Berichte von Deutschen über die Zeit des Ersten Weltkrieges in Britisch Indien 1

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Inhalt

Vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Indien
Erinnerungen einer deutschen Frau

Von E. F.

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Rote Kreuz

  •  Reports on British prison-camps in India and Burma 1017

    CONTENTS

    Article by M. Thormeyer, one of the three Red Cross Commissioners, page 7

    Extracts from the Report of the three Commissioners to the International Red Cross Committee at Geneva

    1. Camp at Sumerpur (Rajputana), page 18

    2. Camp at Ahmednagar (Bombay Presidency), page 25

    3. Camp at Belgaum (Bombay Presidency), page 35

    4. Camp at Bellary (Bombay Presidency), page 40

    5. Depot Camp at Calcutta, page 44

    6. Camp at Katapahar (in the hills near Darjeeling), page45

    7. Camp at Thayetmyo (Burma), page 47

    8. Camp for Convalescents at Shwebo (Burma), page 57

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Vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Indien

Erinnerungen einer deutschen Frau

Von E. F. 

Unser indisches Leben vor dem Krieg

Seit November 1911 war ich mit meinem Manne in Indien. Zunächst in einem kleinen Orte der Zentral-Provinzen, wo seine Hauptbeschäftigung sich um Manganerze drehte. Wir waren die einzigen Deutschen in dem Orte, alles andere Engländer, davon zwei bis drei Kaufleute und sonst Militär, die Irish Rifles und Offiziere eines Native Regiments mit ihren Familien. Alle Damen und Offiziere der Station machten mir den ersten Besuch und nach dessen Erwiderung verkehrten wir sehr freundschaftlich miteinander. Im Übrigen wurde ich als ein Non Plus Ultra angesehen, da ich der dortigen Sitte nicht nach kam und mir keinen Hausfreund anschaffte. Als Mitglieder des dortigen Klubs trieben wir die verschiedensten Sports und wurden gesellschaftlich viel eingeladen. Die Unterhaltung haben mich immer sehr amüsiert. Sie waren fast immer folgendermaßen: "Haben Sie heute Tennis gespielt? Ich gebrauchte so und so viele Schläge für meine Golf Runde. Haben Sie schon die neuesten illustrierten Zeitungen gesehen? Kommen Sie, wir wollen Badminton (ein Federballspiel) spielen." So schien der Geist bei den meisten eingerostet zu sein, was man auch bei den Gesellschaften daran merkte, dass sofort nach dem Essen zu kindlichen Spielen übergegangen wurde. Von Haus aus waren mir die Engländer von jeher als Vorbild hingestellt worden, was Form und Sitte anbelangt. Und wenn ich das auch im allgemeinen bestehen lasse, so empörten mich doch zweierlei Sachen immer aufs neue. Kam man zum Beispiel in den Garten des Klubs, wo auf einem Rasenplatz Damen und Offiziere jeglichen Ranges unter dem Fächer saßen, so fiel es niemandem, am wenigsten den jüngeren Herren ein, aufzustehen, um einer kommenden Dame Platz zu machen. Kaum, dass sie es für nötig hielten, nach dem "boy" zu rufen, dass er noch einen Stuhl bringen solle. So erging es auch mir einmal, nur mit dem Unterschiede, dass mir ein Oberst seinen Platz anbot, während doch mindestens sechs junge Leutnants sitzen blieben. Ich bedankte mich gebührend, meinte aber, er solle nur nicht aufstehen, ich könne mich auf den Stuhl einer der jüngeren Herren setzen. Dabei pflanzte ich mich vor einem der Offiziere auf, sodass diesem gar nichts anderes übrig blieb als aufzustehen. Einen wütenden Blick hatte ich natürlich weg, außerdem auch den Spitznamen "Pestalozzi“ von Seiten meines Mannes, den die Sache sehr amüsierte. Auch konnte ich mich nicht daran gewöhnen, dass einige der Herren sogar manchmal im Gespräch mit einer Dame sitzend die Füße auf einen oberen Kaminsims oder auf einen Tisch legten.

Im Mai 1912 siedelten wir nach Kalkutta über, damals noch die Hauptstadt Indiens; da ist es mir doch, sage und schreibe, passiert, dass mich eine englische Offiziersdame fragte: "Kalkutta, I wonder if that is just as big a place as Lucknow?" Von Geografie haben die Leutchen überhaupt sehr wenig Ahnung. In Kalkutta hatten wir zwar einen großen deutschen Kreis, doch verkehrten wir auch mit einigen englischen Familien, die alle mir zuerst Besuche machten, und ich muss sagen, während unseres einjährigen Aufenthalts sind wir mit der größten Liebenswürdigkeit aufgenommen worden. 1913 im Frühjahr fuhr ich allein nach Hause (Deutschland), mein Mann siedelte nach Bombay über, wo er der Leiter unserer dortigen Firma wurde. Als ich Ende Oktober desselben Jahres wieder heraus kam, fand ich ein fertiges Nest vor, direkt am Meer gelegen, sollte doch jetzt das Nomadenleben für uns aufhören. Mit Schwierigkeiten waren wir Mitglieder der "Bombay Gymkhana“ geworden, ein Klub, der im Prinzip nur Engländer aufnahm, und wo sich zwei englische Offiziere für uns verwendeten, indem sie ihr Austreten aus dem Klub beantragten, falls wir nicht aufgenommen würden. Als Mitglieder eines Klubs, kamen wir leicht in den "Turf Club“ hinein und haben durch beide viele Annehmlichkeiten und heitere Stunden gehabt. Mein Mann machte auch als Konsul seinen Besuch bei Lord und Lady Wellingdon, und wir waren bei Festlichkeiten verschiedenster Art im "Government House“. Auf dem großen "Stateball“ , bei dem ich als dritte Dame rechts vom Gouverneur saß, hatte ich bei Aufhebung der Tafel den Vorzug, die Bitte Lord Wellingdon`s entgegenzunehmen, mich ihm sofort vorstellen zu lassen. Ich führte mich bei ihm ein, indem ich zum Ausdruck brachte, wie angenehm es mich berührte, in allen Sälen und Zimmern das Bild des deutschen Kaisers vorzufinden, worauf ich erfuhr, dass er und seine Frau sowie Lord Brassy sehr befreundet seien mit dem deutschen Kaiserhaus und mindestens einmal monatlich in persönlichem Briefwechsel mit seiner Majestät standen. Im Laufe des Gesprächs wurde auch ein eventueller Krieg zwischen England und Deutschland erörtert und für absolut unmöglich gehalten. Der Gouverneur freute sich im Gegenteil über das anscheinend besser gewordene Verhältnis zwischen den beiden Nationen und meinte, die beiden Staaten sollten ein Bündnis machen. Gegen die Flotte des einen und das Heer des anderen würde die ganze Welt vergebens kämpfen. Wir kamen auch mit anderen Government-Leuten zusammen, ohne uns jedoch intim mit ihnen zu stehen. Im Übrigen kannten wir nur wenige Ehepaare, wohl junge Leute, die alle ausnehmend zuvorkommend und nett mit uns waren.

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Ausbruch des Krieges

Ich habe mich so weitläufig über unser indisches Leben vor dem Kriege ausgelassen, um zu zeigen, wie vortrefflich die Stellung der Deutschen zu den Engländern damals war; tatsächlich gänzlich auf dem Fuße der Gleichberechtigung. Dann kam der Juli 1914 und brachte mit dem Mord in Sarajevo die Ursache und den Anfang des Krieges zwischen Österreich und Serbien. Wir hörten auch von einer heimlichen Mobilmachung Russlands und hofften alle, Deutschland würde nun auch mit drein schlagen. In unserem Hause wurde ein Armee-Marsch nach dem anderen gespielt. Mein Mann durchmaß im Parademarsch laut pfeifend das Zimmer, unser Kind und ich hinterher, die Trommel schlagend. Und so war die Stimmung überall unter den Deutschen. Mit Engländern kamen wir in diesen Tagen nicht zusammen, sodass ich ihre persönliche Meinung über den Stand der Dinge nicht kannte, doch stellten die Zeitungen zunächst unseren Kaiser als eine große Persönlichkeit dar, die bis zum äußersten den Frieden zu wahren bestrebt sei und die nur aus Not später Russland und Frankreich den Krieg erklärt habe. Am 2. August, einem Sonntag, nachdem wir von Deutschlands Mobilmachung wussten, hielt es meinen Mann nicht im Hause. Frühmorgens, ca. 9:00, ging er zum Kontor, ich immer mit ihm, um zu sehen, ob dort irgendwelche Telegramme von daheim angekommen wären. Von dort zu einer befreundeten Firma, wo die größte Aufregung herrschte. Drei junge Herren überlegten, wie nach Hause kommen und wem die Leitung des Geschäfts übergeben. Es wurde heftig diskutiert, die Augen blitzten, die Köpfe rauchten. Wir fuhren alle zusammen am Bombay-Klub vorbei, wo uns ein Extrablatt von der Kriegserklärung Deutschlands an Russland entgegengehalten wurde. Packen! Versuchen fortzukommen! In die Heimat! Krieg! So schwirrte es durcheinander. Von einem uns befreundeten österreichischen Ehepaare wurden wir mit Jubel begrüßt. Es gab des Erzählens kein Ende. Wir saßen vorm Atlas, über eine Stunde, und besprachen die ersten Gefechte, als ein neues Extrablatt ausgerufen wurde. Deutschland erklärt Frankreich den Krieg! Die Unterhaltung wurde immer erregter und wir fuhren schließlich fort zum deutschen Konsul. Auf dem Weg dahin fliegt ein Automobil der Continental-Reifen-Firma an uns vorbei, darin die vorhin angesprochenen, jetzt noch mehr erregten Herren, die uns zuschrieen: "Krieg mit Frankreich und England. England! Wir dachten, uns rühre der Schlag. Nicht möglich! Sicher ein Irrtum! Wie viele Deutsche zum Konsul fahren! Ist es wahr oder sehen uns die Engländer hämisch an? In seinem Büro sitzt der Konsul vor seinem Schreibtisch, kreidebleich und kann sich kaum aufrecht halten, ist er doch eben erst genesen von seiner Dysenterie und hat nur der dringenden Ereignisse wegen schon das Bett verlassen. Um ihn herum stehen mindestens 30 bis 40 Deutsche, deren Hauptsorge es ist, was aus den Geschäften wird, wenn sie zur Front gehen, was jetzt noch als absolut ausführbar erscheint. Dampferlinien werden antelefoniert, das nächste österreichische Schiff geht am 3. morgens, mit dem wollen es die meisten versuchen. Andere schickt der Militärpass nach Ostafrika, einige nach Tsingtau, wie dahin kommen? Der Konsul hat seinen Pass von der Regierung erhalten, so war denn wohl die aus Deutschland kommende Depesche "Wider alles Erwarten alle Beziehungen mit England abgebrochen" für nichts anderes als eine direkte Kriegserklärung zu halten. Unfassbar! Der Konsul erklärt, am nächsten Morgen abfahren zu müssen und bedauert, niemandem mehr eine Stütze sein zu können. Er bittet meinen Mann, die deutschen Konsularbeiten bis auf weiteres zu übernehmen und sagt einem jeden Lebewohl. Viel gesprochen wurde nicht mehr. Alle waren zu sehr ergriffen. Zum Mittagessen waren wir wieder zu Hause, doch wurden die Speisen kaum berührt, die Erregungen war zu groß. Nachher trieb es meinen Mann wieder in die Stadt, ich aber durchmaß mindestens eine Stunde lang wie ein wildes Tier unsere Wohnung. Immer auf und ab, auf und ab. Wenn ich mein Kind sah, kamen mir die Tränen, warum weiß ich nicht. Endlich siegte die Vernunft und ich wurde ruhiger. Drei meiner Diener schickte ich zum Konsul hinüber, um ihm beim Packen zu helfen. Zum Auflösen seines Haushaltes, er ist verheiratet, hatte er nur einen Tag Zeit. Die Koffer für einen bei uns wohnenden Herren, den die Militärpflicht nach Tsingtau rief, packte ich selbst mit. Am Abend feierten wir den Abschied und gingen dann zum deutschen Klub, in dem bis dato wohl noch nie so erregt und über so Welt erschütternde und eines jeden Zukunft entscheidende Sachen verhandelt worden war. Der Konsul und seine Frau sind die einzigen, die die Heimat erreicht haben. Keinem der Deutschen, die nach Ostafrika oder Tsingtau wollten, ist es gelungen dorthin zu gelangen. Nur einer kaum glücklich mit einem holländischen Dampfer nach Wettefreden (dass es so was heutzutage noch gibt) auf Java; um dann dort fest zu sitzen. Als die anderen Deutschen zum österreichischen Dampfer kommen, dessen Kapitän sich am Abend zuvor bereit erklärt hatte, kam ihnen dieser bedauernd entgegen. Er hatte strengsten Befehl von der englischen Regierung bekommen, keinen Deutschen und Österreicher an Bord zu lassen - außer dem Konsul. Zähneknirschend, wutschnaubend und rachedurstig mussten so viele, viele begeisterte Söhne Deutschlands, alles große, kräftige, gesunde Burschen zurückbleiben. Diese Engländer! Sie lassen uns nicht einmal in die Heimat! Sie haben wohl Angst vor jedem Menschen, den Deutschland mehr ins Feld stellen könnte! Als uns England am 4. August definitiv den Krieg erklärte (die indischen Zeitungen brachten diese Tatsache erst eine Woche später), war der größte Teil der Engländer empört. Sie sprachen sich auch ganz offen abfällig über die Handlungsweise ihrer Regierung aus und viele besuchten uns gerade jetzt, um zu zeigen, dass der Krieg den persönlichen Beziehungen und Freundschaften zwischen den beiden Nationen nichts anhaben könnte. Als dann aber Mitte August fast ganz Belgien sowie ein Teil Frankreichs unser war (den Zeitungen nach eroberten wir es durch dauerndes Uns-Zurückziehen) begannen die öffentlichen Hetzartikel. Der Kaiser, in den ersten Tagen des Krieges vergöttert, war jetzt der gemeinste Mensch, der die Blutschuld der ganzen Welt auf sich lade. Alle Deutschen heimtückisch, hinterlistig und der Spionage verdächtig. Die meisten der uns bekannten jungen Engländer wurden Volontiere und man fing an, uns scheel anzusehen. Truppenverschiffungen fanden jetzt statt. Kavallerie, schwere und leichte Artillerie sowie Infanterie hatten ihre Lager auf den verschiedenen „Haidanen“ aufgeschlagen. Es waren aber wenige Engländer dabei, fast alles Schwarze. Ich kann nicht beschreiben, mit welchen Gefühlen wir sie ziehen sahen. Schwarz gegen Weiß! Vor ohnmächtiger Wut habe ich manche Tränen darüber vergossen. Jedem Engländer hätte ich vor Hass und Verachtung an die Gurgel springen können. „Schulter an Schulter gestellt, ist es euch vergönnt, als unsere Kameraden mit uns gegen die Hunnen zu ziehen!“ So und ähnlich wurde ihnen Honig um den Bart gestrichen. Nun, lass sie nur, die Konsequenzen werden nicht ausbleiben. Im Übrigen sind beim Einschiffen viele Meutereien vorgekommen, die natürlich gänzlich vertuscht wurden. Ich erfuhr davon durch einen mir befreundeten Engländer, der als Volontier verschiedenen Szenen selbst beigewohnt hatte. Die Verschiffungen fanden zum größten Teil während der Regenzeit statt, und wie so manches Mal, half uns Deutschen auch hier ein Element. Es goss tage- und nächtelang, wie es eben nur in den Tropen regnen kann. Man sah manchmal die Hand vor Augen nicht und die Haidanen waren direkt versumpft. Die Pferde standen zeitweilig bis an den Bauch im Wasser, Seuchen brachen aus und die Leute litten am Fieber. Manch ein Engländer hat sich in dieser Zeit seiner Regierung geschämt. Öffentlich zu sagen wagten sie es zwar nicht, machten nur uns gegenüber manchmal Bemerkungen wie: "It´s a damned shame to send these niggers against you.“ Nachher aber fand es ein jeder ganz in der Ordnung. Wir aber lernten den wahren Fortschaffungsgrund der besten indischen Truppen kennen. Es geschah nicht nur, um Frankreich und Russland zu zeigen, dass England Menschenmaterial zur Front schaffte, nein, diese Truppen mussten Englands Sicherheit wegen fort, denn sie hätten während des Krieges früher oder später einen allgemeinen Aufstand herbeigeführt. Sind doch die Gurkas, Sikhs, Patanen und andere mehr, nicht zu verachtende Gegner in ihrem eigenen Lande und Klima, und äußerst kriegerische Stämme. Viele von ihnen haben gemeutert und sich zu verbergen gesucht. Als ich eines Tages nach der Polizei kam, standen dort zirka 40 Sikhs. Dabei, der mir während des Krieges bekannt gewordene Geheimpolizist, ein höchst unsympathischer und unheimlicher Geselle, nebenbei bemerkt ein des Landes verwiesener Deutsch-Russe, der sich über jede Schlappe der Russen diebisch freute. Auf meine Frage, was denn diese Leute alle wollten, sagte er mit einem ironischen Lachen: "These are our royal Sikhs.“ Es waren Soldaten, die sich versteckt gehalten hatten und jetzt wieder eingefangen waren.

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Die Deutschen in Ahmednagar

Nachdem England uns definitiv den Krieg erklärt hatte, mussten sich alle Deutschen in Bombay einmal täglich bei der Polizei melden. Alle Militärpflichtigen wurden dabei besonders ins Auge gefasst. Es dauerte auch nicht lange, so bekamen die letztgenannten den Befehl, mit dem Zug nach Ahmednagar zu fahren. Sie mussten sich zu diesem Zweck in der Hornby-Road versammeln und wurden dann von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett eng umgeben zum Bahnhof geführt, was die Nativen kopfschüttelnd mit ansahen und einige Engländer kinematographisch aufnahmen. Auf dem Bahnhof waren die Boys der verschiedenen Herren mit dem Gepäck. Sie wollten ihren Herren noch Päckchen mit Butterbroten und dergleichen hinreichen, doch wurde das nicht gestattet. Die Männlein mit den Bajonetten ließen sich auf nichts ein. In dritter Klasse eingeteilt kamen sie ohne weitere Verpflegung nach zirka 24-stündiger Fahrt in Ahmednagar an. Hier mussten die Koffer von jedem selbst auf die Karren geschleppt werden, und dann ging es in der Mittagshitze nach dem alten, eine gute Stunde entfernten Camp, das eine sechs Meter hohe, dicke Mauer umgibt. Hier hieß es sofort Strohsäcke fabrizieren, wenn sie nicht auf der Erde schlafen wollten, was in den Tropen schlimme Folgen haben kann, besonders während und eben nach der Regenzeit, wenn alles feucht ist, wie eben auch im August in Ahmednagar. Endlich wurde dann auch das ersehnte Essen, in zwei Stahleimern angetragen, und wer Hunger verspürte, durfte mit der Hand hinein schlagen und sich das Geholte in den Mund schieben. Welch ein Ekel die Leute ergriff, wird jeder verstehen können. Und eine krassere Missachtung der besonders in den Tropen so wichtigen Hygiene, deren strikter Befolgung der Engländer sich stets besonders rühmt, ist kaum denkbar. Selbst der Native isst, wenn auch aus der Hand, so doch aus einer eigenen Schüssel, und wehe wenn sie ein anderer berührt! Die Leute nährten sich schließlich nur von Wasser und Brot, bis nach 14 Tagen Besserung geschaffen wurde. Für 300 Gefangene war auch zunächst nur ein Wasserhahn da. Eingeseift standen sie alle hintereinander, um nach der Reihe unter den Hahn zu kommen. Dieser wurde dann aber plötzlich abgestellt und die noch nicht fertigen konnten sehen, wie sie die Seife vom Körper bekamen. Im Laufe des Septembers wurde dann mehr außerhalb der Stadt ein größeres Lager mit Stacheldraht umgeben eingerichtet, in dem es wesentlich besser war. Die Baracken, in denen früher Nativenregimenter gehaust hatten, um sie zu verlassen, weil sie allzu verwanzt waren, sind jetzt gut genug für die Deutschen. Aber an was gewöhnt man sich nicht alles! Das Gefangenenlager wurde in drei Teile geteilt. Das A-Camp ist mit Stacheldraht umgeben und für Leute bestimmt, die keine ehrenwörtlichen Erklärungen abgeben wollten. Man kann es innerhalb des Stacheldrahtes in einer Viertelstunde umschreiten. In diesem Lager sind, glaube ich, ca. 800 Personen, auch wirkliche Kriegsgefangene aus Ostafrika. Sie haben sich Tennis- und andere Spielplätze angelegt und geben auch Konzerte und Freilichtspiele. Das B-Camp ist für die Leute, die ihr Ehrenwort gaben, nichts gegen England zu unternehmen und keinen Versuch machen zu entfliehen. Das wäre auch ziemlich aussichtslos. Wo sollte man denn hin? Den Herren aus diesem Lager war es erlaubt, fünf (englische) Meilen im Umkreis spazieren zu gehen. Dreimal täglich musste jeder zum Appell in den Baracken sein. In dieses Lager kam auch mein Mann als einer der letzten von Bombay. Im Großen und Ganzen ist er zufrieden mit allem. Natürlich hat er sich an die Wanzen gewöhnen müssen sowie an allerlei sonstige Unannehmlichkeiten. So regnet es zum Beispiel durch die Dächer, dass die Herren in halber Stubenhöhe Tuch gespannt haben, damit das Wasser nach der Veranda hin abläuft. Andere legen sich mit einem Regenmantel und aufgespanntem Regenschirm ins Bett!

Das einmal monatliche gründliche Reinemachen der Baracken unternehmen die Herren selbst, und außer einigen Drückebergern, die es überall gibt, arbeitet jeder gründlich und mit 16 as, wie man in Indien sagt, d. h. mit ganzer Kraft. Dabei fliegen Scherzworte hinüber und herüber, wie die allgemeine Stimmung überhaupt gut ist. Es gibt fast durchweg nur Optimisten. Was den Ausgang des Krieges anbetrifft, sind sie das alle, nur was die Dauer des Krieges anbetrifft, sind viele Pessimisten. Alle deutschen Klubs haben ihre Bibliotheken nach Ahmednagar geschickt, so dass es den Gefangenen nicht an Lektüre fehlt, nur haben sie natürlich gar keine Bücher, die nach Ausbruch des Krieges erschienen sind. Es werden viele Sprachen gelernt und sonstige Studien betrieben. Musikstunden genommen, Bücher übersetzt, Zeichnungen gemacht. Dichtungen und Aufführungen entstehen. Man veranstaltet vorzügliche Konzerte, dramatische und Kabarettabende. Außerdem werden wissenschaftliche Vorträge gehalten, Reuter-Vorlesungen und dergleichen mehr. Anfänglich gehörten in die Grenzen des B-Camps auch ein Golf- und Fußballplatz sowie verschiedene Tennisplätze, alle von den Internierten selbst angelegt, die morgens und abends fleißig besucht werden. Auf gelegentlichen Sportfesten amüsierte man sich mit Sack-Dreibeine-Stafetten und Schnelllaufen, Diskuswerfen, Springen und Tauziehen. Fußball spielten die Gefangenen verschiedentlich gegen die Wachmannschaften, und es war ihnen eine Genugtuung, sie jedes Mal besiegt zu haben.

Die Engländer verfolgen eine eigenartige Taktik, bei der sie sich später sicherlich selbst ins Fleisch schneiden werden, und die bei den Deutschen sehr viel heißes Blut macht. So unterstellen sie die Gefangenen Nativen-Spionen, die natürlich ihre ungewohnte Macht nach Kräften auszukosten suchen. Es hieß zum Beispiel Mitte Oktober 1915, ein Mann aus dem B-Camp habe eine Schwarze verführt. Um ausfindig zu machen, wer es sei, stellte sich der schmierige Native-Spion breitspurig hin und jeder Einzelne des ganzen Camps musste salutierend an ihm vorbei marschieren. Das empörte die Leute derartig, dass sie zunächst anfingen zu zischen und dann über den Burschen herfielen und ihn gründlich verprügelten, bis die Territorials (englische Wachmannschaften) angelaufen kamen und wieder Ruhe herstellten. Die Folge dieses Vorfalles war, dass das ganze Camp B am nächsten Tage hinter Schloss und Riegel, d. h. hinter dem inneren Stacheldrahtzaun eingesperrt wurde, die man an der Innenseite in sechs Minuten umgehen kann. Da laufen sie nun wie die wilden Tiere herum, um sich doch etwas Bewegung zu machen, denn die Tennis-, Golf- und Fußballplätze liegen außerhalb der Grenze. Dann verfielen sie auf das Blumen säen und pflanzen und jetzt sind rund um die Baracken kleine Blumengärten entstanden.

Später wurde es etwa 20 Herren freigestellt, in das C-Camp überzusiedeln, in dem bis dato nur Herren über 45 Jahre waren. Zunächst lehnten fast alle gefragten ab oder sagten nur zu, wenn sie so und so viele Freunde mitnehmen konnten. In diesem Camp, das jetzt den Namen Neues Parole-Camp hat, ist nun auch mein Mann. Hier können die Leute wieder sechs Meilen im Umkreis spazieren gehen, Golf spielen und sonstigen Sport treiben. Nachgerade sind doch so etwa 50 Leute aus dem B-Camp herübergekommen, und ich glaube, den älteren Leuten wird es ganz lieb sein, ein bisschen Leben in die Bude zu bekommen. Es soll auch auf Kosten des Lagers schon ein Klavier von Bombay aus heraufkommen, da dauert es denn nicht lange, bis es auch dort einen Gesangsverein, Konzerte, Theater und Cabaret-Abende gibt. Die Verpflegung soll in diesem Lager eine sehr viel bessere sein; was sie erhalten, weiß ich nicht, doch hatten sie bis dahin morgens nur Tee und schwer zu verdauendes Kampher-Brot bekommen und mittags gute Suppe und zähes Fleisch. Das ist alles. Das genügt auf die Dauer für keinen Menschen. Die Bemittelten können sich für schweres Geld mehr oder weniger alles kaufen von einem Parsen, der natürlich schwer reich dabei wird und wohl einer der wenigen ist, der täglich für eine recht lange Dauer des Krieges betet. Die gänzlich Unbemittelten, meist Seeleute, arbeiten als Köche, Stiefelputzer, Strumpfstopfer, so als Mädchen für alles, immer einer für sechs bis zwölf Leute, wofür er monatliche Bezahlung erhält. Der Erlös der Theaterbilletts, künstlerischer Programme und so weiter geht, wenn nicht für das rote Kreuz, in die Kasse für Bedürftige in Ahmednagar. Für dieselben Zwecke werden auch die Bilder großer Männer, wie des Kaisers und Hindenburgs, mit Kohle gezeichnet, verlost. Im Übrigen halten die Deutschen strenge Zucht untereinander. Wer sich irgendetwas zu Schulden kommen lässt, dem erscheinen nachts der Heilige Geist oder die Kieler Flotte. Das sind etwa sechs schwarz vermummte, stämmige Kerle, die den Betreffenden windelweich hauen oder mit kaltem Wasser übergießen. Das kommt nie heraus, wer sie sind. Hat jemand Geburtstag, so wird ihm meist nachts ein Grammophon unters Bett gestellt mit der bekannten Geburtstagsplatte: „Meine hoch verkehrten Anwesenden usw. und unser liebes Geburtstagskind, es lebe hoch, hoch, hoch!“ Dieses wird dann zwischen 4 und 5 Uhr morgens angedreht und der Glückliche erhält von seinen Freunden Geschenke, etwa eine Zahnbürste, Schuhbänder dicke Government-Strümpfe a acht as, ein Stück Seife, Jam, Marmelade, ein Taschentuch, Streichhölzer und dergleichen mehr. Sind Siegesnachrichten irgendwelcher Art durchgekommen, so wandern sie unter Jubel von Mund zu Mund, ohne dass auch nur ein Einziger fragt, woher die Kunde kommt, denn derjenige, der dabei ertappt wird, dass er etwas geschmuggelt bekommen hat, wandert für allemal ins A-Camp.

Die drei verschiedenen Lager dürfen nicht miteinander sprechen. Grüßen, Nicken und Winken wird strengstens bestraft. Doch pflanzen sich die Nachrichten hinüber und herüber durch das Singen derselben nach irgendwelcher x-beliebigen Melodie fort, ohne dass sich die Leute im Vorbeigehen ansehen, noch die Engländer das Geringste verstehen. Sie können ja kein Deutsch!

Einmal kam aus dem A-Camp ein mohamedanischer Hochzeitzug vorüber, worauf sich die Deutschen blitzschnell versammelten und einen brausendes Hoch auf den Sultan ausließen. Der Zug hielt und ließ den Kaiser hochleben - zur größten Wut der wachhabenden Territorials. Seither ist jeder zivile Verkehr in der Nähe der Lager abgesperrt. Da Erdarbeiten und dergleichen des Klimas wegen nicht tunlich sind, die Leute sich aber nach Arbeit sehnen, so gab der Oberst in Ahmednagar eines Tages einen sehr unüberlegten Befehl. Es sollten neue Baracken von Nativen gebaut werden, und die Deutschen sollten die Steine tragen und Mörtel mischen, mit anderen Worten, Handlangerdienste tun. Jeder, der einmal in den Tropen war und mit Nativen in Berührung gekommen ist, sieht die Unmöglichkeit dieser Verordnung ein. Ein Sahib, der körperlich vor allem für Native arbeitet, ist in den Augen der Eingeborenen ein Nichts, etwas Verachtungswürdiges. In diesem Falle waren aber nicht nur die Betroffenen verlacht worden, sondern die ganze weiße Rasse würde nicht mehr im selben Masse geachtet werden wie vorher. Die Deutschen widersetzten sich denn auch dem Befehl. Sie wollten wohl die ganzen Baracken bauen, nie einem Schwarzen aber Handlangerdienste tun. Der Oberst sah nachträglich alles ein und die Sache verlief im Sande. Die Frauen bearbeiteten fortwährend die Regierung und den amerikanischen Konsul, um mit ihren Männern interniert zu werden, sie wenigstens, bis dieses ermöglicht sei, besuchen zu dürfen. Endlich Mitte Dezember hatten ihre Bemühungen den Erfolg, dass immer vier Frauen zurzeit für drei später vier Tage zum Besuch nach Ahmednagar fahren durften. Meine erste Reise für drei Tage nach Ahmednagar trat ich am 16. Dezember 1914 zusammen mit drei anderen Damen an. Man fährt abends um 9:00 Uhr vom Victoria Bahnhof ab und schläft, oder schläft nicht, bis ca. 3:00 nachts, wo man in Dhoud ankommt, einem schmutzigen, verwanzten Bahnhof.

Schlaftrunken setzt man sich auf sein Gepäck und wartet ein bis zwei, manchmal auch drei Stunden (die Pünktlichkeit der Züge in Indien lässt sehr zu wünschen übrig) auf den Zug, der einen weiterbefördern soll. Wenn alles glatt geht, ist man um 7:00 morgens in Ahmednagar. Dort sind aussteigende Damen eine Seltenheit, und daher kommt der Schutzmann fast nie an die verkehrte Adresse, wenn er fragt: "Sind sie eine Deutsche, wie viele Tage bleiben Sie hier, wie heißen Sie und wo kommen sie her?" Dann nimmt man sich eine Tonga und fährt zu dem 45 Minuten weit abgelegenen Lager. Vor dem Censor-Officer wird gehalten, man gibt seinen Pass ab, lässt sein Gepäck oberflächlich untersuchen, und trifft an der Straßenecke seinen Mann, mit dem man in ein nahe gelegenes Bungalow geht, in dem für die Tage schon vorher ein Zimmer belegt ist. In diesem Zimmer darf man sich von 8:00 morgens bis 9:00 abends aufhalten und auch seine Mahlzeiten einnehmen. Abends fährt man in die amerikanische Mission, die uns Frauen für ganz weniges Geld ganz reizend und auf die liebenswürdigste Art aufnimmt. Ach, was ist das für ein Gefühl, wenn man so in der fliegenden Tonga mit Herzklopfen seinem Manne entgegen fährt, den man lange nicht gesehen hat und von dem man monatlich nur einen kurzen Brief erhält. Jetzt ist es den Herren erlaubt, fünf Briefe monatlich zuschreiben, davon darf einer in Deutsch die anderen müssen Englisch geschrieben sein. Das große A-Camp mit dem mächtigen Stacheldraht machte im ersten Moment einen sehr deprimierenden Eindruck auf mich, umso mehr, als es strengstens untersagt ist hinein zu winken und zu sprechen. Wachen stehen an allen Ecken und Enden mit aufgepflanztem Bajonett und beobachten jeden Vorübergehenden scharf. Mir war es doch eine große Erleichterung, meinen Mann im B-Camp zu wissen; er sah, wie auch die meisten anderen, brillant d. h. schön sonnenverbrannt aus, und es gab des Erzählens kein Ende! Alle fühlen sich mehr oder weniger in ihre Soldaten-Zeit zurückversetzt, und da fast ein jeder gerne beim Militär war, so fällt es ihnen verhältnismäßig leicht, sich in ihr Schicksal zu fügen, und auch ich habe dank meines glücklichen Temperament dort alles sehr viel netter gefunden als die meisten anderen Damen. Dass ein jeder mal trübe Stunden hat, besonders die von ihren Frauen getrennten Verheirateten, ist ganz klar, es fehlt eben an geistiger Arbeit, aber Gott sei Dank sind wir nicht alle an einem Tage gedrückter Stimmung, so dass immer jemand zum Aufheitern da ist. Mein Mann erzählte mir damals, dass sie täglich viel spazieren gingen. Sonnabends sei Ausmarsch, fünf bis sechs Meilen weit, von 50 bis 60 Mann unternommen. Ein Herr sei der Befehlshaber und Spazierstöcke würden als Gewehre gehandhabt. Als ich oben war, fand in einer ausgeräumten Turnhalle das erste Konzert statt. Es war erstklassig. Einige wirkliche Künstler sind dort. Cello, Violine, Flöten, Klavier, Trommel, Trompete und ein vorzüglicher Gesangsverein. Am Schluss wurde uns gestattet: "Deutschland, Deutschland über alles " zu singen. Ach, tat das gut! Seit Monaten saß mir das in der Kehle und durfte nicht heraus, man fühlte sich ordentlich erleichtert. Überhaupt, mir kam das oben vor wie eine große deutsche Kolonie; wen man auch sah, alles sprach Deutsch, was auf mich unendlich wohltuend wirkte. Sogar der native Milch-Verkäufer ruft in dem drolligsten Akzent: " Warme Milch gefällig, meine Herren?" Obgleich Kragen und Schlips nicht Mode sind in Nagar, kommen doch allerlei zum Vorschein, wenn Damenbesuch erwartet wurde. Die jeweiligen Freunde und Bekannten verfehlten auch nie, nachmittags einmal vorzusprechen, eventuelle verbotene Liebesbriefe von ihren Frauen zu empfangen und zu beantworten und sich sonst nach dem einen oder dem anderen umzuhören. Die Baracken durften von uns Damen nicht besichtigt werden, doch wurde ich eines Tages in eine der Baracken zum Mittagessen eingeschmuggelt. Mein Mann deckte den Tisch für neun Personen, allerlei Kissen wurden mir dienstbeflissen auf und um die harte Bank gelegt, und es war geradezu rührend, wie jeder einzelne Herr es so nett wie möglich zu machen besorgt war. Selbst gepflückte Blumen standen auf dem Tisch, Büchsen mit Leckerbissen waren meinetwegen geöffnet und das Hammelfleisch war mit der größten Liebe und Sorgfalt zubereitet worden. Ich verfüge nun Gott sei Dank über ein sehr starkes Gebiss, muss aber sagen, dass ich mich mit den Resten des Fleisches noch stundenlang amüsiert habe. Nachher wurde ich wieder heimlich fortgeschafft.

Am 2. März 1915 war mein zweiter Besuch fällig. Im Januar des Jahres hatte ich ein zweites Mädel in die Welt gesetzt, das in Ahmednagar getauft werden sollte. Das Oberhaupt des dortigen Gefangenenlager, dem meinem Manne manche Arbeit abnimmt, infolgedessen er gut bei ihm angeschrieben ist, hatte freundlicherweise seine Erlaubnis dazu gegeben, deswegen durfte ich meine beiden Kinder mit in die amerikanische Mission nehmen (wo sonst keine Anwesenheit von Kindern gestattet war). Diese besondere Liebenswürdigkeit verdanke ich den Ahmednagar-Konzerten, zu denen ein für allemal die Amerikaner eingeladen wurden, zum Dank für die freundliche Aufnahme der deutschen Frauen. Die meisten hatten viel Verständnis für Musik, bezahlten auch stets freiwillig fünf Rupees für die Programme, und hörten besonders gern meinen Manne spielen. So freundlich und taktvoll sie sich übrigens uns Deutschen gegenüber benahmen, politisch hatten sie viel an unserem Kaiser und unserem Volk auszusetzen, wie ein Zeitungsartikel einer der Missionare bewies. War das eine Seligkeit, meinem Mann die Kinder, vor allen Dingen das Neugeborene, zu zeigen. Wenn wir auch bei diesem Besuch voneinander selbst weniger hatten, so waren die vier Tage des Beisammenseins doch wunderschön. Die Taufe fand am 3. März 1915 statt, mit anschließendem Tee. Alle Freunde und Bekannte waren geladen. Im Lager hatten die Bäcker von den österreichischen Lloyd-Schiffen die schönsten Kuchen gebacken. Der kleine Blumenladen in Nagar war gänzlich geplündert worden. Frühmorgens schon schickte der Parsee uns bestellte Teller, Kannen, Tassen und Gläser. Sie kamen in einem unbeschreiblichen Zustand an. Da Bedienung nicht vorhanden war, wuschen mein Mann und ich mit aufgestreiften Ärmeln alles auf in einer kleinen Badewanne. In Ermangelung von Gläser- und Tellertüchern mussten wir die Sachen mit reinen Kinderwindeln abtrocknen. Ein großes Tischtuch für das Büffet sowie Decken etc. hatte ich mitgebracht, und bald sah die Stube wirklich reizend und feierlich aus. An den Wänden prangten grüne Zweige, in Gläsern standen Oleander-Blüten und so weiter, und der Tauftisch machte sich sehr hübsch unter gelben Rosen. Ein deutscher Missionar von der Leipziger Mission hatte nebst acht anderen Herren für einige Stunden Urlaub bekommen aus dem A-Camp. Er hielt die Taufrede. Sie alle waren überglücklich ob der ihnen geschenkten, kurz währenden Freiheit, breiteten die Arme aus und waren wie die Kinder. An der einen Ecke bog sich das Cafébuffet unter zahlreichen Nuss- und Sandkuchen sowie kleinem Gebäck. Auf der Veranda war die Whisky-Bar, an der es auch belegte Butterbrote gab. Um 5:00 begann die Feier, zu der sich zirka 60 Herren einfanden. Die Kleine (Irene) wurde von der Ajah gehalten und benahm sich musterhaft. Die Größere zeichnete sich beim Choral-Singen dadurch aus, dass sie mit dem Lied „It´s a long way to Tipperary“ herausplatzte, das bei unseren Nachbarn in Bombay den ganzen Tag auf dem Grammophon gespielt wurde. Nach der hübschen Feier wurde den Speisen zugesprochen - als ob die ganze Gesellschaft am Verhungern wäre. Es ging dabei sehr lebhaft und lustig zu, bis zum allgemeinen Aufbruch um 7:00. Unter dem Kommando eines der Herren traten alle an, und im Parademarsch gingen sie an uns vorbei zum Tor hinaus. Noch lange hörten wir die nach ihrer Baracke Zurückziehenden singen: „In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehen!“

Im April und Mai waren wir zehn unter uns bekannte Bombay-Damen in Matheran, einer kleinen, gesunden Waldstation ganz in der Nähe, wo wir uns bei dem Cantonment-Magistrato, einem Perser, an- und abzumelden hatten. Wir lebten dort sehr zurückgezogen, ungestört und abgeschlossen in einem kleinen Häuschen, das zum Hotel gehörte. Eines Tages hieß es, es habe sich verschiedentlich ein Panther in der Nähe gezeigt, und einige beherzte Männer machten sich auf den Weg, um ihm zu Leibe zu rücken. Nachts hören wir zwei Schüsse, schlafen darüber nicht so schnell wieder ein und vernehmen nach einiger Zeit Schritte und Stimmen, die eine meiner Freundinnen veranlassen zu rufen: "Sie haben ihn, sie haben ihn, und kommen hier vorbei!" Daraufhin werfen wir alle Kimonos um und laufen auf die Veranda. Es naht sich auch ein Zug vermummter Leute, davon tragen zwei den Panther, mit den Beinen an einen Stock gebunden, zwischen sich. Einige Fackeln beleuchten das Ganze gespenstisch. Der Zug hält vor unserer Terrasse und aus dem Hintergrund lässt sich auf Deutsch eine Stimme vernehmen: "Haben die Damen nicht Lust, sich das Tier ein wenig aus der Nähe zu betrachten?" Wir trauen unseren Ohren nicht und erkennen schließlich in der näher kommenden, vermummten Gestalt einen hoch gebildeten jungen Brahmanen, der uns schon verschiedentlich durch sein gutes Aussehen und sein gänzlich europäisches, aristokratisches Wesen aufgefallen war. Im Flüsterton erzählt er uns, dass er schon lange gern einmal mit uns habe sprechen wollen. Es würde uns sicher interessieren zu hören, dass der Panther seinen Tod einem deutschen Krupp´schen Gewehre zu verdanken habe. Er selber sei länger in Hamburg, München, Berlin und anderen Städten gewesen. Er habe die Deutschen schätzen und achten gelernt und liebe ihr Land. Was den Krieg anbelangt, so würde er sicher ein gutes Ende für uns nehmen. Keine Macht der Welt werde es fertig bringen, Deutschland und sein Volk zu demütigen oder gar nieder zu ringen. Das kleine siebenjährige Mädel einer meiner Freundinnen war auch bei dieser Unterredung zugegen. Sie meinte: "Mutter, ich möchte wohl dem Manne dieses Stück Schokolade bringen, weil er doch das Tier so schön tot geschossen hat mit einem deutschen Gewehr!" Der Brahmane hatte die Worte gehört, er lächelte und sagte: "Das ist auch so ein echter deutscher Zug, ja, bringe mir ein Stück Schokolade, wenn es deine Mutter erlaubt, ich esse es gerne!" Wir hatten so wenige Freunde, kamen so äußerst selten mit einem Menschen zusammen, der uns wohl gesinnt war. Da tat so etwas doppelt gut und wir haben noch lange gezehrt an der kleinen Begebenheit.

Einige Tage darauf ereignete sich noch etwas. Es war eben vor der Tee-Zeit, ich hatte mich gerade umgezogen, als ich Pferdegetrampel und einen markerschütternden Schrei höre. Ich stürze auf die Veranda und sehe ein scheu gewordenes Pferd in wildem Galopp auf einem schmalen Saumpfad herangaloppieren. Die Zügel hängen dem Tier über den Hals, auf dem Sattel hängt eine Frau mit aufgelöstem Haar, totenblass, mit weit aufgerissenen Augen; noch nie sah ich ein so namenlos angstverzerrtes Gesicht. Ich rase den Weg hinunter und es gelingt mir, dem Pferde gerade an einer Biegung des Weges in die Zügel zu fallen und es zum Stehen zu bringen; es zittert an allen Gliedern. "Help me, help me!" , höre ich die Frau sagen, dann sinkt sie mir halb ohnmächtig in die Arme. In der Zwischenzeit kamen auch meine Bekannten herbei, meine Diener hielten und beruhigten das Pferd, und jemand half mir, die Dame auf das hohe Bett auf der Veranda zu tragen. Eau de Cologne und ein Glas Rotwein (anders hatte ich nicht zur Hand) halfen ihr ziemlich bald wieder zur Besinnung und sie erzählte, dass sie heute zum ersten und auch zum letzten Male in ihrem Leben auf einem Pferde gesessen habe. Sie sei im Rugby Hotel aufgestiegen, zusammen mit ihrem Manne, der auch zum ersten Male das Reiten probiert habe; neben ihnen sei ein Reitknecht geschritten. Zuerst sei alles sehr schön und nett gewesen, dann hätten sie einen Trab versucht, ihr Pferd müsse sich dabei irgendwie erschrocken haben, kurzum, es sei auf und davon mit ihr, bergauf und bergab, was aus den anderen geworden sei, wisse sie nicht. Meine Diener suchten ihnen in der Umgegend zu begegnen, und die Engländerin hatte sich gerade wieder etwas zurecht gemacht, als ihr Mann und der Reitknecht erschienen, froh, dass noch alles gut abgelaufen war. Sie bedankten sich sehr herzlich für das, was ich hatte tun können und machten sich zu Fuß auf den Rückweg. Abends erhielt ich nochmals ein sehr nettes Dankschreiben des Mannes und später, als ich nach Bombay zurückkam, bin ich noch verschiedentlich mit ihnen zusammen gewesen. Sie waren stets von besonderer Liebenswürdigkeit und boten mir ihre Dienste an in den schweren Zeiten. Ich habe dieselben auch in Anspruch genommen, da ich ihnen trauen zu dürfen glaubte. Sie bewahren alle meine Wertsachen auf, die zum größten Teile aus guten Bildern, Bronzen, feinem Porzellan, Kristallen, Silbersachen usw. bestanden. Hoffentlich bekomme ich das alles noch einmal wieder zu sehen.

In unsere Matheranzeit fiel auch die Kriegserklärung Italiens an Österreich. Damals hatte ich das gerade gelesen und war sehr erregt, als eine alte verschrumpelte half-caste-Mamsell in Nagar ankam und um Geldmittel für ein englisches Findelhaus bettelte. Ich erklärte ihr, (was zwar nicht notwendig gewesen wäre) dass ich eine Deutsche sei und mein Geld in diesen Zeiten für andere Sachen gebrauche. Kaum hatte ich das ausgesprochen, als mir die gemeinsten Flüche an den Kopf flogen, ja, wenn sie sich doch damit begnügt hätte, aber sie beschimpfte auch unseren Kaiser auf die ordinärste Weise. Ich platzte fast vor Wut. Diese Halbschwarzen kann man nun empfindlich treffen, wenn man hindustanisch mit ihnen spricht, sie mit anderen Worten anscheinend für Schwarze hält. So sprach ich sie denn auch in der Native-Sprache an und befahl ihr, sofort zu schweigen, sonst würde ich den Hotelbesitzer holen, der sie aus dem Grundstück jagen würde. Daraufhin verschwand sie, immer noch mit halber Stimme vor sich hin schimpfend.

Am 7. Juli 1915 fuhr ich zum dritten und letzten Male für vier Tage nach Ahmednagar. Es war furchtbar heiß da oben, doppelt empfunden, da es nirgends „punkas“ gab. Am 2. Tage lud ich zu einem so genannten „Tee unter der Linde“ ein. Es gab notabene Whisky und Soda und der Baum war ein Gul Mohur. Dahin brachten alle Geladenen Bänke und Tische aus den Baracken, auch reine Betttücher als Tischdecken, Gläser, Teller, Eis und die von uns bestellen Getränke und Kuchen; alle durften sich dafür auf unsere Kosten satt essen und trinken. Jeder hatte dann noch den einen oder den anderen Wunsch für Besorgungen in Bombay, die ich notierte, um dann später das Gewünschte einzukaufen und hinauf zu schicken. Als ich von Nagar zurückkam, fand ich, dass unser Messing-Namens-Schild außen am Hause gestohlen war, wie schon vorher einigen meiner deutschen Bekannten. Vielleicht sehe ich es in späteren Jahren noch mal als stolze Kriegstrophäe im Londoner Crystal Palace wieder.

Um Licht zu sparen, aber auch, weil es wunderbar schön war, saßen eine meiner Freundinnen und ich in Bombay abends nach dem Essen gegenüber unserem Hause auf einer Bank und genossen den prachtvollen Sternenhimmel, das Meer und die Silhouette vom Malabar Hill mit all den Lichtern. Ein eigenartiges Gefühl der Einsamkeit überfiel uns dann. Fern der Heimat, getrennt vom Manne, allein in Feindesland, umgeben von nicht einem Menschen, der uns wohl wollte. Zunächst die Engländer, dazu die Halbschwarzen sowie notgedrungen einige schwarze Kriegerstämme, dann Japaner, Franzosen, Russen und Belgier. Sie alle belebten die Promenade. War jemand in Hörweite, so verstummten wir entweder oder unterhielten uns in Englisch, um unnötigen Bemerkungen vorzubeugen, wie sie einigen Bekannten von uns, die wenig Englisch nur konnten, nachgerufen worden sind: "Bloody Germans, damned Germans, huns, baby killers" und dergleichen mehr. Derartiges ist uns nie passiert, aber wir haben uns oft vorgestellt, was wohl geschehen würde, wenn diese Leute wüssten, dass wir Deutsche sind.

Hatte sich der Ausfall der Waren schon an Weihnachten 1914/15 bemerkbar gemacht, so war das jetzt erst recht der Fall. Fensterscheiben waren nicht mehr zu erschwingen. Alles Glas war sonst aus Österreich gekommen, da es ausblieb, musste es von Japan bezogen werden, das sich teuer dafür bezahlen ließ. Amerika, Japan, besonders letzteres, haben es überhaupt sehr gut verstanden, unseren ganzen Handel an sich zu reißen; trotz alledem stehe ich unter dem Eindruck, als ob es nach dem Kriege nicht ohne unsere Waren gehen wird. Die Engländer haben es überhaupt erst erfasst, was alles Made in Germany ist. Ich persönlich spreche sehr gut Englisch und bin daher nie für eine Deutsche gehalten worden. Ein besonderes Vergnügen hat es mir stets gemacht, in die Läden zu gehen, vorgebend Sachen kaufen zu wollen, von denen ich genau wusste, dass es deutsche Fabrikate waren und infolgedessen nicht mehr vorrätig; z. B. Strümpfe, Wollunterzeug, Stopfgarn, Druckknöpfe, Bleistifte, Eau de Cologne und vieles andere mehr. In einem Schaufenster sah ich einst lauter „Jäger“-Unterzeug, dazu ein großes Reklameschild ungefähr folgenden Inhalts: „Englisches Volk, kauft nur in unserem Lande verfertigte Artikel, damit erweist ihr eurem Vaterland den größten Dienst!“ Auch Kölnisch Wasser 4711 kaufte ich mal mit einem großen Zettel beklebt, lautend: „English made.“ Auf meine Frage, ob denn die Engländer Köln genommen hätten, wussten sie mir keine Antwort zu geben. Es gibt auch englisches Parfüm gleichen Namens; es ist teuer und schlecht. Die Verkäufer haben oft genug von mir hören müssen, dass es mit dem deutschen nicht konkurrieren könne. Faber-Bleistifte und Briefumschläge - in die Ecken verwiesen, weil deren Kauf unpatriotisch geworden ist - kaufte ich mit Vorliebe, „da sie doch weitaus die besten seien“. Dann stimmten merkwürdigerweise die Verkäufer stets mit mir überein, auch, dass der Krieg bald ein Ende nehmen müsse, da es ja doch nicht ohne deutsche Ware gehe. Die deutschen Kinderzwiebacke, genannt „German rusks“, heißen jetzt „British rusks“, Straßennamen werden verändert und andere Kindereien vorgenommen. Spielsachen gab es zunächst überhaupt gar keine, später sehr schlecht ausgeführte, billige Celluloid-Sachen aus Japan und infame Geduld-, Lege- und Würfelspiele, auf denen unser Kaiser und die größten Männer unseres Volkes, nicht nur karikiert, sondern auch beschimpft und besudelt werden. Dergleichen war natürlich „Made in England“. Am schlimmsten waren die Apotheker. Sie haben mir auch ihr Leid geklagt. Woher die Medizin bekommen, die sie fast ausschließlich von Deutschland bezogen?

Mitte Juni 1915 wurden von heute auf morgen jegliche Besuche nach Ahmednagar verboten. Anscheinend waren sie nicht mehr vonnöten, da wir Frauen doch bald mit unseren Männern zusammen in Belgaum, Katabahar oder anderen Plätzen interniert werden würden. So hieß es allgemein, auch unter den Engländern. (Später stellte sich heraus, dass dieser Befehl direkt von England gekommen war). Daraufhin begannen wir Frauen zu packen. Für die, die ihren Haushalt schon aufgegeben hatten, war das ein Leichtes, für meine Kinder und mich zum Beispiel weniger, denn mit uns zusammen wohnten während des Krieges drei andere Damen und ein Kind, für die natürlich bis zum letzten Augenblick alles herausbehalten werden musste. Wertsachen waren allerdings schon bei Beginn des Krieges verpackt worden und Luxusartikel gab es im Hause kaum noch. Aber die Gardinen mussten gewaschen und geplättet werden, Bilder, Vasen, Nippes, Teppiche, Kissen und dergleichen verstaut, Koffer gepackt, und die Kisten für die im letzten Augenblick zu packenden Artikel angefertigt werden. Ich war oft bis spät nachts beschäftigt, dazu kam, dass meine Ajah krank war und acht Tage Urlaub hatte, das hieß, zwei kleine Kinder hüten Tag und Nacht; dabei quälten mich rasende Kopf- und Rückenschmerzen, und das Ende vom Lied war, dass ich zusammenbrach und mich mit Fieber ins Bett legen musste. Nach 14 Tagen wurde konstatiert, dass ich Darm-Typhus hatte.

Ich war noch nie im Leben krank gewesen, hatte bis dahin immer nur für andere gesorgt. Der Gedanke, dass die Kinder aus meinem Zimmer entfernt werden mussten, dass ich eine Tag- und eine Nachtschwester benötigen würde, mit anderen Worten, dass ich meinen Freundinnen zur Last fallen musste, hat mich fast um den Verstand gebracht. Aber es half nichts, ich war hilflos geworden, musste alles mit mir geschehen lassen. Die Schwestern waren sehr nett, der Arzt vorzüglich, meine Bekannten rührend mit mir. Nach einer schlimmen Woche ging es langsam wieder bergauf; normale Temperaturen waren noch nicht wieder erreicht, als ich einen sehr viel schlimmeren Rückfall bekam, der mich fast das Leben kostete; als der Arzt der Überzeugung war, dass es zu Ende gehe, wurde mein Mann telegrafisch informiert. Ich erkannte ihn zwar nicht, da ich eine Woche lang bewusstlos war, aber er durfte sieben Wochen lang bei mir bleiben, während meiner langsam, ganz langsam voranschreitenden Rekonvaleszenz. Dafür werde ich den Engländern immer dankbar sein.

Es gibt in den Tropen so furchtbare Krankheiten wie Pest, Cholera, Dysentery und Typhus, die, wenn sie schlimm auftreten, fast immer ein böses Ende nehmen; während des Krieges kam da sehr viel Trauriges vor, so dass die Engländer schließlich weicher gestimmt wurden und beantragten, dass der Mann oder Vater Urlaub erhalten könne von Ahmednagar, wenn der Arzt schwöre, dass das Leben des betreffenden Verwandten in Gefahr wäre. Mein Mann sagte, ich hätte im Delirium wahnsinnig auf die Engländer geschimpft, es sei nur ein Glück gewesen, dass ich dabei fast immer deutsch gesprochen habe. Während seines Aufenthaltes in Bombay musste er sich einmal täglich bei der Polizei melden, durfte weder Briefe empfangen noch schreiben und nicht in den Basar, noch zum Geschäft gehen. Mein Mann hatte während der Zeit seiner Gefangenschaft 15 Pfund abgenommen; dass es nur vom schlechten Essen herrührte, sah man daran, dass er in den sieben Wochen in unserem Hause wieder 11 Pfund zunahm.

Ich möchte nochmals betonen, wie freundlich und taktvoll sich der Arzt um mich bemüht hat. Er war selig, mich durchgebracht zu haben, obgleich er meinetwegen Anfechtungen genug gehabt hat. Unsere Straße hatte in den Abendstunden sehr großen Verkehr und war sehr laut, da alles um diese Zeit am Strande spazieren war. Deswegen hatte der Arzt angeordnet, dass vor unserem Hause auf der Straße Stroh gelegt werden sollte. Das fiel allen Leuten auf und ich wurde Stadtgespräch. Daraufhin erschienen Zeitungsartikel. Es seien also immer noch Deutsche in Bombay; z. B. wohnhaft in der und der Straße; davon solle eine krank sein. Recht so, sie sei ja nur eine Hunnin, der man nichts Besseres wünschen könne. Albern, ein solches Aufsehen um eine Deutsche zu machen; das einzige, was für mich spreche, sei, dass mich der beste und bekannteste Arzt behandelt. Dass der sich dafür her gebe! Wir hätten überhaupt nichts mehr zu suchen in ihrem Lande, einsperren solle man uns oder repatriieren; wir hetzten doch nur unsere Diener gegen die Engländer auf, indem wir ihnen u. a. sagten, wenn die Deutschen erst die Herrschaft in Indien hätten, würden sie viel besser bezahlt werden und dergleichen mehr. So ähnlich hat das oftmals geklungen. Davon war natürlich gar keine Rede. 

Wir wussten, dass Diener einer Bekannten von Zeit zu Zeit durch Polizisten über ihre deutsche Herrschaft ausgefragt wurden und hüteten uns etwas zu sagen; aber sie waren empört, dass man uns von unseren Männern getrennt internieren oder heimschicken wollte. Meine Diener wären alle für mich durchs Feuer gegangen, nur für den Kutscher will ich mich nicht verbürgen. Er erzählte, Polizisten hätten ihn aufgehetzt, wie er wohl noch bei einer Deutschen fahren könne und dergleichen. Er kam sowieso bald fort, da ich Pferde und Wagen verkaufte oder besser gesagt verschleuderte. Am letzten Tage habe ich den Dienern gegenüber kein Blatt mehr vor den Mund genommen, was meine Kriegsansichten anbelangt. Händler kamen oft in unser Haus und zeigten ihre Ware. Sie wussten merkwürdigerweise gut vom Kriege Bescheid, konnten scheinbar auch zwischen den Zeilen der Zeitungen lesen. Wenn wir ganz dumm taten, erzählten sie allerlei Interessantes. Vom Falle Warschaus z. B. wussten sie mindestens zehn Tage eher Bescheid als wir. Sie bewunderten die Deutschen sehr und hielten viel weniger von den Engländern, auch als Menschen. Doch mit der Bevölkerung an und für sich ist nichts zu wollen, was einen Aufstand anbelangt. Zunächst haben sie keine Waffen und zweitens sind sie schlapp; ein Fußtritt genügt unter Umständen, um einen zur Strecke zu bringen. Dieses gilt für das Volk um Bombay herum. Wesentlich anders schon ist es in Hyderabad in Bengalen und im hohen Norden Vorder-Indiens; aber auch hier mangelt es an Geld und Waffen. Trotz alledem haben die Rajahs, reiche Händler, und vor allen Dingen Mohammedaner ihr Scherflein ins Trockene gebracht. Beim Beginn des Krieges haben sie ihr ganzes Hab und Gut aus den Banken gezogen. Die Banken haben kein Stück mehr, aber die obengenannten sitzen auf ihren Geldsäcken und hüten sie selber.

Mit dem Brahmanen aus Matheran traf ich in Bombay noch einmal zusammen. Wir unterhielten uns über das eben erschienene Buch Sven Hedins: „With the German Armies in the West“, wovon auch mehrere Exemplare nach Nagar geschmuggelt worden sind, wo es einer immer mehreren zugleich vorliest. Er war gleich mir begeistert und meinte, England werde Indien sehr viele und sehr hohe Zugeständnisse machen müssen nach dem Kriege. Außerdem hatte er mit einem Official gesprochen, der ihn gefragt habe, wie er überhaupt noch die Deutschen schätzen könne, jeder Mensch habe sie jetzt zu hassen, worauf er ihm geantwortet habe: „How narrow minded you English people are; the war has nothing to do with personal hate. I have been in Germany, I love the country and I have met charming people, whom I shall always adore, whether there is war or not.!“

Persönliche Urteile der Mohammedaner über den Krieg habe ich nicht gehört, kann nur erzählen, dass die Engländer sehr wenige interniert haben, aus Angst, dass es böse Folgen für sie haben könnte. Überwacht werden sie natürlich alle auf das Genaueste. Unsere Nachbarn waren Perser. Sie waren immer sehr zuvorkommend und hilfsbereit gegen uns während der ganzen Zeit, luden uns auch ab und zu ein, was uns nicht sehr angenehm war, da wir uns weder revanchieren konnten noch wollten. Ich mag dem Hausherrn Unrecht tun, aber ich traute ihm nicht recht. Auch stellte er mir verfänglich erscheinende Fragen und ich habe mir immer sehr wohl überlegt, was ich antwortete. Wir kannten alle die unbedingt erste Perser-Familie im Bombay beim Namen und vom Ansehen. Als nun der Befehl kam, dass wir deutschen Frauen interniert werden sollten, fährt ein Auto vor das Haus von Freunden. Heraus steigt besagter Perser, entschuldigt sich ob seines Besuches und sagt, es läge ihn daran, dass wir wüssten, wie sehr er mit uns und unserem Volke sympathisiere, und wie empört er in jeder Beziehung über die Handlungsweise der Engländer sei. Die Internierungen der deutschen Frauen, von unseren Männern getrennt, setze allem die Krone auf. Seine Schwester nahm Klavier-Stunden bei einer uns bekannten Österreicherin. Dieselbe war nicht nur als Lehrerin, sondern auch als Freundin eine gern gesehene Kraft in dem Perserhause. Sie malte uns ihr Erstaunen aus, als sie zum ersten Male in das Zimmer des Fräuleins gekommen war. Ein großes Bild des deutschen Kaisers mit einer Blumengirlande habe sie begrüßt, darunter auf einen Tisch ein kleines Bild unseres Herrschers, viele Blumen und eine Autobiografie Kaiser Wilhelms II., mit einigen geschriebenen Randbemerkungen, wie: „He is bigger than Napoleon. I adore him.!“ Und dergleichen mehr. So fühlte man allerwärts, wenn es auch zu keinen Aufständen kam, Sympathie für Deutschland heraus. Die Schlimmsten sind die Mischlinge in dieser Zeit. Sonst weder Fisch noch Fleisch, fühlen sie sich jetzt endlich einmal gleichberechtigt, nämlich als Patrioten; was natürlich von den Engländern mit Jubel begrüßt wird. Mit den Briten selbst kommen wir gesellschaftlich überhaupt nicht mehr zusammen. Einige wenige besuchten uns einzelne Male, sich mehr oder weniger pro forma erkundigend, ob sie etwas für uns tun könnten. Viele aber kannten uns gar nicht mehr, grüßten nicht einmal. Die Schweizer benahmen sich auch nicht gänzlich einwandfrei gegen uns, bis auf eine Dame, die es nicht verschmähte sich in unserem Hause zu zeigen oder mit uns spazieren zu fahren. Die Männer wurden alle Volontiers. Die Engländer wollten sie zunächst gar nicht, aber sie haben solange um die Ehre gebettelt, bis sie zugelassen wurden, was ihnen von den Deutschen sehr verdacht wurde; denn für jeden Volontier können die Engländer einen anderen Mann an die Front stellen, somit verhalten sich die Schweizer in Indien nicht absolut neutral. Aus der deutschen Schweiz kommen übrigens keine Zeitungen für sie durch, nur aus der französischen. Was nun die Times of India sowie die anderen Zeitungen drüben anbelangt, so möchte ich an dieser Stelle noch etwas darüber sagen. „Erreicht haben wir Deutschen noch keinen Deut. Vorgegangen sind wir noch nie!“ Der Russian Steamroller war gleich anfänglich beinahe in Berlin. „German run like hares.” Zogen sich unsere Feinde zurück, so geschah es natürlich nur aus strategischen Gründen. Dabei kommt mir ein in Nagar entstandener nach Chimboratzik verfasster Reim in den Sinn:

Heute große Schlacht gestartet,
morgen großer Sieg erwartet!
Übermorgen laufen sie,
mit Rücksicht auf das Strategie.
(Überschrift: Feinde unsrige)

Doch wozu viele Worte über die Lügereien machen, sie sind ja die gleichen wie in den europäischen Zeitungen unserer Feinde. Gab es nichts Neues, so wussten wir, es bereitete sich etwas vor. Wurde wahnsinnig gehetzt, hatten wir wieder Kinder gemordet, Mädchen verführt und, weiß Gott, was sonst für Gräueltaten vollbracht, so war sicher ein deutscher Sieg zu erwarten. So lernten wir in und zwischen den Zeilen die Wahrheit erkennen. Die Eingeborenen durchschauen die Zeitungen auch zum Teil, nur die Engländer schwören auf jedes Wort, was darin stand. Nur ganz, ganz vereinzelt hörte ich sie die Zeitung: “The Daily Liar“ nennen. Wurden die Deutschen und deren Taten auch immer heruntergeputzt, entstellt und besudelt, einen Erfolg gaben die Engländer unumwunden zu - den der Emden. Ärgerten sie sich auch über jedes von ihr versenkte Schiff, so imponierte sie ihnen doch gewaltig, immer wieder hörte man sie sagen: „She´s a sport, she´s a sport!“ Angst hatten sie auch vor ihr. Als die Emden die Öllager in Madras beschoss, wurde sie auch in Bombay erwartet. Alle Hafenlichter, Scheinwerfer, Leuchten waren gelöscht und die Engländer erinnerten sich eines Ausspruchs vom Gouverneur, als der Kronprinz vor einigen Jahren mit der Gneisenau dort war, und sie die Stärke des Schiffs im Vergleich zu der geringen Befestigung Bombays sahen und zitterten. Damals sagte der Gouverneur: “Bombay is at the mercy of the Gneisenau.” Fieberhaft wurden Regimenter an die Befestigungen gebracht. Munitionen und Türme von Sandsäcken herbeigeführt. Wir haben auch gute Gründe zu glauben, dass allerlei Minen gelegt worden sind, wir beobachteten, dass die Truppen-Schiffe und die nach Karachi fahrenden Dampfer einen ganz anderen Kurs nahmen als zu Friedenszeiten.

Briefe aus der Heimat waren während der Kriegszeit eine Seltenheit und wurden infolgedessen bei uns als Gemeingut betrachtet; sie wanderten von einer zu anderen. Wir vermuteten in jedem Wort eine andere Meinung und haben dadurch allerlei über den wahren Stand der Dinge erfahren, besonders bei über Amerika geschickten Briefen.

Mit den deutschen Firmen verhielt es sich so: Nachdem alle Militärpflichtigen interniert waren, war fast in jedem Geschäft ein Neutraler, Naturalisierter, ein ca. 50er oder ein guter Perser, dem Prokura erteilt wurde und der das Geschäft weiterführte. Ende November 1914 hieß es plötzlich, an Frauen solle das Gehalt des Mannes nicht weiter ausbezahlt werden. Durch Zufall erfuhren wir davon, ehe die Tatsache veröffentlicht wurde, und handelten dementsprechend. Bekamen dann auch positiv keinen Pfennig während der Monate Dezember, Januar, Februar und März, wonach den Verheirateten 2/3 des Gehaltes weiter ausbezahlt wurde bis zum August 1915, wo jeder Auszahlung ein für allemal aufhörte. Ein zweiter unerwarteter Schlag kam in den ersten Monaten des Jahres 1915, als es hieß, Firmen seien bis zum 15. August 1915 zu liquidieren. Geld hatte man ja sofort nach Ausbruch des Krieges nicht mehr nach der Deutschland schicken können; nun durften auch keinerlei neue Kontrakte geschlossen werden. Ja, die alten Kontrakte wurden sogar angezweifelt und bei unserer Firma ist es vorgekommen, dass der allgemeine Oberliquidator der deutschen Firmen, ein Engländer, einen alten, als richtig befundenen Kontrakt einfach nahm und durchriss. Die englische Regierung ließ die Geschäfte zum Teil durch deren Prokuristen liquidieren, bei einigen wurde ein Engländer dafür von ihr eingesetzt. Was an Vorrat da war, wurde teuer verkauft, das Geld kam zunächst gut, nachher spärlicher herein. Am 15. August 1915 waren wirklich sämtliche deutschen Firmen geschlossen, bis auf vier, darunter unsere; diese erhielten die Erlaubnis, bis zum 15. November des Jahres weiter zu liquidieren, mussten aber ihren Kassenbestand der englischen Regierung ausliefern, was später herein kam, natürlich auch. Es hieß, nach dem Kriege werde alles wieder ausbezahlt. Das glaube, wer kann und mag. Ich habe kein Vertrauen zu den Engländern und sehe auch keine Möglichkeit darin, wenn sie das ganze Mobiliar der geschlossenen Büros verkaufen und die Bücher verbrennen. Schon im Juli 1915 wurde das ganze Inventar aufgenommen und geschätzt, danach durfte kein Stück mehr umgestellt werden. Damals gelang es mir noch eben vor Toresschluss die persönlichen Wertpapiere sowie die von anderen Herren der Firma zu holen. Aus deutschen Kontoren sind sie entwendet worden. Als ich am 15. November 1915 vom Bombay fortreiste, hörte ich als letztes, dass unsere sowie eine andere Firma weitere Erlaubnis zum Liquidieren bis zum 15. Januar 1916 erhalten habe. Nun ist es endgültig aus. Die Angestellten tun mir auch Leid. Sie bekommen schon seit langem nur ihr halbes Gehalt; einer nach dem anderen wird entlassen, bekommt sehr schwer eine Stelle wieder. Sie waren ja in einer deutschen Firma tätig, werden deshalb allerorts wie räudige Tiere fort gestoßen.

Den aus England kommenden frisch gebackenen Territorials, die so neu aussahen, als ob sie eben aus Schachteln entnommen wären, wurde ein großer Empfang bereitet in Bombay. Sie wurden mit Musik empfangen und die Stadt hatte geflaggt. Alle sangen! Jeder in seiner Tonart! Schauerlich anzuhören! Und jeder ging auch zu seinem ihm persönlich bequemen Tritt. Trotzdem die große Trommel dauernd den Takt schlug und in jeder zweiten, dritten Reihe ein Unteroffizier „Left - right! Left - right!“ dirigierte, trippelte und stelzte alles durcheinander, was einen unglaublich komischen Eindruck machte. Desgleichen ihre Aufstellung. Groß und klein, dick und dünn, jung und alt, wie es traf, zusammen gestoppelt. Wir haben uns weidlich über sie belustigt und später auch oft über sie geärgert, wenn sie zu achten betrunken in einem Wagen lagen und lallten oder dem Kutscher die Zügel fortgerissen hatten und im wildesten Galopp auf dem Asphalt kreuz und quer durch die auseinander stiebenden Kinder fuhren. Manch ein kräftiges „Gott strafe England!“ ist ihnen da von uns nachgerufen worden. Auch nachts zogen oft kleine Truppen johlend und lärmend durch die Straßen. Es waren ja Territorials, die durften sich so etwas erlauben. Von uns wurden sie höhnisch „England´s last hope“ betitelt; und mit Stolz und Genugtuung dachten wir an unsere deutsche Disziplin und unsere lieben, tapferen deutschen Soldaten, bei denen so etwas nicht vorkommen kann. Sehr witzig wirkten auch die neuesten Volontiers. Sie übten in aufgekrempelten Hemdsärmeln. Dabei sah man jede gewünschte Schattierungen der Haut, vom hellsten Weiß bis zu dunkelsten Braun. Alles war herzlich willkommen.

Die verhältnismäßig wenigen Inder, die überhaupt vom Kriegsschauplatz zurückkehrten und verwundet waren, wurden wie Fürsten behandelt. Die extra für sie erbauten und eingerichteten Hospitäler waren mit allem möglichen Pomp versehen. Die Rajahs schickten Berge von Geld für ihre Versorgung und Verpflegung, außerdem erhalten sie von nun an lebenslängliche Pension. Verzogen werden sie von allen Seiten. Kurzum, „they are having the time of their life“ , wie der Engländer sagt. Für die zurückkommenden britischen Mannschaften und Offiziere wird lange nicht so gut gesorgt. Ein mir bekannter Schweizer, von dem ich ab und an einen selbst erlegten Sonntagsbraten geschickt bekam, war ein leidenschaftlicher Pantherjäger. Eines Tages hatte er Unglück. Der Panther erlag nicht sofort zu seiner Wunde und ging auf ihn los. Es entspann sich ein furchtbarer Zweikampf. Er endete mit dem Tode des Tieres und entsetzlichen Hieb- und Kratzwunden bei dem Schweizer, dem es noch eben vor seinem Zusammenbruch möglich war, seine Wunden mit einer auf Jagd stets mitgeführten Lösung zu desinfizieren; ganz dürfte dieses wohl nicht gelungen sein, denn er ist daraufhin verschiedentlich operiert worden und ist wochenlang im Hospital gewesen. Im Nebenbett lag ein englischer Offizier, der vom persischen Golf zurückkam. Ihm war das Rückgrat durchschossen und er wird wohl zeitlebens ein Krüppel bleiben und das Bett hüten müssen. Der Schweizer bedauerte diesen jungen Menschen sehr, sie unterhielten sich täglich miteinander und er ließ dem Unglücklichen manchmal Obst und Blumen zukommen. Eines Tages kam ein deutscher Pater, der damals noch im Bombay verweilen durfte, in das Krankenhaus. Er kannte den Schweizer und sprach ein paar Worte mit ihm. Kurze Zeit darauf, als der Schweizer das Hospital als Genesener verließ, wurde er unter dem Portal arretiert und zur Wache geführt. Der englische Offizier, vom Schweizer so sehr bemitleidet, hatte im Eifer des Gespräches vielleicht mehr über die englischen Stellungen am persischen Golf gesagt, als ihm später gut dünkte. Als er seinen Nachbarn deutsch sprechen hörte mit dem Pater, erfasste ihn die Angst und er denunzierte ihn bei der Polizei als deutschen Spion. Mit großer Mühe gelang es dem Schweizer Konsul den Herrn wieder frei zu bekommen, doch hat man ihn tatsächlich gezwungen, mit dem nächsten Dampfer in seine Heimat zu fahren und ihm erklärt, dass er erst nach dem Kriege nach Indien zurückkehren dürfe.

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Well furhnished Barracks in Belgaum

Uns Frauen in Bombay war seit mindestens einem Jahre bei jeder Gelegenheit nahe gelegt worden, ob es nicht für uns vielleicht besser sei, freiwillig nach Belgaum zu gehen, des guten Klimas, der Billigkeit und unserer eigenen Sicherheit wegen. In Bezug auf dieses auffällige Anerbieten nahmen wir, d. h. etwa zehn untereinander bekannte Damen mit Recht an, dass die Engländer lieber gesagt hätten, die Frauen sind aus freien Stücken in das Lager von Belgaum gegangen, als, wir haben sie dazu gezwungen. Wir nahmen uns vor, solange wir noch einen Pfennig zu verzehren hätten, in Bombay zu bleiben. Denn wer ginge wohl freiwillig in die Gefangenschaft? Und Geld hätten wir, so viel wir wollten, haben können von den Native-Händlern unserer Firmen. Sie hatten es uns alle angeboten. So blieben wir, trotz der in den Zeitungen gegen uns persönlich gerichteten Mord- und Brandartikel - bis am 30. Oktober der Befehl an jede Einzelne von uns erging, noch in der ersten Wochen des November 1915 nach Belgaum zu reisen. Ich war sehr krank gewesen, hatte dazumal noch eine Pflegerin und war unfähig zu jeder Anstrengung. Deshalb wurde mir allein erlaubt, bis zum 15. November in Bombay zu bleiben, zumal ich auf ärztliches Anraten eingekommen war, schon mit dem ersten Schub nach Deutschland gebracht zu werden, was auch zugestanden wurde. So bin ich also nicht eingesperrt gewesen. Doch erhielt ich einen geschmuggelten Brief meiner Freundin, dessen Inhalt mir eine zweite Dame bestätigte, die vier Tage in Belgaum war, um dann auch als Ausnahme mit dem ersten Dampfer heim zu fahren. Demnach ist es folgendermaßen zugegangen:

Die Reise nach Belgaum machten die Damen auf Regierungskosten in erster Klasse und sie verlief ganz angenehm. In Belgaum mussten alle Damen einem Nativen, den man sonst nicht einmal eines Blickes würdigen würde, ihr Ehrenwort geben, während des Krieges nichts gegen die Engländer zu unternehmen. Ein Ablehnen hätte die Abführung in eine Zelle zur Folge gehabt. Dann wurden sie in die in der Times of India als „well furnished“ gepriesenen Baracken geführt. Die Tür geht auf: ein großer schmutzige Raum, Spinnengewebe überall! Darin ein kleiner wackliger Tisch und ein Stuhl, auf den sich eine Dame ganz erschöpft niederlässt, um damit zusammenzubrechen! Alle sind sprachlos und sehen sich entgeistert an, worauf eine die Frage zu tun wagt: „Und Betten?“ Antwort: „Die kommen später!“ Sie sehen sich nun das Badezimmer an, in dem, sage und schreibe, nur eine leere Milch-Kiste steht, und setzen sich dann auf ihre Koffer. Abends spät erscheinen Eisenpritschen und Strohsäcke. „Unsere Soldaten haben es auch nicht besser, und die Hauptsache ist, dass es den Unseren zu Hause gut geht!“ Dieser Satz hat bewirkt, dass man sich wie in diese, so auch in viele, viele andere Lagen hineinfand. Anderen Tages sind dann die Damen in den Basar gefahren und haben sich für teures Geld Stühle, Waschtische, Schreibtische, Gardinen usw. gekauft. Mit ein paar Decken, Vasen und Gardinen versteht es eine deutsche Frau leicht, ein Zimmer wohnlich zu machen. Und so haben sich diese Damen auch einfach und nett eingerichtet, haben sogar den Raum durch Bambusmatten abgeteilt, so dass eine jede zwei Zimmer für sich hat. Sie essen die Government-Kost, die bis auf das Mittagessen ganz genießbar ist. Letzteres lassen sie sich von einem eigens gemieteten Koch herstellen, in dessen Kosten und Ausgaben sie sich teilen. Belgaum hat gesundes Klima, ist hübsch gelegen und die Damen können angenehme, wenn auch nur kurze Spaziergänge machen. Die schon im Anfang eines Krieges dorthin geschickten Frauen - auch aus Ostafrika sind viele dort - haben eine Schule und einen Kindergarten eingerichtet. Beide werden von den deutschen Kindern fleißig besucht.

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Heimreise auf der "Golconda“

Am 11. November 1915 erhielt ich früh morgens den Bescheid, meine Reise mit dem ersten Rückwanderer-Schiff sei genehmigt, ich habe am 15. früh nach Kalkutta zu fahren, und mich, dort angekommen, sofort aufs Schiff zu begeben, das voraussichtlich noch am 17. fahren werde. Diese Nachricht kam doch sehr überraschend, denn ich hatte schon alle Reisehoffnung aufgegeben. Zunächst musste ich meine Kinder von Matheran telegrafisch herbeibestellen und dieselben dann noch einzelnen für den Pass fotografieren lassen. Dabei erfuhr ich folgende kleine Genugtuung. Der Fotograf, ein Perser, redete mich zu meinem Erstaunen auf Deutsch an und erzählte mir: „Nach allem, was jetzt vorgegangen ist, hasse ich die Deutschen natürlich, aber ich habe drei Jahre in Heidelberg studiert, das war eine herrliche Zeit.“ Ich erlaubte mir etwas spöttisch zu sagen, es sei doch eigenartig, dass er nicht nach seiner Heimat England gegangen sei (die in Indien eingewanderten Perser reden immer von England als ihrem Lande), was ihn denn nach Deutschland getrieben hätte? Nach einer Verlegenheitspause erwiderte er, was ich nur hatte hören wollen: „Nun, Deutschland war schon immer seiner hervorragenden wissenschaftlichen Schulen und Universitäten wegen bekannt und allen anderen Staaten darin weit überlegen!“

Als ich am 12. auf der Polizei war, bat ich den Kommissar, einen ganz besonders netten, taktvollen und zuvorkommenden Engländer, dem sein Amt uns Deutschen gegenüber äußerst unangenehm war, da er eine der wenigen war, der keine Krämerseele hatte, mir doch einmal ehrlich zu sagen, warum wir deutschen Frauen jetzt auch interniert beziehungsweise repatriiert würden. Er antwortete mir, ich hätte doch wohl vor einiger Zeit in der Zeitung gelesen, was sich eine Deutsche im Kalkutta-Basar erlaubt habe. Sie hatte für ca. 50 Rupees Waren gekauft und zahlte mit einer englischen Fünf-Pfund-Note; darauf verließ sie den Laden. Der Verkäufer stürzte hinter ihr her und fragte, ob sie denn kein Geld wieder heraus haben wolle, worauf sie achselzuckend sagte: „Behalten Sie nur den Wisch, in einigen Monaten ist er keinen Pfifferling mehr wert.“ Dann steigt sie in ihren Wagen und fährt fort. Die Verblüfften erzählten den Herumgehenden und -stehenden, was passiert ist, es läuft ein enormer Volkshaufen zusammen und der ganze Basar ist für Tage in die größte Aufregung versetzt, und Ruhe und Besänftigung ist nur mit Mühe durch die Engländer wiederherzustellen. „Sehen Sie,“ sagte der Kommissar, „diese Tat imponiert mir über alle Maßen und ihr deutschen Frauen kommt fort, weil wir Engländer euch genauso viel zutrauen wie euren Männern!“ Ich erklärte ihm, dass ich seinen Ausspruch als großes Kompliment auffasse, und er wiederholte, dass das Gesagte seine Überzeugung sei. Daraufhin zog ich Erkundigungen ein über das auf die Golconda mitzunehmende Gepäck, als er mich frug, was ich mit meinen Möbeln gemacht hatte. Ich antwortete ihm, in dem und dem Geschäft untergestellt, woraufhin er sich abwendete und zu sich selbst sprechend sagte: “I wonder if they are safe.“ Dann laut zu mir gewendet: „Why not sell?“ Ich stutze etwas und erklärte ihm dann, warum ich sie behalten wolle, und die Angelegenheit wurde nicht weiter berührt. Wieder im Hotel zurück, mein Haushalt war seit dem 28. Oktober 1915 aufgelöst, ließ sich mir ein Deutscher melden, der für vier Tage Urlaub von Ahmednagar hatte, wegen eines geschäftlichen Prozesses in Bombay, bei dem seine Anwesenheit absolut notwendig war. Seine erste Frage war: „Wo haben Sie Ihre Möbel?“ Auf meine Gegenfrage: „Wieso?“ Erzählte er mir, dass er soeben vom Government käme, wo er die Bekanntmachung für den nächsten Donnerstag gelesen hätte. Darin stände, dass das Government alles Privateigentum der Deutschen in Beschlag nehmen werde, und fuhr fort, dass ich sofort verkaufen müsse. Ich war außer mir, an wen sollte ich in zwei Tagen meine Sachen verkaufen? Dazu kam noch, dass ich von dem Möbelhändler, bei dem die Sachen untergestellt waren, keinerlei Beglaubigung bekommen hatte, desgleichen auch nicht die Versicherungspolice, die er hatte besorgen wollen und um deretwegen ich schon dreimal zu ihm geschickt hatte. An eben diesem Tage ließ er mich wissen, dass er meine Sachen nicht zu behalten gedenke, es sei denn, dass ich einen schriftlichen Erlaubnisschein vom Kontrolleur vorzeige, dass dem nichts im Wege stehe. Der hatte also auch Lunte gerochen von der neuen Verordnung. Ich telefonierte sofort an unsere Firma und ließ mir die drei Vertrauensmänner kommen, die die Firma in Bombay mitgegründet hatten und jetzt mit dem Auflösen derselben betraut waren. Es sind Perser, gute Geschäftsleute, uns treu ergeben, außerdem sehr deutschfreundlich, wie die meisten Männer, die eine solche Stellung einnahmen. Binnen einer halben Stunde waren sie bei mir und wir kamen darin überein, dass mir einer derselben meine Sachen pro forma abkaufen solle. Vorsichtig geworden, ließ ich mich noch einmal beim Polizeikommissar melden, erklärte ihm, dass ich zufälliger Weise ein sehr gutes Angebot für meine Möbel erhalten habe und wohl Lust hätte, sie zu verkaufen. Er möge doch so freundlich sein und mir die Erlaubnis des Verkaufens schriftlich geben. Ich erhielt das Schreiben sofort und noch am selben Tage wanderten nach dem Vorzeigen meines Scheines die Möbel vom Händler zu der halbleer stehenden Wohnung des Persers, der mir die nötigen Papiere ob dieses Vertrages aushändigte. Ich war noch ganz benommen von allem, was auf mich herein stürzte, als sich die Tür auftat und drei meiner Freundinnen aus Belgaum erschienen (sie waren gerade vier Tage dort gewesen). Sie fuhren also auch mit der Golconda heim. 

Am 15. November 1915 gingen wir alle zusammen zum Bahnhof, wo wir zu unserer unangenehmen Überraschung nicht nur den Geheimpolizisten nebst zwei Assistenten vorfanden, die uns bis nach Kalkutta geleiten würden, sondern noch an die 20 Prostituierte aus Österreich, Polen und Galizien, an deren Spitze wir unserer Reise antraten. Kein Wunder, dass wir Bombay-Auswanderer-Frauen nachher in der Zeitung beschrieben wurden als: „Rather a mixed lot.“ Meine drei Freundinnen kamen samt ihren Kindern in ein Erste-Klasse-Coupe. Meine beiden Mädel, die Ajah, für die ich bezahlte, und ich mit einer Engländerin zusammen in ein anderes erster Klasse. Die Dirnen wurden 2. Klasse befördert. Alles auf Kosten der Regierung, auch was das Gepäck anbelangt. Nur die Mahlzeiten während der 46-stündigen Fahrt mussten wir selbst bestreiten. Der Polizeikommissar kam noch an die Bahn, um uns Adieu zu sagen, er versicherte mir immer wieder, wie leid es ihm täte, dass alles so gekommen wäre und bat, mich doch nach dem Kriege ja an ihn zu wenden, falls ich auf irgendwelche Schwierigkeiten betreffs meiner Sachen stoßen würde. Er würde stets gerne bereit sein, mir zu helfen. 

Und dann setzte sich der Zug in Bewegung. Ich dachte gar nicht daran, mich mit meiner Reisegefährtin zu unterhalten. Meine Kleine war jedoch anderer Meinung und durch sie wurde auch ich ins Gespräch gezogen mit meinem Gegenüber, das mich bis auf weiteres für eine Engländerin hielt. Einige Stunden später stieg eine Amerikanerin ein, unverkennbar an der Sprache. Sie redete sehr laut und unaufhörlich, war Ärztin und zweifellos Frauenrechtlerin und gewohnt öffentliche Reden zu halten. Sie fand bald heraus, dass ich eine Deutsche war, und es entspann sich nun ein lebhaftes Wortgefecht über den Krieg. Wie es uns Deutschen immer geht, so hatte auch ich hier gegen eine Übermacht zu kämpfen. Die Engländerin zählte zu den fanatischen Damen, wie man sie oft trifft. Sie begnügte sich mit einigen Zeitungsweisheiten, gelegentlichem höhnischen Achselzucken, kleinen, giftigen Stichen für mich und großer Bewunderung für die Amerikanerin, deren Ansicht sie stets zu teilen vorgab und der sie für jedes antideutsche Wort die Hand drückte und sich bedankte, was höchst albern wirkte. Ein viel gefährlicherer Gegner war die Amerikanerin. Sie war klug, alles, was sie sagte, hatte Hand und Fuß, und dann diese unglaubliche Redegewandtheit. Sie schrie im wahrsten Sinne des Wortes alles nieder. Verschnaufte sie ab und an einmal, ergriff ich das Wort und versuchte mit beredter Zunge die Sachlage von meinem deutschen Standpunkte aus klarzulegen. Ich hätte aber ebenso gut tauben Ohren predigen können. Nein, was habe ich alles hören müssen! In der Hauptsache drehte es sich natürlich darum, wer den Krieg auf dem Gewissen habe, und dann kam die Lusitania auf´s Tapet. Auch war sie empört über das in Amerika gesammelte und nach der Heimat geschickte Geld seitens der Deutschen und nie werde ich vergessen, wie sie vor mir stand und brüllte: „...and they eat our bread and our butter, and they are spies, all spies!“ Plötzlich rettete mich der sich stets bei mir bahnbrechende Humor. Die Situation kam mir auf einmal nur komisch vor. In die Ecke gedrückt die eingeschüchterten Kinder, dabei die Ajah mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, sprungbereit, ihrer Herrin zu Hilfe zu eilen, falls etwas passieren sollte. Gegenüber die höhnisch grienende Engländerin und vor mir die mit den Armen fuchtelnde, Gift und Galle spuckende Amerikanerin, vor Wut und Aufregung blau-rot im Gesicht. Wie gesagt, das alles überwältigte mich plötzlich so, dass ich in ein schallendes Gelächter ausbrach. Und was Worte nicht vermochten, mein Lachen tat es. Sie waren auf der Stelle still und sahen mich entgeistert an. Vielleicht haben sie mich für verrückt gehalten, aber das schadet nichts. Auf jeden Fall wurde von nun an nicht mehr politisiert. Die Beiden besahen sich nun noch zusammen ein amerikanisches Witzblatt und freuten sich über die englisch-freundlichen Geistesblitze. Bevor die Amerikanerin ausstieg, händigte sie mir das Blatt aus, sich entschuldigend, dass allerlei herausgeschnitten sei, aber in diesem Zustande erhielte sie jetzt alle ihre Zeitschriften. Das lässt also darauf schließen, dass die Blätter ursprünglich auch pro-deutsche Geschichten und Witze enthielten. Die Engländerin erreichte am nächsten Morgen das Ziel ihrer Reise. Von da ab hatte ich das Coupe ganz für mich. Beim Mittagessen im Speisewagen erzählte mir der Geheimpolizist, dass er meine Dreijährige beinahe verhaftet hätte in Matheran. Er sei dort im Walde spazieren gegangen, als sie ihm entgegengekommen sei, laut singend: „Deutschland, Deutschland über alles.“

Am nächsten Morgen kamen wir etwas übernächtigt und zerrüttelt in Kalkutta an, wo mich der Chef unserer dortigen Hauptfirma mit seiner Frau begrüßte. Sein Vater war naturalisierter Engländer, er selbst drüben geboren, somit Engländer, aber teilweise in Deutschland erzogen und sich in jeder Beziehung als Deutscher fühlend. Bei seiner Frau lagen die Verhältnisse ähnlich. Beide machten einen sehr betrübten Eindruck und ich erfuhr, dass sie ihres Lebens nicht sicher seien. Nicht als Voll-Engländer angesehen, vermute jeder in ihnen Spione, von allen Seiten werde Ihnen auf die Finger gesehen, und sie trauten sich kaum den Mund auf zu tun. Auch ein beneidenswerter Zustand! Vom Kalkutta-Bahnhof aus kamen wir auf einen Hugly-Tender, dgl. alles Gepäck. Für den Transport desselben war absolut nicht vorgesorgt. Die Straße am Fluss entlang war sehr schlammig und unsere Sachen befanden sich nachher in einem unglaublichen Zustand. Jedes einzelne Stück war scheinbar erst in den Schmutz geworfen worden. Hier auf dem Tender wurde unser aller Gepäck revidiert. Mir fiel auf, dass dabei dasjenige der Dirnen besonders scharf aufs Korn genommen wurde. Bei ihnen war die Untersuchung mehr als gründlich. Bei mir stürzte man sich auf meinen Schmuckkasten, entnahm ihm jedes einzelne Stück, behauptete ich habe zuviel und gab ihn mir nur nach langem Hin und Her zurück. Ich aber wurde vorsichtiger, besonders nach dem es hieß, die Golconda fahre zunächst nach London, wo wir eine noch schärfere Revision erwarteten. Im Lauf der Reise vernähte ich daher alles, was Geldwert hatte, in verschiedene Tierspielzeuge meiner Kleinen, die ich zur gegebenen Zeit ganz offenkundig oben in meine Handtasche legte - und trotz sechsfacher Untersuchung triumphierend mit in die Heimat brachte. Den meisten Frauen waren alle Schmucksachen schon in den Konzentrationslagern oder aber in der Station, wo sie herkamen, entwendet worden. Den Missionaren hatten sie sogar die Trauringe vom Finger nehmen wollen. Auf dem kleinen Dampfer war ein Deutsch-Schweitzer, dem es erlaubt vor, eine Dame auf der Golconda zu sprechen. Ich kannte ihn von meinem früheren Aufenthalt in Kalkutta her, und er sagte zu mir: „Gnädige Frau sehen Sie zuversichtlich in die Welt, ich versichere Sie, dass ich noch nie so viel Tränen habe weinen sehen, als auf der Golconda. Die Art und Weise, wie sie alle untergebracht sind, ist aber auch alles andere als schön und nett.“ Ich hatte noch Government´s gedruckte Aussagen im Ohr, die mir der Bombay-Polizeikommissar vorgelesen hatte und die ungefähr so lautete: „Alle deutschen Frauen werden erster Klasse und standesgemäß in die Heimat befördert und mit Frauen aus der gleichen Gesellschaftsklasse in Kabinen untergebracht usw.“ Außerdem hatte der Kommissar mir auch versprochen, dass, wenn ich von Bombay fort käme, er persönlich dafür Sorge tragen wolle, dass ich vielleicht eine Kabine für mich und die Kinder allein haben sollte. Ich glaubte daher, auf eine Kabine erster Klasse rechnen zu dürfen, ohne jedoch dabei in Erwägung gezogen zu haben, dass meine Reise von Simla aus angeordnet war, wo man mich nicht kannte und ich außerdem sozusagen Lückenbüßer spielte, indem ich erst im letzten Augenblick, als irgendjemand krank wurde oder sonst wie nicht reisen konnte, eingeschoben wurde. Deshalb antwortete ich dem Herrn, ich könne mir zwar denken, dass wir nicht wie Fürsten untergebracht würden, aber es werde schon nicht so schlimm sein. Es war aber doch schlimm. Als erstes wurde mir mitgeteilt, dass ich trotz meines ärztlichen Attestes meine Ajah nicht bis England mitnehmen können, da kein Platz für sie an Bord sei. Das war für mich ein tüchtiger Schlag, denn ich war damals noch so schwach, dass ich mein Baby keine fünf Minuten tragen konnte, geschweige denn Treppen hätte hinaufbringen können, da ich meine beiden Hände selbst gebrauchte, um mich mühselig hinaufzuziehen. Der Schreck saß mir noch in den Gliedern, als ich eine lange, steile Holzleiter hinuntergeleitet wurde. Zunächst in eine Art Gepäckraum, zu meiner Kabine hin, die, sage und schreibe, im Zwischendeck des Vorderschiffes war. Ein Vorhang wurde beiseite geschoben und ich sehe zwei Männer, zwei Frauen und zwei Kinder in einem winzigen Zimmerchen mit acht Betten. Die Männer erheben sich bei meinem Eintritt und erklären mir, dass sie ihre Familien hier wohnen haben und infolgedessen häufig hereingekommen werden, wogegen ich hoffentlich nichts einzuwenden hätte. Eine der Frauen unterrichtete mich, welche Betten mir zur Verfügung stünden. Daraufhin wurde ich mit der Ajah alleingelassen. Ich war so überwältigt von alledem, dass ich mich auf ein kleines Holzbänkchen setzte und weinte. Wer hatte denn die erste Klassekabinen inne? Nachher stellte sich heraus, dass die Jesuiten und die katholischen Schwestern, sowie einige wenige, die es durch Konnektionen erreicht hatten, die Bevorzugten waren. Im übrigen hatten sie noch weniger Platz als wir, da anstatt der üblichen zwei Betten jetzt in jede Kabine noch vier weitere hinein gebaut waren. Immerhin hatten diese Kabinen natürlich die weitaus angenehmste Lage. Doch lernte ich mich mit der Zeit auch an meine gewöhnen, es war noch lange nicht die schlechteste; und die Leute, mit denen ich zusammen war, waren, wenn auch einfach, so doch taktvoll und hilfsbereit; es ließ sich gut mit ihnen auskommen. Zunächst aber fühlte ich mich doch sehr unbehaglich. Die Kinderfrau begriff auch nicht, wie ich in diese Umgebung kam und fragte ganz ängstlich, was denn dieses alles zu bedeuten habe. Darüber nachzudenken war keine Zeit, es hieß, sich um das Gepäck zu kümmern. Das war leichter gesagt als getan. Das Gedränge an Bord war unbeschreiblich und man konnte nirgends eine europäische Oberaufsicht bemerken. Was man zufällig von seinem Gepäck erwischte, konnte man einigermaßen dirigieren, alles andere wurde in den Laderaum geworfen; dünne Hutschachteln und schwerste Koffer, alles durcheinander, wie es gerade kam. Manch einer, der im Laufe der Reise in den Raum stieg, fand nur Trümmer seiner Sachen wieder. Die dicksten Kisten waren geborsten, der zerstreut herumliegende Inhalt zum größten Teil gebrauchsunfähig geworden. An Wasserschäden hatten wir etliche zu verzeichnen. Das Gepäck endlich besorgt, hieß es, eine Flasche für das Kind zu machen, wozu gekochtes Wasser nötig war - an und für sich etwas so leicht Erhältliches; auf dem Schiffe war ein erbitterter Kampf darum, während der ganzen Reise. Wer das gelbe, muddige Wasser gesehen hat, das selbst nach dem angeblichen Kochen unklar aussah, kann die Sorge verstehen, die wir Mütter hatten. Es hieß, der Satz sei Rost vom Tank und nicht gesundheitsschädlich. Vom wirklichen Aufkochen des Wassers durften wir uns selbst nicht überzeugen, selbst Bitten und Bestechung halfen nichts. Es war ein sich täglich mehrere Male wiederholender Kampf. Gott sei Dank hatten die meisten Mütter kondensierte Milch und sterilisierte Milch für die Kinder mitgenommen, obgleich es hieß, es sei unnötig - auf dem Schiffe sei alles zu bekommen. Das war keineswegs der Fall. Die Mahlzeiten der kleinen Kinder spotteten überhaupt aller Beschreibung. Sie bestanden fast ausschließlich aus ausgebranntem Porridge, trockenen Kartoffeln, trockenem Fleisch und heißem Curry. Zu trinken gab es blaue Wassermilch, schwarzen, bitteren Tee und schmutziges Wasser. Dank der beredten Fürsprache des Schweizer Herren, wurde es mir doch noch gestattet, die Ajah bis England mitzunehmen, eine immerhin große, große Hilfe für mich. Gegessen habe ich in den ersten Tagen kaum etwas, es gab so viel zu tun, dabei die stets zu erklimmenden Treppen für mich. Mir kam erst so recht zu Bewusstsein, wie schwach ich noch war, meine Beine trugen mich oft nicht mehr und ich sank um 7:30 abends wie ein Klotz ins Bett. Meine drei Freundinnen aus Bombay waren in derselben Weise untergebracht wie ich. Wir sahen uns zunächst nur von weitem irgendwo herumschleichen, meist eine da Thermosflasche oder eine Milchdose in der Hand. Die Blicke die wir uns zuwarfen, ließen uns unsere Gedanken erraten.

Am 18. November 1915 ging die Reise los. Wir brauchten vier gute Tage bis Madras. Erst einmal auf See, wurde alles etwas ruhiger. Ein jeder tat sein Bestes, sich einzuleben und sich zu gewöhnen. Wir von Bombay bildeten auf Deck eine Ecke mit unseren mitgebrachten Stühlen und suchten uns dann nachgerade auch einen Platz im sogenannten Speisesaal erster Klasse. Die See war leicht bewegt, trotzdem schaukelte unser Kasten sehr, woran man sich erst gewöhnen musste. In den ersten Tagen bestürmte jeder den Ersten Offizier. Auf ihn entlud sich der Unmut aller, jeder erwartete von ihm eine Besserung seiner persönlichen Lage. Der Mann, der natürlich gar nichts tun konnte, und nur die Befehle seine Regierung anerkennen musste, zeigte sich zunächst sehr kurz angebunden und hat viele mit seinen Antworten vor den Kopf gestoßen. Ich meine aber, man tut Unrecht, schlecht von ihm zu sprechen, denn er entpuppte sich als rührender Kinderfreund, und hat sich verschiedentlich als wohlwollender und taktvoller Mensch gezeigt. Er war streng im Dienst, ließ nicht mit sich spaßen und man hatte alles in allem das Gefühl, einen sehr tüchtigen Menschen vor sich zu haben. Von des Kapitäns Tun und Treiben merkte man nicht viel; er machte einen etwas nichtigen Eindruck, war still und gutmütig. Der Zweite Offizier war mir höchst unsympathisch; obgleich ich selbst nie mit ihm gesprochen habe, so beobachtete und überhörte ich doch manches Gespräch. Er besaß nicht die Spur von Takt und fuhr einem jeden der Passagiere über den Mund, der ihn um etwas fragte. Er stichelte, wo er nur konnte und seinem Hass gegen uns gab er stets Ausdruck. Die übrigen Offiziere und Maschinisten waren sehr nett. Zur Bewachung hatten wir auch einige Territorials, ca. 20 bis 30 Mann, an Bord, was sich zum Teil als ganz zweckmäßig erwies. So z. B. eben vor Ankunft, und auch im Hafen von Madras selber. Die ursprüngliche Native-Mannschaft der Golconda hatte bereits in Kalkutta von der bevorstehenden Einreise des Schiffes gehört und war fortgelaufen. So hatte im letzten Moment alles genommen werden müssen, dessen man hatte habhaft werden können. Der jetzigen Mannschaft schien auch nicht alles zu behagen. Sie forderten, in Madras an Land gehen zu können, was nicht gestattet wurde, worauf sich die Schwarzen auf den Ersten Offizier stürzten, auf dessen Pfiff die Territorials mit geladenen Gewehren herbei eilten und wieder Ruhe herstellten, gleichzeitig alle Ausgänge des Schiffes bewachend. Passiert ist dabei nicht viel. Der Offizier hatte einen Biss im Finger aufzuweisen, ein Schwarzer seinerseits einen ausgestoßenen Zahn. Sehr angenehm war dieses Gefühl der Uneinigkeit unter der Mannschaft nicht für uns. Im Laufe der Reise passierten auch noch allerlei Disziplinlosigkeiten, die uns die Köpfe schütteln ließen.

Es war uns eine Genugtuung und interessierte uns sehr, den von der Emden zerschossenen Öltank zu sehen. Auch stürzten wir uns auf die Zeitungen, die von den hier an Bord kommenden Deutschen mitgebracht wurden. An Land durften wir leider nicht. Die Madras-Engländer hassten uns wie die Sünde ob der Emden, man sah es allen herumstehenden Polizisten an und die neu Angekommenen wussten uns viel davon zu erzählen. Auch jetzt sah die Golconda wieder manche Träne, die wir den Frauen gut nachempfinden konnten. Wir versuchten, sie zu trösten, was auch nach und nach gelang. Ändern konnten wir nichts und mussten uns, und zwar mit möglichst viel Würde, in das Unvermeidliche schicken. Es ging ja auch der geliebten Heimat zu, das raffte uns immer wieder auf. Jeder Tag brachte uns dem Ziele näher. War es uns zunächst angenehm, dass das Schiff wieder still stand, so freuten wir uns doch, als es wieder losging. Das Einladen, der Trubel, das Gedränge und Geschrei an Bord, wenn der Dampfer still lag, war doch grässlich.

Postcard
GOLCONDA
Built in 1888 by William Doxford & Sons,Sunderland.
Tonnage: 6,037g, 3,960n, 6,000dwt.
Engine: Triple Expansion by Builder, 4,360 I.H.P., 13 Knots.
Launched 8th February 1887,
Completed September 1888, Yard No 166.

Golconda 1887 - 1915 became Indian Government transport, 1916 sunk by mine in North Sea, 19 lives lost.

Unser nächstes Ziel war Kapstadt – in ca. 24 Tagen zu erreichen. In Südindien ist der Monsun später als im Norden, wir bekamen noch die Ausläufer desselben mit. Die See war fast immer bewegt, wenn auch nicht stark. Viel ärger aber war der Regen. Denn wo sollten wir mit 625 Personen hin, wenn nicht auf Deck, wo in zwei Reihen hintereinander dicht an dicht die Stühle standen, zwischen beiden konnte sich gerade ein Mensch durchquetschen. Wie oft haben wir gedacht, bricht Feuer aus oder sonst etwas, so ist Rettung unmöglich. Wir waren eingepfercht wie die Heringe. 625 Passagiere, darunter 165 Kinder, auf einem Dampfer, der in Friedenszeiten 50 Personen erster und 50 Personen zweiter Klasse beförderte. Ein Zimmer stand uns nicht zur Verfügung, wo wir uns hätten aufhalten können. Im Speisesaal wurde dauernd gedeckt, gespeist und wieder abgedeckt, da wir jede Mahlzeit in zwei Trupps nacheinander einnehmen mussten. In den Kabinen konnte man sich nicht rühren, da blieb nur noch ein winziges Durchgangszimmer, von dem aus die Treppen hinunter führten, es hatte an allen Seiten Türen und war entsetzlich zugig. In ihm stand auch das Klavier, das von morgens früh bis abends spät malträtiert wurde. Selten nur wurde wirklich gut darauf gespielt. Ganz schlimm war`s, wenn der Kasten von einigen der Territorials bearbeitet wurde. Hier also stand man eingepfercht, wenn es regnete.

Fast niemand war bei diesem Wetter ohne Erkältung. Der Husten der Kinder vor allen Dingen spottete jeglicher Beschreibung. Nachts konnte man nicht schlafen wegen des fortwährenden Hustens. Durch die dünnen Bretterwände hörte man jeden Laut. Ein abgedankter englischer Militär-Arzt war zwar an Bord, hatte aber anscheinend wenig Medizin, denn selbst für die schlimmsten Erkältungen konnte man nichts bekommen.

Mein Mädel hatte es auch tüchtig gepackt, drei Tage hatte sie Fieber dabei und ich war in großer Sorge. Als die Temperatur wieder normal war und die Erkältung abnahm, legte sich das Baby mit Zahn-Fieber. Sie hatte sehr früh zu zahnen begonnen, immer etliche auf einmal bekommen und stets erhöhte Temperatur dabei gehabt. Jetzt aber war das Fieber sehr hoch, dazu stellte sich noch Durchfall ein. Beides hielt der Arzt für nichts Beunruhigendes. Medizin sei schädlich für Kinder, ich solle das Fieber nicht messen, dann rege ich mich nicht auf. Das Kind sehe blühend aus, ich solle mich darüber freuen. Dabei sah ich, wie das Kind von Tag zu Tag verfiel. Händeringend bat ich den Arzt täglich dreimal um Arznei. Ich erhielt nichts als eine Dosis Öl und den Bescheid, die Nahrung auf die Hälfte herab zu setzen. Am dritten Tage kam wirklich ein Zahn durch, doch schien auch noch ein Backenzahn ankommen zu wollen. Das Kind konnte gar keinen Schlaf finden. Am 5. Tage erhielt ich endlich etwas Brandy mit Wasser und Zucker vermischt. Die Blutzirkulation war auch schlecht. Die Nacht verlief zunächst unruhig, dann kam leichter Schlaf. Aber morgens erschrak ich über das Aussehen des Kindes. Ich stürzte zum Arzt, der mir nichts anderes sagte als: „I am afraid it will all be over soon.“ Das Herzchen wollte nicht mehr, da half dann auch keine Kampfereinspritzung. Mein kleiner Liebling verschied in meinen Armen. Mein gesundes, kräftiges Kind, während des Krieges geboren, im Gefangenenlager getauft, sollte seine deutsche Heimat nicht mehr erreichen. Noch am selben Tage wurde der kleine Leichnam in der Nähe von Mauritius ins Meer versenkt. Die Canvas-Hülle deckte als einziger Schmuck eine schwarz-weiß-rote Fahne. Das Schiff hielt und einer der Missionare hielt eine hübsche Ansprache und dann war alles vorbei. Über alles Nähere will ich schweigen, nur noch sagen, wie lieb meine Freundinnen zu mir waren, und dass mir der Kapitän erlaubte, die nächsten drei Tage auf seiner Brücke zu sitzen, wo es doch einigermaßen ruhig war. Dann ging’s zurück ins Getriebe.

Zwei Tage vor Kapstadt wurde noch ein zweites Kind das Opfer der Reise. Nachts darauf gerieten wir in die Ausläufer eines starken Taifuns. Wir hatten Windstärke 9, das Ärgste dem unser Schiff gewachsen war. Es war ein Höllenlärm. Die ganzen Deckstühle segelten durcheinander und schlugen zum Teil kurz und klein. In der Kabine wanderte alles hin und her. Gläser und Karaffen fielen aus den Holzrahmen, Koffer rutschten und polterten, man hörte dauernd das Geklirr von fallendem Geschirr, kurz, es war ein Ächzen und Tosen sondergleichen. Der Kapitän erklärte mir, dass wir ärgerem Wetter nicht standhalten könnten. Wenn wir es vermuteten, müssten wir ihm durch Kurswechsel zu entkommen suchen, sonst würden die ganzen Aufbauten das Vorder- und Hinterdecks über Bord gespült werden. Eine sehr vertrauensvoll wirkende Mitteilung!

Am 12. Dezember 1915 morgens kamen wir eben vor Kapstadt in den dicksten Nebel. Das Nebelhorn ertönte alle Augenblicke, und schließlich stoppten wir ab, da man nicht wusste, wo wir uns befanden. Nach vier Stunden zerteilte sich der Nebel. Wir hatten uns doch etwas verfahren, denn wir wendeten kreuz und quer und liefen schließlich bei strahlendem Sonnenschein in Kapstadt ein, das entzückend am Fuße des Tafelbergs liegt. Hier lagen wir zwei Tage und zwei Nächte, fast dauernd Kohle einnehmend. Von uns durch einen Quai entfernt lag ein englisches Kriegsschiff, auf dem stets reges Leben herrschte. Am ersten Abend sollen die Offiziere desselben unser Schiff mit Stinkbomben beworfen haben. Ich hatte schon geschlafen, als alle hustend und scheltend ihre Lagerstätten aufsuchten. Unser Erster Offizier hätte etwas verstört erklärt, es sei Curry-Pulver aufs Feuer gefallen. Allerdings nicht sehr glaubwürdig!

Wir hatten eine Engländerin an Bord, die Frau eines deutschen Konsuls. Ihre Mutter war in Kapstadt. Sie hatten sich einige Jahre nicht gesehen und versuchten jetzt von beiden Seiten die Erlaubnis einer Unterredung zu erhalten. Die wurde zwar nach langem Hin und Her gestattet, jedoch nicht etwa unter vier Augen, sondern die eine auf dem Schiffe, die andere auf dem Quai stehend. Jede zwischen zwei Soldaten postiert. Von Bord durfte niemand, trotzdem der Schiffsarzt darum eingekommen war, uns wenigstens eine Stunde am Tage, wenn auch unter Bewachung, eine Straße auf- und abgehen zu lassen, da es der allgemeinen Gesundheit wegen absolut erforderlich sei. Nein! Die Behörden selbst hätten gar nichts dagegen, hätten von sich aus auch erlaubt, dass wir uns die Stadt besehen, aber sie hatten strikten Befehl von England her erhalten, es nicht zu gestatten. Hier erfuhren wir auch, dass wir nichts würden waschen lassen können bis ans Ende der Reise, also im ganzen acht Wochen, d. h. auf einem überfüllten, schmutzigen Schiff mehr als auf dem Lande, noch dazu wenn man sich sechs Wochen davon in der heißen Zone befindet. Bei uns Erwachsenen ging es noch, aber bei den Kindern! Wenn man noch wenigstens genügend Wasser bekommen hätte, um sich selber Sachen auswaschen zu können. Nach langem Betteln bekam man aber höchstens einen halben Liter kalten Wassers, was in den meisten Fällen nicht einmal zum Windelnwaschen der Babys genügte. Diese Zustände veranlassten die Offiziere Ladenverkäufer mit unzähligen Sachen an Bord kommen zu lassen. Was sie brachten, war meist Schund. Ich glaube, die Leute gehen von dem Standpunkt aus, dass für die Deutschen alles gut genug wäre. Dessen ungeachtet war alles unverschämt teuer. Was alles verkauft wurde, kann man nicht aufzählen, am meisten aber sicherlich warme Schals, da wir begannen, uns vor der ungewohnten Kälte zu fürchten, billige Gummi-Kragen für die Herren und Stapel von Taschentüchern zum Wegwerfen nach dem Gebrauch.

Probeweise wurden hier sechs unserer Rettungsboote (davon wir hatten 15) heruntergelassen. Es beruhigte uns, zu sehen, dass sie schwimmen konnten. Das wieder Wieder-Hinaufwinden derselben hat uns sehr amüsiert. An einem Ende zog die Native-Mannschaft, an dem anderen zogen die Territorials, die jedes Mal den Kürzeren zogen, indem die von ihnen hinaufzuwindende Hälfte des Bootes viel später oben war als die der Schwarzen. Beim letzten Boot fassten übermütig noch ein paar Missionare mit an und verhalfen den Weißen zu einem schnellen Siege. Wir Passagiere haben herzlich darüber gelacht, die Engländer aber bissen sich ärgerlich auf die Lippen.

Sehr verdient machte sich der Erste Offizier. Er wusste, was uns Deutschen Weihnachten ist, und hatte für Geschenke der Kinder gesammelt. Es war eine beträchtliche Summe zusammengekommen, und da Frauen zum Einkauf der Geschenke nicht an Land durften, übernahm er als Junggeselle die Besorgung der Spielsachen für 165 Kinder. Wieder auf hoher See, Sankt Helena zu, feierten wir Weihnachten. Nachmittags fand eine kleine Kasper-Vorstellung für die Kinder statt, bei der man sich mehr für den guten Willen als die Tat erkenntlich zeigen musste. Auch führten die Tommies ein wunderbares, selbst fabriziertes Stück auf, bei dem sie selbst sich entschieden am besten amüsierten. Sie bekamen zur Anerkennung einige Zigaretten. Zum Dank dafür sangen sie abends mehr oder weniger betrunken ein Lied, dessen Chorus stets „The Germans are a bloody lot.“ lautete. Nach dem Abendessen der Kinder zogen dieselben zwei und zwei Weihnachtslieder singend um das ganze Deck. Einer der Missionare hielt eine kleine Ansprache, worauf der Weihnachtsmann erschien, in dem keines der Kinder den Ersten Offizier erkannte. Er sagte, was mir besonders gut gefiel, dass er von Deutschland komme, wo man ihm von dem Kommen der Kinder auf dem Schiffe erzählt habe. So habe er den langen Weg gemacht, um auch ihnen etwas zu bringen usw. Ein Vorhang wurde zurückgeschlagen, ein schön geschmückter, strahlender Baum entzückte die Kinder und jedem einzelnen händigte der Weihnachtmann die selbst eingekauften Geschenke aus. Wie fein er beobachtete und wie gut er die Kinder verstand, geht daraus hervor, dass fast jedes Kind seinen Lieblingswunsch erfüllt sah. Außerdem gab es kleine Tüten mit Gebäck, Schokolade, Nüssen und Apfelsinen.

Das Essen war in den Weihnachtstagen auch erträglich. Nachher wieder genau so schauderhaft wie zum Anfang. Oxtail-Suppe mit Zwiebeln und Oxtail-Stew mit Zwiebeln, Tag für Tag. Vorher konnte man die Speisen schon auf dem Hinterdeck liegen sehen, schmutziges Wasser rieselte dazwischen und die Native-Köche und -Gehilfen liefen durch sie hin. Hammel hatten wir auch ca. 50 an Bord, sie standen neben der großen Gepäck-Luke, durch die wir die Luft in unsere Zwischendeck-Kabinen erhielten. Wie man sich denken kann, war die erhältliche Luft-Brise manchmal geradezu fürchterlich. Nach und nach wurden die Tiere dann vor unseren Augen geschlachtet und im abgefellten Zustand, ohne bedeckt zu werden, wahrscheinlich um appetitreizend zu wirken, über das so genannte Promenadendeck zwischen den beiden Stuhlreihen spazieren geführt.

Was das schlechte Essen anbetrifft, so war das jedoch nicht Schuld der Regierung, sondern unseres Head-Stewards - einem ganz besonders unsympathischen, unverschämten und schmutzigen Menschen. Sah ich doch mit eigenen Augen, dass nicht nur die Gehilfen, sondern er selbst, uns Fleisch und Kartoffeln mit der Hand auf die Teller warf. Angeblich bekam der Mann pro Kopf 3 Schilling den Tag Verpflegungskosten für uns, dafür hätte man fürstlich essen können. Er hat also einen ganz gehörigen Profit dabei gemacht, was auch aus einer seiner Bemerkungen hervorging, dass er sich nämlich für die paar Wochen, die er England sein würde, ein Automobil anschaffen werde. Oxtail ist das billigste, was man auf dem indischen Markt erhalten kann. Ich weiß nicht, wie die Fische hießen, die wir die wir zu essen bekamen, habe sie aber gesehen, sie waren ca. einen Meter lang. In Bombay sah man die Kulis oft damit herumschleppen. Sie wurden aber nur von Natives gegessen.

Ich erwähnte bereits, dass wir vor Kapstadt eine Sturmnacht hatten, in der sehr viel Geschirr entzwei ging. Ersetzt wurde gar nichts. Am Schluss teilten sich 10 Personen ein Glas, 21 Personen eine Tasse - die meisten ohne Henkel. Eine der ungemütlichsten Zeiten war die Tee-Stunde, wo man oft mit Fünfen hintereinander „queue“ stand, um eine Tasse, die man dann selbst in braunem Wasser ausspülte und mit einem schmutzigen Tischtuch abwischen durfte. In unserer Kabine, wo wir mit Achten hausten, war schließlich noch ein Zahnglas, was zu den verschiedenen Mahlzeiten noch auf den Esstisch gebracht wurde. Unzureichend waren auch die Bade-Verhältnisse; sehr unsympathisch war es uns, das Bad mit den Dirnen abwechselnd benutzen zu müssen. Diese Mädchen benahmen sich im Großen und Ganzen taktvoll und von uns sonderten sie sich nach Möglichkeit ab, doch lockten sie manchmal die Kinder zu sich und küssten sie.

Silvester wurde nur von sehr wenigen Passagieren gefeiert, die meisten wollten ins neue Jahr hineinschlafen, doch ist es nicht vielen gelungen, da die betrunkene Mannschaft (Native) und die Tommies einen furchtbaren Skandal machten. Um die Jahreswende liefen wir Sankt Helena an. Wie entsetzlich einsam diese historische Insel da liegt! Ein Grauen packt einen bei dem Gedanken, dort verbannt sein zu müssen. Napoleons Aufenthaltsort Longview kam, da wir fast rund um die Insel fuhren, immer wieder zwischen den Bergformen in Sicht. Der "freundliche" Zweite Offizier erklärte triumphierend, dass alles zum Empfang des deutschen Kaisers fertig gerichtet sei! Hier, wo von verschiedenen Bergspitzen dräuende Kanonen auf uns nieder sahen, lagen wir ca. 18 Stunden, um bei herrlichem Wetter und spiegelglatter See nach Gibraltar weiter zu fahren. Bei den Kanarischen Inseln fing es an kalt zu werden, was wir sehr empfanden. Eisig wurde es besonders in der darauf folgenden Woche in den Kabinen des Zwischendecks. Heizung gab es natürlich keine, dabei zog es sehr durch die dünnen Bretterwände, die außerdem oben Luftlöcher zum Innenraum hin hatten. Da die große Luke des Lagerraums oben uns Luft zuführen musste und ein durch und durch gehender Wind hineinwehte, so war ich mit meinem oberen Bett böse dran. Trotzdem ich die Löcher zum Teil mit Kissen ausgestopft hatte, konnte ich doch nachts nicht schlafen wegen des eisigen Zuges auf den Kopf, vor dem ich mich schon durch eine Wollmütze und Tücher zu schützen versucht hatte. Die Ratten machten sich jetzt auch mausig, eine bis zwei waren nachts immer in der Kabine, knabberten Sachen an, verschmutzten andere, zischten, fauchten und jagten sich. Auch daran gewöhnt man sich. Das Ziel der Reise winkte.

Oben vor Gibraltar sahen wir den ersten Streifen der europäischen Küste. Hier war das Wetter äußerst rau und im Hafen vor Anker wurde uns erzählt, dass ein großes Unwetter im Golf von Biscaya gewütet habe, so dass viele Schiffe die doppelte Reisezeit von England hierher gebraucht hätten. An den Quais war viel Militär. Nur mit der größten Schwierigkeit schmuggelten uns Arbeiter eine Zeitung an Bord. Wir zählten ca. 20 herumflitzende Torpedoboote und sahen außer vielen neutralen Schiffen einen französischen Kreuzer und ein Hospitalschiff. Endlich etwas Leben! Bis dahin hatten wir auf unserer langen Reise drei ganze Dampfer gesehen. Auch hier begrüßten uns Kanonenrohre von den Bergen herab, und wieder hielten wir ca. 18 Stunden. Glücklicherweise konnten wir die Ruhe nach dem gewesenen Sturme im Golf genießen. Wir durchquerten ihn nicht, sondern fuhren im spitzen Winkel nach Westen, von dort auf die nordöstlichste Spitze Frankreichs zu. Es war doch zunächst ein eigenartiges Gefühl, im Ärmel-Kanal, mit anderen Worten in der Kriegsszene zu sein. Zumal wir deutlich den Kanonen-Donner von Ypern hören konnten und jeder den Befehl erhielt, die Rettungsgürtel anzuprobieren, und stets in Bereitschaft zu halten. Nachdem wir uns aber ziemlich klar waren, dass wir im Falle der Not doch nicht würden gerettet werden können, waren wir sehr ruhig und stellten unsere Sache Gott anheim. Wollten die Engländer uns überhaupt retten? Es schien unwahrscheinlich, denn sonst verstehe ich nicht, warum die meisten vom Vorder-Schiff sich bei den Rettungsbooten des Achter-Schiffs einzufinden hatten und umgekehrt. Es ging dabei auch nicht etwa kabinenweise oder nach dem Alphabet, sondern scheinbar, wie das Los eingetroffen hatte. Es wäre ein unbeschreibliches Durcheinander entstanden, aber Gott sei Dank passierten wir sicher alle Fährnisse. Ich sah zum ersten Mal Kanonenboote mit flachem Kiel, die zur Beschießung von Küsten benützt werden. Von der französischen Küste nahmen wir genau Kurs Richtung Southhampton und fuhren dann längs der englischen Küste, dort ungezählten Patrouillenbooten begegnend. Eben vor Dover sahen wir das erste Wrack, etwas weiter hinauf das zweite auf einer Sandbank, das dritte in Doal, wo wir vor Anker gingen, da wir telegrafischen Bescheid erhalten hatten, dass Gefahr im Anzuge sei, welcher Art, wurde uns zunächst nicht mitgeteilt. Eine Unmenge Dampfer aller Herren Länder, besonders der neutralen, waren hier gleich uns angehalten worden. Wir lagen zwei Tage und zwei Nächte fest. Nachts wurde alles abgeblendet und wir erfuhren, dass in der Themse-Mündung ein Schiff auf eine Mine gelaufen sei, ob auf eine deutsche oder eine losgerissene englische, wusste man nicht. Nachdem Minensucher die Bahn abgefahren hatten, setzte sich eine endlose Kolonne Schiffe in Bewegung. Wir unter ihnen.

Der zweite Maschinist trat auf mich zu und meinte, ich müsste doch zugeben, dass der Schiffs- und Handelsverkehr hier ein gewaltiger sei. Das konnte ich nicht leugnen, doch dämpfte ich seinen Stolz etwas, indem ich ihn darauf aufmerksam machte, dass alle Schiffe hier seit Tagen aufgehalten worden seien wegen der Minengefahr. Daraufhin bat er mich ganz ernsthaft, ich möchte ihm doch mal ganz ehrlich sagen, warum wir Deutschen nicht mit unserer Flotte herausrückten. Ich habe ihm erklärt, dass auch nur ein Engländer so dumm fragen könne. Zunächst seien wir es doch, die bis jetzt den größten Erfolg der Untersee- und Torpedoboote gehabt hätten. Als Engländer wisse er ja auch besser als ich, dass die deutsche Flotte ein Kinderspiel sei im Vergleich zu der englischen. Warum sollten auch wir immer nur die Angreifer sein? Wo wäre denn die stets so gepriesene British Navy? Sie soll doch zu uns kommen, aber sie hätte sich wohl versteckt im Norden Schottlands oder der Krischen-See und es solle mich nicht Wunder nehmen, wenn sie ihre neuesten Dreadnoughts in die Museen stellten, um nach dem Kriege noch mit ihrem Vorhandensein zu protzen. Er meinte, ich solle nur nicht sarkastisch werden, doch erwiderte ich ihm, dass er mich dann gefälligst auch nicht dazu herausfordern sollte. In der Zwischenzeit sagte einer der schwarzen Bedienten (sie haben enorm zu tun gehabt und waren uns gegenüber stets willig und hilfsbereit) zu einem mir bekannten Herren: „Sahib, wo gehst du nun hin?“ „Nach Deutschland!“ „Und was tust du da?“ „Ich schließe!“ „Auf die Engländer?“ „Ja!“ „Oh, Sahib, das ist recht! Wenn du einmal den deutschen Rajah siehst, sagt ihm doch, wenn er uns Waffen schickte, so gingen wir auch alle mit ihm gegen die Engländer!“

Um die Mittagszeit des 12. Januar 1916 erreichten wir die Tilbury Docks bei London. Hier erhielten wir unsere bis dahin vom Kapitän in Gewahrsam gehabten Pässe zurück. Gegen Abend erschienen Polizeibehörden, die uns den Pass abverlangten. Dann wurde uns gesagt, wir würden am nächsten Tage auf ein holländisches Schiff umgebootet, woraufhin wir uns zu Ruhe begaben. Früh in der Nacht jedoch wurden wir alarmiert. In 15 Minuten sollten wir das Schiff verlassen haben. Gepäck dürften wir so viel mitnehmen, als bei der Hand sei. Jetzt hieß es, die Kinder aus dem Schlaf zu nehmen, das gab eine nette Schreierei. Von dem wahnsinnigen Trubel kann man überhaupt schlecht eine Beschreibung machen. Man denke sich alles, was Beine hatte, auf der einen Seite des Schiffdecks mit hier fünf bis sechs kleinen Koffern. Man konnte positiv keinen Schritt vorwärts noch rückwärts tun. Holländische Zollbeamte öffneten mehr oder weniger jeden Koffer, worauf das Gepäck auf einen Tender gebracht wurde. In der Zwischenzeit kamen wir Frauen einzeln in einen verhängten Raum, in dem zwei Frauen auf uns zukamen. Eine fuhr mir in die Haare, die andere in die Strümpfe, und beide fühlten und betasteten mich von allen Seiten. Dann musste ich einen Schein unterschreiben, dass ich auf eigene Lebensgefahr hin nach Holland fahre, und erhielt ein Dritter-Klasse-Billet von Vlissingen nach Goch. Ein starker Wind hatte sich aufgemacht und es war sehr kalt.

Nach einem herzzerreißenden Abschied von der Ajah ging es ans Umbooten. Die alte, treue Seele! Die wagt sich gewiss nicht zum zweiten Mal aufs große Wasser! Und zu den Kindern geht sie auch nicht wieder, wie sie mir sagte. Der Tod meiner Kleinen war ihr zu nahe gegangen. Vier Wochen lang war sie nicht zu bewegen, täglich etwas anderes als Tee und ein Stück Brot zu sich zu nehmen. Bitten, Schelten, Vernunftgründe und Vorstellungen meinerseits änderten nichts. Ich war ernstlich besorgt, dass sie zu Grunde gehen würde, als sie sich endlich am 1. Januar eines Besseren besann. Es war ausgemacht, dass sie mit demselben Dampfer zurückführe und alle hatten mir versprochen, gut für sie sorgen zu wollen.

Auf dem kleinen Tender waren wir auch wie gepökelt. Schließlich gelangten wir mit seiner Hilfe ca. 3:15 Uhr nachts auf dem holländischen Dampfer Mecklenburg an, wo wir auf das Freundlichste aufgenommen wurden und Kabinen angewiesen bekamen. Die Sauberkeit allerwärts tat uns unendlich wohl. Das blütenweiße Bettzeug war uns ein lang entbehrter Genuss. Meine Kleine schlief sofort ein und ich ging mit meiner Freundin in den Eßsalon. Mich sollte es nicht wundern, wenn die Holländer uns für verrückt gehalten haben, denn ich glaube, wir blieben mit offenem Munde stehen, als wir den entzückenden Raum sahen. Kleine Tische mit schneeweißen Tischtüchern reizend gedeckt, alle mit frischen Blumen und einer elektrischen Lampe versehen. Zuvorkommende, deutsch sprechende Bedienung, prachtvoller Kaffee und leckere belegte Butterbote. So gut hatte uns schon lange nichts mehr geschmeckt, so wohl hatten wir uns seit, weiß Gott, wie langer Zeit nicht mehr gefühlt. Zum Schlafen sind wir kaum gekommen, um 4:00 Uhr kam der zweite Schub von der Golconda mit großem Lärm an. Um 6:00 Uhr stand ich wieder auf. Der Wind war sehr stark geworden, er ging einem durch und durch. Ich wurde förmlich das Deck entlang gepeitscht. Um 8:00 Uhr mundete uns das Frühstück vortrefflich und dann ging die Reise los.

Solange wir noch auf der Themse waren, konnten wir noch an einigen Stellen an Deck. Als wir in den Kanal kamen, war es zur Unmöglichkeit geworden. Ein regelrechter Orkan pfiff, und das ganze Deck war dauernd unter Wasser. Die Kabinen hatten wir räumen müssen, da das Schiff nachts Passagiere zurückfahren würde und dafür hergerichtet werden musste. So saßen wir alle Mann hoch abwechselnd im Speisesaal, in der Halle und auf den Verbindungstreppen. Mittags konnte ich die Augen nicht mehr länger aufhalten. Mit einer Freundin zusammen nahm ich mir eine Kabine, für die wir natürlich extra bezahlen mussten. Dort verschliefen wir das Mittagessen und wachten auf, als das Wasser durch die hoch über den geschlossenen Fensterluken angebrachten Ventilatoren in den Korridor schoss. Wir gingen nun nach oben, nachdem wir einmal ungewollt auf der Treppe lagen. Oben sah man ganze Reihen von Menschen umfallen, so toll schaukelte es. Das schien aber auch der Höhepunkt gewesen zu sein, denn nun wurde es langsam besser. Kurz darauf war der Vlissinger Leuchtturm in Sicht und einer der Missionare stimmte an: Großer Gott wir loben dich! Wer den Tränen wehren konnte, stimmte mit ein. Ich konnte es nicht. Eine mächtige Erregung hatte sich meiner bemächtigt und sie wich erst wieder, als der Dampfer am Ziele hielt, wo gleich mir viele von Verwandten oder Freunden empfangen wurden. Nach einer nochmaligen Gepäck-Revision fuhren die meisten gleich weiter. Jeder Einzelne vom holländischen Frauenbund aus mit einer Tüte Erfrischungen beschenkt. Ich setzte erst zwei Tage später meine Reise fort. Was für ein wunderliches Gefühl ist es doch, in solcher Zeit wieder den geliebten Heimatboden zu betreten. „Er beugte sich nieder und küsste die heimatliche Erde“, das hatte ich einstmals gelesen. Wie gut ich das jetzt verstand! Wie in ein Märchenland versetzt kam ich mir zunächst vor - war und stand doch alles noch tausendmal besser um das liebe Vaterland, als wir es uns in den schönsten Träumen ausgemacht hatten!

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