Gaebler Info und Genealogie

Home neu • Genealogie • Christoph Gäbler • Hannelore  Schwedes • Indien • Ökumene • Politik • Bildung • Kunst • Was noch? • Privat • Kontakt • Suchen
 

Mission in Indien
Dänisch-Hallesche Mission
Leipziger Missionare 1
Leipziger Missionare 2
Breklumer Missionare
Erster Weltkrieg 1
Erster Weltkrieg 2
Erster Weltkrieg 3
Erster Weltkrieg 4
Erster Weltkrieg 5
Zweiter Weltkrieg 1
Zweiter Weltkrieg 2
Germans in British India
Dehra Dun
Escape from Internment
Flucht aus Dehra Dun
Ludwig Schmaderer
Purandhar
Satara
Satarabilder
Internierte in Satara
Post-War Interment
Odyssey
Neuengamme
Hermann Selzer
Rolf Benkert
Gerhard Buelle
Helmuth Borutta
Jürgen Kulp
Rudolf Tauscher
Tauscher-Bilder
Jürgen-Heine Meyer
Hinrich Speck
Missionarsbilder
Rolf Benkert

Berichte von Deutschen über die Zeit des Ersten Weltkrieges in Britisch Indien 4

447 KB

Inhalt


Kriegsgefangen in Indien
Von A. Hübener


Die Hermannsburger Mission in Indien
Von Georg Haccius

Weitere Berichte


Kriegsgefangen in Indien

Von Missionar A. Hübener in Kolberg

Auszug aus der Zeitschrift "Die Evangelisch-Lutherische Freikirche", Herausgegeben von Pastor O. Willkomm in Bühlau bei Dresden, Verlag des Schriftenvereins der sep. evang.-luth. Gemeinden in Sachsen, Zwickau, 1916, Nr. 16, 17, 19, 22. 25; 1917. Nr. 4 und 7.

Zu Anfang des Krieges

Die deutschen Missionare in Indien hatten nichts mit dem Kriege zu schaffen. Wir beteten im stillen zu Gott: Er möge das Vaterland vor der Übermacht der Feinde bewahren und die schmählichen Pläne der Feinde vereiteln. Aber es war nicht unser Beruf, irgend etwas gegen die Engländer zu unternehmen. Wir gaben der englischen Regierung auch die Versicherung, dass wir nach wie vor nur unseren Beruf ausüben wollten und baten, uns diese Gelegenheit zu lassen und uns dabei fernhin zu schützen.

Trotzdem hat die Regierung fast alle Missionare in dem großen Gefangenenlager zu Ahmednagar interniert, wodurch die rein deutschen Missionen - vor Menschenaugen - der völligen Auflösung nahe« gebracht sind. Das Einzelne ist in sehr verschiedener Weise vor sich gegangen. Bei den Engländern ist nichts einheitlich geordnet. In jedem Distrikte war es anders. Es gab milde und strenge Beamte, die nach Laune und Willkür verfuhren. Eingaben und Beschwerden wurden teils gar nicht, teils ohne Begründung abschlägig erwidert. Die Beamten, welche sich der harten und ungerechten Maßregeln schämten, beriefen sich einfach auf das "Government", die Regierung, ein unpersönliches, geheimnisvolles Etwas, ein Automat, aus dem die Verordnungen herauskamen, ohne dass jemand es gewesen sein wollte. dass diese Verordnungen sich fortwährend überstürzten, widersprachen und miteinander verwickelten, tat nichts zur Sache.

Das Einzige, was klar und offen zutage trat, waren die gifterfüllten Korrespondenzen in den Zeitungen gegen alles, was deutsch war: Hunnenmänner, Hunnenfrauen und Hunnenkinder ("infant huns"). "Alles einsperren oder aus dem Lande weisen!" "Sie sind ja eigentlich gar keine Europäer, nur im geographischen Sinne!" "Von jeher" (also seit mehr als 200 Jahren) "sind die deutschen Missionare Spione gewesen!" "Indien muss wieder (!) ein reines Land werden, darum fort mit ihnen!" Solche Zuschriften liefen in Menge ein und hatten eine große Wirkung, viel mehr, als es in Deutschland der Fall sein könnte. Ganz zutreffend hieß es einmal: Die deutsche Regierung ist eine Regierung, welche regiert, aber die englische Regierung ist eine Regierung, die durch die öffentliche Meinung getrieben wird.

Diese Regierung tat nun kopflos bald dies, bald das. Nach dem Ausbruche des Krieges besuchte der Gouverneur von Madras die Basier Mission an der Westküste. Er zeigte sich sehr anerkennend, wohlwollend und freundlich, so dass die Missionare zu der Hoffnung berechtigt waren, dass ihrer friedlichen Weiterarbeit nichts im Wege stehe. Bald nach dem Gouverneursbesuch wurden aber sämtliche Missionare nach Ahmednagar gebracht. Auch ihre Frauen und Kinder wurden von den Stationen geholt und, von betrunkenen Unteroffizieren eskortiert, in ein ungesundes, heißes Lager bei Bellary geschafft, wo sie etwa ein Jahr bis zu ihrer Heimsendung nach Deutschland bleiben mussten. In dem ausgesucht bösen Klima hatten die Frauen und Kinder viel von Fieber und Krankheit zu leiden. Sie mussten sich auf Missionskosten selbst erhalten.

Nun ist der Gouverneur von Madras ein "frommer" Mann. Er ließ ihnen auf privatem Wege sein Mitgefühl ihm zugehen und unter anderem sagen, der Gedanke an die Behandlung der Missionare, nachdem er sie noch auf ihrem Arbeitsgebiete so freundschaftlich begrüßt habe, verursache ihm immer Unruhe und raube ihm sogar zuzeiten nachts den Schlaf.

Das ist ja ganz schön gesagt, nützte den Gefangenen aber nichts, die in Bellary und in Ahmednagar in ganz unwürdiger Weise untergebracht waren und blieben. An schönen Worten fehlt es den Engländern nie, und sie sollten doch bedenken, dass gerade ihre "Regierung", hinter die sich die einzelnen Schande halber oft verkriechen, sich als Ausbund von Recht und Gerechtigkeit, ja als der liebe Gott selber aufspielt.

In empörender Weise sind auch die Breklumer Missionare behandelt worden. Sie haben ihre Stationen im Nordosten der Madras-Präsidentschaft, in einer Gegend, die ein ganz besonders ungesundes malarisches Klima hat. Keine englische, keine amerikanische Mission hat es sich je einfallen lassen, in diesem fieberischen, die Gesundheit des Kräftigsten unfehlbar aufreibenden Distrikte die Arbeit aufzunehmen. Das war dem Opfermut einer deutschen Mission vorbehalten.

Die ersten drei oder vier Monate blieben diese Missionare in ihrer Arbeit unbehelligt. Dann trat ein Wechsel ein. An Stelle des milden, wohlwollenden Beamten, der sie nicht hatte stören wollen, kam ein von Hass gegen das Deutschtum und auch gegen das Christentum erfüllter Kollektor (Distriktspräsident), welcher sofort in schonungsloser Weise alle Missionare nach Ahmednagar abtransportieren ließ. Die Breklumer Frauen wurden alle in Waltair interniert. Es waren die Frauen und Kinder von 18 Familien, die in Waltair in Wohnungen, die sonst für fünf Familien berechnet sind, untergebracht wurden. In dieser fürchterlichen Enge wurden sie Tag und Nacht von eingeborenen Polizisten bewacht, welche dafür zu sorgen hatten, dass sie abends nach sechs Uhr die Häuser nicht mehr verließen. Wenn man bedenkt, dass wegen der Hitze den Tag über diese Abendstunden gerade die Zeit sind, in welcher die Frauen und Kinder die Luft im Freien genießen müssen, und wenn man ferner bedenkt, dass eingeborene Polizisten sonst nichts mit einem Weißen zu tun haben und selbst nach britischem Urteil die größten Schufte und Räuber des Landes sind, so kann man in der Art und Weise dieser Behandlung unschuldiger deutscher Frauen und Kinder nichts als bösartige Rachsucht erkennen. Die Engländer nennen es "righteous indigation" (gerechte Entrüstung).

Gegen Ende des Jahres 1914 traf auch Bruder Williems und mich - natürlich ohne jegliche Erklärung - das Los der Gefangenschaft. Man ließ mir nur zwei Stunden zum Packen. Meine Bitte, mir für den Abschluss meiner Rechnung eine Nacht zuzulegen, wurde nicht gewährt. Der Polizeiinspektor war persönlich liebenswürdig und würde es gern gewährt haben, aber da war ja das - "Government". Über die ersten etwa zehn Tage, die ich im Fort St. George in Madras zubrachte, kann ich schnell hinweggehen. Ich traf hier einige mir bekannte Missionare, Kaufleute und römische Priester. Wir waren einem Captain der Madras Volunteers (Hauptmann der Reserve) unterstellt, welcher uns in gehässiger Weise behandelte. Man sah ihm auf den ersten Blick an, dass er kein reiner Europäer war, und merkte gleich, dass er nun das Gefühl seiner Machtstellung über uns mit Behagen genoss. Briefschreiben, die Bestellung portofreier Postsendungen und andere Privilegien, von denen wir wussten, dass sie uns zustehen, wurde uns nicht gewährt, überhaupt muss ich vorweg bemerken, dass die Engländer ihren Gefangenen die ihnen nach dem Völkerrechte zustehenden Privilegien nur nach und nach, nach langem Zögern und in dem Maße zukommen ließen, als durch Bekanntwerden unserer Lage ihren eigenen in Deutschland gefangen gehaltenen Leuten dadurch kein Nachteil erwuchs. Zum Glück für uns hatte Deutschland schon bald nach Anfang des Krieges eine große Anzahl englischer Kriegsgefangener, und zwar, im Unterschiede von England, solche, die im ehrlichen Kampfe gewonnen waren.

Ich erinnere mich der entsetzlich schmutzigen Küche im Fort, das ganz engen stachelumzäunten Hofes, der Notwendigkeit, viele fürs Lagerleben nötige Dinge (Essgeräte, Decke, Stuhl, Moskitonetz usw.), welche man zu Hause doch in Fülle besaß, zu hohem Preise neu einkaufen zu müssen.

Als die vor mir eingelieferten Gefangenen im ersten Schub nach Ahmednagar befördert wurden, sahen wir sie wie Verbrecher fortgeholt werden. Ein Offizier ließ sie antreten, erklärte, dass auf jeden, der einen Fluchtversuch machen würde, geschossen werden würde, und dann ging es unter glänzender militärischer Machtentfaltung - neben je drei Gefangenen saß ein halbschwarzer Kerl mit aufgepflanztem Bajonett und außerdem noch blanke Waffen hinten und vorne - dem Bahnhofe zu. Dabei hatten alle schriftlich ihr Ehrenwort gegeben, keinen Fluchtversuch oder ähnliches zu machen.

Als wir übrigen einige Tage später an die Reihe kamen und die gleiche Parole unterzeichnen sollten, fragten wir natürlich: Wozu das? Man hatte erwartet, etwa von einem Polizisten in Zivil nach der Bahn begleitet zu werden. Die Antwort war, dass solche, welche jenen Eid nicht leisten wollten, mit Handschellen transportiert werden würden. Wir ließen es nicht darauf ankommen und unterzeichneten die Parole.

nach oben


Das A-Lager in Ahmednagar

Nach etwa dreißigstündiger Bahnfahrt kamen wir in Ahmednagar an. Vier englische Meilen von der Bahnstation entfernt liegen die beiden Gefangenenlager (jetzt sind es drei), in welchen jetzt etwa 1.500 Deutsche untergebracht sind. Diese nahe beieinander liegenden Lager sind immer militärischen Kommandos unterstellt. Einige Meilen weiter ab befindet sich auch noch ein von der Zivilbehörde verwaltetes Lager für ältere Deutsche. In diesem Zivillager, dessen Insassen größere Freiheit und bessere Beköstigung genossen, wurden außerdem auch - mit wenigen Ausnahmen - die vielen römischen Priest« jeden Alters interniert. Die haben überall in der Welt ihre Vorrechte.

Das größte Lager ist das A-Lager. Es beherbergt 1.000 Gefangene, eher mehr als weniger. Vier langgestreckte einstöckige Infanteriekasernen sind von einem doppelten Stacheldrahtgehege umgeben. Zwischen den beiden Gehegen laufen die Posten auf und ab. Im Innern des Lagers ist sehr, sehr wenig Platz zum Umhergehen und für die turnerischen Spiele der Insassen. Dieser geringe Raum wurde zum größten Teil noch von Hunderten von Zelten in Anspruch genommen, in denen ein großer Teil der Gefangenen bis Ende 1915 zu wohnen hatte.

Das Leben in den alten baufälligen Baracken, die schon längst von den englischen Ärzten als ungeeignet für europäische Soldaten verurteilt (medically condemned) waren, war nicht schön, aber in den Zelten war es schaurig.

Acht Mann wohnten in jedem Zelte, so viele Betten gingen genau hinein. Unten der staubige Fußboden, der sich bei Regenwetter durch das einströmende Wasser stellenweise in Kot verwandelt, oben die Sonnenglut.

Wenn ein englischer Beamter oder ein Missionar seinen Distrikt bereist, so hat er häufig eine Zeitlang im Zelte zu wohnen. Man schlägt das Zelt aber unter einem hohen Schattenbaume auf und lebt stets nur eine kurze Zeit unter dem Zeltdache.

Die Zelte der armen Gefangenen standen unter der grellen Sonne. Schon in den Mittags- und Nachmittagsstunden der sogenannten kühlen Jahreszeit war die Hitze hier kaum zu ertragen, wie sollte es erst in der heißen Zeit werden? Durch die Freundlichkeit einiger vor mir internierter Missionare kam ich gleich in eine Kasernenstube. Mehrere Hundert waren aber schlimmer daran. Ich erinnere mich, dass ein älterer Missionar, den der lange Aufenthalt in Indien schon sehr angegriffen hatte, mittags aus seinem Zelte öfters zu uns kam und sich im Zustande größter Erschöpfung bei uns aufs Bett legte. Viele Leute klagten, ihnen werde am Tage ganz schwindlig zumute, Monat für Monat nur durch ein Zeltdach vor den Strahlen der erbarmungslosen Sonne geschützt.

Die Militärbehörde hätte dem Übelstande schnell und leicht abhelfen können. Ganz in der Nähe befinden sich prächtige zweistöckige Artilleriekasernen, aus Granit erbaut, hoch und luftig, gar nicht zu vergleichen mit den baufälligen Kasernen im A-Lager. Die Artilleriekasernen waren ganz leer und blieben es, bis sie im Dezember 1915 teilweise den Gefangenen des neuen Parolelagers zugewiesen wurden. Also die Militärbehörde wollte die Artilleriekasernen nicht hergeben, zugleich wollte sie aber die teuren Zelte schonen, und das führte Anfang April 1915, einen Monat nach Beginn der heißen Jahreszeit, zu folgender "Abhilfe".

Im engen Raum des A-Lagers wurden ganz lange, ganz schmale und niedrige Wellblechbaracken errichtet für die bisher in den Zelten Untergebrachten. Die Decke, etwa zehn Fuß über dem Boden, bestand auch aus Wellblech.

Selbst der an die Sonnenstrahlen gewöhnte Eingeborene will etwas anderes als Wellblech über dem Kopfe haben. Er ist mit einer engen, niedrigen Lehmhütte zufrieden, aber über sich hat er ein dickes Dach aus Palmblättern oder Dachziegeln.

Ganz andere, und zwar der Gesundheit wegen berechtigte Ansprüche macht der Europäer. Solange die Sonne am Himmel steht, vom frühen Morgen bis etwa fünf Uhr nachmittags - ganz gleich, ob der Himmel klar oder bewölkt ist - darf er sich nicht ohne seinen dickgepolsterten Sonnenhut ins Freie wagen. Erst gegen Sonnenuntergang darf Strohhut oder Mütze aufgesetzt werden.

Ebenso sind die Wohnungen für Europäer dem Klima entsprechend erbaut: weit, hoch und luftig. In meinem Wohnhause in Nagercoil habe ich Zimmer, die zehn und sieben Meter lang, acht und fünf Meter breit und sieben bis acht Meter hoch sind. Alle Missionen, selbst wenn sie aufs äußerste zum Sparen angewiesen find, bauen derartige Wohnungen, und die missourische Misstonsleitung hat längst erkannt, dass ein solches Bauen keine Verschwendung, sondern eine Notwendigkeit ist.

Und nun sperren die Engländer, die ja auch ihre indischen Erfahrungen haben, im Tropendienst geschwächte Familienvater, die durch langjährige Dienste in Kirchen und Schulen nur das Beste des Landes gesucht haben, in solche Blechbaracken mit niedrigem, der Sonne so gut wie gar keinen Widerstand bietendem Dache. Ein Besuch in den Blechbaracken zur Mittagsstunde bietet uns folgendes Bild: Die Bewohner sitzen oder liegen auf ihren Betten mit dem Sonnenhute auf dem Kopfe oder unter aufgespanntem Schirme. Der Fußboden ist eine unebene Masse von Staub, Erdklumpen und Steinen. Ein Fegen auf diesem Schutt ist überhaupt unmöglich; man müsste den ganzen Fußboden hinausschleppen, und darunter ist allemal derselbe Schutt. Wir berühren die eiserne Wand; sie ist heiß, heißer aber noch ist das der Sonne zugewandte Blechdach.

Erstaunt über die Wohnungsverhältnisse war selbst der - amerikanische Konsul. Wir haben noch keinen gesehen, der uns wohlgesinnt wäre. Wir kennen diese "neutralen" Herren zur Genüge und haben genug von ihnen. In Bombay zwar war vor einiger Zeit ein deutsch-amerikanischer Konsul, von dem wir uns Hilfe versprachen. Der ist aber nie bei uns vorgelassen worden, er wurde bald aus allen Klubs in Bombay ausgestoßen, nahm seine Papiere und ist nun schon längst in Amerika. - Aber selbst jener uns besuchende amerikanische Konsul verlor doch beim Anblick der Blechbaracken einen Augenblick seine Fassung und stammelte ganz verwirrt: "Faktisch, hier wohnen Menschen?" Die Engländer werden ihn durch moralische Begründungen nachher jedenfalls völlig darüber beruhigt haben, dass die Sache so in Ordnung sei. Sonst wären die Blechbaracken wohl nicht mehr da.

Der amerikanische Konsul hätte noch mehr sehen können, wenn er bei Regenwetter gekommen wäre. Zum Schutze gegen die Sonne hatte man eine Lehmschicht (anstatt der Dachziegel) auf den Blechdächern ausgebreitet. Gleich beim ersten Regen löste sich der Lehm auf und drang zusammen mit dem Regenwasser durch die langen, zu knapp überdachten Lüftungsritzen ins Innere der Hütten. Betten, Koffer und Kisten wurden von der braunen Brühe übergossen. Stellenweise drang das Wasser in solchen Mengen ein, dass die Betten ganz im Wasser standen und die Gefangenen im Matsch wohnten. Man hat dann die Lüftungsritzen zugebaut, und von der "schützenden" Lehmschicht sind nur noch einige Spuren vorhanden.

Das Leben im Lager wird zur Qual durch den Staub. Viele Monate lang regnet es ja überhaupt nicht. Nun stelle man sich vor, dass tausend Menschen wochen- und monatelang auf demselben Fleckchen im Freien umherlaufen. Schon in den ersten Wochen ist das vertrocknete Glas zerstampft, bald sind auch die Graswurzeln zertrampelt, und man wandert knöcheltief in einem feinen weißen Staub. Der zuzeiten sehr heftige Wind trägt ganze Staubwolken in die Kasernen und Blechhütten, jeder Gegenstand ist von einer dicken Staubschicht bedeckt, Staub auf den Essgeräten, Staub im Essen, der einem im Munde knirscht. Nur einmal tief atmen können, nur einmal im Freien spazieren gehen, das ist der sehnliche Wunsch der im Staub schmachtenden A-Lager-Sträflinge.

Sträflinge? Jawohl: Sträflinge! Nicht nur die Gefangenen, auch der Kommandant, sein Adjutant und die Sergeanten sehen das A-lager als Straflager an. Wer sich in den anderen Lagern etwas zuschulden kommen lässt, wird zur Strafe ganz offiziell ins A-Lager gesteckt. Und wer im A-Lager Strafe verdient, kommt in die Blechbaracke. Diese Strafbaracken im Straflager waren von vornherein der für die größte Zahl der Missionare bestimmte Aufenthaltsort: "to mortitfy the flesh" ("zur Tötung des Fleisches"), wie sich der Adjutant, ein englischer officer and gentleman, schadenfroh äußerte. Trotz alledem ging's zu meiner Zeit im A-Lager ziemlich lustig zu. Allerhand Ballspiele und Sportübungen (wenn nur der Staub nicht wäre!) werden vorgenommen. Es gibt viel Musik, Vorträge werden gehalten, allerlei nützliche Kurse werden regelmäßig durchgenommen, mannigfacher Sprachunterricht, sogar im Spanischen und Chinesischen, wird erteilt. Ich nahm, solange ich dort war, an den Sanskritstunden des Herrn Dr. Schrader teil, dem ich mit anderen Missionaren dafür zu großem Danke verpflichtet bin. Die Y.M.C.A. (Christliche Vereinigung Junger Männer) sorgt wöchentlich ein- oder zweimal für eine Kino« Vorstellung im Lager.

Natürlich wurden von den Missionaren sonntägliche Gottesdienste abgehalten. Der hierfür zur Verfügung stehende Raum, meiner Zeit ein langes Zelt, das aus lauter kleinen Zelten zusammengesetzt war, war sehr wenig einladend. Jeder musste sich Sitzgelegenheit selber mitbringen. ...

nach oben


Das B-Lager bei Ahmednagar

An das A-Lager schließt sich das B-Lager an. Beide sind nur durch eine Straße voneinander getrennt. Auch das B-Lager ist von einem doppelten Stacheldrahtzaun umsponnen, aber hier waren die hohen eisernen Tore Tag und Nacht geöffnet. Keine Posten liefen zwischen den Stachelgehegen auf und ab. Die Insassen durften von vormittags sieben Uhr bis abends ½10 Uhr auf den ihnen zugewiesenen Straßen spazieren gehen und auf zwei nach Osten führenden Landstraßen Touren ins Freie machen, so weit wie sie nur wollten, vorausgesetzt, dass sie abends zur rechten Zeit, also ½10 Uhr wieder im Lager eintrafen.

Im B-Lager befanden sich durchweg bessergestellte Kriegsgefangene, wie Ingenieure, bemittelte Kaufleute, Schiffsoffiziere und Offiziere, die in Ostafrika gefangengenommen waren. Außerdem waren hier die aus dem A-Lager für die Bedienung Zugelassenen meistens Seeleute. Diese alle hatten den Engländern Parole gegeben, d. h. sich eidlich verpflichtet, im Laufe des gegenwärtigen Krieges nicht die Waffen gegen Großbritannien und dessen Verbündete zu erheben.

Die Missionare waren vom Zutritt ins Parolelager und den hier gewählten Privilegien ausgeschlossen. Gründe wurden für diese Zurücksetzung nicht angegeben. Die Bitten um Zulassung wurden einfach nicht beantwortet.  

Am Heiligabend 1914 las ich mit Erstaunen meinen Namen auf der Liste derer, die laut Lagerorder ins B-Lager versetzt werden sollten. Nach langem Warten auf der Kommandantur, wohin wir durch einen Sergeanten geführt wurden, kam auch ich endlich an die Reihe, vorgelassen zu werden. Der Adjutant erklärte mir aber, mit meinem Namen sei es ein Irrtum. Ich könne nur zur Abhaltung des vom B-Lager gewünschten Weihnachtsgottesdienstes zugelassen werden. Auf meine Frage, ob wir Missionare nicht auch ins Parolelager versetzt werden könnten, wurde ausweichend geantwortet. Ich bekam also nur einen für einige Stunden gültigen Pass.

Mehrere Wochen danach geschah es denn aber, dass Missionar H. von der Leipziger Mission und ich Erlaubnis erhielten, ins B-Lager zu ziehen. Für uns arme Gefangene war das ein großes Ereignis. An einem herrlichen Vormittage gegen Ende der kühlen Jahreszeit zogen wir hinaus in die - "Freiheit". Der böse Stacheldraht lag hinter uns, aus der qualvollen staubigen, heißen Enge ging es hinein in die frische, klare Morgenluft. Wir wanderten unter grünen Bäumen einher, Fuhrwerke sausten an uns vorüber, dazwischen trippelten die stets laut schwatzenden Eingeborenen. Dann wieder lange Reihen einher schleichender Ochsenkarren, vorüber gleitender Kraftwagen, Engländer und Engländerinnen hoch zu Ross  bei ihrem Morgenritt.

Uns beiden wurde ein nettes Quartier zugewiesen. Inmitten der langgestreckten Kasernen für das Parolelager, die, wenn sie auch nicht regendicht waren, doch weit luftiger und höher sind als die Gebäude im A-Lager, befindet sich ein Wohnhaus, das in Friedenszeiten einem Feldwebel oder Quartiermeister mit Familie als Wohnung diente. In der Mitte liegt ein sehr geräumiges Zimmer, das an beiden Längsseiten Türen und Fenster hat. Links und rechts schließen sich Schlaf- und Baderäume an. Hier hausten wir mit zwei österreichischen Offizieren der Handelsflotte. Das große Mittelzimmer blieb frei von Betten und war gerade in den Monaten der heißen Jahreszeit, die wir hier zubrachten, ein angenehmer Aufenthaltsort. Vorne hatten wir auch eine Veranda, wo wir abends auf unseren Klappstühlen saßen.

Wir konnten jetzt also mit unserem Quartier zufrieden fein, aber gefangen waren wir auch hier, und die Sehnsucht nach Weib und Kind und nach unserer geliebten Missionsstation und Arbeit bedrückte Herz und Gemüt nach wie vor.

Bald nach unserem Einzüge hier beehrte uns ein Vertreter der Y.M.C.A (Christliche Vereinigung Junger Männer) mit seinem Besuche. Ausgehend von den unleugbaren Vorteilen unserer Einquartierung, die wir zugestehen mussten, schlängelte er sich an uns heran mit der Bitte, ihm das schriftlich zu geben. Er wollte schon dafür sorgen, dass der Zensor es durchlasse. Die Botschaft sei für eine sehr vornehme neutrale Dame in der Schweiz, eine große Missionsfreundin; die habe nämlich allerlei törichte Gerüchte über die unwürdige Einkerkerung der deutschen Missionare gehört und sei darob in ihrem Heizen sehr betrübt. Diese liebe Seele würde nun sehr getröstet werden, wenn sie von uns selbst hörte, wie gut es uns doch in Ahmednagar erginge. Ohne langes Besinnen erwiderten wir, wir seien gerne bereit, über die Behandlung der deutschen Missionare im Gefangenenlager einen schriftlichen Bericht zu erstatten. Selbstverständlich würden wir aber nicht nur unser nettes Häuschen, sondern auch die Blechbaracken im A-Lager und die Unterbringung von über hundert anderen Missionaren hinter dem Stacheldraht beschreiben. Aber es sei wohl sehr fraglich, ob der Zensor das durchlassen würde. Der Y.M.C.A.-Mann meinte auch, das könne man dem Zensor wohl nicht zumuten. Auch hätte es die Missionsfreundin schwerlich getröstet. Er verzichtete also auf unser Anerbieten ....

Von der uns erteilten Erlaubnis, Spaziergänge und Ausflüge zu machen, machten wir fleißigen Gebrauch.

Die Straßen der Stadt, die uns zur Verfügung standen, haben ein freundliches Aussehen; hier liegen die von netten Gärten umgebenen Bungalows (europäische Wohnhäuser) der Beamten und Offiziere. Gleich von hier aus kommt man ins Freie. Zunächst ist die Landstraße noch von schönen Bäumen beschattet. Wir gehen an der Rennbahn vorüber. Rechts kommt als letztes Haus die Pfarrwohnung des Militärgeistlichen, von Schattenbäumen und Rankengewächsen teilweise verhüllt. Jetzt hört der Baumwuchs auf, und eine Öde breitet sich vor unseren Blicken aus. Den größten Teil des Jahres liegen die kümmerlichen Felder grau und von der Sonne ausgebrannt vor uns. Es ist "gen Himmel schauendes" Land ohne künstliche Bewässerung. Wehe, wenn der Regen in der Monsunzeit ausbleibt! Dann gibt's Hungersnot - natürlich nur für die Eingeborenen.

Aber das Land ist nicht ganz flach, und die einige Kilometer vor uns aufsteigenden Berge geben der sonst so öden Landschaft einen angenehm wirkenden Abschluss. Das Ziel unserer Wanderung sind natürlich die vor uns liegenden Berge, namentlich ein weithin sichtbarer Turm, der, auf einer vorspringenden Anhöhe gelegen, gleichsam zum Besteigen einladet.

Plötzlich hat man einen Geländeeinschnitt vor sich, ein liebliches grünes Tal voller Leben und Farbenpracht tut sich vor uns auf, eine Oase in der Wüste. Ein überraschender angenehmer Wechsel. Breite Steinstufen führen zur Quelle hinab. Daneben steht auf hohen Granitsäulen eine gewölbte Halle, von einem reichen Mohammedaner zur Rast für den müden Wanderer errichtet. Plätschernd rieselt das Wasser über die Steine. Hunderte und Tausende von wilden Tauben girren in den Baumzweigen und Sträuchern und haben hier und im Gestrüpp an den Bergabhängen ihre Nester.

Von hier geht's nun den Berg hinan auf steilem, gewundenem Pfade empor zum Turm, der jetzt, aus der Nähe betrachtet, als ein ganz bedeutendes mehrstöckiges Bauwerk im maurischen Stil mit geschweiften Rundbogen aus großen Granitquadern errichtet, vor uns steht. Es ist das Grabdenkmal eines mohammedanischen Heiligen, ein großartiger Bau mitten im wüsten, wilden Dschungel. Der diensteifrige Wächter führt uns durch eine prächtige hochgewölbte Eingangshalle hindurch, endlos scheinende Reihen von Stufen hinan, bis hinauf auf das flache Dach, wo man durch einen herrlichen Rundblick für die Mühe des Steigens reichlich belohnt wird.

Weiterhin in den Bergen erschauen wir von hier einen sehr hübschen, etwa fünf Kilometer langen und halb so breiten See, der durch eine Staumauer künstlich gebildet ist. Die Bewaldung um den Abfluss herum lockt uns. Nach mühsamer Wanderung auf einem von niederem Gestrüpp bedeckten Höhenrücken entlang erreichen wir das Ufer. Wieder erfreut uns der köstliche Schatten hoher Bäume, die man in Indien noch mehr als sonst lieben und schätzen gelernt hat.

Von der Staumauer stürzen wir uns in die kühle Flut und nehmen ein köstliches Bad. Dann wird abgekocht. Man liegt im grünen Grase unter schattigen Bäumen neben dem hochlodernden Lagerfeuer und denkt an die armen Kameraden im staubigen A-Lager. Wenn die doch auch einmal einen solchen Ausflug machen könnten! Man denkt an die fernen Lieben, an die daniederliegende Arbeit auf der Missionsstation, an die blutigen Kämpfe rings ums deutsche Vaterland und empfindet trotz der schönen friedlichen Umgebung die ganze Bitterkeit der Gefangenschaft. - Unter dem strahlenden Sternenhimmel geht's dann ins Lager zurück.

Die größte Wohltat, die mir aber durch Gottes Güte im Parolelager zuteil ward, und wodurch mir das Schwere der Gefangenschaft am meisten erleichtert wurde, war der Umstand, dass es mir hier vergönnt war, abwechselnd mit dem anderen Missionar, regelmäßige Gottesdienste zu halten. Die geräumige Turnhalle stand uns hierfür zur Verfügung: die Zahl der Zuhörer war leider gering, aber die, welche kamen, waren treu im Besuche der Gottesdienste. Gottes Gnadenwort war uns eine Quelle des Trostes und der Freude mitten im Leid. Auch habe ich einige Missionsvorträge gehalten.

nach oben


Das neue Parolelager bei Ahmednagar

Eines Tages war es mit der Freiheit im B-Lager vorbei. Die bisher geöffneten Tore wurden geschlossen. Die Stachelumzäunung war ja schon lange fertig, und nun glich das B-Lager dem A-Lager bis auf die Blechbaracken, die der einzige Nachteil des A-Lagers blieben. Das ging so zu:

Ein Insasse des B-Lagers hatte, was allerdings gegen das den Engländern gegebene Wort verstieß. mit einem pensionierten mohammedanischen Armeeoffizier Zusammenkünfte gehabt, und wohl allerlei politische Gespräche mit ihm geführt. Dabei waren sie von einem eingeborenen Detektiv beobachtet worden. Der brachte das zur Anzeige und erschien eines Tages mit einem englischen Polizeioffizier im Lager, um den Schuldigen anzugeben. Wir hatten alle Befehl, das Lager nicht zu verlassen und uns bei unseren Betten aufzuhalten. Der schwarze Geheimpolizist wurde nun von Bett zu Bett geführt, aber es war vergebens; er konnte den Gesuchten nicht finden. Einige Tage danach wurde noch ein Versuch gemacht. Wir mussten uns in langen Reihen draußen vor der Turnhalle aufstellen, und unter der Begleitung der Lageroffiziere schritten der weiße und der schwarze Polizist unsere Reihen ab, bei jedem einzelnen Halt machend und ihn prüfend anschauend. Ganz in der Nähe wies er auf einen jungen Mann, der gleich abgeführt wurde. Das war aber nicht der richtige. Der wirkliche Missetäter hatte es verstanden, sein Aussehen genügend zu verändern, so dass er nicht entdeckt wurde, und der unrechterweise Abgeführte konnte leicht seine Unschuld beweisen, da er keine indische Sprache reden konnte, und wurde bald aus der Haft entlassen. Diese Vorführung vor einem eingeborenen Polizisten erregte bei einigen unserer Landsleute Unwillen, und als der englische Polizeileutnant sich anschickte, zusammen mit dem schwarzen Detektiv das Lager zu verlassen, tönten den beiden einige höhnende Zurufe nach. Das war die Ursache für Schließung des Parolelagers.

Inzwischen mehrte sich die Anzahl der Gefangenen. Die Engländer erhöhten das deutsche Militäralter von 45 auf 55 Jahre (vermehrten also den deutschen "Militarismus", den sie ja eigentlich ganz abschaffen wollen), und infolgedessen wurden nun die meisten älteren Herren, die im Zivillager von Ahmednagar eine bessere Verpflegung genossen, ins "Militärlager" gesteckt, in dem wir Jüngeren waren. Ein ganzer Trupp älterer Zivilgefangener kam auch aus Catapata, einer Bergstation in den Himalajas. Dort waren sie bislang zusammen mit deutschen Frauen gefangen gehalten worden. Sie alle erzählten übereinstimmend, dass sie von einem ganz jungen Polizeibeamten schändlich behandelt worden seien. Die aus Barmherzigkeit in dem kühlen Luftkurort untergebrachten alten, teils kranken Männer, die Frauen und Kinder mussten oft lange bei Wind, Regen und Schnee draußen stehen, weil der junge Beamte ganz unregelmäßig zum täglichen Namenaufruf erschien. Keiner durfte sich aber vorher entfernen, keiner durfte auch nur eine Minute zu spät kommen. Er oder sie wurde sofort dafür eingesperrt. Die Gefängniszellen waren stets von ganz unschuldigen deutschen Frauen und alten Männern gefüllt. Die bloße Äußerung einer Beschwerde wurde in niederträchtiger Weise sofort mit Einkerkerung bestraft. Die armen Leute waren so eingeschüchtert, dass sie einem höheren englischen Inspektionsbeamten und auch dem amerikanischen Konsul gegenüber keine Klage vorzubringen wagten. Geld und Pakete wurden ihnen geraubt; es war eine Schreckensherrschaft, die der junge Engländer dort geführt hat. Dergleichen war uns in solchem Maße nicht zuteil geworden, und die alten Leute waren froh, in Ahmednagar andere Verhältnisse vorzufinden.

Als sich nun die Gefangenenzahl in Ahmednagar so erhöhte, konnten trotz äußerster Zusammenpferchung die beiden vorhandenen Lager A und B die Gefangenen nicht mehr fassen, und nun endlich gab die Behörde die bereits früher erwähnten Artilleriekasernen für ein drittes Lager her: das neue Parolelager.

Die Artilleriebaracken liegen etwas weiter außerhalb der Stadt inmitten eines weiten Exerzierplatzes. Diese Kasernen, die, wie früher schon gesagt, 1¼ Jahr seit Ausbruch des Krieges völlig leergestanden haben, wurden nun mit einer Auslese bessergestellter Gefangener und einer Anzahl älterer Herren aus dem bisherigen Zivillager belegt. Es sind prächtige zweistöckige Gebäude, ganz aus Granit erbaut, mit hohen, luftigen Räumen, alles solide und sicher gegen Regen und Sonne. Ringsum laufen breite Veranden, die nach Europäer Art von den In« saßen bald wohnlich eingerichtet waren, und mit den runden Tischen, Lehnstühlen, Decken, Bildern, Kriegskarten und indischen Wandbehängen ein gemütliches, ja komfortables Aussehen hatten. Mein Wunder, dass die vorüberfahrenden und -reitenden Engländer und besonders Engländerinnen sich ärgerten über den Anblick der auf bequemen Sesseln sich in Ruhe streckenden "Hunnen"-gentelmen, ein Ärger, dem sie in Zeitungsartikeln Ausdruck gaben und im Klub Luft machten, wo sie unseren alten Kommandanten bestürmten, an den "Barbaren" Rache zu nehmen. Ein Y.M.C.A.-Jüngling hat uns das ausgeplaudert. Hier in Deutschland haben wir von einer derartigen Stimmung gegen wehrlose Kriegsgefangene nichts vernommen.

Anders als im A- und B-Lager waren die Gefangenen hier also anständig untergebracht, trotz des Protestes der vornehmen englischen Gesellschaft, namentlich ihres weiblichen Teiles. Ich kann noch hinzufügen, dass wir beiden Missionare im Zentrum der einen großen Kaserne mit getrenntem Schlaf- und Wohnzimmer, eigener Veranda und eigenem Treppenaufgang auf besondere Anordnung des Kommandanten Offiziersquartiere erhielten.

Für die Gottesdienste stand uns ein schöner großer Raum in einem besonderen Nebengebäude zur Verfügung, und obwohl dies Parolelager nach der Zahl der Insassen das kleinste ist, waren die Gottesdienste hier besser besucht als im B-Lager. Merkwürdigerweise waren unsere Zuhörer eigentlich nur Herren der besseren Stände, während die ein« fachen Leute den Besuch der Gottesdienste in schroffer Weise ablehnten. Außer den bisherigen regelmäßigen Besuchern des B-Lagers, die ins Parolelager gekommen waren, fanden wir hier auch unsere alten Freunde aus dem Zivillager von Ahmednagar wieder. Sonntag für Sonntag war früher nämlich ein Trupp von fünfzehn Herren aus dem Zivillager zu den Gottesdiensten im B-Lager gekommen. Plötzlich blieben sie alle aus. Freiherr von B., einer unserer treuen Gottesdienstbesucher, erzählte mir, er sei an einem Montagvormittag vor die Behörde des Zivillagers gefordert worden mit der Anklage, am Sonntagvormittag auf der M.-Straße (an der die Turnhalle, an dem unser Gottesdienstlokal lag) gesehen worden zu sein. In Wahrheit hatte ein Engländer ihn von der M.-Straße aus vor der Turnhalle stehend gesehen. Von B. war von der Lagerseite in die Turnhalle gelangt und konnte der Wahrheit gemäß versichern: "Ich habe die M.-Straße nie betreten, sondern bin nur geradeweges vom Zivillager zum Gottesdienst gegangen." - Der Beamte: "Aber die Kirche liegt doch an der Kitchenerstraße." - Von B.: "Nein, da liegt doch die Kirche nicht." - Der Beamte beschreibt ihm nun genau die Lage der englischen Kirche. -Von B.: "Das ist aber die englische Kirche." - Der Beamte: "Gibt's denn sonst noch eine?" - Von B.: "Gewiss, unsere deutsche Kirche ist in der Turnhalle. Wir gehen doch dahin und nicht in die englische Kirche." - Der Beamte: "Dazu haben Sie aber keine Erlaubnis. Die galt nur für den englischen Gottesdienst."

Seitdem war es den Zivilherren verboten, unseren Lagergottesdienst zu besuchen. Sie haben sich noch viel darum bemüht, aber es wurde ihnen stets abgeschlagen, und mit großem Bedauern sah ich die Lücke, die unsere Zuhörerschaft seitdem aufwies.

Freilich war ihnen nicht jeglicher Verkehr mit dem B-Lager verboten. Die Erlaubnis, zu den Fußballspielen im B-Lager zu kommen, blieb den Herren des Zivillagers nach wie vor offen; ebenso durften sie die Theatervorstellungen des Lagers in der Turnhalle besuchen, aber der Gottesdienstbesuch in derselben Turnhalle blieb ihnen verwehrt. Ein handgreifliches Zeichen, wie der Teufel in diesen Kriegszeiten bei großen und kleinen Dingen seine Hand im Spiele hat. Ja, der Teufel ist mächtig und stark auch in den Gefangenenlagern. Ich mag nicht viel darüber schreiben. So war es mir eine große Freude, die Freunde aus dem Zivillager im neuen Parolelager wieder anzutreffen, wo, wie gesagt, der Gottesdienstbesuch fortan besser war als je zuvor.

Von der Erlaubnis, die englische Kirche zu besuchen, machte kaum jemals einer Gebrauch. Ich war abends einige Male da und habe mich über das stolze pharisäische Gerede des Rev. Murdstone, oder wie er sonst hieß, gewundert, der in Vergleichen Englands mit Israel schwelgte und alle Gottesgerichte und Rachepsalmen des Alten Testamentes auf die deutschen Philister herabschmetterte.

nach oben


Noch allerlei aus Ahmednagar

Die drei Lager in Ahmednagar sind einem älteren Oberstleutnant als dem Lagerkommandanten unterstellt. Ich hatte stets von ihm den Eindruck, dass er die Gefangenen mit Milde zu behandeln sucht und keinerlei persönliche Gehässigkeit gegen sie an den Tag legt. Mir gegenüber hat er sogar manche Liebenswürdigkeit gezeigt. So hat er zum Beispiel alles getan, um einen Urlaub nach Kodaikanal für mich zu erwirken, als uns im April 1915 dort ein kleiner Sohn geboren wurde. dass daraus nichts wurde, lag an dem ungünstigen Bericht des amerikanischen Missionsarztes in Kodaikanal, der meine Frau behandelte. Aus Furcht vor den Engländern hat er durch falsche Angaben mein Gesuch vereitelt. Er war zugleich der Prinzipal der Schule für Missionarskinder in Kodaikanal (auf den Palnibergen) und hat Anfang 1916 meine beiden Knaben lediglich deswegen, weil es deutsche Kinder sind, aus der Schule gestoßen, nachdem er noch kurz vorher als Zeichen nachbarlicher Freundschaft unverlangt meiner Familie Christbaumschmuck ins Haus geschickt hatte.

Der Lagerkommandant macht einen sehr einfältigen Eindruck. Deutschland ist ihm ein völlig unbekanntes Land. Von den Bayern dachte er, sie seien ein wildes Bergvolk, also könnten sich die Deutschen nicht darüber beklagen, dass England und seine Verbündeten auch wilde Volksstämme gegen die Deutschen aufböten. Er ist ein "ranker", einer, der von der Pike auf gedient hat und im Südafrikanischen Kriege zum Offizier befördert wurde. Der alte Herr weiß kaum in seinem eigenen Gefangenenlager Bescheid. Um so mehr liegt alles in der Hand des Adjutanten, eines Oberleutnants, der den Gefangenen wenig wohl gesinnt ist und oft eine harte, schadenfrohe Gesinnung durchblicken läßt. Gar kein Verständnis hatte er für die bittere Lage verheirateter Männer, und besonders unangenehme Saiten zog er den Missionaren gegenüber auf.

Hingegen waren alle englischen Ärzte, mit denen ich in Berührung kam, Herren von großer Liebenswürdigkeit. Ich könnte nur Lobenswertes von ihnen berichten, aber natürlich bleibt auch auf ihnen die Verantwortung sitzen für die ungesunde und unwürdige Unterbringung so vieler Gefangener in den früher beschriebenen engen und heißen Wellblechbaracken.

Unter den Unteroffizieren, die dem Lager zugeteilt waren, gab es nur zwei oder drei, die geflissentlich darauf aus waren, den Gefangenen ihr Los zu erschweren. Die meisten sind ganz umgängliche Leute, einige suchen sich bei den Deutschen anzubiedern, namentlich wo sie Aussicht haben, mit einem Trunk in Gestalt von Whisky und Soda traktiert zu werden.

Ein Kerl von niederträchtiger Gesinnung ist ein alter Feldwebel und Quartiermeister mit dem ominösen Namen Sly (Schlau). Er ist kurz und dick und von brennendroter Gesichtsfarbe. Mehr noch als die deutschen Gefangenen bestiehlt er die Vorräte der britischen Militärverwaltung. Kurz, er nimmt, was er kriegen kann, und soll sich trotz der teuren Getränke, denen er zugetan ist, ein erkleckliches Vermögen zusammenräubern.

Wer die schlimmste Person, deren Habgier die Gefangenen aus« geliefert sind - dies ist einer der größten Schandflecke der Lagerverwaltung - das ist der parsische Kaufmann, der die Kantine hält. Dieser Mann ist ein Parsi, also ein brauner Eingeborener und Halsabschneider ersten Ranges. ...

Einige deutsche Schiffsoffiziere im Parolelager verwalten die aus privaten Mitteln bedachte Kasse für Verbesserung der allgemeinen Mahlzeiten. Unter Umgehung des Parsis gelang es ihnen, bei einem Lieferanten für die englischen Soldaten Kartoffeln zu beziehen. Mr. Sly kam aber dahinter, und sofort wurden die zwei zuletzt gekauften Sack Kartoffeln, die 18 Rup. gekostet hatten, beschlagnahmt. Sie sollten eben vom Parsi genommen werden, der dafür 36 Rup. (40 Mark) fordert.

So wurden wir in allem überteuert; doch genug davon. Ich habe dessen mit so vielen Worten Erwähnung getan, weil ich es für meine Pflicht halte, diese grausame Ausbeutung wehrloser Gefangener bekanntzugeben. Unsere Landsleute in Indien, deren Hab und Gut von der englischen Regierung verschleudert worden ist, leiden schwer unter diesem Raubsystem, das durch die Länge des Krieges immer härter wird. Diese Sache ist natürlich auch an den amerikanischen Konsul gegangen. Aber ob unsere Regierung je davon gehört hat?

nach oben


Die Heimreise

Eines Tages erhielten alle Ärzte und ordinierten Missionare den Befehl, außerhalb des Lagers anzutreten, um photographiert zu werden. Das war eine große Freude, denn obwohl uns weiter keine Erklärung gegeben wurde, so wussten wir doch, dass die englische Behörde unsere Photographien für den Reisepass haben wollte. Dies geschah im Oktober 1915. Erst Ende März 1916 durften wir die langersehnte Heimreise antreten.

Auch von unseren Familien hörten wir, dass sie photographiert wurden. Sie sollten sich für die Abreise bereithalten. Wochen- und monatelang gingen Befehle und Gegenbefehle und noch vielmehr einander widersprechende Gerüchte hin und her. Unsere Frauen packten ihre Sachen und packten alles wieder aus. So ging es mehrere Male hintereinander. Einmal hieß es, sie sollten schon im Winter mit der "Golconda" fort, dann hieß es, sie sollten ins Lager nach Bellary geschafft werden. Gottlob! wurden sie vor diesem Schicksal bewahrt. Ende März 1916 wurden wir mit unseren Lieben an Bord der "Golconda" nach langer, schmerzlicher Trennung wieder vereinigt.

Auf dem Schiffe herrschte eine fürchterliche Enge, die sich von Südafrika ab noch verschlimmerte: denn in Kapstadt wurden noch gegen hundert Deutsche an Bord gebracht, so dass wir nun etwa 500 Reisende waren, während die "Golconda" unter normalen Verhältnissen nur die Hälfte dieser Anzahl von Passagieren beförderte.

Durch Gottes große Güte hatten wir fast auf der ganzen Reise ruhiges Wetter, auch um die Südspitze Afrikas herum, wo die Schiffer meist schwere See findend Auch unmittelbar vor unserem Eintreffen dort wütete da ein Orkan, wie uns entgegenkommende Schiffe mitteilten; aber Gott der Herr glättete die Wogen vor uns her. The damned luck of the Germans ("Das verfluchte Glück der Deutschen!") meinte einer der englischen Offiziere. Wir aber priesen Gottes Barm« herzigkeit. Der allgemeine Ausbruch von Seekrankheit in den ganz engen Kabinen und noch fürchterlicheren, zu Kabinen umgebauten luft« und lichtleeren Laderäumen des Schiffes hätte ein grässliches Elend mit sich gebracht. Wir hatten aber während des Hauptteiles der Reise unter sehr großer Hitze zu leiden, die durch die große Enge vermehrt wurde. Durch besondere Fürsprache des englischen Arztes wurde mir und meiner Familie eine Kabine mit sechs Betten, drei unteren und drei oberen, zugewiesen. Es war ein ganz enger Raum, in den erst für uns Deutsche zu den ursprünglich vorhandenen vier Betten Noch das fünfte und sechste Bett hineingebaut war, und wir sind eine Familie von sieben Personen, Unser kleiner, erst nach Ausbruch des Krieges geborener Hans Werner beanspruchte ein Bett für sich allein. Das Kind war auf der Reise von Bombay bis St. Helena todkrank. Schon einen Monat, ehe meine Frau von Kodaikanal mit den Kindern abreiste, war er an amöbischer Dysenterie (chronischer Ruhr) erkrankt. Durch die Reise zu Lande und zu Wasser - meine Familie war auf der Reise von Kodaikanal nach Bombay vier Tage und vier Nächte unterwegs - hatte sich der Zustand des Kleinen zusehends verschlimmert; er litt schrecklich unter der Gluthitze in dem ganz engen Schiffsraum, siebzehn Emetineinspritzungen hatte er schon erhalten, da schien deren Wirkung ausbleiben zu wollen, und wir hatten schon ganz die Hoffnung aufgegeben, dass unser Liebling das Ende der Reise erleben würde. Da half uns der Herr in unserer Not und schenkte dem Kleinen wie mit einem Schlage völlige Genesung, als wir St. Helena verlassen hatten.

Indessen freundeten sich unsere anderen vier Kinder überall auf dem Schiffe an. An Gespielen fehlte es nicht, auch nicht an freundlichen Menschen, die sich mit den Kindern in sehr netter Weise beschäftigten. Die Jungen wurden in die Geheimnisse des Schachspiels eingeführt, erhielten auch von Bruder Williems und mir, soweit es in dem großen Gedränge und Getöse möglich war, einigen Unterricht. Da sie gut englisch sprechen, waren sie viel beim Kapitän, der ein sehr freundlicher Mann war; auch trieben sie sich viel auf dem Vorderdeck bei den englischen Soldaten herum, bei denen sie als Sportgenossen völlige Gleichberechtigung genossen.

Wie der Kapitän, so waren auch der englische Arzt, der Kommandant der Truppen, ein älterer Major, und mit einer geringen Ausnahme auch die übrigen Schiffsoffiziere durchaus entgegenkommende, ja. liebenswürdige Herren, die uns die Reise so angenehm zu machen suchten, wie es unter den sonst so misslichen Verhältnissen möglich war. So veranstalteten die Offiziere einmal ein großes Kinderfest, wozu sie viele Preise und sonstige Geschenke stifteten. Eine meiner Töchter erhielt ein großes Straußenei, und als sie, um sich zu bedanken, zum Kapitän ging, schrieb er zum Andenken seinen und des Schiffes Namen nebst Datum auf das große Ei. Der Major fungierte als Schiedsrichter bei den Wettspielen und gab sich auch sonst gern mit den Kindern ab.

Eine sehr unangenehme Sache war für mich, dass die Kisten mit unserem schweren Gepäck, die tief unten im Schiffsinnern auf der Manganerzladung (für Munition) verstaut waren, auseinanderfielen. Unsere meisten Habseligkeiten hatten wir natürlich in Indien zurücklassen müssen. Über die Dinge, die durch die Liebe anderer in Nagercoil für uns gepackt waren, war in unserer Abwesenheit auf einer Bahnstation die indische eingeborene Polizei hergefallen und hatte zu unserem Schaden sehr unter den Sachen gehaust. Nun löste sich infolge der schlechten Wiederverpackung alles in seine Teile auf, und viele Tage hatte ich tief unten im dunkeln Ladungsraum, der durch eine beständig versagende elektrische Lampe nur ganz notdürftig erhellt wurde, damit zu tun, alles aufs neue aus- und in die mit großer Mühe wiederhergestellten Kisten einzupacken. Schwarz wie ein Neger kam ich jeden Mittag wieder aus der Tiefe und konnte mich erst, nachdem ich mehrfach in einer Badewanne untergetaucht und frisch bekleidet war, unter den Mitreisenden sehen lassen.

Wir hatten eine angenehme und anständige Reisegesellschaft. Die meisten waren ja Missionare mit ihren Familien; außerdem waren da Ärzte, deutsche Frauen und Kinder von Kaufleuten aus Indien, die jetzt immer noch in Ahmednagar gefangen sitzen, einige Kranke und Leidende und eine bunt zusammengewürfelte Schar Deutscher aus dem Kaplande. Letztere reisten auf eigene Kosten. Sehr unangenehm fielen durch ihr widerwärtiges Benehmen und ihre leichtfertige Haltung den englischen Offizieren gegenüber ein paar Frauen auf, die dem deutschen Namen keine Ehre machten. Die sehr zahlreichen mitreisenden römischen Priester waren der Mehrzahl nach höflich und hilfsbereit. Einige von ihnen haben zum Nutzen der Gesamtheit beim Ordnen der Gepäckmassen, das während des letzten Teils der Reise andauernd schwere Arbeit erforderte, wertvolle Hilfe geleistet. Der Enge wegen konnte man ja nur sehr wenig Gepäck in der Kabine halten und musste doch bei der Reise durch die wechselnden Breiten der Erde häufig die Art der Bekleidung ändern, auch gab's eine große Unordnung unter dem ganz schweren Gepäck tief unten, da alles neu gezeichnet und neu verstaut werden musste. Bei dem Unglück, das ich mit meinen eigenen Kisten hatte, war ich Zeuge der schweren Arbeit, die viele Priester und unverheiratete jüngere Herren anderer Missionen für die allein reisenden Damen, kinderreichen Familien und für die älteren und kranken Leute leisteten. Die gute deutsche Erziehung machte sich weitgehend geltend. Andererseits ist ja nichts unangenehmer als junge Leute, die angesichts der Notlage anderer kein Glied rühren und nur an die eigene Bequemlichkeit denken. Gute Sitte will anerzogen sein. Bei Christenleuten soll sie aus dem rechten Geiste kommen, auch irdisches Wissen und weltlicher Anstand soll auf dem Boden des Evangeliums stehen. Es ist aber schimpflich für Christenleute und ein schwerer Schaden für ihr Bekenntnis, wenn sie in äußerlich erkennbarer Wohlerzogenheit von Weltkindern übertroffen werden . ... 

So sehr man sich freute, der Heimat näherzukommen, so war es doch in Wahrheit eine traurige Fahrt. Losgerissen von Amt und Beruf konnte man nur mit Wehmut an die unfreiwillig zurückgelassene Stationsarbeit in Indien denken. Und dies war nun schon die zweite Ladung der "Golconda" die ganze Scharen von Missionsarbeitern dem Arbeitsgebiet entführte. Wahrlich, eine traurige Rückwärtsbewegung. entgegen dem Worte des Heilandes: "Gehet hin in alle Weltl", eine Rückwärtsbewegungj wie sie in der Geschichte der protestantischen Mission noch nicht vorgekommen ist. ...

In allem war es keine erquickliche Reise. Wir saßen in einem ganz alten unsicheren Kasten, von dem man sagte, er werde nur durch Rost und Farbe zusammengehalten. Unter uns und um uns die wilde Meereswüste, zuletzt kamen wir in die Kriegszone. Die Unterseebootgefahr wurde durch öffentlichen Anschlag bekanntgegeben. Das Schiff fuhr jetzt mit abgeblendeten Lichtern, alle Kabinenfenster mussten abends verhängt werden, und später in der Nacht durfte überhaupt kein Licht eingeschaltet werden. Die Rettungsboote wurden bis an die Brüstung heruntergelassen, jedem wurde ein Platz darin zugewiesen, Alarmübungen wurden vorher angesagt und vorgenommen. Die Frauen saßen in den Speisesälen und waren damit beschäftigt, die vorhandenen, viel zu großen Rettungsgürtel für die kleinen Kinder umzuarbeiten. Die eingeborene zahlreiche Besatzung gab auch ihre^ Unruhe zu erkennen. Sie sagten zwar: "Solange Sie mit an Bord sind, brauchen wir keinen Angriff zu fürchten, aber sobald Sie vom Schiffe sind, werden wir ganz sicher torpediert werden." So kam es auch. Als die "Golconda" acht Tage nach der Landung wieder aus der Themse auslief, wurde sie prompt in den Grund gebohrt und hat ihre wertvolle Manganerzladung, die für die Herstellung von Munition bestimmt war, zum Glück nicht in einem anderen englischen Hafen abliefern können.

Herrlich war aber auf der ganzen Fahrt der allabendliche Anblick und die Beobachtung des gestirnten Himmels. In Indien sieht man das südliche Kreuz sich nicht hoch über den Horizont erheben, auf der Fahrt südwärts nach dem afrikanischen Kap stieg es jeden Abend höher und höher, bis es in Kapstadt fast im Zenit stand. Dann ging die Fahrt wieder über St. Helena nordwärts dem Äquator zu. Wunderbar leuchtete das Kreuz, das große klare Sternbild des Skorpions und das des Orion. Nun mussten auch die nördlichen Gestirne eins nach dem anderen wieder zum Vorschein kommen.

Auch die in den Breiten wechselnde Stellung der Mondsichel bietet eine wunderbare Beobachtung. Auf der südlichen Halbkugel steht die Sichel "anders herum", zwischen den Wendekreisen liegt der Mond auf dem Rücken.

In den Tropen lebt man in viel intimeren Verkehr mit dem Mond und den Sternen als hier in den kalten nordischen Nächten, während man dort die Sonne und ihre Strahlen nach Möglichkeit meidet. Die Wunder der Sternenwelt preisen die Schöpferherrlichkeit Gottes. Wer nur die Augen öffnet, sieht's mit Staunen.

Im Kanal umfing uns dichter Nebel, man sah von hinten kaum das Vorderteil des Schiffes. Gottes Hand schützte uns auch in dieser Gefahr. In der Nähe von Dover mussten wir fast einen ganzen Tag stilliegen. Viele Wacht- und Torpedoboote glitten hin und her, dann und wann tauchte unter einem Gebirge von Rauch ein größerer Kreuzer auf. Wir fuhren jetzt mit einem ganzen Schwarm von Schiffen in einerr eng begrenzten, genau vorgeschriebenen Fahrrinne. Hier und da ragten Teile versenkter Dampfer aus dem Wasser hervor. Zur Zeit der Ebbe sollte man in der Gegend der Themsemündung damals sogar 50 bis 60 Stück liegen sehen. Am 16. Mai warf unser Schiff bei Til« bury in der Themse Anker. ...

nach oben


In London

Als wir zwischen Gravesend und Tilbury mitten auf der Themse vor Anker lagen, waren wir alle sehr frohen Mutes. Unsere mit Photographien versehenen Reisepässe wurden uns zugestellt, und in unserer Mitte wurde die Frage lebhaft erörtert, in welcher Weise wir nun wohl nach Holland hinüberbefördert würden.

Da traf uns wie ein Donnerschlag die Ankündigung: "Alle Männer ohne Ausnahme werden in London zurückbehalten, nur die Frauen und Kinder können weiterreisen."

Alle Familienväter hatten natürlich ihre Sachen mit denen ihrer Familienglieder verpackt; alles, bis auf ganz wenig Handgepäck, soviel jeder selbst tragen konnte, war im Schiffe verstaut. Wie viel sollten wir nun für uns selbst mitnehmen? Es herrschte eine große Enttäuschung und Verwirrung an Bord. Nur wenige Minuten standen uns zur Verfügung. Der Kapitän machte sich unsichtbar. Der Major und der Doktor sagten: "Das ist eine dumme Einrichtung (foolish arrangement); es handelt sich aber sicher nur um, drei oder vier Tage, in denen Ihre Papiere geprüft weiden sollen. Weiter wissen wir auch nichts."

Es war frühmorgens gegen zehn Uhr, als ein Dampffährboot neben der "Golconda" anlegte. Bald standen wir, etwa zweihundert Mann, jeder mit einer kleinen Reisetasche in der Hand, dichtgedrängt auf dem Deck der Fähre, mit unseren über die Brüstung des Ozeandampfers herab« schauenden Frauen und Kindern die letzten Abschiedsgrüße austauschend. Dann setzte sich die Fähre in Bewegung, und unter den brausenden Klängen des hüben und drüben gemeinsam angestimmten Liedes "Deutschland, Deutschland über alles" fuhren wir nach Tilbury hinüber.

Eine kurze Bahnfahrt mit der gewohnten militärischen Eskorte brachte uns vor die Tore des Alexandra-Palastes, der im Norden von London auf einem Hügel erbaut worden ist. Es ist ein gewaltiges, für Vergnügungs- und Unterhaltungszwecke aller Art errichtetes Gebäude, bestehend aus riesigen Hallen für Ausstellungen, Konzerte, Theater, Eislauf u. dgl. Ein Palmhaus, eine Reitbahn, japanische Pavillons, Restaurationssäle und vieles andere befinden sich innerhalb der Mauern des Riesenpalastes. Ringsum ziehen sich Parkanlagen bis zum Fuße des Hügels hinunter, von denen ein Teil für den Aufenthalt der Gefangenen mit Stacheldrahtgehegen umgrenzt ist. Oben hat man einen weiten Blick über das nördliche London und kann bei klarem Wetter die Türme von St. Paul und Westminster und die hohen Essen des Arsenals von Woolwich sehen.

Dies soll das beste englische Gefangenenlager sein. Dreitausend deutsche Zivilgefangene sind hier interniert, und nach allem, was man von anderen Lagern hört, namentlich von dem Lager auf der Insel Man, wo 30.000 männliche Zivilpersonen ein sehr trauriges Los haben, ist es hier weit erträglicher als anderswo.

Mit Bruder Williems und den Breklumer und Leipziger Missionaren kam ich in die gewaltige Zentralhalle, in der etwa tausend Betten standen, eines dicht neben dem anderen, so dass man gerade noch Platz hatte, einen Koffer oder ein Kistchen für die notwendigsten Lebensbedürfnisse daneben zu stellen. So war auch hier eine große Enge und ein fürchterliches Gedränge drinnen und auch draußen auf den Parkwegen, wo wir wehmütig die Maienpracht der Natur betrachteten, auf deren Genuss im Vaterlande wir uns so sehr gefreut hatten.

Bald wurden wir draußen auf einem freien Platze dem Kommandanten vorgestellt, der uns zunächst ganz höflich begrüßte. Aber anstatt der schmerzlich erwarteten Aufklärung über unsere Lage hielt er uns in feierlicher Rede die Vorzüge des Lagers und die Lagerordnungen vor. Namentlich erging er sich ausführlich über das Laster des Rauchens, das er durch verschiedene Bestimmungen auf ein Mindestmaß eingeschränkt habe, am liebsten aber ganz abgeschafft hätte. Er entwickelte einen geradezu religiösen Fanatismus gegen den Tabak, und mit entsprechenden Strafandrohungen wurden wir entlassen.

Wir waren empört und schickten ein Komitee von einigen Herren zum Kommandanten, die unsere Ansprüche auf Heimsendung nach Deutschland geltend machen sollten. Der alte Herr sagte: "Das ist nicht meine Sache. Ich habe hier einfach alle einzusperren, die mir ins Lager geschickt werden. Aber schreiben Sie mir alle Ihre Wünsche auf; ich werde das dann an die Militärbehörde weitergelangen lassen." Das geschah; aber Tage und Wochen gingen hin, ehe man hörte, was weiter geschehen würde.

Vielleicht wussten die Zeitungen mehr, die von unserer Ankunft auch Notiz nahmen. Richtig, da war zu lesen: "Der zweite Schub deutscher Ärzte und Missionare ist mit der 'Golconda' aus Indien angelangt und ist zunächst in London interniert worden." Darüber zu unserer Begrüßung die fettgedruckte Überschrift: "The combings of India." Comb heißt auf deutsch: Kamm. Combing ist das, was nach Benutzung eines Kammes drin stecken bleibt. Nach diesem nicht gerade appetitlichen, aber für den englischen Patriotismus doch herzerhebenden Vergleich waren wir also das Ungeziefer, von dem Indien nunmehr glücklich gesäubert war. "Indien wieder ein reines Land!" Jetzt, nach Ausweisung der christlichen Missionare! In der Tat, die englische Frömmigkeit treibt in diesem Kriege eigenartige Blüten.

Aber was sollte nun mit uns geschehen? Die Zeitung wusste es: "Diese neue Schiffsladung von Hunnen soll nun, nachdem die Hunnenweiber und -kinder (infant huns) bereits über Holland nach Deutschland weitergeschickt worden sind, hier gründlich untersucht werden, gründlicher als nach der ersten Golcondafahrt, damit durch ihre Rücksendung die deutsche Armee keine Verstärkung erfährt." Nun sollten wir auch noch "ausgekämmt" werden, damit auch ja kein Heeresdienst-Pflichtiger mit durchschlüpfte.

Nach einiger Zeit wurde uns offiziell mitgeteilt, unsere Dokumente sollten sorgfältig geprüft werden, vor allen Dingen also die Ordinationsscheine. Die sollten zur Heimreise berechtigen. Nun ist es einem englischen Beamten vielmehr darum zu tun, seine Bürostunden abzukürzen, als deutsche Dokumente durchzuwurzeln. Das ist jedem Engländer etwas Grässliches. Unser Beamter, den wir nie zu sehen bekamen, und der nie eins unserer Dokumente zu sehen bekam, machte sich's also bequem. Er ließ Fragebogen unter uns verteilen, auf denen wir folgendes zu beantworten hatten: 1. Name und Alter. 2. Haben Sie Anspruch auf Heimsendung? 3. Begründung Ihres Anspruches.  4. Haben Sie dokumentarische Beweise für Ihren Anspruch? Verabredetermaßen antworteten wir ganz kurz auf Nr. 2: "Ja", auf Nr. 3: "Ordinierter Geistlicher", auf Nr. 4: "Ja".

So machten wir dem Beamten nicht viel Mühe. Alles glatt und übersichtlich, bis auf die Zettel einiger römischer Priester, die es mit Angabe besonderer Titel und Würden besonders gut hatten machen wollen. So schrieb einer, er sei sogar "Militärgeistlicher in Indien" gewesen. "Aha," dachte der Beamte, "da müssen wir erst mal bei der indischen Behörde nachfragen." Ein anderer nannte sich "Archidiakonus". So etwas kannte der Beamte nicht. Auch dieses so ausgefüllte Formular und noch ein ähnliches wurde als "verdächtig" zurückgelegt. Dann hieß es: "Alles geprüft und in Ordnung befunden, bis auf drei Priester, die zurückzuhalten sind." Dann wurden wir alle, mit Ausnahme jener drei unglücklichen Würdenträger, ins Durchgangslager nach Stratford gebracht.

Bis es dahin kam, war ich mit meinen Leidensgenossen drei Wochen im Alexandra-Palaste. Über das eintönige Lagerleben daselbst ist nicht viel zu belichten. ...

Zuletzt waren wir noch eine Woche in Stratford, einer zum östlichen London gehörenden Fabrikstadt. Wir wurden in einer schmutzigen Fabrikhalle untergebracht. Mit dem schönen Wetter war es auch vorbei, der kalte Sommer von 1916 hatte nach den schönen Maientagen auch in England seinen Anfang genommen. Bei trübem Wetter mussten wir uns oft stundenlang auf einem von Fabrikmauern umgebenen Hofe aufhalten. Nicht ein einziger Baum, nicht ein einziges grünes Blatt war zu sehen. Wir dankten Gott aus vollem Heizen, als wir nach mehrfacher gründlicher Durchsuchung alles dessen, was wir im Koffer und auf dem Leibe bei uns trugen, aus diesem "Fegfeuer" entlassen und endlich an Bord des holländischen Dampfers "Königin Wilhelmina" gebracht wurden. Unter Gottes gnädigem Schütze landeten wir am 17. Juni in Vlissingen, wo ein Zug für uns bereit stand, der uns an die deutsche Grenzstadt Goch brachte. Hier wurden wir von Herrn Oberleutnant Werk und seinen Leuten sehr freundlich empfangen und durften am folgenden Tage ein jeder seinem Heimatsorte zureisen. ... 

nach oben


Die Hermannsburger Mission in Indien

Von Georg Haccius

Seite 581 - 586 aus: Georg Haccius - Hannoversche Missionsgeschichte - Dritter Teil, zweite Hälfte - Hermannsburg 1920 

Sorge in der Heimat

Die Behandlung, welche die gesamte deutsche Mission im Auslande erleiden musste, erregte die Missionsgesellschaften und die Missionsgemeinde in der Heimat auf das tiefste, und diese nahm an den Leiden der Missionare, die verleumdet und zum großen Teil gefangen gesetzt und aus ihren Arbeitsgebieten ausgewiesen wurden, den innigsten Anteil. Der Ausschuss der deutschen Missionen, die Evangelische Missionshilfe, evangelische Professoren der Missionswissenschaft, wie D. Richter in Berlin, D. Haußleiter in Halle, D. Warneck in Bethel, D. Mirbt in Göttingen und andere hervorragende Missionsmänner hielten vertrauliche und öffentliche Konferenzen zur Beratung über die schwebenden Fragen der deutschen Missionen, an denen auch die Leitung der Hermannsburger Mission sich beteiligte. Man suchte vor allem ein gemeinsames Handeln zu erreichen und die Übernationalität der Mission zu retten. Denn durch das Vorgehen der feindlichen Nationen war diese auf das äußerste gefährdet. Man suchte zunächst mit den kirchlichen und Missionskreisen in den neutralen Ländern Fühlung zu gewinnen und durch diese auf die Missionsgesellschaften der feindlichen Mächte einzuwirken. Die auf der Welt-Missionsionskonferenz zu Edinburg im Jahre 1910 scheinbar gewonnene Einigkeit der gesamten evangelischen Missionen der Welt war völlig zerrissen und auch der Fortsetzungsausschuss derselben hatte leider versagt. Der nationale Chauvinismus hatte die Übernationalität der Mission auf das schwerste geschädigt. Die deutschen Mitglieder konnten demselben nicht mehr angehören. Das gerade Gegenteil von dem, was man in Edinburg erstrebte und rühmte, war eingetreten; und nicht nur die deutsche, die gesamte evangelische Mission der Welt war in einer verhängnisvollen Lage, welche das Schlimmste befürchten ließ. Ohne der Würde der deutschen Mission etwas zu vergeben, suchte man mit großer Geduld Fühlung und Verständnis zu gewinnen und fand dabei besonders in Schweden und in Amerika Entgegenkomme und Unterstützung, so dass nach dem Kriege langsam eine Klärung und Besserung der Lage eintrat. Aber in den feindlichen Ländern, namentlich in England und Frankreich, stieß man auf harten Widerstand. Erfreulich war dabei die Einmütigkeit der deutschen Missionen und die allgemeine Erfahrung, dass die Missionsgemeinde überall in herzlicher Teilnahme zu ihren Missionsgesellschaften hielt. Am schwersten war die deutsche Mission in den britischen und in den deutschen Kolonien betroffen.

nach oben


Gefangenschaft und Rückkehr nach Deutschland

In Indien wurden die Missionare bald nach Ausbruch des Krieges in Gefangenschaft abgeführt. Von unsern Missionaren ließ man Wittmann, welcher die amerikanische Station Kodur innehatte, zunächst dort. Maneke, der auf der ebenfalls amerikanischen Station, Puttur angestellt war, und Wickert, den Leiter der Hochschule in Tirupati, ließ man nach kurzer Haft gegen Ausstellung eines eidlichen Reverses auf ihre Stationen zurückkehren. Nur Scriba, der britischer Untertan war, blieb unangetastet. Die Missionare Lindner, Langhols und Weber wurden Ende November in die Festung Madras und von da in das Gefangenenlager zu Ahmednagar überführt. Sup. Rohwer und die älteren Brüder Kothe und Petersen entließ man nach vorübergehender Gefangenschaft in Madras nach Kodaikanal, wo sie in beschränkter Haft waren; auf ihre Stationen durften sie nicht zurückkehren. Kothe ist dort seinen Leiden erlegen und am 7. Juni 1915 entschlafen. Die Gefangenschaft in Ahmednagar war eine harte. Die Unterbringung in Zelten und Wellblechbaracken war für die Gesundheit gefährlich und die Verpflegung war ungenügend, Dazu wurden sie wie Verbrecher behandelt, und das Leben in dem heißen Lager hinter dem Stacheldraht bedrückte die Gemüter schwer. Auch war das Zusammenleben mit Leidensgenossen allerlei Art, unter denen leider viele rohe unchristliche Leute waren, nicht leicht. Doch waren auch etliche Gleichgesinnte unter Ihnen, und besonders hielten unsere Brüder Gemeinschaft mit den übrigen gefangenen Missionaren. Schwer war auch der Mangel an Arbeit und Beschäftigung zu ertragen. Aber sie suchten und fanden Trost und Stärkung durch Gottesdienste und Vorträge, welche sie abwechselnd hielten.

Ende 1915 und im Frühjahr 1916 wurden sie auf dem alten englischen Dampfschiff der berüchtigten "Golconda", um Südafrika herum über Holland nach Deutschland zurückgeschickt. Den größten Teil ihrer Habe mussten sie in Indien lassen. Die erste Schar, die meist aus Frauen und Kindern bestand, verließ Indien am 23.November 1915 und kam ungenügend bekleidet mitten im kalten Winter am 13. Januar 1916 in der Heimat an. Die übrigen Missionare wurden Ende März 1916 in Madras eingeschifft und trafen am 18. Juni 1916 in Hermannsburg ein. Hier kamen die so lange getrennten Familien wieder zusammen; denn in Indien war ihnen das erbetene Wiedersehen abgeschlagen. Mit herzlicher Teilnahme wurden sie von uns und der Missionsgemeinde aufgenommen. Es galt nun sobald wie möglich Unterkunft und Arbeit und vor allem eine Anstellung für die Missionare zu finden, besonders für diejenigen, die noch militärpflichtig waren, und von denen namentlich die, welche seinerzeit versprochen hatten, nichts gegen England und seine Allierten unternehmen zu wollen, sich in einer gefährlichen Lage befanden. Dieses Versprechen hatten sie freilich nur unter der Voraussetzung gegeben, in Indien in ihrem Beruf bleiben zu dürfen. Somit war es durch die Ausweisung eigentlich hinfällig geworden Aber es bedrückte doch ihr Gewissen und im Falle der Gefangennahme oder bei der Frage ihrer Rückkehr nach Indien, auf die sie hofften, konnte die aktive Teilnahme am Kriege verhängnisvoll für sie werden. Deshalb suchten wir für sie eine Anstellung im Kirchendienst, bei dem sie von einer Kirchenbehörde reklamiert und dadurch, vom Kriegsdienst befreit werden konnten. Und Gott gab Gnade, dass es gelang. Missionar Lindner erhielt in seiner heimatlichen Landeskirche in Bayern eine Pfarrei, da er derselben schon früher gedient hatte und in ihr ordiniert worden war. Und die Brüder Maneke, Langholf, Schirge und Wickert wurden in der bayrischen Landeskirche als Pfarrvikare angestellt. Weber kehrte in sein Heimatland Elsass zurück und erhielt dort eine Pfarrstelle in Hirschland. Im Elsass hatte auch Missionar Harms in der Protestgemeinde Plobsheim, deren Pfarrer in einem Lazarett in Straßburg angestellt war, Beruf und Stellung gefunden, bis er leider Ende 1919 als Reichsdeutscher durch die französische Regierung ausgewiesen wurde. Die übrigen indischen Missionare behielten wir in Hermannsburg, wo sie der Misstonsanstalt und der Christianschule dienten. Besonders schwer war das Schicksal Superintendent Rohwers, dessen Familie in Natal bei seiner früheren Gemeinde geblieben war und dem die Rückkehr zu derselben, obschon er auf der "Golconda" Südafrika berührte, in rücksichtsloser Weise abgeschlagen wurde.

nach oben


Situation in Indien während des Krieges und kurz danach

Die Gemeinden in Indien waren somit bis auf die einzige Station Kodur verwaist und waren allein auf die eingeborenen Pastoren und Katecheten angewiesen, von denen die meisten, besonders der Pastor Punitudu, durch regelmäßige Abhaltung der Gottesdienste und durch treue Seelsorge sich der Gemeinden gewissenhaft und treu annahmen. Aber doch erlitt das christliche und kirchliche Leben einen schweren Schaden. Jene waren nicht erfahren, nicht tüchtig und nicht selbständig genug und waren den Anforderungen und Anfechtungen nicht gewachsen. Und die Gemeinden waren unreif und unbefestigt. So sind wie die Gebäude auf den meisten Stationen auch die Gemeinden vielfach zerfallen. Manche schwache Christen sind ins Heidentum zurückgegangen, viele sind gleichgültig und unkirchlich geworden. Der Kern aber hat sich bewährt und ist dem Herrn und der Kirche treu geblieben.

Dieser großen Kirchennot suchte die Ohio-Synode durch Aussendung des schon vor dem Kriege dafür bestimmten Pastors Pflueger, der bereits auf dem Wege dorthin sich in Hermannsburg aufhielt, im Kriege jedoch nach Amerika zurückgekehrt war, nach Indien abzuhelfen und ordnete ihn mit einem jungen Missionar Schmidt dorthin ab. Sie sind auch bis Ceylon gekommen, wurden aber nicht nach Indien hereingelassen, weil sie deutscher Abstammung waren. Alle Gesuche bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, ihnen Einlass zu verschaffen, waren vergeblich. Sie mussten unverrichteter Sache nach Amerika zurückkehren.

So blieb Missionar Scriba allein in Indien. Die Verwaltung und Leitung der Mission wurde ihm bald entzogen, er mußte das Hermannsburger Missionsgebiet und seine Station verlassen und nach dem amerikanischen Kodur übersiedeln. Seine Frau nahm die Mädchenschule von Gudur mit dorthin, so dass sie diese, ob auch in beschränkter Weise, im Betrieb erhalten konnten.

Die Verwaltung der Hermannsburger Stationen wurde von der Regierung übernommen. Sie teilte das Gebiet in fünf Bezirke und übertrug dieselben verschiedenen nichtdeutschen Missionsgesellschaften, unter denen nicht nur die amerikanische lutherische von Guntur, sondern auch Baptisten, Wesleyaner und Presbyterianer waren. Dadurch wurde der lutherische Charakter der Mission gefährdet. Doch beschränkte sie die Aufsicht meistens auf die Schularbeit. Die Heidenpredigt hörte auf, Gottesdienste wurden nur für die Gemeinden auf den Stationen gehalten. Allmählich zogen jene nichtlutherischen Gesellschaften sich zurück und übertrugen ihren Anteil an der Missionsarbeit dem Vertreter der lutherischen Guntur-Mission. Als solcher war anfangs Missionar Mc. Cauley und nachher Missionar Burger eingesetzt, der im Oktober 1918 nach Tirupati übersiedelte und von da aus das Gebiet bereiste und verwaltete. Doch besteht jenes Komitee noch fort. Es ist schmerzlich, aber auch begreiflich, dass die Missionsarbeit nur ungenügend betrieben und geleitet werden konnte und Schaden litt. Der Eintritt der lutherischen Ohio-Synode, die am 15. Februar 1920 nach langem Warten und unermüdlichen Verhandlungen endlich vier Missionare und Missionarinnen, den Pastor Wilch und Pastor Nicholsen mit Frau und Schwester, nach Indien abordnen konnte, gab uns die Gewähr, dass unsere dortige Mission für die lutherische Kirche mit Gottes Hilfe erhalten werden wird; und das ist für uns die Hauptfache. Jenen sollten im Laufe des Jahres weitere Aussendungen folgen.

nach oben 

 onmousedown="ET_Event.link('Link%20auf%20www.gaebler.info',