Kriegsgefangen in Indien
Von Missionar A. Hübener in Kolberg
Auszug aus der Zeitschrift "Die
Evangelisch-Lutherische Freikirche", Herausgegeben von Pastor O. Willkomm in
Bühlau bei Dresden, Verlag des Schriftenvereins der sep. evang.-luth. Gemeinden
in Sachsen, Zwickau, 1916, Nr. 16, 17, 19, 22. 25; 1917. Nr. 4 und 7.
Zu Anfang des Krieges
Die
deutschen Missionare in Indien hatten nichts mit dem Kriege zu schaffen.
Wir beteten im stillen zu Gott: Er möge das Vaterland vor der Übermacht
der Feinde bewahren und die schmählichen Pläne der Feinde vereiteln.
Aber es war nicht unser Beruf, irgend etwas gegen die Engländer zu
unternehmen. Wir gaben der englischen Regierung auch die Versicherung,
dass wir nach wie vor nur unseren Beruf ausüben wollten und baten, uns
diese Gelegenheit zu lassen und uns dabei fernhin zu schützen.
Trotzdem hat die Regierung fast alle Missionare in dem großen
Gefangenenlager zu Ahmednagar interniert, wodurch die rein deutschen
Missionen - vor Menschenaugen - der völligen Auflösung nahe« gebracht
sind. Das Einzelne ist in sehr verschiedener Weise vor sich gegangen.
Bei den Engländern ist nichts einheitlich geordnet. In jedem Distrikte
war es anders. Es gab milde und strenge Beamte, die nach Laune und
Willkür verfuhren. Eingaben und Beschwerden wurden teils gar nicht,
teils ohne Begründung abschlägig erwidert. Die Beamten, welche sich der
harten und ungerechten Maßregeln schämten, beriefen sich einfach auf das
"Government", die Regierung, ein unpersönliches, geheimnisvolles
Etwas, ein Automat, aus dem die Verordnungen herauskamen, ohne dass
jemand es gewesen sein wollte. dass diese Verordnungen sich fortwährend
überstürzten, widersprachen und miteinander verwickelten, tat nichts zur
Sache.
Das
Einzige, was klar und offen zutage trat, waren die gifterfüllten
Korrespondenzen in den Zeitungen gegen alles, was deutsch war:
Hunnenmänner, Hunnenfrauen und Hunnenkinder ("infant huns"). "Alles
einsperren oder aus dem Lande weisen!" "Sie sind ja eigentlich
gar keine Europäer, nur im geographischen Sinne!" "Von jeher"
(also seit mehr als 200 Jahren) "sind die deutschen Missionare Spione
gewesen!" "Indien muss wieder (!) ein reines Land werden, darum
fort mit ihnen!" Solche Zuschriften liefen in Menge ein und hatten
eine große Wirkung, viel mehr, als es in Deutschland der Fall sein
könnte. Ganz zutreffend hieß es einmal: Die deutsche Regierung ist eine
Regierung, welche regiert, aber die englische Regierung ist eine
Regierung, die durch die öffentliche Meinung getrieben wird.
Diese
Regierung tat nun kopflos bald dies, bald das. Nach dem Ausbruche des
Krieges besuchte der Gouverneur von Madras die Basier Mission an der
Westküste. Er zeigte sich sehr anerkennend, wohlwollend und freundlich,
so dass die Missionare zu der Hoffnung berechtigt waren, dass ihrer
friedlichen Weiterarbeit nichts im Wege stehe. Bald nach dem
Gouverneursbesuch wurden aber sämtliche Missionare nach Ahmednagar
gebracht. Auch ihre Frauen und Kinder wurden von den Stationen geholt
und, von betrunkenen Unteroffizieren eskortiert, in ein ungesundes,
heißes Lager bei Bellary geschafft, wo sie etwa ein Jahr bis zu ihrer
Heimsendung nach Deutschland bleiben mussten. In dem ausgesucht bösen
Klima hatten die Frauen und Kinder viel von Fieber und Krankheit zu
leiden. Sie mussten sich auf Missionskosten selbst erhalten.
Nun ist
der Gouverneur von Madras ein "frommer" Mann. Er ließ ihnen auf privatem
Wege sein Mitgefühl ihm zugehen und unter anderem sagen, der Gedanke an
die Behandlung der Missionare, nachdem er sie noch auf ihrem
Arbeitsgebiete so freundschaftlich begrüßt habe, verursache ihm immer
Unruhe und raube ihm sogar zuzeiten nachts den Schlaf.
Das ist
ja ganz schön gesagt, nützte den Gefangenen aber nichts, die in Bellary
und in Ahmednagar in ganz unwürdiger Weise untergebracht waren und
blieben. An schönen Worten fehlt es den Engländern nie, und sie sollten
doch bedenken, dass gerade ihre "Regierung", hinter die sich die
einzelnen Schande halber oft verkriechen, sich als Ausbund von Recht und
Gerechtigkeit, ja als der liebe Gott selber aufspielt.
In
empörender Weise sind auch die Breklumer Missionare behandelt worden.
Sie haben ihre Stationen im Nordosten der Madras-Präsidentschaft, in
einer Gegend, die ein ganz besonders ungesundes malarisches Klima hat.
Keine englische, keine amerikanische Mission hat es sich je einfallen
lassen, in diesem fieberischen, die Gesundheit des Kräftigsten unfehlbar
aufreibenden Distrikte die Arbeit aufzunehmen. Das war dem Opfermut
einer deutschen Mission vorbehalten.
Die
ersten drei oder vier Monate blieben diese Missionare in ihrer Arbeit
unbehelligt. Dann trat ein Wechsel ein. An Stelle des milden,
wohlwollenden Beamten, der sie nicht hatte stören wollen, kam ein von
Hass gegen das Deutschtum und auch gegen das Christentum erfüllter
Kollektor (Distriktspräsident), welcher sofort in schonungsloser Weise
alle Missionare nach Ahmednagar abtransportieren ließ. Die Breklumer
Frauen wurden alle in Waltair interniert. Es waren die Frauen und Kinder
von 18 Familien, die in Waltair in Wohnungen, die sonst für fünf
Familien berechnet sind, untergebracht wurden. In dieser fürchterlichen
Enge wurden sie Tag und Nacht von eingeborenen Polizisten bewacht,
welche dafür zu sorgen hatten, dass sie abends nach sechs Uhr die Häuser
nicht mehr verließen. Wenn man bedenkt, dass wegen der Hitze den Tag
über diese Abendstunden gerade die Zeit sind, in welcher die Frauen und
Kinder die Luft im Freien genießen müssen, und wenn man ferner bedenkt,
dass eingeborene Polizisten sonst nichts mit einem Weißen zu tun haben
und selbst nach britischem Urteil die größten Schufte und Räuber des
Landes sind, so kann man in der Art und Weise dieser Behandlung
unschuldiger deutscher Frauen und Kinder nichts als bösartige Rachsucht
erkennen. Die Engländer nennen es "righteous indigation"
(gerechte Entrüstung).
Gegen
Ende des Jahres 1914 traf auch Bruder Williems und mich - natürlich ohne
jegliche Erklärung - das Los der Gefangenschaft. Man ließ mir nur zwei
Stunden zum Packen. Meine Bitte, mir für den Abschluss meiner Rechnung
eine Nacht zuzulegen, wurde nicht gewährt. Der Polizeiinspektor war
persönlich liebenswürdig und würde es gern gewährt haben, aber da war ja
das - "Government". Über die ersten etwa zehn Tage, die ich im
Fort St. George in Madras zubrachte, kann ich schnell hinweggehen. Ich
traf hier einige mir bekannte Missionare, Kaufleute und römische
Priester. Wir waren einem Captain der Madras Volunteers
(Hauptmann der Reserve) unterstellt, welcher uns in gehässiger Weise
behandelte. Man sah ihm auf den ersten Blick an, dass er kein reiner
Europäer war, und merkte gleich, dass er nun das Gefühl seiner
Machtstellung über uns mit Behagen genoss. Briefschreiben, die
Bestellung portofreier Postsendungen und andere Privilegien, von denen
wir wussten, dass sie uns zustehen, wurde uns nicht gewährt, überhaupt
muss ich vorweg bemerken, dass die Engländer ihren Gefangenen die ihnen
nach dem Völkerrechte zustehenden Privilegien nur nach und nach, nach
langem Zögern und in dem Maße zukommen ließen, als durch Bekanntwerden
unserer Lage ihren eigenen in Deutschland gefangen gehaltenen Leuten
dadurch kein Nachteil erwuchs. Zum Glück für uns hatte Deutschland schon
bald nach Anfang des Krieges eine große Anzahl englischer
Kriegsgefangener, und zwar, im Unterschiede von England, solche, die im
ehrlichen Kampfe gewonnen waren.
Ich
erinnere mich der entsetzlich schmutzigen Küche im Fort, das ganz engen
stachelumzäunten Hofes, der Notwendigkeit, viele fürs Lagerleben nötige
Dinge (Essgeräte, Decke, Stuhl, Moskitonetz usw.), welche man zu Hause
doch in Fülle besaß, zu hohem Preise neu einkaufen zu müssen.
Als die
vor mir eingelieferten Gefangenen im ersten Schub nach Ahmednagar
befördert wurden, sahen wir sie wie Verbrecher fortgeholt werden. Ein
Offizier ließ sie antreten, erklärte, dass auf jeden, der einen
Fluchtversuch machen würde, geschossen werden würde, und dann ging es
unter glänzender militärischer Machtentfaltung - neben je drei
Gefangenen saß ein halbschwarzer Kerl mit aufgepflanztem Bajonett und
außerdem noch blanke Waffen hinten und vorne - dem Bahnhofe zu. Dabei
hatten alle schriftlich ihr Ehrenwort gegeben, keinen Fluchtversuch oder
ähnliches zu machen.
Als wir
übrigen einige Tage später an die Reihe kamen und die gleiche Parole
unterzeichnen sollten, fragten wir natürlich: Wozu das? Man hatte
erwartet, etwa von einem Polizisten in Zivil nach der Bahn begleitet zu
werden. Die Antwort war, dass solche, welche jenen Eid nicht leisten
wollten, mit Handschellen transportiert werden würden. Wir ließen es
nicht darauf ankommen und unterzeichneten die Parole.
Das A-Lager in Ahmednagar
Nach
etwa dreißigstündiger Bahnfahrt kamen wir in Ahmednagar an. Vier
englische Meilen von der Bahnstation entfernt liegen die beiden
Gefangenenlager (jetzt sind es drei), in welchen jetzt etwa 1.500
Deutsche untergebracht sind. Diese nahe beieinander liegenden Lager sind
immer militärischen Kommandos unterstellt. Einige Meilen weiter ab
befindet sich auch noch ein von der Zivilbehörde verwaltetes Lager für
ältere Deutsche. In diesem Zivillager, dessen Insassen größere Freiheit
und bessere Beköstigung genossen, wurden außerdem auch - mit wenigen
Ausnahmen - die vielen römischen Priest« jeden Alters interniert. Die
haben überall in der Welt ihre Vorrechte.
Das
größte Lager ist das A-Lager. Es beherbergt 1.000 Gefangene, eher mehr
als weniger. Vier langgestreckte einstöckige Infanteriekasernen sind von
einem doppelten Stacheldrahtgehege umgeben. Zwischen den beiden Gehegen
laufen die Posten auf und ab. Im Innern des Lagers ist sehr, sehr wenig
Platz zum Umhergehen und für die turnerischen Spiele der Insassen.
Dieser geringe Raum wurde zum größten Teil noch von Hunderten von Zelten
in Anspruch genommen, in denen ein großer Teil der Gefangenen bis Ende
1915 zu wohnen hatte.
Das
Leben in den alten baufälligen Baracken, die schon längst von den
englischen Ärzten als ungeeignet für europäische Soldaten verurteilt (medically
condemned) waren, war nicht schön, aber in den Zelten war es
schaurig.
Acht
Mann wohnten in jedem Zelte, so viele Betten gingen genau hinein. Unten
der staubige Fußboden, der sich bei Regenwetter durch das einströmende
Wasser stellenweise in Kot verwandelt, oben die Sonnenglut.
Wenn
ein englischer Beamter oder ein Missionar seinen Distrikt bereist, so
hat er häufig eine Zeitlang im Zelte zu wohnen. Man schlägt das Zelt
aber unter einem hohen Schattenbaume auf und lebt stets nur eine kurze
Zeit unter dem Zeltdache.
Die
Zelte der armen Gefangenen standen unter der grellen Sonne. Schon in den
Mittags- und Nachmittagsstunden der sogenannten kühlen Jahreszeit war
die Hitze hier kaum zu ertragen, wie sollte es erst in der heißen Zeit
werden? Durch die Freundlichkeit einiger vor mir internierter Missionare
kam ich gleich in eine Kasernenstube. Mehrere Hundert waren aber
schlimmer daran. Ich erinnere mich, dass ein älterer Missionar, den der
lange Aufenthalt in Indien schon sehr angegriffen hatte, mittags aus
seinem Zelte öfters zu uns kam und sich im Zustande größter Erschöpfung
bei uns aufs Bett legte. Viele Leute klagten, ihnen werde am Tage ganz
schwindlig zumute, Monat für Monat nur durch ein Zeltdach vor den
Strahlen der erbarmungslosen Sonne geschützt.
Die
Militärbehörde hätte dem Übelstande schnell und leicht abhelfen können.
Ganz in der Nähe befinden sich prächtige zweistöckige
Artilleriekasernen, aus Granit erbaut, hoch und luftig, gar nicht zu
vergleichen mit den baufälligen Kasernen im A-Lager. Die
Artilleriekasernen waren ganz leer und blieben es, bis sie im Dezember
1915 teilweise den Gefangenen des neuen Parolelagers zugewiesen wurden.
Also die Militärbehörde wollte die Artilleriekasernen nicht hergeben,
zugleich wollte sie aber die teuren Zelte schonen, und das führte Anfang
April 1915, einen Monat nach Beginn der heißen Jahreszeit, zu folgender
"Abhilfe".
Im
engen Raum des A-Lagers wurden ganz lange, ganz schmale und niedrige
Wellblechbaracken errichtet für die bisher in den Zelten
Untergebrachten. Die Decke, etwa zehn Fuß über dem Boden, bestand auch
aus Wellblech.
Selbst
der an die Sonnenstrahlen gewöhnte Eingeborene will etwas anderes als
Wellblech über dem Kopfe haben. Er ist mit einer engen, niedrigen
Lehmhütte zufrieden, aber über sich hat er ein dickes Dach aus
Palmblättern oder Dachziegeln.
Ganz
andere, und zwar der Gesundheit wegen berechtigte Ansprüche macht der
Europäer. Solange die Sonne am Himmel steht, vom frühen Morgen bis etwa
fünf Uhr nachmittags - ganz gleich, ob der Himmel klar oder bewölkt ist
- darf er sich nicht ohne seinen dickgepolsterten Sonnenhut ins Freie
wagen. Erst gegen Sonnenuntergang darf Strohhut oder Mütze aufgesetzt
werden.
Ebenso
sind die Wohnungen für Europäer dem Klima entsprechend erbaut: weit,
hoch und luftig. In meinem Wohnhause in Nagercoil habe ich Zimmer, die
zehn und sieben Meter lang, acht und fünf Meter breit und sieben bis
acht Meter hoch sind. Alle Missionen, selbst wenn sie aufs äußerste zum
Sparen angewiesen find, bauen derartige Wohnungen, und die missourische
Misstonsleitung hat längst erkannt, dass ein solches Bauen keine
Verschwendung, sondern eine Notwendigkeit ist.
Und nun
sperren die Engländer, die ja auch ihre indischen Erfahrungen haben, im
Tropendienst geschwächte Familienvater, die durch langjährige Dienste in
Kirchen und Schulen nur das Beste des Landes gesucht haben, in solche
Blechbaracken mit niedrigem, der Sonne so gut wie gar keinen Widerstand
bietendem Dache. Ein Besuch in den Blechbaracken zur Mittagsstunde
bietet uns folgendes Bild: Die Bewohner sitzen oder liegen auf ihren
Betten mit dem Sonnenhute auf dem Kopfe oder unter aufgespanntem
Schirme. Der Fußboden ist eine unebene Masse von Staub, Erdklumpen und
Steinen. Ein Fegen auf diesem Schutt ist überhaupt unmöglich; man müsste
den ganzen Fußboden hinausschleppen, und darunter ist allemal derselbe
Schutt. Wir berühren die eiserne Wand; sie ist heiß, heißer aber noch
ist das der Sonne zugewandte Blechdach.
Erstaunt über die Wohnungsverhältnisse war selbst der - amerikanische
Konsul. Wir haben noch keinen gesehen, der uns wohlgesinnt wäre. Wir
kennen diese "neutralen" Herren zur Genüge und haben genug von ihnen. In
Bombay zwar war vor einiger Zeit ein deutsch-amerikanischer Konsul, von
dem wir uns Hilfe versprachen. Der ist aber nie bei uns vorgelassen
worden, er wurde bald aus allen Klubs in Bombay ausgestoßen, nahm seine
Papiere und ist nun schon längst in Amerika. - Aber selbst jener uns
besuchende amerikanische Konsul verlor doch beim Anblick der
Blechbaracken einen Augenblick seine Fassung und stammelte ganz
verwirrt: "Faktisch, hier wohnen Menschen?" Die Engländer werden ihn
durch moralische Begründungen nachher jedenfalls völlig darüber beruhigt
haben, dass die Sache so in Ordnung sei. Sonst wären die Blechbaracken
wohl nicht mehr da.
Der
amerikanische Konsul hätte noch mehr sehen können, wenn er bei
Regenwetter gekommen wäre. Zum Schutze gegen die Sonne hatte man eine
Lehmschicht (anstatt der Dachziegel) auf den Blechdächern ausgebreitet.
Gleich beim ersten Regen löste sich der Lehm auf und drang zusammen mit
dem Regenwasser durch die langen, zu knapp überdachten Lüftungsritzen
ins Innere der Hütten. Betten, Koffer und Kisten wurden von der braunen
Brühe übergossen. Stellenweise drang das Wasser in solchen Mengen ein,
dass die Betten ganz im Wasser standen und die Gefangenen im Matsch
wohnten. Man hat dann die Lüftungsritzen zugebaut, und von der
"schützenden" Lehmschicht sind nur noch einige Spuren vorhanden.
Das
Leben im Lager wird zur Qual durch den Staub. Viele Monate lang regnet
es ja überhaupt nicht. Nun stelle man sich vor, dass tausend Menschen
wochen- und monatelang auf demselben Fleckchen im Freien umherlaufen.
Schon in den ersten Wochen ist das vertrocknete Glas zerstampft, bald
sind auch die Graswurzeln zertrampelt, und man wandert knöcheltief in
einem feinen weißen Staub. Der zuzeiten sehr heftige Wind trägt ganze
Staubwolken in die Kasernen und Blechhütten, jeder Gegenstand ist von
einer dicken Staubschicht bedeckt, Staub auf den Essgeräten, Staub im
Essen, der einem im Munde knirscht. Nur einmal tief atmen können, nur
einmal im Freien spazieren gehen, das ist der sehnliche Wunsch der im
Staub schmachtenden A-Lager-Sträflinge.
Sträflinge? Jawohl: Sträflinge! Nicht nur die Gefangenen, auch der
Kommandant, sein Adjutant und die Sergeanten sehen das A-lager als
Straflager an. Wer sich in den anderen Lagern etwas zuschulden kommen
lässt, wird zur Strafe ganz offiziell ins A-Lager gesteckt. Und wer im
A-Lager Strafe verdient, kommt in die Blechbaracke. Diese Strafbaracken
im Straflager waren von vornherein der für die größte Zahl der
Missionare bestimmte Aufenthaltsort: "to mortitfy the flesh"
("zur Tötung des Fleisches"), wie sich der Adjutant, ein englischer
officer and gentleman, schadenfroh äußerte. Trotz alledem ging's zu
meiner Zeit im A-Lager ziemlich lustig zu. Allerhand Ballspiele und
Sportübungen (wenn nur der Staub nicht wäre!) werden vorgenommen. Es
gibt viel Musik, Vorträge werden gehalten, allerlei nützliche Kurse
werden regelmäßig durchgenommen, mannigfacher Sprachunterricht, sogar im
Spanischen und Chinesischen, wird erteilt. Ich nahm, solange ich dort
war, an den Sanskritstunden des Herrn Dr. Schrader teil, dem ich mit
anderen Missionaren dafür zu großem Danke verpflichtet bin. Die Y.M.C.A.
(Christliche Vereinigung Junger Männer) sorgt wöchentlich ein- oder
zweimal für eine Kino« Vorstellung im Lager.
Natürlich wurden von den Missionaren sonntägliche Gottesdienste
abgehalten. Der hierfür zur Verfügung stehende Raum, meiner Zeit ein
langes Zelt, das aus lauter kleinen Zelten zusammengesetzt war, war sehr
wenig einladend. Jeder musste sich Sitzgelegenheit selber mitbringen.
...
Das B-Lager bei Ahmednagar
An das
A-Lager schließt sich das B-Lager an. Beide sind nur durch eine Straße
voneinander getrennt. Auch das B-Lager ist von einem doppelten
Stacheldrahtzaun umsponnen, aber hier waren die hohen eisernen Tore Tag
und Nacht geöffnet. Keine Posten liefen zwischen den Stachelgehegen auf
und ab. Die Insassen durften von vormittags sieben Uhr bis abends
½10 Uhr auf den ihnen zugewiesenen
Straßen spazieren gehen und auf zwei nach Osten führenden Landstraßen
Touren ins Freie machen, so weit wie sie nur wollten, vorausgesetzt,
dass sie abends zur rechten Zeit, also ½10
Uhr wieder im Lager eintrafen.
Im
B-Lager befanden sich durchweg bessergestellte Kriegsgefangene, wie
Ingenieure, bemittelte Kaufleute, Schiffsoffiziere und Offiziere, die in
Ostafrika gefangengenommen waren. Außerdem waren hier die aus dem
A-Lager für die Bedienung Zugelassenen meistens Seeleute. Diese alle
hatten den Engländern Parole gegeben, d. h. sich eidlich verpflichtet,
im Laufe des gegenwärtigen Krieges nicht die Waffen gegen Großbritannien
und dessen Verbündete zu erheben.
Die
Missionare waren vom Zutritt ins Parolelager und den hier gewählten
Privilegien ausgeschlossen. Gründe wurden für diese Zurücksetzung nicht
angegeben. Die Bitten um Zulassung wurden einfach nicht beantwortet.
Am
Heiligabend 1914 las ich mit Erstaunen meinen Namen auf der Liste derer,
die laut Lagerorder ins B-Lager versetzt werden sollten. Nach langem
Warten auf der Kommandantur, wohin wir durch einen Sergeanten geführt
wurden, kam auch ich endlich an die Reihe, vorgelassen zu werden. Der
Adjutant erklärte mir aber, mit meinem Namen sei es ein Irrtum. Ich
könne nur zur Abhaltung des vom B-Lager gewünschten
Weihnachtsgottesdienstes zugelassen werden. Auf meine Frage, ob wir
Missionare nicht auch ins Parolelager versetzt werden könnten, wurde
ausweichend geantwortet. Ich bekam also nur einen für einige Stunden
gültigen Pass.
Mehrere
Wochen danach geschah es denn aber, dass Missionar H. von der Leipziger
Mission und ich Erlaubnis erhielten, ins B-Lager zu ziehen. Für uns arme
Gefangene war das ein großes Ereignis. An einem herrlichen Vormittage
gegen Ende der kühlen Jahreszeit zogen wir hinaus in die - "Freiheit".
Der böse Stacheldraht lag hinter uns, aus der qualvollen staubigen,
heißen Enge ging es hinein in die frische, klare Morgenluft. Wir
wanderten unter grünen Bäumen einher, Fuhrwerke sausten an uns vorüber,
dazwischen trippelten die stets laut schwatzenden Eingeborenen. Dann
wieder lange Reihen einher schleichender Ochsenkarren, vorüber
gleitender Kraftwagen, Engländer und Engländerinnen hoch zu Ross
bei ihrem Morgenritt.
Uns
beiden wurde ein nettes Quartier zugewiesen. Inmitten der
langgestreckten Kasernen für das Parolelager, die, wenn sie auch nicht
regendicht waren, doch weit luftiger und höher sind als die Gebäude im
A-Lager, befindet sich ein Wohnhaus, das in Friedenszeiten einem
Feldwebel oder Quartiermeister mit Familie als Wohnung diente. In der
Mitte liegt ein sehr geräumiges Zimmer, das an beiden Längsseiten Türen
und Fenster hat. Links und rechts schließen sich Schlaf- und Baderäume
an. Hier hausten wir mit zwei österreichischen Offizieren der
Handelsflotte. Das große Mittelzimmer blieb frei von Betten und war
gerade in den Monaten der heißen Jahreszeit, die wir hier zubrachten,
ein angenehmer Aufenthaltsort. Vorne hatten wir auch eine Veranda, wo
wir abends auf unseren Klappstühlen saßen.
Wir
konnten jetzt also mit unserem Quartier zufrieden fein, aber gefangen
waren wir auch hier, und die Sehnsucht nach Weib und Kind und nach
unserer geliebten Missionsstation und Arbeit bedrückte Herz und Gemüt
nach wie vor.
Bald
nach unserem Einzüge hier beehrte uns ein Vertreter der Y.M.C.A
(Christliche Vereinigung Junger Männer) mit seinem Besuche. Ausgehend
von den unleugbaren Vorteilen unserer Einquartierung, die wir zugestehen
mussten, schlängelte er sich an uns heran mit der Bitte, ihm das
schriftlich zu geben. Er wollte schon dafür sorgen, dass der Zensor es
durchlasse. Die Botschaft sei für eine sehr vornehme neutrale Dame in
der Schweiz, eine große Missionsfreundin; die habe nämlich allerlei
törichte Gerüchte über die unwürdige Einkerkerung der deutschen
Missionare gehört und sei darob in ihrem Heizen sehr betrübt. Diese
liebe Seele würde nun sehr getröstet werden, wenn sie von uns selbst
hörte, wie gut es uns doch in Ahmednagar erginge. Ohne langes Besinnen
erwiderten wir, wir seien gerne bereit, über die Behandlung der
deutschen Missionare im Gefangenenlager einen schriftlichen Bericht zu
erstatten. Selbstverständlich würden wir aber nicht nur unser nettes
Häuschen, sondern auch die Blechbaracken im A-Lager und die
Unterbringung von über hundert anderen Missionaren hinter dem
Stacheldraht beschreiben. Aber es sei wohl sehr fraglich, ob der Zensor
das durchlassen würde. Der Y.M.C.A.-Mann meinte auch, das könne man dem
Zensor wohl nicht zumuten. Auch hätte es die Missionsfreundin schwerlich
getröstet. Er verzichtete also auf unser Anerbieten ....
Von der
uns erteilten Erlaubnis, Spaziergänge und Ausflüge zu machen, machten
wir fleißigen Gebrauch.
Die
Straßen der Stadt, die uns zur Verfügung standen, haben ein freundliches
Aussehen; hier liegen die von netten Gärten umgebenen Bungalows
(europäische Wohnhäuser) der Beamten und Offiziere. Gleich von hier aus
kommt man ins Freie. Zunächst ist die Landstraße noch von schönen Bäumen
beschattet. Wir gehen an der Rennbahn vorüber. Rechts kommt als letztes
Haus die Pfarrwohnung des Militärgeistlichen, von Schattenbäumen und
Rankengewächsen teilweise verhüllt. Jetzt hört der Baumwuchs auf, und
eine Öde breitet sich vor unseren Blicken aus. Den größten Teil des
Jahres liegen die kümmerlichen Felder grau und von der Sonne ausgebrannt
vor uns. Es ist "gen Himmel schauendes" Land ohne künstliche
Bewässerung. Wehe, wenn der Regen in der Monsunzeit ausbleibt! Dann
gibt's Hungersnot - natürlich nur für die Eingeborenen.
Aber
das Land ist nicht ganz flach, und die einige Kilometer vor uns
aufsteigenden Berge geben der sonst so öden Landschaft einen angenehm
wirkenden Abschluss. Das Ziel unserer Wanderung sind natürlich die vor
uns liegenden Berge, namentlich ein weithin sichtbarer Turm, der, auf
einer vorspringenden Anhöhe gelegen, gleichsam zum Besteigen einladet.
Plötzlich hat man einen Geländeeinschnitt vor sich, ein liebliches
grünes Tal voller Leben und Farbenpracht tut sich vor uns auf, eine Oase
in der Wüste. Ein überraschender angenehmer Wechsel. Breite Steinstufen
führen zur Quelle hinab. Daneben steht auf hohen Granitsäulen eine
gewölbte Halle, von einem reichen Mohammedaner zur Rast für den müden
Wanderer errichtet. Plätschernd rieselt das Wasser über die Steine.
Hunderte und Tausende von wilden Tauben girren in den Baumzweigen und
Sträuchern und haben hier und im Gestrüpp an den Bergabhängen ihre
Nester.
Von
hier geht's nun den Berg hinan auf steilem, gewundenem Pfade empor zum
Turm, der jetzt, aus der Nähe betrachtet, als ein ganz bedeutendes
mehrstöckiges Bauwerk im maurischen Stil mit geschweiften Rundbogen aus
großen Granitquadern errichtet, vor uns steht. Es ist das Grabdenkmal
eines mohammedanischen Heiligen, ein großartiger Bau mitten im wüsten,
wilden Dschungel. Der diensteifrige Wächter führt uns durch eine
prächtige hochgewölbte Eingangshalle hindurch, endlos scheinende Reihen
von Stufen hinan, bis hinauf auf das flache Dach, wo man durch einen
herrlichen Rundblick für die Mühe des Steigens reichlich belohnt wird.
Weiterhin in den Bergen erschauen wir von hier einen sehr hübschen, etwa
fünf Kilometer langen und halb so breiten See, der durch eine Staumauer
künstlich gebildet ist. Die Bewaldung um den Abfluss herum lockt uns.
Nach mühsamer Wanderung auf einem von niederem Gestrüpp bedeckten
Höhenrücken entlang erreichen wir das Ufer. Wieder erfreut uns der
köstliche Schatten hoher Bäume, die man in Indien noch mehr als sonst
lieben und schätzen gelernt hat.
Von der
Staumauer stürzen wir uns in die kühle Flut und nehmen ein köstliches
Bad. Dann wird abgekocht. Man liegt im grünen Grase unter schattigen
Bäumen neben dem hochlodernden Lagerfeuer und denkt an die armen
Kameraden im staubigen A-Lager. Wenn die doch auch einmal einen solchen
Ausflug machen könnten! Man denkt an die fernen Lieben, an die
daniederliegende Arbeit auf der Missionsstation, an die blutigen Kämpfe
rings ums deutsche Vaterland und empfindet trotz der schönen friedlichen
Umgebung die ganze Bitterkeit der Gefangenschaft. - Unter dem
strahlenden Sternenhimmel geht's dann ins Lager zurück.
Die
größte Wohltat, die mir aber durch Gottes Güte im Parolelager zuteil
ward, und wodurch mir das Schwere der Gefangenschaft am meisten
erleichtert wurde, war der Umstand, dass es mir hier vergönnt war,
abwechselnd mit dem anderen Missionar, regelmäßige Gottesdienste zu
halten. Die geräumige Turnhalle stand uns hierfür zur Verfügung: die
Zahl der Zuhörer war leider gering, aber die, welche kamen, waren treu
im Besuche der Gottesdienste. Gottes Gnadenwort war uns eine Quelle des
Trostes und der Freude mitten im Leid. Auch habe ich einige
Missionsvorträge gehalten.
Das neue Parolelager bei Ahmednagar
Eines
Tages war es mit der Freiheit im B-Lager vorbei. Die bisher geöffneten
Tore wurden geschlossen. Die Stachelumzäunung war ja schon lange fertig,
und nun glich das B-Lager dem A-Lager bis auf die Blechbaracken, die der
einzige Nachteil des A-Lagers blieben. Das ging so zu:
Ein
Insasse des B-Lagers hatte, was allerdings gegen das den Engländern
gegebene Wort verstieß. mit einem pensionierten mohammedanischen
Armeeoffizier Zusammenkünfte gehabt, und wohl allerlei politische
Gespräche mit ihm geführt. Dabei waren sie von einem eingeborenen
Detektiv beobachtet worden. Der brachte das zur Anzeige und erschien
eines Tages mit einem englischen Polizeioffizier im Lager, um den
Schuldigen anzugeben. Wir hatten alle Befehl, das Lager nicht zu
verlassen und uns bei unseren Betten aufzuhalten. Der schwarze
Geheimpolizist wurde nun von Bett zu Bett geführt, aber es war
vergebens; er konnte den Gesuchten nicht finden. Einige Tage danach
wurde noch ein Versuch gemacht. Wir mussten uns in langen Reihen draußen
vor der Turnhalle aufstellen, und unter der Begleitung der
Lageroffiziere schritten der weiße und der schwarze Polizist unsere
Reihen ab, bei jedem einzelnen Halt machend und ihn prüfend anschauend.
Ganz in der Nähe wies er auf einen jungen Mann, der gleich abgeführt
wurde. Das war aber nicht der richtige. Der wirkliche Missetäter hatte
es verstanden, sein Aussehen genügend zu verändern, so dass er nicht
entdeckt wurde, und der unrechterweise Abgeführte konnte leicht seine
Unschuld beweisen, da er keine indische Sprache reden konnte, und wurde
bald aus der Haft entlassen. Diese Vorführung vor einem eingeborenen
Polizisten erregte bei einigen unserer Landsleute Unwillen, und als der
englische Polizeileutnant sich anschickte, zusammen mit dem schwarzen
Detektiv das Lager zu verlassen, tönten den beiden einige höhnende
Zurufe nach. Das war die Ursache für Schließung des Parolelagers.
Inzwischen mehrte sich die Anzahl der Gefangenen. Die Engländer erhöhten
das deutsche Militäralter von 45 auf 55 Jahre (vermehrten also den
deutschen "Militarismus", den sie ja eigentlich ganz abschaffen wollen),
und infolgedessen wurden nun die meisten älteren Herren, die im
Zivillager von Ahmednagar eine bessere Verpflegung genossen, ins
"Militärlager" gesteckt, in dem wir Jüngeren waren. Ein ganzer Trupp
älterer Zivilgefangener kam auch aus Catapata, einer Bergstation in den
Himalajas. Dort waren sie bislang zusammen mit deutschen Frauen gefangen
gehalten worden. Sie alle erzählten übereinstimmend, dass sie von einem
ganz jungen Polizeibeamten schändlich behandelt worden seien. Die aus
Barmherzigkeit in dem kühlen Luftkurort untergebrachten alten, teils
kranken Männer, die Frauen und Kinder mussten oft lange bei Wind, Regen
und Schnee draußen stehen, weil der junge Beamte ganz unregelmäßig zum
täglichen Namenaufruf erschien. Keiner durfte sich aber vorher
entfernen, keiner durfte auch nur eine Minute zu spät kommen. Er oder
sie wurde sofort dafür eingesperrt. Die Gefängniszellen waren stets von
ganz unschuldigen deutschen Frauen und alten Männern gefüllt. Die bloße
Äußerung einer Beschwerde wurde in niederträchtiger Weise sofort mit
Einkerkerung bestraft. Die armen Leute waren so eingeschüchtert, dass
sie einem höheren englischen Inspektionsbeamten und auch dem
amerikanischen Konsul gegenüber keine Klage vorzubringen wagten. Geld
und Pakete wurden ihnen geraubt; es war eine Schreckensherrschaft, die
der junge Engländer dort geführt hat. Dergleichen war uns in solchem
Maße nicht zuteil geworden, und die alten Leute waren froh, in
Ahmednagar andere Verhältnisse vorzufinden.
Als
sich nun die Gefangenenzahl in Ahmednagar so erhöhte, konnten trotz
äußerster Zusammenpferchung die beiden vorhandenen Lager A und B die
Gefangenen nicht mehr fassen, und nun endlich gab die Behörde die
bereits früher erwähnten Artilleriekasernen für ein drittes Lager her:
das neue Parolelager.
Die
Artilleriebaracken liegen etwas weiter außerhalb der Stadt inmitten
eines weiten Exerzierplatzes. Diese Kasernen, die, wie früher schon
gesagt, 1¼ Jahr seit Ausbruch des Krieges
völlig leergestanden haben, wurden nun mit einer Auslese
bessergestellter Gefangener und einer Anzahl älterer Herren aus dem
bisherigen Zivillager belegt. Es sind prächtige zweistöckige Gebäude,
ganz aus Granit erbaut, mit hohen, luftigen Räumen, alles solide und
sicher gegen Regen und Sonne. Ringsum laufen breite Veranden, die nach
Europäer Art von den In« saßen bald wohnlich eingerichtet waren, und mit
den runden Tischen, Lehnstühlen, Decken, Bildern, Kriegskarten und
indischen Wandbehängen ein gemütliches, ja komfortables Aussehen hatten.
Mein Wunder, dass die vorüberfahrenden und -reitenden Engländer und
besonders Engländerinnen sich ärgerten über den Anblick der auf bequemen
Sesseln sich in Ruhe streckenden "Hunnen"-gentelmen, ein Ärger,
dem sie in Zeitungsartikeln Ausdruck gaben und im Klub Luft machten, wo
sie unseren alten Kommandanten bestürmten, an den "Barbaren" Rache zu
nehmen. Ein Y.M.C.A.-Jüngling hat uns das ausgeplaudert. Hier in
Deutschland haben wir von einer derartigen Stimmung gegen wehrlose
Kriegsgefangene nichts vernommen.
Anders
als im A- und B-Lager waren die Gefangenen hier also anständig
untergebracht, trotz des Protestes der vornehmen englischen
Gesellschaft, namentlich ihres weiblichen Teiles. Ich kann noch
hinzufügen, dass wir beiden Missionare im Zentrum der einen großen
Kaserne mit getrenntem Schlaf- und Wohnzimmer, eigener Veranda und
eigenem Treppenaufgang auf besondere Anordnung des Kommandanten
Offiziersquartiere erhielten.
Für die
Gottesdienste stand uns ein schöner großer Raum in einem besonderen
Nebengebäude zur Verfügung, und obwohl dies Parolelager nach der Zahl
der Insassen das kleinste ist, waren die Gottesdienste hier besser
besucht als im B-Lager. Merkwürdigerweise waren unsere Zuhörer
eigentlich nur Herren der besseren Stände, während die ein« fachen Leute
den Besuch der Gottesdienste in schroffer Weise ablehnten. Außer den
bisherigen regelmäßigen Besuchern des B-Lagers, die ins Parolelager
gekommen waren, fanden wir hier auch unsere alten Freunde aus dem
Zivillager von Ahmednagar wieder. Sonntag für Sonntag war früher nämlich
ein Trupp von fünfzehn Herren aus dem Zivillager zu den Gottesdiensten
im B-Lager gekommen. Plötzlich blieben sie alle aus. Freiherr von B.,
einer unserer treuen Gottesdienstbesucher, erzählte mir, er sei an einem
Montagvormittag vor die Behörde des Zivillagers gefordert worden mit der
Anklage, am Sonntagvormittag auf der M.-Straße (an der die Turnhalle,
an dem unser Gottesdienstlokal lag) gesehen worden zu sein. In Wahrheit
hatte ein Engländer ihn von der M.-Straße aus vor der Turnhalle stehend
gesehen. Von B. war von der Lagerseite in die Turnhalle gelangt und
konnte der Wahrheit gemäß versichern: "Ich habe die M.-Straße nie
betreten, sondern bin nur geradeweges vom Zivillager zum Gottesdienst
gegangen." - Der Beamte: "Aber die Kirche liegt doch an der
Kitchenerstraße." - Von B.: "Nein, da liegt doch die Kirche nicht." -
Der Beamte beschreibt ihm nun genau die Lage der englischen Kirche. -Von
B.: "Das ist aber die englische Kirche." - Der Beamte: "Gibt's denn
sonst noch eine?" - Von B.: "Gewiss, unsere deutsche Kirche ist in der
Turnhalle. Wir gehen doch dahin und nicht in die englische Kirche." -
Der Beamte: "Dazu haben Sie aber keine Erlaubnis. Die galt nur für den
englischen Gottesdienst."
Seitdem
war es den Zivilherren verboten, unseren Lagergottesdienst zu besuchen.
Sie haben sich noch viel darum bemüht, aber es wurde ihnen stets
abgeschlagen, und mit großem Bedauern sah ich die Lücke, die unsere
Zuhörerschaft seitdem aufwies.
Freilich war ihnen nicht jeglicher Verkehr mit dem B-Lager verboten. Die
Erlaubnis, zu den Fußballspielen im B-Lager zu kommen, blieb den Herren
des Zivillagers nach wie vor offen; ebenso durften sie die
Theatervorstellungen des Lagers in der Turnhalle besuchen, aber der
Gottesdienstbesuch in derselben Turnhalle blieb ihnen verwehrt. Ein
handgreifliches Zeichen, wie der Teufel in diesen Kriegszeiten bei
großen und kleinen Dingen seine Hand im Spiele hat. Ja, der Teufel ist
mächtig und stark auch in den Gefangenenlagern. Ich mag nicht viel
darüber schreiben. So war es mir eine große Freude, die Freunde aus dem
Zivillager im neuen Parolelager wieder anzutreffen, wo, wie gesagt, der
Gottesdienstbesuch fortan besser war als je zuvor.
Von der
Erlaubnis, die englische Kirche zu besuchen, machte kaum jemals einer
Gebrauch. Ich war abends einige Male da und habe mich über das stolze
pharisäische Gerede des Rev. Murdstone, oder wie er sonst hieß,
gewundert, der in Vergleichen Englands mit Israel schwelgte und alle
Gottesgerichte und Rachepsalmen des Alten Testamentes auf die deutschen
Philister herabschmetterte.
Noch allerlei aus Ahmednagar
Die
drei Lager in Ahmednagar sind einem älteren Oberstleutnant als dem
Lagerkommandanten unterstellt. Ich hatte stets von ihm den Eindruck,
dass er die Gefangenen mit Milde zu behandeln sucht und keinerlei
persönliche Gehässigkeit gegen sie an den Tag legt. Mir gegenüber hat er
sogar manche Liebenswürdigkeit gezeigt. So hat er zum Beispiel alles
getan, um einen Urlaub nach Kodaikanal für mich zu erwirken, als uns im
April 1915 dort ein kleiner Sohn geboren wurde. dass daraus nichts
wurde, lag an dem ungünstigen Bericht des amerikanischen Missionsarztes
in Kodaikanal, der meine Frau behandelte. Aus Furcht vor den Engländern
hat er durch falsche Angaben mein Gesuch vereitelt. Er war zugleich der
Prinzipal der Schule für Missionarskinder in Kodaikanal (auf den
Palnibergen) und hat Anfang 1916 meine beiden Knaben lediglich deswegen,
weil es deutsche Kinder sind, aus der Schule gestoßen, nachdem er noch
kurz vorher als Zeichen nachbarlicher Freundschaft unverlangt meiner
Familie Christbaumschmuck ins Haus geschickt hatte.
Der
Lagerkommandant macht einen sehr einfältigen Eindruck. Deutschland ist
ihm ein völlig unbekanntes Land. Von den Bayern dachte er, sie seien ein
wildes Bergvolk, also könnten sich die Deutschen nicht darüber beklagen,
dass England und seine Verbündeten auch wilde Volksstämme gegen die
Deutschen aufböten. Er ist ein "ranker", einer, der von der Pike auf
gedient hat und im Südafrikanischen Kriege zum Offizier befördert wurde.
Der alte Herr weiß kaum in seinem eigenen Gefangenenlager Bescheid. Um
so mehr liegt alles in der Hand des Adjutanten, eines Oberleutnants, der
den Gefangenen wenig wohl gesinnt ist und oft eine harte, schadenfrohe
Gesinnung durchblicken läßt. Gar kein Verständnis hatte er für die
bittere Lage verheirateter Männer, und besonders unangenehme Saiten zog
er den Missionaren gegenüber auf.
Hingegen waren alle englischen Ärzte, mit denen ich in Berührung kam,
Herren von großer Liebenswürdigkeit. Ich könnte nur Lobenswertes von
ihnen berichten, aber natürlich bleibt auch auf ihnen die Verantwortung
sitzen für die ungesunde und unwürdige Unterbringung so vieler
Gefangener in den früher beschriebenen engen und heißen
Wellblechbaracken.
Unter
den Unteroffizieren, die dem Lager zugeteilt waren, gab es nur zwei oder
drei, die geflissentlich darauf aus waren, den Gefangenen ihr Los zu
erschweren. Die meisten sind ganz umgängliche Leute, einige suchen sich
bei den Deutschen anzubiedern, namentlich wo sie Aussicht haben, mit
einem Trunk in Gestalt von Whisky und Soda traktiert zu werden.
Ein
Kerl von niederträchtiger Gesinnung ist ein alter Feldwebel und
Quartiermeister mit dem ominösen Namen Sly (Schlau). Er ist kurz und
dick und von brennendroter Gesichtsfarbe. Mehr noch als die deutschen
Gefangenen bestiehlt er die Vorräte der britischen Militärverwaltung.
Kurz, er nimmt, was er kriegen kann, und soll sich trotz der teuren
Getränke, denen er zugetan ist, ein erkleckliches Vermögen
zusammenräubern.
Wer die
schlimmste Person, deren Habgier die Gefangenen aus« geliefert sind -
dies ist einer der größten Schandflecke der Lagerverwaltung - das ist
der parsische Kaufmann, der die Kantine hält. Dieser Mann ist ein Parsi,
also ein brauner Eingeborener und Halsabschneider ersten Ranges. ...
Einige
deutsche Schiffsoffiziere im Parolelager verwalten die aus privaten
Mitteln bedachte Kasse für Verbesserung der allgemeinen Mahlzeiten.
Unter Umgehung des Parsis gelang es ihnen, bei einem Lieferanten für die
englischen Soldaten Kartoffeln zu beziehen. Mr. Sly kam aber dahinter,
und sofort wurden die zwei zuletzt gekauften Sack Kartoffeln, die 18 Rup.
gekostet hatten, beschlagnahmt. Sie sollten eben vom Parsi genommen
werden, der dafür 36 Rup. (40 Mark) fordert.
So
wurden wir in allem überteuert; doch genug davon. Ich habe dessen mit so
vielen Worten Erwähnung getan, weil ich es für meine Pflicht halte,
diese grausame Ausbeutung wehrloser Gefangener bekanntzugeben. Unsere
Landsleute in Indien, deren Hab und Gut von der englischen Regierung
verschleudert worden ist, leiden schwer unter diesem Raubsystem, das
durch die Länge des Krieges immer härter wird. Diese Sache ist natürlich
auch an den amerikanischen Konsul gegangen. Aber ob unsere Regierung je
davon gehört hat?
Die Heimreise
Eines
Tages erhielten alle Ärzte und ordinierten Missionare den Befehl,
außerhalb des Lagers anzutreten, um photographiert zu werden. Das war
eine große Freude, denn obwohl uns weiter keine Erklärung gegeben wurde,
so wussten wir doch, dass die englische Behörde unsere Photographien für
den Reisepass haben wollte. Dies geschah im Oktober 1915. Erst Ende März
1916 durften wir die langersehnte Heimreise antreten.
Auch
von unseren Familien hörten wir, dass sie photographiert wurden. Sie
sollten sich für die Abreise bereithalten. Wochen- und monatelang gingen
Befehle und Gegenbefehle und noch vielmehr einander widersprechende
Gerüchte hin und her. Unsere Frauen packten ihre Sachen und packten
alles wieder aus. So ging es mehrere Male hintereinander. Einmal hieß
es, sie sollten schon im Winter mit der "Golconda" fort, dann hieß es,
sie sollten ins Lager nach Bellary geschafft werden. Gottlob! wurden sie
vor diesem Schicksal bewahrt. Ende März 1916 wurden wir mit unseren
Lieben an Bord der "Golconda" nach langer, schmerzlicher Trennung wieder
vereinigt.
Auf dem
Schiffe herrschte eine fürchterliche Enge, die sich von Südafrika ab
noch verschlimmerte: denn in Kapstadt wurden noch gegen hundert Deutsche
an Bord gebracht, so dass wir nun etwa 500 Reisende waren, während die "Golconda"
unter normalen Verhältnissen nur die Hälfte dieser Anzahl von
Passagieren beförderte.
Durch
Gottes große Güte hatten wir fast auf der ganzen Reise ruhiges Wetter,
auch um die Südspitze Afrikas herum, wo die Schiffer meist schwere See
findend Auch unmittelbar vor unserem Eintreffen dort wütete da ein
Orkan, wie uns entgegenkommende Schiffe mitteilten; aber Gott der Herr
glättete die Wogen vor uns her. The damned luck of the Germans
("Das verfluchte Glück der Deutschen!") meinte einer der englischen
Offiziere. Wir aber priesen Gottes Barm« herzigkeit. Der allgemeine
Ausbruch von Seekrankheit in den ganz engen Kabinen und noch
fürchterlicheren, zu Kabinen umgebauten luft« und lichtleeren Laderäumen
des Schiffes hätte ein grässliches Elend mit sich gebracht. Wir hatten
aber während des Hauptteiles der Reise unter sehr großer Hitze zu
leiden, die durch die große Enge vermehrt wurde. Durch besondere
Fürsprache des englischen Arztes wurde mir und meiner Familie eine
Kabine mit sechs Betten, drei unteren und drei oberen, zugewiesen. Es
war ein ganz enger Raum, in den erst für uns Deutsche zu den
ursprünglich vorhandenen vier Betten Noch das fünfte und sechste Bett
hineingebaut war, und wir sind eine Familie von sieben Personen, Unser
kleiner, erst nach Ausbruch des Krieges geborener Hans Werner
beanspruchte ein Bett für sich allein. Das Kind war auf der Reise von
Bombay bis St. Helena todkrank. Schon einen Monat, ehe meine Frau von
Kodaikanal mit den Kindern abreiste, war er an amöbischer Dysenterie
(chronischer Ruhr) erkrankt. Durch die Reise zu Lande und zu Wasser -
meine Familie war auf der Reise von Kodaikanal nach Bombay vier Tage und
vier Nächte unterwegs - hatte sich der Zustand des Kleinen zusehends
verschlimmert; er litt schrecklich unter der Gluthitze in dem ganz engen
Schiffsraum, siebzehn Emetineinspritzungen hatte er schon erhalten, da
schien deren Wirkung ausbleiben zu wollen, und wir hatten schon ganz die
Hoffnung aufgegeben, dass unser Liebling das Ende der Reise erleben
würde. Da half uns der Herr in unserer Not und schenkte dem Kleinen wie
mit einem Schlage völlige Genesung, als wir St. Helena verlassen hatten.
Indessen freundeten sich unsere anderen vier Kinder überall auf dem
Schiffe an. An Gespielen fehlte es nicht, auch nicht an freundlichen
Menschen, die sich mit den Kindern in sehr netter Weise beschäftigten.
Die Jungen wurden in die Geheimnisse des Schachspiels eingeführt,
erhielten auch von Bruder Williems und mir, soweit es in dem großen
Gedränge und Getöse möglich war, einigen Unterricht. Da sie gut englisch
sprechen, waren sie viel beim Kapitän, der ein sehr freundlicher Mann
war; auch trieben sie sich viel auf dem Vorderdeck bei den englischen
Soldaten herum, bei denen sie als Sportgenossen völlige
Gleichberechtigung genossen.
Wie der
Kapitän, so waren auch der englische Arzt, der Kommandant der Truppen,
ein älterer Major, und mit einer geringen Ausnahme auch die übrigen
Schiffsoffiziere durchaus entgegenkommende, ja. liebenswürdige Herren,
die uns die Reise so angenehm zu machen suchten, wie es unter den sonst
so misslichen Verhältnissen möglich war. So veranstalteten die Offiziere
einmal ein großes Kinderfest, wozu sie viele Preise und sonstige
Geschenke stifteten. Eine meiner Töchter erhielt ein großes Straußenei,
und als sie, um sich zu bedanken, zum Kapitän ging, schrieb er zum
Andenken seinen und des Schiffes Namen nebst Datum auf das große Ei. Der
Major fungierte als Schiedsrichter bei den Wettspielen und gab sich auch
sonst gern mit den Kindern ab.
Eine
sehr unangenehme Sache war für mich, dass die Kisten mit unserem
schweren Gepäck, die tief unten im Schiffsinnern auf der Manganerzladung
(für Munition) verstaut waren, auseinanderfielen. Unsere meisten
Habseligkeiten hatten wir natürlich in Indien zurücklassen müssen. Über
die Dinge, die durch die Liebe anderer in Nagercoil für uns gepackt
waren, war in unserer Abwesenheit auf einer Bahnstation die indische
eingeborene Polizei hergefallen und hatte zu unserem Schaden sehr unter
den Sachen gehaust. Nun löste sich infolge der schlechten
Wiederverpackung alles in seine Teile auf, und viele Tage hatte ich tief
unten im dunkeln Ladungsraum, der durch eine beständig versagende
elektrische Lampe nur ganz notdürftig erhellt wurde, damit zu tun, alles
aufs neue aus- und in die mit großer Mühe wiederhergestellten Kisten
einzupacken. Schwarz wie ein Neger kam ich jeden Mittag wieder aus der
Tiefe und konnte mich erst, nachdem ich mehrfach in einer Badewanne
untergetaucht und frisch bekleidet war, unter den Mitreisenden sehen
lassen.
Wir
hatten eine angenehme und anständige Reisegesellschaft. Die meisten
waren ja Missionare mit ihren Familien; außerdem waren da Ärzte,
deutsche Frauen und Kinder von Kaufleuten aus Indien, die jetzt immer
noch in Ahmednagar gefangen sitzen, einige Kranke und Leidende und eine
bunt zusammengewürfelte Schar Deutscher aus dem Kaplande. Letztere
reisten auf eigene Kosten. Sehr unangenehm fielen durch ihr
widerwärtiges Benehmen und ihre leichtfertige Haltung den englischen
Offizieren gegenüber ein paar Frauen auf, die dem deutschen Namen keine
Ehre machten. Die sehr zahlreichen mitreisenden römischen Priester waren
der Mehrzahl nach höflich und hilfsbereit. Einige von ihnen haben zum
Nutzen der Gesamtheit beim Ordnen der Gepäckmassen, das während des
letzten Teils der Reise andauernd schwere Arbeit erforderte, wertvolle
Hilfe geleistet. Der Enge wegen konnte man ja nur sehr wenig Gepäck in
der Kabine halten und musste doch bei der Reise durch die wechselnden
Breiten der Erde häufig die Art der Bekleidung ändern, auch gab's eine
große Unordnung unter dem ganz schweren Gepäck tief unten, da alles neu
gezeichnet und neu verstaut werden musste. Bei dem Unglück, das ich mit
meinen eigenen Kisten hatte, war ich Zeuge der schweren Arbeit, die
viele Priester und unverheiratete jüngere Herren anderer Missionen für
die allein reisenden Damen, kinderreichen Familien und für die älteren
und kranken Leute leisteten. Die gute deutsche Erziehung machte sich
weitgehend geltend. Andererseits ist ja nichts unangenehmer als junge
Leute, die angesichts der Notlage anderer kein Glied rühren und nur an
die eigene Bequemlichkeit denken. Gute Sitte will anerzogen sein. Bei
Christenleuten soll sie aus dem rechten Geiste kommen, auch irdisches
Wissen und weltlicher Anstand soll auf dem Boden des Evangeliums stehen.
Es ist aber schimpflich für Christenleute und ein schwerer Schaden für
ihr Bekenntnis, wenn sie in äußerlich erkennbarer Wohlerzogenheit von
Weltkindern übertroffen werden . ...
So sehr
man sich freute, der Heimat näherzukommen, so war es doch in Wahrheit
eine traurige Fahrt. Losgerissen von Amt und Beruf konnte man nur mit
Wehmut an die unfreiwillig zurückgelassene Stationsarbeit in Indien
denken. Und dies war nun schon die zweite Ladung der "Golconda" die
ganze Scharen von Missionsarbeitern dem Arbeitsgebiet entführte.
Wahrlich, eine traurige Rückwärtsbewegung. entgegen dem Worte des
Heilandes: "Gehet hin in alle Weltl", eine Rückwärtsbewegungj wie sie in
der Geschichte der protestantischen Mission noch nicht vorgekommen ist.
...
In
allem war es keine erquickliche Reise. Wir saßen in einem ganz alten
unsicheren Kasten, von dem man sagte, er werde nur durch Rost und Farbe
zusammengehalten. Unter uns und um uns die wilde Meereswüste, zuletzt
kamen wir in die Kriegszone. Die Unterseebootgefahr wurde durch
öffentlichen Anschlag bekanntgegeben. Das Schiff fuhr jetzt mit
abgeblendeten Lichtern, alle Kabinenfenster mussten abends verhängt
werden, und später in der Nacht durfte überhaupt kein Licht
eingeschaltet werden. Die Rettungsboote wurden bis an die Brüstung
heruntergelassen, jedem wurde ein Platz darin zugewiesen, Alarmübungen
wurden vorher angesagt und vorgenommen. Die Frauen saßen in den
Speisesälen und waren damit beschäftigt, die vorhandenen, viel zu großen
Rettungsgürtel für die kleinen Kinder umzuarbeiten. Die eingeborene
zahlreiche Besatzung gab auch ihre^ Unruhe zu erkennen. Sie sagten zwar:
"Solange Sie mit an Bord sind, brauchen wir keinen Angriff zu fürchten,
aber sobald Sie vom Schiffe sind, werden wir ganz sicher torpediert
werden." So kam es auch. Als die "Golconda" acht Tage nach der Landung
wieder aus der Themse auslief, wurde sie prompt in den Grund gebohrt und
hat ihre wertvolle Manganerzladung, die für die Herstellung von Munition
bestimmt war, zum Glück nicht in einem anderen englischen Hafen
abliefern können.
Herrlich war aber auf der ganzen Fahrt der allabendliche Anblick und die
Beobachtung des gestirnten Himmels. In Indien sieht man das südliche
Kreuz sich nicht hoch über den Horizont erheben, auf der Fahrt südwärts
nach dem afrikanischen Kap stieg es jeden Abend höher und höher, bis es
in Kapstadt fast im Zenit stand. Dann ging die Fahrt wieder über St.
Helena nordwärts dem Äquator zu. Wunderbar leuchtete das Kreuz, das
große klare Sternbild des Skorpions und das des Orion. Nun mussten auch
die nördlichen Gestirne eins nach dem anderen wieder zum Vorschein
kommen.
Auch
die in den Breiten wechselnde Stellung der Mondsichel bietet eine
wunderbare Beobachtung. Auf der südlichen Halbkugel steht die Sichel
"anders herum", zwischen den Wendekreisen liegt der Mond auf dem Rücken.
In den
Tropen lebt man in viel intimeren Verkehr mit dem Mond und den Sternen
als hier in den kalten nordischen Nächten, während man dort die Sonne
und ihre Strahlen nach Möglichkeit meidet. Die Wunder der Sternenwelt
preisen die Schöpferherrlichkeit Gottes. Wer nur die Augen öffnet,
sieht's mit Staunen.
Im
Kanal umfing uns dichter Nebel, man sah von hinten kaum das Vorderteil
des Schiffes. Gottes Hand schützte uns auch in dieser Gefahr. In der
Nähe von Dover mussten wir fast einen ganzen Tag stilliegen. Viele
Wacht- und Torpedoboote glitten hin und her, dann und wann tauchte unter
einem Gebirge von Rauch ein größerer Kreuzer auf. Wir fuhren jetzt mit
einem ganzen Schwarm von Schiffen in einerr eng begrenzten, genau
vorgeschriebenen Fahrrinne. Hier und da ragten Teile versenkter Dampfer
aus dem Wasser hervor. Zur Zeit der Ebbe sollte man in der Gegend der
Themsemündung damals sogar 50 bis 60 Stück liegen sehen. Am 16. Mai warf
unser Schiff bei Til« bury in der Themse Anker. ...
In London
Als wir
zwischen Gravesend und Tilbury mitten auf der Themse vor Anker lagen,
waren wir alle sehr frohen Mutes. Unsere mit Photographien versehenen
Reisepässe wurden uns zugestellt, und in unserer Mitte wurde die Frage
lebhaft erörtert, in welcher Weise wir nun wohl nach Holland
hinüberbefördert würden.
Da traf
uns wie ein Donnerschlag die Ankündigung: "Alle Männer ohne Ausnahme
werden in London zurückbehalten, nur die Frauen und Kinder können
weiterreisen."
Alle
Familienväter hatten natürlich ihre Sachen mit denen ihrer
Familienglieder verpackt; alles, bis auf ganz wenig Handgepäck, soviel
jeder selbst tragen konnte, war im Schiffe verstaut. Wie viel sollten
wir nun für uns selbst mitnehmen? Es herrschte eine große Enttäuschung
und Verwirrung an Bord. Nur wenige Minuten standen uns zur Verfügung.
Der Kapitän machte sich unsichtbar. Der Major und der Doktor sagten:
"Das ist eine dumme Einrichtung (foolish arrangement); es handelt
sich aber sicher nur um, drei oder vier Tage, in denen Ihre Papiere
geprüft weiden sollen. Weiter wissen wir auch nichts."
Es war
frühmorgens gegen zehn Uhr, als ein Dampffährboot neben der "Golconda"
anlegte. Bald standen wir, etwa zweihundert Mann, jeder mit einer
kleinen Reisetasche in der Hand, dichtgedrängt auf dem Deck der Fähre,
mit unseren über die Brüstung des Ozeandampfers herab« schauenden Frauen
und Kindern die letzten Abschiedsgrüße austauschend. Dann setzte sich
die Fähre in Bewegung, und unter den brausenden Klängen des hüben und
drüben gemeinsam angestimmten Liedes "Deutschland, Deutschland über
alles" fuhren wir nach Tilbury hinüber.
Eine
kurze Bahnfahrt mit der gewohnten militärischen Eskorte brachte uns vor
die Tore des Alexandra-Palastes, der im Norden von London auf einem
Hügel erbaut worden ist. Es ist ein gewaltiges, für Vergnügungs- und
Unterhaltungszwecke aller Art errichtetes Gebäude, bestehend aus
riesigen Hallen für Ausstellungen, Konzerte, Theater, Eislauf u. dgl.
Ein Palmhaus, eine Reitbahn, japanische Pavillons, Restaurationssäle und
vieles andere befinden sich innerhalb der Mauern des Riesenpalastes.
Ringsum ziehen sich Parkanlagen bis zum Fuße des Hügels hinunter, von
denen ein Teil für den Aufenthalt der Gefangenen mit Stacheldrahtgehegen
umgrenzt ist. Oben hat man einen weiten Blick über das nördliche London
und kann bei klarem Wetter die Türme von St. Paul und Westminster und
die hohen Essen des Arsenals von Woolwich sehen.
Dies
soll das beste englische Gefangenenlager sein. Dreitausend deutsche
Zivilgefangene sind hier interniert, und nach allem, was man von anderen
Lagern hört, namentlich von dem Lager auf der Insel Man, wo 30.000
männliche Zivilpersonen ein sehr trauriges Los haben, ist es hier weit
erträglicher als anderswo.
Mit
Bruder Williems und den Breklumer und Leipziger Missionaren kam ich in
die gewaltige Zentralhalle, in der etwa tausend Betten standen, eines
dicht neben dem anderen, so dass man gerade noch Platz hatte, einen
Koffer oder ein Kistchen für die notwendigsten Lebensbedürfnisse daneben
zu stellen. So war auch hier eine große Enge und ein fürchterliches
Gedränge drinnen und auch draußen auf den Parkwegen, wo wir wehmütig die
Maienpracht der Natur betrachteten, auf deren Genuss im Vaterlande wir
uns so sehr gefreut hatten.
Bald
wurden wir draußen auf einem freien Platze dem Kommandanten vorgestellt,
der uns zunächst ganz höflich begrüßte. Aber anstatt der schmerzlich
erwarteten Aufklärung über unsere Lage hielt er uns in feierlicher Rede
die Vorzüge des Lagers und die Lagerordnungen vor. Namentlich erging er
sich ausführlich über das Laster des Rauchens, das er durch verschiedene
Bestimmungen auf ein Mindestmaß eingeschränkt habe, am liebsten aber
ganz abgeschafft hätte. Er entwickelte einen geradezu religiösen
Fanatismus gegen den Tabak, und mit entsprechenden Strafandrohungen
wurden wir entlassen.
Wir
waren empört und schickten ein Komitee von einigen Herren zum
Kommandanten, die unsere Ansprüche auf Heimsendung nach Deutschland
geltend machen sollten. Der alte Herr sagte: "Das ist nicht meine Sache.
Ich habe hier einfach alle einzusperren, die mir ins Lager geschickt
werden. Aber schreiben Sie mir alle Ihre Wünsche auf; ich werde das dann
an die Militärbehörde weitergelangen lassen." Das geschah; aber Tage und
Wochen gingen hin, ehe man hörte, was weiter geschehen würde.
Vielleicht wussten die Zeitungen mehr, die von unserer Ankunft auch
Notiz nahmen. Richtig, da war zu lesen: "Der zweite Schub deutscher
Ärzte und Missionare ist mit der 'Golconda' aus Indien angelangt und ist
zunächst in London interniert worden." Darüber zu unserer Begrüßung die
fettgedruckte Überschrift: "The combings of India." Comb
heißt auf deutsch: Kamm. Combing ist das, was nach Benutzung
eines Kammes drin stecken bleibt. Nach diesem nicht gerade
appetitlichen, aber für den englischen Patriotismus doch herzerhebenden
Vergleich waren wir also das Ungeziefer, von dem Indien nunmehr
glücklich gesäubert war. "Indien wieder ein reines Land!" Jetzt, nach
Ausweisung der christlichen Missionare! In der Tat, die englische
Frömmigkeit treibt in diesem Kriege eigenartige Blüten.
Aber
was sollte nun mit uns geschehen? Die Zeitung wusste es: "Diese neue
Schiffsladung von Hunnen soll nun, nachdem die Hunnenweiber und -kinder
(infant huns) bereits über Holland nach Deutschland
weitergeschickt worden sind, hier gründlich untersucht werden,
gründlicher als nach der ersten Golcondafahrt, damit durch ihre
Rücksendung die deutsche Armee keine Verstärkung erfährt." Nun sollten
wir auch noch "ausgekämmt" werden, damit auch ja kein
Heeresdienst-Pflichtiger mit durchschlüpfte.
Nach
einiger Zeit wurde uns offiziell mitgeteilt, unsere Dokumente sollten
sorgfältig geprüft werden, vor allen Dingen also die Ordinationsscheine.
Die sollten zur Heimreise berechtigen. Nun ist es einem englischen
Beamten vielmehr darum zu tun, seine Bürostunden abzukürzen, als
deutsche Dokumente durchzuwurzeln. Das ist jedem Engländer etwas
Grässliches. Unser Beamter, den wir nie zu sehen bekamen, und der nie
eins unserer Dokumente zu sehen bekam, machte sich's also bequem. Er
ließ Fragebogen unter uns verteilen, auf denen wir folgendes zu
beantworten hatten: 1. Name und Alter. 2. Haben Sie Anspruch auf
Heimsendung? 3. Begründung Ihres Anspruches. 4. Haben Sie
dokumentarische Beweise für Ihren Anspruch? Verabredetermaßen
antworteten wir ganz kurz auf Nr. 2: "Ja", auf Nr. 3: "Ordinierter
Geistlicher", auf Nr. 4: "Ja".
So
machten wir dem Beamten nicht viel Mühe. Alles glatt und übersichtlich,
bis auf die Zettel einiger römischer Priester, die es mit Angabe
besonderer Titel und Würden besonders gut hatten machen wollen. So
schrieb einer, er sei sogar "Militärgeistlicher in Indien" gewesen.
"Aha," dachte der Beamte, "da müssen wir erst mal bei der indischen
Behörde nachfragen." Ein anderer nannte sich "Archidiakonus". So etwas
kannte der Beamte nicht. Auch dieses so ausgefüllte Formular und noch
ein ähnliches wurde als "verdächtig" zurückgelegt. Dann hieß es: "Alles
geprüft und in Ordnung befunden, bis auf drei Priester, die
zurückzuhalten sind." Dann wurden wir alle, mit Ausnahme jener drei
unglücklichen Würdenträger, ins Durchgangslager nach Stratford gebracht.
Bis es
dahin kam, war ich mit meinen Leidensgenossen drei Wochen im
Alexandra-Palaste. Über das eintönige Lagerleben daselbst ist nicht viel
zu belichten. ...
Zuletzt waren wir noch eine Woche in Stratford, einer zum östlichen
London gehörenden Fabrikstadt. Wir wurden in einer schmutzigen
Fabrikhalle untergebracht. Mit dem schönen Wetter war es auch vorbei,
der kalte Sommer von 1916 hatte nach den schönen Maientagen auch in
England seinen Anfang genommen. Bei trübem Wetter mussten wir uns oft
stundenlang auf einem von Fabrikmauern umgebenen Hofe aufhalten. Nicht
ein einziger Baum, nicht ein einziges grünes Blatt war zu sehen. Wir
dankten Gott aus vollem Heizen, als wir nach mehrfacher gründlicher
Durchsuchung alles dessen, was wir im Koffer und auf dem Leibe bei uns
trugen, aus diesem "Fegfeuer" entlassen und endlich an Bord des
holländischen Dampfers "Königin Wilhelmina" gebracht wurden. Unter
Gottes gnädigem Schütze landeten wir am 17. Juni in Vlissingen, wo ein
Zug für uns bereit stand, der uns an die deutsche Grenzstadt Goch
brachte. Hier wurden wir von Herrn Oberleutnant Werk und seinen Leuten
sehr freundlich empfangen und durften am folgenden Tage ein jeder seinem
Heimatsorte zureisen. ... |