bekanntwerden von Kevins Tod geschehen
-, bei ihr könne so etwas nicht passieren. Diese Selbstüberschätzung grenzt an
Ignoranz.
Wenn Bremens Parlamentarier sich jetzt dankenswerterweise des
Falles Kevin annehmen, dann tun sie das auch stellvertretend für die
Hilfesysteme im Rest der Republik. Denn nicht nur in Bremen klagen etwa
Jugendämter über betriebswirtschaftliche Vorgaben und Personalmangel, klagen
freie Wohlfahrtsverbände über schlechte Auftragslagen. Insoweit hat es auch ein
Gutes, wenn die Republik wegen des Todes von Kevin seit gestern auf Bremen
schaut.
Sicher: Die Umstände von Kevins Tod mögen einige
Besonderheiten aufweisen. Zum Beispiel die, dass trotz der Nachfragen des
Regierungschefs und seiner Sozialsenatorin ein Sozialarbeiter offensichtlich
nicht dazu zu bewegen war, sich verstärkt um das Kind zu kümmern. Allerdings:
Den Fall auf das Versagen einzelner Personen zu reduzieren, würde ihm kaum
gerecht - denn wenn es um verwahrloste Kinder geht, wird man leider zu der
Feststellung kommen müssen: Bremen ist überall.
Aber Bremen will nicht das Synonym bleiben für den Tod eines
Kindes unter der Obhut des Staates. So darf man den Parlamentariern bei ihrer
Untersuchung eine glückliche Hand wünschen und hoffen, dass der Name Kevin im
bevorstehendem Bürgerschafts-Wahlkampf auf keinem Plakat zu sehen sein wird.
Weser Kurier vom 19.12.2006

Das totale Amtsversagen
Was kann der Untersuchungsausschuss zum Tod des zweijährigen
Kevin noch ans Tageslicht bringen? Das haben einige gedacht, als die
Bürgerschaft vor zwei Monaten das aufwändige Verfahren beschloss. In dem
Untersuchungsbericht des Justiz-Staatsrates Ulrich Mäurer stehe doch alles drin,
so die Meinung vieler. Doch nach dem gestrigen ersten Vernehmungstag wird das
niemand mehr sagen.
Kommentar von Klaus Wolschner
Allein aus der Aktenlage, ohne die Befragung von Zeugen, habe
sich ein Verdacht gegen die Mitarbeiter des Jugendamtes wegen unterlassener
Hilfeleistung ergeben, so Mäurer. Und: Es sei ein Wunder, dass Kevin die ersten
Monate überlebt habe. Auch die Familienhebamme,
die Kevins Mutter betreute, redete Klartext. Anhand von präzisen Beobachtungen
schilderte sie, warum sie schon früh den Eindruck gewonnen hatte, dass die
Mutter völlig überfordert sei. Man wünscht sich, diesen klaren Blick hätten auch
die Mitarbeiter des Jugendamtes besessen. Der Case-Manager sei desinteressiert,
"konzeptlos" und "unengagiert" gewesen, im Grunde von seiner Verantwortung
überfordert, beschrieb die Hebamme ihren Eindruck. Mit Unterstützung der
Drogenhilfe sei sie früh und gezielt aus der Betreuung des Kindes herausgedrängt
worden.
Das Fazit: Es besteht erheblicher und dringender Reformbedarf
im Amt für soziale Dienste.
taz vom 19.12.2006

Warum Kevin sterben musste
Erster Tag im Untersuchungsausschuss
"Kindeswohl": Die
Familienhebamme von Kevin hatte schon vor der Geburt den Eindruck gewonnen, dass
die Mutter überfordert sein würde von ihrer Aufgabe
Von Klaus Wolschner
Der Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" hat seine Arbeit
gestern aufgenommen, 24 Zeugen sollen in dieser Woche insgesamt vernommen
werden. Es geht darum, aufzuklären, ob der Tod des zweieinhalbjährigen Kevin,
der am 10. Oktober tot im Eisschrank bei seinem Stiefvater aufgefunden worden
war, Folgen für das System der Jugendhilfe in Bremen haben muss. Immerhin stand
das Kind, seitdem seine Mutter tot war, unter der Amtsvormundschaft des Staates.
Der erste Arbeitstag des Untersuchungsausschusses hat dafür
schon reichlich Hinweise geliefert. Zum Beispiel hat der Vormund "sein" Kind
gerade ein Mal gesehen in mehr als einem halben Jahr, in dem er verantwortlich
war, und das in einer Konferenz. Die Arbeit der Vormundschaft sei zu einer
Verwaltungsarbeit geworden, berichtete Staatsrat Ulrich Mäurer, der im Auftrage
der zurückgetretenen Senatorin Karin Röpke die Akten zu dem Fall untersucht
hatte. Er war der erste Zeuge im Untersuchungsausschuss. Ein Vormund müsse sich,
wenn er hunderte von Akten zu führen habe, voll auf den Sozialarbeiter - den
Case-Manager - verlassen.
Der aber war offenbar nicht nur überfordert von seiner
Arbeit, sondern hat auch in Berichten an die Leitung des Amtes für soziale
Dienste Sachverhalte verfälschend dargestellt. So wurde der Sozialsenatorin und
letztlich dem Bürgermeister nach ihrer Intervention im Januar 2006 berichtet,
alles sei gut, Kevin sei inzwischen bei einer Tagesmutter in Betreuung - eine
von verschiedenen Situationen, in denen der Case-Manager seine Wünsche mit
vollzogenen Tatsachen durcheinander brachte.
Nach den Berichten des Klinikums Bremen-Nord, in dem Kevin
zur Welt kam, hätte das Kind seinen drogenabhängigen Eltern nur mit einem klaren
Hilfeplan überlassen werden dürfen - wenn überhaupt. Warum hat der
Sozialarbeiter entschieden, das Kind könne zu den Eltern? Die Mutter komme da
kaum vor, keine Abwägung der Risiken sei erkennbar, überhaupt sei das eher eine
"Lose-Blatt-Sammlung" als eine Akte, formulierte Mäurer. Obwohl für alle
Beteiligten klar gewesen sei, dass Kevins Eltern auf jeden Fall Hilfe
benötigten, sei nach Aktenlage über Monate nichts passiert - "als wenn Kevin vom
Bildschirm der Behörde verschwunden wäre", formuliert Mäurer. Aktenkundig wurde
Kevin erst wieder, als die Polizei die volltrunkene Mutter abends um 22 Uhr mit
dem 7 Monate alten Säugling aufgriff - und das Sozialamt informierte. Diese
Phase der Untätigkeit, so Mäurer, begründete für die Staatsanwaltschaft den
Verdacht unterlassener Hilfeleistung und es sei für ihn ein "Wunder", dass Kevin
diese ersten Monate überlebt hat.
Aus der frühen Zeit berichtete auch die
Familienhebamme, die gestern als Zeugin
aussagte. Für sie war recht klar, dass die Mutter von Kevin völlig überfordert
war mit ihrer Aufgabe. So habe die Mutter sich geweigert, eine vom Krankenhaus
angeratene Medizin zu nehmen, die das Kind vor Folgen ihrer Hepatitisinfektion
schützen sollte. Insgesamt sei "keine mütterliche Sorge" erkennbar gewesen in
der Vorbereitungsphase der Geburt. "Wenn ich gehe, geht das Kind auch", habe die
Mutter in Bezug auf ihre Krankheiten einmal gesagt. Die Drogenhelferin habe die
Haltung der Mutter, ihre Interessen über die des Kindes zu stellen, unterstützt.
In einem Bericht über Konflikte zwischen Gesundheitsamt und Amt für soziale
Dienste hat die Familienhebamme Monate später den Fall Kevin ausführlich
beschrieben.
taz vom 19.12.2006

Besorgte Familienhebamme warnte
Jugendamt vergeblich
Fallmanager soll desinteressiert auf alle Hinweise
reagiert haben
Von Rose Gerdts-Schiffler
Die zweite Zeugin im
Untersuchungsausschuss stellte so etwas wie eine Idealbesetzung dar: sachlich,
differenziert, kurz und bündig. Zwischen den Sätzen der 34-jährigen
Familienhebamme blitzte immer wieder ihr
großes, wenn auch vergebliches Engagement durch. Ein Jahr lang sollte sie die
problematische Familie des kleinen Kevin unterstützen. Doch dort war ihre Hilfe
nicht gefragt. "Die Mutter empfand meine Arbeit als Kontrolle." Vergeblich
bemüht sich die Hebamme, die werdende, HIV-kranke Mutter davon zu überzeugen,
Medikamente einzunehmen, um, wie Ärzte es empfohlen hatten, die "Viruslast des
Kindes bei seiner Geburt zu verringern". Dabei kämpfte die Frau nicht nur gegen
das Misstrauen der süchtigen Eltern, sondern auch gegen eine Mitarbeiterin des
Arbeitskreises Kommunale Drogenpolitik. Wenige Wochen nach Kevins Geburt spricht
sich die Hebamme auf seiner ersten Fallkonferenz dagegen aus, das er künftig bei
seinen Eltern leben soll. Denn: "Die Mutter ließ keine mütterliche Sorge
erkennen." Der Sozialarbeiter als eigentlicher Akteur sei an dem Tag, bei der
Fallkonferenz, nicht aufgefallen. "Von Fallmanagement konnte keine Rede sein."I
m Februar muss sie ihre gerade begonnene Arbeit schon wieder beenden, da die
Eltern weitere Hilfen ablehnen. Der Sozialarbeiter habe die Entscheidung der
Eltern akzeptiert. Dennoch bleibt die Hebamme an dem Schicksal des Jungen dran.
Nach ihren Schilderungen meldet sie sich auch später mehrfach bei dem
Fallmanager, um ihm zu schildern, dass die Eltern betrunken mit ihrem Kind
durchs Ostertor gezogen seien. Im Juli 2005 beobachtet sie, wie die "zugedröhnten
Eltern" vergeblich versuchen, Kevin auf der Straße zu füttern. "Der Löffel ging
immer knapp an seinem Mund vorbei." Doch der Sozialarbeiter habe auf ihre
Hinweise "nur sehr desinteressiert" reagiert. Als sie vom Tod der Mutter hört
und erfährt, dass Kevin nun angeblich bei der Großmutter lebt, meldete sie sich
erneut bei dem Mann. "Ich wollte wissen, ob sich jemand die neue Umgebung von
Kevin angeschaut hat". Der Sozialarbeiter verneint. Zum Schluss wird sie
gefragt, wie sie die Arbeit des Sozialarbeiters beschreiben würde. Die Hebamme
muss nicht lange überlegen. "Unengagiert und konzeptlos."
Weser Kurier vom 19.12.2006

Mäurer: Nur beschönigende Berichte
Staatsrat kritisiert Sachbearbeiter im Fall Kevin -
Zeugenaussage zum Auftakt des Untersuchungsausschusses
Von Rose Gerdts-Schiffler
Irgendwann
am Vormittag fällt dieser Satz: "Es ist ein Wunder, dass Kevin die ersten Monate
überlebt hat." Detailliert skizzierte gestern der erste Zeuge im
Untersuchungsausschuss, Justiz-Staatsrat Ulrich Mäurer, eine erbärmliche
Kindheit unter staatlicher Aufsicht. Dabei wurde deutlich, dass der Fallmanager
des Jungen anscheinend mehr Zuschauer als Akteur war.Und ein weiterer Satz des
prominenten Zeugen, der nach dem Tod des Kindes einen Bericht erstellte, findet
sich anschließend in den Blöcken der Journalisten wieder: "Ich hoffe sehr, dass
es noch weitere Aktivitäten seitens des Jugendamtes im Fall Kevin gab als die,
die dokumentiert sind." Mäurer beschreibt die Akte "Kevin" als eine Art "Lose-
Blatt-Sammlung". Keine Einführung in den Fall, für Dritte kaum nachvollziehbar.
Dies aber sei Grundvoraussetzung für eine
ordentlich geführte Akte. "Es ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Prognosen
Entscheidungen hinsichtlich des kleinen Jungen, dessen Eltern beide
drogenabhängig und kriminell waren, getroffen wurden", sagt Mäurer. Schweigt und
fügt hinzu: "Oder ob überhaupt Entscheidungen gefällt wurden." So finde sich der
dramatische Lebensweg der Mutter, die mit 13 Jahren Drogen nahm, Alkoholikerin
war und sieben Jahre in Haft verbrachte, kaum in der Akte wieder. Ein wenig mehr
Informationen gebe es über den Vater, der, wie sich erst vor kurzem
herausstellte, nicht der biologische Vater ist.
Auch er Alkoholiker, ein Mann, der
schnell "ausrastet" und die Hälfte seines erwachsenen Lebens in Haft verbrachte.
Mäurers Schlussfolgerung: "Eine denkbar schlechte Perspektive für ein Kind."
Zumal Kevin am 23. Januar 2004 zu früh und schwer krank zur Welt kam. Nur
widerstrebend gaben die Ärzte den Eltern nach zwei Monaten das Kind mit und
empfahlen eine "engmaschige Betreuung". "Aber erst im Dezember des Jahres
schaltet sich das Amt wieder ein", kritisiert Mäurer.
Doch obwohl die Eltern und später, nach
dem noch ungeklärten Tod der Mutter, der Vater Termine und Absprachen nicht
einhielt, Hilfemaßnahmen nicht annahm, folgte nie eine Konsequenz. Stattdessen
habe der Fallmanager Berichte ans Familiengericht gegeben, die "in keinerlei
Weise die Dramatik des Falles widerspiegelten". Auch gegenüber dem eigenen
Amtsleiter und der Senatorin habe der zuständige Sozialarbeiter die Entwicklung
"katastrophal beschönigt". Stattdessen habe sich der Behördenmitarbeiter stets
auf die positiven Aussagen des Methadonarztes des Vaters berufen.
"Auf ihn hätte sich das Amt gar nicht
berufen dürfen. Er hat in dem Fall keine Garantenstellung." Völliges
Unverständnis zeigt der Staatsrat dafür, dass der acht Monate alte Kevin im
September 2004 mit diversen Bein-, Arm- und Rippenbrüchen ins Krankenhaus
eingeliefert wurde, die Ärzte Kindesmisshandlung diagnostizierten, der
Sozialarbeiter aber nicht die Staatsanwaltschaft einschaltete. Am 18. September
2006 notierte der Sachbearbeiter schließlich in der Akte, er fühle sich belogen
und betrogen vom Vater. Mäurer: "Doch statt das Kind sofort dort rauszuholen,
schaltet das Amt erst das Familiengericht ein."
Weser Kurier vom 19.12.2006
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