Hat Günter Grass uns betrogen?
ja
Dass Günter Grass vor mehr als 60 Jahren für einige Monate
Mitglied der Waffen-SS war - geschenkt. Im Alter von 17 Jahren sind auch ganz
andere Mitglied dieser verbrecherischen Organisation gewesen. Aber dass es dem
Nobelpreisträger erst nach mehr als 60 Jahren eingefallen ist, das auch
einzugestehen - das ist eine Unverschämtheit. Denn Grass stellt als
Schriftsteller eine moralische Instanz für die Deutschen dar. Oder sollte man
besser sagen: stellte? Es war Grass, der immer wieder eine Bewältigung der
Vergangenheit eingeklagt hat, die über allgemeine Volkstrauermienen
hinauszugehen hat. Es war Grass, der im Ausland den Deutschen verkörperte, der
eindeutig mit personellen und ideologischen Kontinuitäten zwischen Hitlers Reich
und der Bundesrepublik abgerechnet hat. Und es ist Grass, der als Schriftsteller
wie kein anderer für eine Thematisierung der NS-Vergangenheit steht. Grass hat
Maßstäbe gesetzt.
Wieso fällt es dem Mann dann erst heute ein, sich öffentlich
zu erinnern, wenn es um seine persönliche Waffen-SS-Mitgliedschaft geht? Dass
Grass sich seiner Vergangenheit geschämt hat, kann man ihm abnehmen. Aber soll
das etwa die Jahrzehnte währende Sprachlosigkeit dieses so Sprachgewaltigen
legitimieren? Grass hat seine eigenen Maßstäbe verletzt. Denn er war nicht
ehrlich, wo er doch gerade Ehrlichkeit im Umgang mit der NS-Vergangenheit
verlangt hat. Er hat schlicht gelogen. Und diese Tatsache bleibt - auch wenn
rechtskonservative Krücken jetzt glauben, mit dem unbequemen Mann abrechnen zu
können.
Doch die Angelegenheit hat noch eine weitere Dimension, und
die macht die Sache umso schlimmer. Der geneigte Grass-Leser wird den Verdacht
nicht los, dass die groß publizierte Tatsache seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft
auflagefördernd wenige Wochen vor Erscheinen seiner Autobiografie publiziert
worden ist. Das wäre dann allerdings der Gipfel der Unverschämtheit - die
Waffen-SS als Werbemaßnahme. So viel schäbige Eitelkeit mag man Grass nicht
zutrauen. Doch der Verdacht bleibt. Günter Grass muss keinen seiner vielen
Preise zurückgeben. Er muss auch seine Bücher nicht umschreiben. Aber wenn er
künftig redet, werden wir skeptischer hinhören. Und ihm nicht mehr glauben.
KLAUS HILLENBRAND
nein
Ach, Günter, warum hast du nur so lang geschwiegen? Diese
ganze Litanei vom Betrug, ja Verrat von Grass an allen, die in ihm ein
politisches und moralisches Vorbild gesehen haben, ist unglaubwürdig. Dass Grass
als 17-Jähriger ein Nazi war, kriegsbegeistert, vom Sieg der "deutschen Waffen"
überzeugt, das hat er längst gesagt und geschrieben. Seine jetzt eingestandene
Mitgliedschaft in der Waffen-SS, bei der nicht klar ist, ob sie freiwillig
erfolgte, würde das uns bekannte Bild von Grass als Jungnazi nur verändern, wenn
er an Verbrechen seiner Einheit beteiligt gewesen wäre. Dafür spricht nichts.
Warum hat Grass nicht bei einer der zahlreichen sich
bietenden Gelegenheiten die Wahrheit enthüllt? Antwort: Er hatte Angst, dass die
Mitgliedschaft auch eines Halbwüchsigen in einer verbrecherischen Organisation
ihn diskreditieren würde - vor allem innerhalb der Linken. Diese Einschätzung
war sicher nicht ganz unberechtigt, allzu lange fühlte sich die Linke als die
moralisch überlegene Seite. Aber nie war es so, dass innerhalb der Linken
Unterscheidungsvermögen und Sensibilität für die jeweilige historische Situation
gänzlich unbekannt gewesen wären. Grass hat die ganze Zeit seine Freunde
unterschätzt.
Hinzu kommt: Entgegen der jetzt verbreiteten Vorstellung über
Grass' Rolle als Präzeptor im Nachkriegsdeutschland galt er als herausragender
Schriftsteller - während seine politischen Interventionen gerade innerhalb der
Linken häufig umstritten waren. Nicht wenige unterschieden zwischen Grass als
scharfsichtigem, fantasiebegabtem Autor und seinen eher konventionellen, meist
am Rande der Sozialdemokratie angesiedelten politischen Interventionen.
Bezeichnenderweise kommt die Rede von Grass' "Betrug" auch
zumeist nicht von Linken, sondern sie ist ein Schlagstock, mit dessen Hilfe
Rechtskonservative wie Joachim Fest einen Prominenten aus dem gegnerischen Lager
der moralischen Zweideutigkeit überführen wollen. Die Angriffslinie lautet:
Jemand, der lange "die moralische Keule" geschwungen hat, der für sich und die
Seinen in Anspruch genommen hat, das bessere Deutschland zu repräsentieren, ist
jetzt der Heuchelei überführt. Dieses Manöver sollten wir nicht mitmachen.
CHRISTIAN SEMLER
taz vom 15.08.2006

Bitte, seid behutsam. In jeder Beziehung.
Über Günter Grass, meinen Vater und eine Generation, die Lehren aus ihrer
Jugend zog.
Ich höre es mit einem Ohr und komme dann zu spät um zu sehen,
wer gemeint ist. Die "Tagesschau" redet von einem, der etwas zugegeben habe.
Waffen-SS, das habe ich gehört. Aber wer bitte soll das sein, 61 Jahre nach dem
Ende?
Spätabends haben es die "Tagesthemen" in aller Breite, und am
Samstagmorgen habe ich endlich das Original: das Interview, das Günter Grass im
Vorausblick aufs seine demnächst erscheinende Autobiografie der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung" gegeben hat, noch in den warmen, den heißen Tagen, wie das
Foto der drei Herren im sommerlichen Garten zeigt.
Er also! Das Faktum: Kurz vor Ende des Krieges hat es den
damals 17jährigen Grass, der später nie ein Hehl aus seiner Begeisterung für das
Reich und seinem Glauben an den Endsieg gemacht hat, der sich freiwillig zu den
U-Booten melden wollte, zur Elite der Barbarei verschlagen, zur Waffen-SS. In
allen bisherigen autobiografischen Schriften und allen Gesprächen mit Biografen
hingegen hat er über die wenigen Wochen oder Monate nur gesagt, er sei zuerst
Flakhelfer, dann Soldat gewesen.
Und was jetzt? Alle haben eine Neuigkeit. Und sind perplex.
Tatsächlich muss ja befremden, dass einer, der wie kaum ein anderer dem
Nachkriegsdeutschland jedes Vergessen oder Verdrängen seiner Jahrhundertschuld
wieder und wieder verboten hat, einen Makel der eigenen Vergangenheit 61 Jahre
lang unerwähnt ließ. Der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"
vermutet wohl ganz richtig, dass "im Licht dieser Selbstoffenbarung" demnächst
"das Schaffen dieses oft genialen Mannes einer behutsamen Revision" unterzogen
werde.
Wenn ich für mein Teil mir jetzt etwas wünschen dürfte, dann
wäre es weniger diese Revision, als vielmehr das Behutsame in jeder Beziehung.
Günter Grass könnte mein Vater sein. Er ist es sogar,
insofern sein Name neben drei, vier anderen auf dem Zettel stand, mit dem mich
mein vertriebener ostpreußischer Deutschlehrer 1969 in die Stadtbibliothek von
Mönchengladbach schickte, damit ich mich über die wichtige deutsche
Gegenwartsliteratur kundig mache. An die aber kam ich, 13, nicht heran, die war
ab 14, weswegen ich einen Leseausweis auf den Namen meines Vaters ausstellen
ließ und die Grass, Böll, Lenz u.a. in seinem, des Nichtlesers Namen auslieh.
Als erstes las ich die "Blechtrommel".
Apropos Vater. Mein leiblicher ist vier Jahre älter als
Günter Grass und sprach zu mir, seinem einzigen Kind, niemals unaufgefordert
über sein Leben im Krieg. Dass er Soldat gewesen war, wusste ich immer schon;
gelegentlich eiterten winzige Granatsplitter aus seinen Beinen. Nie habe ich mir
merken können, welche Zehen ihm im Krieg, welche bei einem Unfall abgerissen
wurden. Dass mein Vater kurzzeitig Mitglied der Waffen-SS war, habe ich ein
einziges Mal gehört, als er mit Bekannten darüber sprach. Selbst unter ihnen, wo
ihm nichts drohte, betonte er, dass das nur geschehen sei, weil Reste seiner
Panzertruppe einer SS-Einheit zugeschlagen wurden. Eine Tätowierung hatte er
nicht. Die hätte ich gesehen, wenn ich morgens neben ihm vor dem
Doppelwaschbecken stand und die Einschusswunden an seinem Körper zählte.
Mein Vater, vor sieben Jahren gestorben, zählt zu jener
Mehrheit der Deutschen seiner Generation, die aus der gewaltigen und gewaltsamen
Enttäuschung ihrer Jugend die Lehre gezogen haben, sich zu verhalten, wie Albert
Speer es in seiner letzten Rundfunkansprache von den Überlebenden forderte:
"würdig und selbstbewusst dem Gegner begegnen, innerlich aber bescheidener
werden und Selbstkritik üben". Vor allem aber: "Fleißig unserer Arbeit nach-
gehen"!
Fleiß, Würde, Selbstbewusstsein, Bescheidenheit - Tugenden,
die nicht nur sekundär sind, die dennoch vor allem als Panzerung gegen die große
Herausforderung von Gesinnung, Überzeugung und Kampf für das Ideal dienten. So
war von denen, die wie mein Vater waren, immerhin zu lernen, dass man höllisch
aufpassen muss, bevor man irgendwo mittut, Fahnen schwenkt, Eide schwört. Man -
in diesem Falle: ich - konnte solche Väter nach allerhand kleinem Streit ohne
den letzten großen Bruch verlassen und Ausschau halten nach den wenigen, die
sagten, was jenseits der Abstinenz von großen Ideen und Bewegungen wartete. Wenn
man ihnen nicht persönlich begegnen konnte, las man ihre Bücher.
Etwa Grass' Roman "Örtlich betäubt", wo ein junger Mann, um
zum Protest gegen den Vietnam-Krieg zu provozieren, seinen Dackel anzünden will.
Grass liest am 19. Juli 1969 auf dem Kirchentag in Stuttgart aus dem Manuskript.
Danach geht einer der 2000 Zuhörer ans Saalmikrophon, hält eine wirre Rede und
sagt: "Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS." Unmittelbar
anschließend nimmt er Zyankali. Weil es so unerträglich heiß ist im Saal, wirkt
sein Tod wie ein Schwächeanfall.
Es ist ein merkwürdiger Zufall. Über diesen Mann, den man
seit Grass' Wahlkampfbuch "Tagebuch einer Schnecke" als Figur daraus mit dem
Namen Manfred Augst kennt, hat seine Tochter Ute
Scheub, so alt wie ich und Mitbegründerin der "TAZ", im Februar dieses
Jahres ein Buch veröffentlicht: "Das
falsche Leben - Eine Vatersuche". Die Szene des Selbstmords steht darin
begreiflicherweise im Mittelpunkt, und damit auch die Anwesenheit des
Schriftstellers Grass beim Tod eines ehemals überzeugten Nazis, der an seiner
wahrlich unbewältigten Vergangenheit verzweifelte. Seine Tochter schreibt jetzt
über ihren Vater: "Er ist - buchstäblich - an seinem Schweigen erstickt."
Von da bis jetzt sind es 37 Jahre, die Grass noch schwieg bis
zum Eingeständnis der Verirrung eines Halbwüchsigen. Man denke sich noch einmal
die Szene: "Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS." Grass,
42, intellektuelle Leitfigur der 68er Provos, dazu Intimus des Reformkanzlers
Willy Brandt, sitzt auf dem Podium und muss sich, jedenfalls nach Lage
verbrannter Akten, vom Selbstmörder gegrüßt fühlen! Gegrüßt, betroffen auch, wie
das Tagebuch zeigt, aber, und zu Recht, nicht gemeint!
Deshalb meine dringende Bitte nach Behutsamkeit. Ute Scheubs
Vatersuche vollzieht sich nicht behutsam. Ihr Vater, bei Kriegsende 32, war
Täter aus Überzeugung, vielleicht bewahrte ihn nur seine Kurzsichtigkeit davor,
ein Massenmörder zu werden. Grass und mein Vater waren Jungs, denen man die
Köpfe verdreht hatte, bevor sie auch nur die Chance gehabt hatten, sich ein
Rückgrat wachsen zu lassen. Sie wurden in einer vernagelten, braunen Kiste groß.
Wir, ihre Kinder, Kinder der Freiheit und des Informationszeitalters und dennoch
nicht vollkommen gefeit gegen den Opportunismus, tun gut daran, ihnen nicht
vorzuwerfen, dass sie im Sturm umgefallen sind, solange noch nicht feststeht, ob
wir auch nur dem Wind standhalten können.
Mein Vater erhielt noch eine Zeitlang Einladungen irgendeines
militärischen Veteranenclubs. Meine Mutter erinnert sich an seine Kommentare
dazu: "Kannste alles wegwerfen!" Günter Grass ist über solche Einsichten und
Anweisungen weit hinausgegangen. Er gehört zu der Minderheit seiner Generation,
die gezeigt hat, was jenseits eines Berührungsverbots für Massenwahn und
verbrecherische Ideologien gedacht und gefordert werden kann. Der "Makel" in der
eigenen Biografie hat schließlich nicht allein Fleiß und Selbstkritik befördert,
sondern zu einer lebenslangen Anstrengung für die Verbesserung der Verhältnisse
geführt.
Daher Behutsamkeit, soviel wir Söhne und Töchter solchen
Vätern gegenüber nur aufbringen können.
Man mag, und ich tue das, Günter Grass' politisches
Engagement der Sechziger Jahre vielleicht nicht mehr als genaues Vorbild für das
gesellschaftliche Agieren von Intellektuellen unter der jetzigen Großen
Koalition nehmen. Man mag, und ich tue das, nach einem Engagement jenseits der
Partei und der Parteilichkeit suchen. Doch das sollte, nein, das darf nicht zu
einer zwanghaft-dümmlichen Selbstverpflichtung auf den Vatermord führen, nicht
zu einer Mentalität, die jedes Bekenntnis als Waffe benutzt. Das keinesfalls!
Die Welt vom 14.08.2006

Grass räumte als Kriegsgefangener
Waffen-SS-Mitgliedschaft ein
... Ein Dokumente der
amerikanischen Militärbehörden belegt, dass der spätere
Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass sich unmittelbar nach Kriegsende
gegenüber den Amerikanern zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS
bekannt hat...
Unter den Papieren
findet sich das Formular mit dem Titel "Vorläufige Erklärung des
Kriegsgefangenen" der Entlassungsstelle der III. US Army, in deren
Kriegsgefangenschaft Grass am 8. Mai 1945 im heute tschechischen
Marienbad geraten war. Grass hat das Papier unterschrieben, das seine
Fingerabdrücke zeigt und auch Angaben zu seiner gesundheitlichen
Verfassung enthält. Er wird darin als Lade-Schütze der 10.
SS-Panzer-Division "Frundsberg" bezeichnet, die Angabe zum Zivilberuf
lautet "Schüler-pupil". Dem Papier zufolge wurde Grass -
Gefangenennummer 31G6078785 - am 24. April 1946 mit einem Arbeitslohn
von 107 Dollar und 20 Cents entlassen.
Grass war unter
anderem auch in einem süddeutschen Kriegsgefangenenlager untergebracht,
das die Amerikaner auf dem damaligen Militärflughafen Bad Aibling
errichtet hatten. Er war dort nach eigenen Angaben Mitglied in einem
Arbeitskommando, das für den Abwasch in einer Kompanieküche der US Air
Force zu sorgen hatte. Möglicherweise resultiert daher sein Lohn...
Spiegel vom
15.08.2006

Das doppelte Ginterchen
Von Martin Lüdke
Die ersten Nachkriegsjahre. In einem der völlig überfüllten
Personenzüge, auf der Strecke von Göttingen nach Hannover, vielleicht aber auch
auf der Rückfahrt von Kassel nach München, begegnen wir einem jungen Soldaten,
der, gerade aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen, einige Lehren aus
dem Krieg gezogen hat. Der junge Mann war unter anderem zu der Einsicht gelangt:
"Auf einen, der nie Unteroffizier werden wollte, darf man bauen."
Und auf so einen baute er gerade einmal wieder, auf dieser
Zugfahrt. Sie saßen in einem "vollbesetzten Nichtraucherabteil", "was aber die
Pfeife" seines "Obergefreiten nicht kümmerte". Das "Kraut machte mächtig Dampf."
Er rauchte also, schnitt aber von einer luftgetrockneten Blutwurst fingerdicke
Scheiben ab, die er kameradschaftlich seinem "Kumpel" reichte. Der junge Mann
aß, genussvoll. Der Obergefreite rauchte. Eine Dame, mit einem "Topfhut aus
Vorkriegszeiten" auf dem Kopf, lamentierte. Immer heftiger. Sie rief "kreischig"
nach dem Schaffner und beschwerte sich, andauernd hüstelnd, über die
"Rauchbelästigung" - bis es dem Obergefreiten zu viel wurde.
Er hob sein Messer hoch, holte bedrohlich weit aus und stieß
es dann, mit einem "jähen Hieb durchs Hosenbein in seinen rechten Oberschenkel".
Entsetzt flüchtete die Dame mit Hut aus dem Abteil. Ihr Platz wurde sofort von
"jemandem erobert, der zwischen anderen im Gang gestanden hatte." Der
Obergefreite - um dieses durchaus erwähnenswerte Faktum in einer dem Grass'schen
Erzählgang vergleichbaren Weise, nämlich als retardierendes Moment nachzutragen
- war ein Kriegsversehrter, und entsprechend ausgestattet, mit einem Holzbein,
in dem nun das Messer steckte und noch lange nachzitterte.
Eine eher randständige Episode, mehr nicht. Unter normalen
Umständen hätte ich vermutlich eine Rezension von Günter Grass'
Jugendautobiographie Beim Häuten der Zwiebel nicht mit dieser Episode begonnen,
sondern eher an der "nachwachsenden Scham" des jungen SS-Mannes aufgehängt oder
an der Chronologie orientiert: 1939, als "bei anhaltend schönem Spätsommerwetter
in Danzig und Umgebung" der Zweite Weltkrieg ausbrach, bis 1959, der Frankfurter
Buchmesse, zu der Grass' Welterfolgsroman Die Blechtrommel erschienen war und wo
der Autor bis in die frühen Morgenstunden tanzte.
Zwiebel ohne Kern
Aber an der kleinen Geschichte vom Holzbein des Obergefreiten
lässt sich sehr schön die Bauweise des Buches aufzeigen. Wie nebenbei wird
selbst in dieser Passage mit einem kühnen Kalauer auf den "Kumpel Joseph"
hingewiesen, einen jungen, hungrigen, aber tiefgläubigen Mitgefangenen, dessen
leise, einschmeichelnde Stimme schon den potenziellen Papst, der in ihm stecken
könnte, vorausahnen lässt. Der fromme "Kumpel" begleitet uns etwas zwanghaft,
aber keineswegs ohne Komik durch das ganze Buch.
Dagegen erinnert der Mann mit dem Holzbein an einen anderen
Obergefreiten, dem bei einem russischen Angriff beide Beine abgerissen wurden.
Es ist eine der zentralen Geschichten dieses Überlebensbuches. Der
siebzehnjährige Lade-Schütze der Waffen-SS-Division Frundsberg verdankte
vermutlich diesem einfachen, kriegserfahren, klugen Soldaten sein Leben. Die
Episode verweist also, um das Kind beim Namen zu nennen, auf das poetische
Prinzip, dem Grass hier folgt.
Es dürfte unmöglich sein, die anhaltende, hitzige Debatte der
letzten eineinhalb Wochen zu ignorieren. Dennoch lässt sich die ursprüngliche
Intention des Buches, die sich bereits im Titel anzeigt, erkennen. Und es dürfte
auch sinnvoll sein, dieses Buch, das als krönender Abschluss eines Lebenswerkes
gedacht war, an seinem eigenen ursprünglichen Anspruch zu messen.
Günter Grass' Autobiographie
Der Steidl Verlag hat Mitte vergangener Woche beschlossen,
Günter Grass' Autobiographie "Beim Häuten der Zwiebel" früher als geplant
ausliefern zu lassen. Die erste Auflage war binnen weniger Stunden vergriffen.
Wir haben deshalb unsererseits entschieden, unseren Lesern
entgegenzukommen und umgehend einen ersten Leseeindruck zu vermitteln. Ina
Hartwig konzentrierte sich am 17. August in der FR auf jene Passagen, in denen
Grass über das lang Verschwiegene, also seine Zeit bei der Waffen-SS spricht.
Heute würdigt unser Rezensent Martin Lüdke die Erinnerungen
von Günter Grass umfassend. FR
Ein überzeugendes Konzept liegt zu Grunde: Erinnerungen werden Schicht um
Schicht abgetragen. "Die Zwiebel hat viele Häute. Es gibt sie in Mehrzahl. Kaum
gehäutet, erneuert sie sich. Gehackt treibt sie Tränen. Erst beim Häuten spricht
sie wahr. Was vor und nach dem Ende meiner Kindheit geschah, klopft mit
Tatsachen an und verlief schlimmer als gewollt, will mal so, mal so erzählt
werden und verführt zu Lügengeschichten." Und vielleicht noch gravierender,
stellt sich wie bei jeder Zwiebel die Frage: was, abgeschält, am Ende bleibt.
Ein Kern - etwa die historische Wahrheit - ist nicht auszumachen. Nur, wie wir
seit Nietzsche wissen, viele verschiedene Sichtweisen.
Grass begnügt sich aber nicht mit einem (scheinbar)
relativistischen Wahrheitsbegriff, wie er sich in der Zwiebel-Metapher zeigt. Er
beschwört immer auch den Bernstein, der am Strand der Ostseeküste liegt, glänzt,
funkelt und dauerhaft Geschichte in sich birgt. "Der Bernstein gibt vor, mehr zu
erinnern, als uns lieb sein kann. Er konserviert, was längst verdaut,
ausgeschieden sein sollte. In ihm hält sich alles, was er im weichen, noch
flüssigen Zustand zu fassen bekam. Er widerlegt Ausflüchte."
Dieser Doppelung entspricht eine zweite: die des "gedoppelten
Ichs", das Grass "in Bücher sperrte und derart gebändigt zu Markte trug." Anders
gesagt, die widersprüchliche Einheit von Lebens- und Werkgeschichte des Günter
Grass. "Schicht auf Schicht lagert die Zeit. Was sie bedeckt, ist allenfalls
durch Ritzen zu erkennen. Und durch solch einen Zeitspalt, der mit Anstrengung
zu erweitern ist, sehe ich mich und ihn zugleich. Ich bereits angejahrt, er
unverschämt jung; er liest sich Zukunft an, mich holt Vergangenheit ein". Hier
zeigt sich ein tragfähiges ästhetisches Konzept, das seinen poetischen Gewinn
aus der Fiktionalisierung des Faktischen und der Faktizität des Fiktionalen
gewinnt. Grass arbeitete bereits einmal, mit vergleichbarer Konsequenz, mit
diesem Konzept: 1979 - in seiner Erzählung Das Treffen in Telgte.
Immer dort, wo Grass auf Danzig, seine Jugend und eigenen
Erfahrungen zurückgreifen konnte ohne verschwitzte Hilfskonstruktionen, gewinnt
seine Sprache an Kraft, Wucht, Sinnlichkeit. Jetzt, Beim Häuten der Zwiebel,
nennt er selbst noch einmal "alle meine Tiere beim Namen", von den frühen
Hühnern, dem Hund, der "Katz", der Maus, bis Butt, Rättin, Unke, Schnecke und
dem späten Krebs. Viele dieser Viecher bekamen die überschwere Last einer
Allegorie aufgebürdet. Daran scheiterten diese Romane. Das Treffen in Telgte
jedoch bedurfte keiner Allegorie. Die Erzählung bezog ihre Energie aus der
historischen Spannung zwischen 1649, 1949 und 1979. Mithin: aus der deutschen
Geschichte. "Gestern wird sein, was morgen gewesen ist."
Gemästete Träume
Beim Häuten der Zwiebel kommt Grass wieder ohne eine solche
Allegorisierung aus. Denn diese Erzählung seiner Lebens- & Werk-Geschichte
bezieht ihre Energie ebenfalls aus einer historischen Spannung zwischen drei
historischen Daten: 1939, 1959 und der Gegenwart. "Sobald ich, wie mittlerweile
geübt, über alle Bedenken hinweg Ich sage, also meinen Zustand vor rund sechzig
Jahren nachzuzeichnen versuche, ist mir mein damaliges Ich zwar nicht ganz und
gar fremd, doch abhanden gekommen und entrückt wie ein entfernter Verwandter."
Rimbaud und die Erbengemeinschaft der Moderne braucht Grass dabei gar nicht zu
bemühen. Der Ekenntnisgewinn ergibt sich zwanglos.
Damit erklärt sich nebenbei, warum Grass noch einmal
beschreiben wollte, was ja fast alles schon beschrieben gewesen ist. Gewiss: um
nachzutragen. Um die vergangene Geschichte, die sich mit jedem künftigen Tage
wieder und weiter verändert, von einem Heute aus neu zu betrachten. Also,
letztendlich: Um beim Häuten der Zwiebel auf Bernstein zu stoßen. Im "Bernstein"
ist die historistische Perspektive festgeschrieben, wie noch Martin Walsers
Erinnerungen Der springende Brunnen vorgeworfen wurde. Und schließlich, über
allen Historismus hinaus: Um mit Hilfe der "Zwiebel" die verfestigte Geschichte
wieder zu verflüssigen.
Ein dolles Konzept. Ein dolles Buch. Ungeheuerliche Szenen.
Eindringlich unvergessliche Schilderungen der letzten Kriegstage. Liebevolle
Porträts von Kameraden, denen allerdings immer, als Heiligenbild, der "Kumpel
Joseph" über die Schultern grinst. Beschwörungen des Hungers, so wortmächtig,
dass man mitleiden möchte. Unglaubliche Beschreibungen eines
Trockenschwimm-Kochkurses im Gefangenenlager. Der Koch und Kursleiter, ein
sogenannter "Beutedeutscher", war "ein Meister der Beschwörung": "Mit nur einer
Hand zwang er gemästete Träume auf die Schlachtbank und unters Messer. Dem
Nichts gewann er Geschmack ab. Luft rührte er zu sämigen Suppen." Keineswegs nur
in diesem Kapitel zeigt sich Grass auf der vollen Höhe seines Könnens: "Uns,
denen täglich nur ein Kellenschlag wässrige Kohl- oder Graupensuppe zustand,
riet er, des Schweinebratens Fettmantel mit scharfem Messer der Länge, der
Breite nach zu kerben. ‚No, das gibt Krustchen kestlich !'"
Jedem der elf Kapitel ist die Rötelvignette einer Zwiebel
vorangestellt. Grass zaubert in den meisten von ihnen, fast alle von gleicher
Länge. Auch das spricht für seine erzählerische Ökonomie. Der Rhythmus stimmt.
Kriegsbeginn, Flakhelferzeit, Gefangenschaft, Nachkrieg, Ausbildung, Erste
Liebe(n). Nur anfangs zaudert er, bis das Bekenntnis endlich raus ist: die
Waffen-SS.
Drei Jahre habe er an diesem Buch gearbeitet. Drei Jahre
hätte der Autor damit auch die Gelegenheit gehabt, das Debakel zu vermeiden.
Grass, mit knapp achtzig nicht mehr der Jüngste, hätte, wie ersichtlich erhofft,
mit diesem mächtig-prächtigen Bogen sein Lebenswerk krönen können. Er hätte.
Jetzt ist er sich selbst in die Quere gekommen.
Der spät Verführte
Der "Bernstein", die unverrückbare Wahrheit, steht jetzt
gegen die "Zwiebel". Nach der FAZ-Schlagzeile - "Günter Grass: Ich war Mitglied
der Waffen-SS" - erweist sich das schlüssige Konzept als brüchig. Antworten auf
Fragen nach der Vergangenheit, der Waffen-SS, können nicht länger durch
Zwiebeldünste in einem tränenreichen Blick verschleiert werden. Bekenntnisse
wollen bekannt sein. Diesen Umstand hat Grass ersichtlich nicht bedacht. Sonst
hätte er sich von der Möglichkeit des Vorabinterviews kaum verführen lassen.
Jetzt ist Wahrheit gefragt, kein poetisches Prinzip. Und das schlägt - leider -
auf das Buch zurück. Schlimmer noch: Das Prinzip, dem das Buch folgt, provoziert
eine Revision. Die ausgestellte Einheit von Leben und Werk, das "gedoppelte
Ich", steht wieder in Frage.
Zugestanden: Die Erfolgsgeschichte von Grass bis hin zu
Nobelpreis ging immer auch mit harten, härtesten, unsachlich persönlichen
Angriffen einher. Solche Erfahrungen sind geeignet, den Blick zu verstellen.
Grass neigt, wie in der Politik üblich, zum Lagerdenken. Hinzu kommt: Grass,
sicher einer der besten lebenden Kenner unserer Barock-Dichtung, ist auch
Autodidakt geblieben, mithin schwer belehrbar. Die Blechtrommel und ihr späterer
Welterfolg wirkten offenbar, wie er es jetzt beschreibt (und wohl doch ganz
anders meinte) wieder auf ihren Autor zurück. Als er 1958 das erste Mal wieder
seine Heimatstadt Danzig besucht, auch die Großtante Anna trifft, sagt sie ihm:
"Na, Ginterchen, bist aber groß jeworden ." Er hat es geglaubt, wie er immer an
das Sichtbare geglaubt und sich dabei eben oft getäuscht hat.
Die Omnipotenzgefühle des trommelnden Zwerges, seine
Sicherheit, unangreifbar zu sein, haben ihren Urheber ergriffen. Mit dem
Erscheinen der Blechtrommel enden die Erinnerungen unseres
Literaturnobelpreisträgers Günter Grass.
Durch den Erfolg habe er seine "persönliche Untäuschbarkeit "
bestätigt gesehen, resümiert die Schriftstellerin Petra Morsbach in einem Essay,
der jetzt zufällig zeitgleich mit den Grass'schen Erinnerungen erschienen ist
und sich wie ein Kommentar zu der Debatte der letzten Tage liest (Petra
Morsbach, Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens,
Piper Verlag). Morsbachs Überlegungen zur Blechtrommel ratifizieren nur, was in
dem ästhetischen Konzept der Grass'schen Erinnerungen angelegt ist.
Von Max Frisch wird gesagt, er habe Günter Grass einen
Schriftsteller "mit persönlicher Haftung" genannt. Jetzt ist der Schadensfall
eingetreten. Das ist schade - auch deshalb, weil wir keinen besseren haben.
Frankfurter Rundschau vom
23.08.2006

Grass-Brief
"Lastende Episode meiner jungen Jahre"
In einem Brief an das Oberhaupt seiner Geburtsstadt berichtet der deutsche
Schriftsteller über seine Zeit bei der Waffen-SS. Er erklärt, warum er die
Wahrheit lange für sich behielt.
In einem Brief an den Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz
hat der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass zu seiner Mitgliedschaft in der
Waffen-SS Stellung genommen. Gleichzeitig beschreibt er seine Haltung zu seiner
Heimatstadt Danzig (Gdansk). Deren Stadtrat berät am 31. August über die
Aberkennung der Ehrenbürgerschaft von Grass. Die Deutsche Presse-Agentur
dokumentiert das Schreiben vom 20. August in Auszügen.
"Sehr geehrter
Herr Adamowicz,
ich danke Ihnen
für Ihren Brief und für das Vertrauen, das Sie mir gegenüber auch in der
gegenwärtigen Situation beweisen. Bevor mein jüngstes Buch, „Beim Häuten
der Zwiebel“, öffentlich zur Kenntnis genommen werden konnte, hat die
Meldung über eine zwar gewichtige, aber nicht den Inhalt des Buches
dominierende Episode im Verlauf meiner jungen Jahre eine Kontroverse
ausgelöst, die unter anderem die Bürger der Stadt Gdansk verunsichert
und die zugleich für mich existentiell bedrohliche Ausmaße angenommen
hat.
(...)
In den Jahren und
Jahrzehnten nach dem Krieg habe ich, als mir die Kriegsverbrechen der
Waffen-SS in ihrem schrecklichen Ausmaß bekannt wurden, aus Scham diese
kurze, aber lastende Episode meiner jungen Jahre für mich behalten, doch
nicht verdrängt. Erst jetzt, im Alter, fand ich die Form, davon in
größerem Zusammenhang zu berichten.
Dieses Schweigen
kann als Fehler gewertet und - wie es gegenwärtig geschieht - verurteilt
werden. Auch muß ich akzeptieren, daß durch mein Verhalten meine
Ehrenbürgerschaft von vielen Bürgern der Stadt Gdansk in Frage gestellt
wird. Es steht mir nicht zu, in dieser Situation auf all das
hinzuweisen, was während fünf Jahrzehnten mein Lebenswerk als
Schriftsteller und gesellschaftlich engagierter Bürger der
Bundesrepublik Deutschland ausmacht, doch möchte ich für mich
beanspruchen, die harten Lektionen, die mir in meinen jungen Jahren
erteilt worden sind, begriffen zu haben: meine Bücher zeugen davon und
mein politisches Handeln.
Ich bedaure es,
Ihnen und den Bürgern der Stadt Gdansk, mit der ich als gebürtiger
Danziger zutiefst verbunden bin, eine Entscheidung aufgebürdet zu haben,
die gewiß leichter und auch gerechter zu fällen wäre, wenn mein Buch
bereits in polnischer Übersetzung vorläge.
(...)
Ich sah viele
Gründe, auf meine ehemalige Heimatstadt stolz zu sein, ging doch von ihr
eine geistige Haltung aus, die europaweit wirksam wurde, als es darum
ging, diktatorische Herrschaft gewaltfrei zu beenden, so auch zum Fall
der Berliner Mauer beizutragen und die Möglichkeiten für wahre
Demokratie zu öffnen. Das alles machte mir Mut, das immer wieder
stockende Gespräch zwischen Polen und Deutschen, Deutschen und Polen
fortzusetzen, auf daß wir alle aus der Geschichte, so schmerzhaft sie
war, eine Lehre ziehen, die wechselseitiges Verständnis erlaubt."
|
Die Welt vom 22.08.2006

Zentralrat kritisiert Grass
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat mit scharfer
Kritik auf das SS-Bekenntnis von Günter Grass reagiert. "Die Tatsache, dass
dieses späte Geständnis so kurz vor der Veröffentlichung seines neuen Buches
kommt, legt […] die Vermutung nahe, dass es sich dabei um eine PR-Maßnahme zur
Vermarktung des Werkes handelt", sagte die Präsidentin des Zentralrats,
Charlotte Knobloch, der Netzeitung. Grass sei stets als "strenger moralischer
Mahner aufgetreten. Sein langjähriges Schweigen über die eigene SS-Vergangenheit
führt nun seine früheren Reden ad absurdum", sagte Knobloch. Nach Angaben des
Spiegel hatte Grass offenbar bereits 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft
seine Mitgliedschaft in Hitlers Elitetruppe gestanden. Dies belegen bisher
unbekannte Dokumente der US-Militärbehörden.
taz vom 16.08.2006

Grass' Spießrutenlauf
Die Empörung ist so typisch wie verlogen
Das Eingeständnis, das Günter Grass in seinem vor der
Veröffentlichung stehenden autobiographischen Werk Beim Häuten der Zwiebel
gemacht hat, mit 17 in die SS-Panzerdivision "Frundsberg" eingezogen worden zu
sein, hat eine breite öffentliche Diskussion ausgelöst. Neu daran ist nicht,
dass er als Jugendlicher unter dem Einfluss der NS-Propaganda an den "Endsieg"
geglaubt hat. Er hat daraus keinen Hehl gemacht. Die aufbrandende Polemik
richtet sich allein dagegen, dass Grass dieses Detail seiner Biographie bislang
für sich behielt.
Denn der Einberufungsbefehl zur Waffen-SS im Spätsommer 1944,
der den noch nicht ganz 17-Jährigen im Arbeitsdienstlager erreichte, war in
dieser Phase des Krieges nichts Ungewöhnliches. Das von der Waffen-SS bis 1942
aufrechterhaltene Prinzip der Freiwilligkeit der Zugehörigkeit war zunehmend
durchlöchert worden und wurde 1943 schließlich formell aufgehoben. Ein
beträchtlicher Anteil der Wehrpflichtigen des Jahrgangs 1928 wurde ohne jede
Formalität zur Waffen-SS einberufen. Bei dieser Entwicklung gingen das
zunehmende Ausbleiben von Freiwilligenmeldungen und das Bestreben Himmlers, das
Heer mit der Waffen-SS zu verschmelzen, Hand in Hand. Somit ist die öffentliche
Erregung über die Mitgliedschaft von Günter Grass in der bereits in Auflösung
befindlichen Elitetruppe des NS-Regimes unangebracht. Ebenso wenig kann man dem
jugendlichen Heißsporn Grass - dessen Bewerbung als 15-Jähriger zur U-Boot-Waffe
abgelehnt worden war - abfordern, sich noch 1944 über den kriminellen Charakter
der SS und des NS-Regimes hinreichend klar geworden zu sein. In den wenigen
Wochen seines militärischen Einsatzes, die mit seiner Verwundung endeten, kam er
mit den Verbrechen nicht in Berührung, die von Einheiten der Waffen-SS gegen die
zivile Bevölkerung, gegen Kriegsgefangene und ausländische Zwangsarbeiter
begangen wurden.
So bleibt die Kritik, dieses Detail seiner Biographie nicht
früher mitgeteilt und dadurch seine moralische Glaubwürdigkeit beschädigt zu
haben. Es mangelt in Deutschland nicht an Spätgeborenen, die in gespielter
Empörung den Nobelpreisträger der Täuschung der Öffentlichkeit, ja eines
widerwärtigen Werbetricks, bezichtigen, und dem Chor seiner Kritiker schließen
sich alsbald ausländische Stimmen, leider auch aus Danzig und Warschau an. Sie
wenden sich gegen eine Persönlichkeit, die vom ersten Tage der deutschen
Niederlage an für die Aufdeckung und Wiedergutmachung der
nationalsozialistischen Verbrechen - nicht zuletzt gegen Polen - eingetreten war
und zur Stimme des moralischen Gewissens der Nation geworden ist. Dabei richtet
sich diese in vielen Fällen scheinheilige Kritik in letzter Beziehung gegen die
deutsche Öffentlichkeit selbst, die mit der Apostrophierung der SS-Verbrechen
eine verdeckte Apologetik betreibt. Indirekt wird die Schuld wieder Himmler und
seinen Schergen zugespielt, obwohl doch klar ist, dass die Waffen-SS nicht
pauschal verurteilt werden kann. Die mangelnde Bereitschaft der Nation, ihre
eigene Verstrickung in die NS-Verbrechen einzugestehen und ihr Bestreben, sie
auf die NS-Täter im engeren Sinne zu projizieren, ist ja erst die Erklärung
dafür, dass vor allem von Angehörigen der späten Kriegsjahrgänge ihre
Mitgliedschaft in der Waffen-SS, der NSDAP oder anderen Apparaten des Regimes
verschwiegen wurde, um öffentlichen Diffamierungen auszuweichen.
Die Beschuldigungen, wie sie seinerzeit Walter Jens, Martin
Broszat und andere gerichtet wurden, ihre Mitgliedschaft in der NSDAP oder
anderen NS-Organisationen verschwiegen zu haben, gelten nun der Einziehung von
Günter Grass zur Waffen-SS. Ihm wird zum Vorwurf gemacht, sein Wissen nicht zu
einem früheren Zeitpunkt, so etwa anlässlich der Bitburg-Affäre, aufgedeckt zu
haben. Das ist absurd, denn das öffentliche Geheul wäre um keinen Grad geringer
und vermutlich um ein Vielfaches stärker gewesen und die Genugtuung darüber,
dass eine bislang als integer geltende Persönlichkeit der Makel der
SS-Mitgliedschaft angeheftet werden konnte, über alle Grenzen gegangen.
Das sich anbahnende Spießrutenlaufen verkennt nicht nur, dass
dem Siebzehnjährigen die formelle Zugehörigkeit zur Waffen-SS schwerlich zum
Vorwurf zu machen ist, sondern auch das Recht des einzelnen auf eine private
Bewältigung des umfassenden Wertezerfalls, der mit dem Zusammenbruch des
NS-Regimes eintrat und bei denen, die sich seiner bewusst werden,
Sprachlosigkeit, ja Verdrängung auslöst. Dass sich Grass jetzt im Zuge seiner
autobiografischen Darstellung entschließt, die Erinnerung an diese kritische
Wende seiner Jugend vorbehaltlos aufzudecken, sollte von allen kritischen
Denkenden begrüßt werden, wird aber von einer sensationslüsternen Öffentlichkeit
zum Anlass genommen, um Günter Grass als unglaubwürdig hinzustellen, während die
politischen Kontrahenten bereit stehen, sein politisches Vermächtnis in Stücke
zu schlagen. Paradoxe Schulterschlüsse entstehen, die den Zentralrat der
deutschen Juden, wie zu sehen war, nicht ausnehmen.
Hans
Mommsen, geboren 1930, gilt als einer der profiliertesten Kenner des
Nationalsozialismus. Zuletzt lehrte er in Bochum.
Frankfurter Rundschau vom 16.08.2006

Warum erst jetzt?
Günter Grass' Lebenswerk bleibt unbeschädigt
Das Idealbild der SS waren blonde, blauäugige Muster-Arier,
die sich freiwillig zur nationalsozialistischen Elite meldeten; so ziemlich das
Gegenteil des Typs von Günter Grass. Die Waffen-SS stellte, gemessen an diesem
Ideal, eine "Entartung" dar - dem Bedarf des Krieges geschuldet und dem
Interesse Himmlers, einen wachsenden Anteil an der Wehrmacht zu bekommen.
Das war auch der Grund, dass Kurt Schumacher Anfang der 50er
Jahre erklärte, Angehörige der Waffen-SS sollten die gleiche Chance in der
Gesellschaft der Bundesrepublik bekommen; wenn ich mich recht erinnere sogar in
der SPD. Er hat sich damit viel Ärger besonders in der eigenen Partei gemacht.
Wem die Unterschiede zwischen SS und Waffen-SS erst jetzt bekannt werden, was
gerade in Polen erklärlich ist, wird hoffentlich etwas vorsichtiger mit
Forderungen nach Aberkennung von Ehrungen werden.
Bleibt die berechtigte Frage: Warum erst jetzt das
freiwillige Bekenntnis? Das ist wohl - neben anderen Motiven - nicht denkbar,
ohne dass Grass diesen Teil seiner Vergangenheit als Makel empfunden hat, der
ihn sechs Jahrzehnte begleitet hat. Sein Lebenswerk als Schriftsteller wird
dadurch nicht berührt. Dass wir manches davon jetzt anders lesen, ändert auch
nichts daran.
Was die politischen Einmischungen angeht, so waren sie immer
anregend, auch wo ich sie haarsträubend falsch fand. Literarische Qualität
garantiert noch keine politische Unfehlbarkeit. An diesem Teil von Grass wird
sich auch nichts ändern. Vielleicht mit der Ausnahme, dass er die Rigorosität,
mit der er seinen jeweiligen Standpunkt vertritt, künftig etwas zurück nimmt.
Viele junge Menschen, die sich im Einklang mit ihrer Zeit und
ihrer Umgebung empfanden, damals wie etwas später bei FDJ und SED, mögen Gründe
genug finden, zu verdrängen, welche neuen Orientierungen sie nach
geschichtlichen Umbrüchen langsam finden, und es vorziehen, die Erinnerungen in
ihrer Brust zu verbergen. Wer nie im Glashaus saß, hat kein Recht, Steine zu
schmeißen.
Egon Bahr, geboren
1922, wurde als SPD-Politiker zum Architekten der Ostpolitik.
Frankfurter Rundschau vom 16.08.2006

Die Laubsägenbastler
Ein öffentliches Bekenntnis, viel Argwohn und noch mehr Fragen: Wie es zu
Günter Grass’ Geständnis gekommen ist.
Von Hans Leyendecker
Auch wenn ein Autor viel gelesen und an Ehren und Auflagen
reich ist, kann vor einer Buchpremiere ein bisschen Rummel nicht schaden. Der
Hausverlag macht dann Vorausreklame und verschickt mit Sperrfristen versehene
Vorausexemplare ins Land und hofft, dass möglichst viele von ihnen freundlich
rezensiert werden.
Gut fügt sich auch, wenn der Autor ein Gespür fürs Marketing
hat. Günter Grass, der jüngste Nobelpreisträger der deutschen Literatur, ist
eine solche Begabung.
"PR-Maßnahme zur Vermarktung des Werkes"?
Vor Lesungen übt er noch einmal den Text. Er will das
Publikum nicht enttäuschen. Geduldig beantwortet er auch die unintelligentesten
Fragen, wenn die Veröffentlichung nützlich fürs eigene Werk sein kann.
Sein spätes öffentliches Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der
Waffen-SS erregt deshalb hie und da Argwohn: Sie habe den Verdacht, dass das
"späte Geständnis" kurz vor Veröffentlichung seines neuen Buches "eine
PR-Maßnahme zur Vermarktung des Werkes" sei, sagte die Präsidentin des
Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, der Netzeitung.
Von "Selbstinszenierung", "provokanter Selbstvermarktung" und
"PR-Masche" ist in anderen Veröffentlichungen die Rede.
Der Medienprofi und Historiker Christoph Stölzl erkannte in
Grass einen "genialen Medienprofi". Weil Grass viele Gelegenheiten zur
Selbstoffenbarung versäumt hatte, mutmaßt mancher Kritiker, der Autor des
Erinnerungsbuchs "Beim Häuten der Zwiebel" sei ein Trickser.
Unschuldig wie die Laubsägenbastler
Die taz etwa vermutete, bei dem Wirbel um die
Veröffentlichung könne es sich um eine zwischen der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung (FAZ) und Grass kunstvoll ausgeklügelte PR-Show gehandelt haben. Grass
hatte Ende vergangener Woche in der FAZ erstmals über seine Mitgliedschaft in
der berüchtigten Truppe gesprochen.
Die Wirklichkeit scheint, wie so oft, banaler zu sein. Die
Beteiligten jedenfalls geben sich unschuldig wie Laubsägenbastler.
Grass-Verleger Gerhard Steidl beteuert, dass er die Brisanz beim Lesen zunächst
gar nicht erkannt habe.
Etwa im Februar habe er das Manuskript studiert, und
besonders aufgefallen sei ihm die Beschreibung von Grass, wie er vom Bildhauer
zum Schriftsteller geworden sei.
Einen Monat später habe er anlässlich der Geburtstagsfeier
des Schriftstellers Siegfried Lenz mit dem FAZ-Redakteur Hubert Spiegel über das
Grass-Werk gesprochen und ihm von dem "tollen Material, den schönen Fotos und
Zeichnungen" vorgeschwärmt.
Das wäre doch was für die alte Tiefdruckbeilage der FAZ
gewesen, will Steidl gesagt haben. Ein paar Tage später habe ihn der FAZ-Mann
angerufen und gesagt, die Sache gehe in Ordnung. Der Vorabdruck sei also geklärt
gewesen. Diese Version wird von der FAZ bestätigt.
Ein altes Geheimnis
Ende Juni, so Steidl, sei die letzte redigierte Fassung des
480-Seiten Buchs fertiggestellt worden. Mitte Juli hat dann die FAZ das Gespräch
mit Grass in dessen Dorf Behlendorf geführt.
Erst als FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in dem Gespräch
eindringlich Grass nach der Waffen-SS befragt habe, sei ihm, Steidl, "klar
geworden, was da diskutiert werden wird".
Am 27. und 28. Juli verschickte dann der Verlag 350
Leseexemplare durchs ganze Land. Sperrfrist: 1. September. Die Diskussion setzte
dann nach der Veröffentlichung eines Interviews in der FAZ ein, das ursprünglich
Teil des Vorabdrucks in einer achtseitigen neuen Tiefdruckbeilage sein sollte,
die am kommenden Sonnabend erscheint und an deren Auswahl Grass beteiligt worden
war.
Der Autor habe drei Jahre an dem Werk gearbeitet, sagt der
Verleger noch, der die Erstauflage mit 150 000 Exemplaren angibt. Die sterile
Aufregung dieser Tage wird vermutlich den Verkaufserfolg des Buches nicht
behindern - im Gegenteil.
Unterstützung und Empörung
Nimmermüde gaben in diesen Tagen Gefragte und Ungefragte ihre
Stellungnahmen ab. Dass Grass - wie auch gefordert wurde - den Nobelpreis
zurückgeben muss, schloss die zuständige Nobelstiftung in Schweden aus.
Theologen, Bürgerrechtler und Politiker fast aller Parteien bekundeten
Unterstützung und Empörung.
Ein alter Begleiter von Günter Grass erinnerte sich daran,
dass ihm der Schriftsteller das Geheimnis schon früh anvertraut habe.
In all dem Gedröhne ging beinahe ein Hinweis des
Spiegel-Historikers Klaus Wiegrefe unter. Durch eine einfache Recherche in der
Wehrmachtsauskunftsstelle stellte er fest, dass Grass sich bereits im Mai 1945
in der Kriegsgefangenschaft als Schütze der 10. Panzer-Division "Frundsberg"
bekannt hatte. Hatte sogar Grass diesen Eintrag vergessen?
Süddeutsche Zeitung vom 16.08.2006

Editiert von Oliver Das Gupta
"Dank der 'Gnade der späten Geburt' – ich bin vier Jahre
jünger – habe ich den Mund zu halten über Grass als SS-Mitglied.
Was ich ekelhaft finde, dass er sich ‚moralisch’ über
Bundeskanzler Kohl deshalb ereiferte, weil der mit dem US-Präsidenten einen
Soldatenfriedhof besuchte, auf dem neben hunderten amerikanischer und deutscher
Soldaten auch 49 SS-Männer begraben wurden. Diese 'Ereiferung' übertrifft noch
die von (Kleists) Dorfrichter Adam, wenn man selber SS-Mann war.
Ebenso widerlich die Schimpferei auf Bundeskanzler Adenauer,
der seiner Hinrichtung nach dem 20. Juli 1944 allein deshalb entgangen ist, weil
die amerikanischen Befreier an das Gefängnis Brauweiler auf Schussnähe heran
gekommen waren, wo Adenauer ‚einsaß’. Adenauer repräsentierte wie sein Leipziger
Kollege Carl Goerdeler den besten Geist des deutschen Großbürgertums in der
Nazi-Zeit.
Als Propagandist seiner Memoiren ist Grass nicht zu übertreffen."
Süddeutsche Zeitung vom 16.08.2006

Das Geständnis-Event
Nicht die SS-Mitgliedschaft von Günter Grass ist der
Skandal, auch nicht, dass er so lange geschwiegen hat, sondern sein Interview in
der FAZ: eine Beichte, die keine ist
Von Evelyn Finger
Die Heuchelei fängt schon bei der Überschrift an. »Warum ich
mein Schweigen breche« betitelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihr
Sensationsinterview mit dem groß angekündigten Mitglied der Waffen-SS Günter
Grass – als hätte es nach den Grundregeln eines kritischen Journalismus nicht
heißen müssen: »Warum ich geschwiegen habe.« Als seien die Abgründe des
deutschen Geschichtsdiskurses von weit geringerem Interesse als die Anlässe
eines späten Enthüllungsromans. Als sei ausgerechnet von Grass selbst eine
ehrliche Auskunft darüber zu erwarten, warum er gerade jetzt mit der Wahrheit
herausrückt: weil er plötzlich ein dringendes Offenbarungsbedürfnis verspürte?
Oder weil ihm beim Gedanken an die Elogen zu seinem bevorstehenden 80.
Geburtstag doch ein bisschen mulmig wurde, denn seit 1999 sind ja die gut 22.000
Akten der Waffen-SS im Moskauer Militärarchiv zugänglich?
Es ist bezeichnend für den windelweichen Verhüllungsstil der
Interviewer, dass sie die Frage »Warum erst jetzt?« erst nach 120 Zeilen stellen
und dass sie dem Interviewten seine wahrhaft dadaistische Antwort durchgehen
lassen: »Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich
dieses Buch geschrieben habe.« Günter Grass bricht also jetzt sein Schweigen,
weil er so lange geschwiegen hat. Und die FAZ macht daraus ein bombastisches
Geständnisevent, mit vierspaltigem Inszenierungsfoto aus dem deutschen Wald, mit
einem demütig zusammengesunkener Grass im Profil. Im Bühnenvordergrund viel
Schatten, im Hintergrund goldenes Licht. Das ist die von der FAZ verheißene
Aufklärung, die auf zwei ganzen anzeigenfreien Seiten leider nicht stattgefunden
hat.
Das Skandalöse am Grass-Skandal ist nämlich nicht die
Nachricht, dass ein 17-Jähriger kurzzeitig bei der Waffen-SS war und dass ein
prominenter Schriftsteller zu feige war, diese fatale Zugehörigkeit
einzugestehen. Skandalös ist die übertriebene Mea-culpa-Geste, mit der Grass
jede wirkliche Auseinandersetzung verweigert. Unter dem pathetischen Vorwand
einer Generalbeichte hat er allein seine Verteidigung organisiert. Was genau
faszinierte den jugendlichen Grass am Faschismus, dass er partout in den Krieg
ziehen wollte? Wie verlief denn die Nachkriegsdebatte, dass man es über
Jahrzehnte nicht wagen konnte, sich als Waffen-SSler zu outen? Darüber schweigt
Grass auf wortreiche Weise. An einer einzigen Stelle fragt er sich, wie es zu
erklären sei, »dass wir bis zum Schluss noch an Endsieg und Wunderwaffen
glaubten?«. Ja wie nur zum Teufel? Man sollte meinen, der Paradeintellektuelle
Grass habe in den vergangenen 60 Jahren ein paar Vermutungen darüber angestellt.
Aber weit gefehlt! »Das ist doch aus heutiger Sicht überhaupt nicht zu
verstehen.« Natürlich ist es zu verstehen! Es ist ja von Historikern wie Götz
Aly oder Joachim Fest, von Schriftstellern wie Franz Fühmann oder bereits dem
jungen Hermann Kant gründlich durchdacht worden. Nur Grass pflegt neuerdings
eine demonstrative Unbedarftheit, die in merkwürdigem Kontrast zu seiner
sonstigen politischen Bescheidwisserei steht.
Das ganze Interview folgt einer Rechtfertigungsdramaturgie,
deren Peinlichkeit durch die schwammigen Fragen der Journalisten noch vergrößert
wird. Grass verweilt kaum einen halben Satz bei seiner SS-Vergangenheit, ohne
sie durch den Hinweis zu relativieren, dass er sich nur zur U-Boot-Flotte
gemeldet habe und dass die SS am Ende sowieso alles zwangsrekrutiert habe, »was
sie kriegen konnte«. Grass kann auch das Wort Schuld nicht aussprechen, ohne
sich sofort Schuldunfähigkeit zu attestieren. »Hättest du zu dem Zeitpunkt
erkennen können, was da mit dir vor sich geht?«, fragt er rhetorisch. Und damit
auch der letzte Leser kapiert, dass die insinuierte Antwort Nein lautet, erzählt
er von einem einzelnen Mitschüler aus sozialdemokratischem Elternhaus, »der mehr
wusste als wir anderen in der Klasse«.
Grass hingegen war halt so unwissend wie alle. Sich selbst
als Schaf unter Schafen zu stilisieren, ist der eigentliche Zweck der Übung.
Deshalb muss auch der antifaschistische Widerstand kleingeredet werden.
»Wirklichen Widerstand« habe er, Grass, nur in einem Fall erlebt, bei einem
Zeugen Jehovas. Das Fürchterliche an dem Interview ist nicht Grass‘ fortgesetzte
Feigheit vor der eigenen Biografie, sondern dass er die Lebenslügen seiner
Generation und auch der Generation seiner Eltern nachträglich beglaubigt. Wenn
schon der junge Grass, das angehende Genie, der spätere Nobelpreisträger
»verführt« wurde, wie hätten da erst alle anderen das Dritte Reich in seiner
Grausamkeit durchschauen sollen? Sich gar verweigern?
Der Gipfel dieser Entschuldungstaktik ist die Anekdote über
den Kriegsgefangenen Joseph, mit dem Grass sich anfreundete und von dem er uns
glauben machen will, es sei Ratzinger gewesen. Die FAZ entblödet sich nicht, ein
Uniformporträt des Luftwaffenhelfers und späteren Papstes zu drucken, dessen
frohe Botschaft lautet: Auch du, Ratzinger! Nicht nur Grass, nicht nur alle
Deutschen, sogar der Stellvertreter Gottes, also im Grunde Gott selbst war, wie
man so sagt, verstrickt.
Statt Kollektivschuldthese nun also wieder die altbekannte
Lüge von der Kollektivunschuld. Grass liefert Pointen, über die die Rechte sich
diebisch freuen wird, das ganze Interview zielt bei genauerer Betrachtung auf
revisionistisch-relativistische Volten. Die Spießigkeit der Adenauerzeit
beispielsweise habe es bei den Nazis nicht gegeben. Die Auseinandersetzung der
Deutschen mit ihrer Vergangenheit sei eine »Leistung«, die wir anderen
europäischen Ländern, insbesondere den einstigen Kolonialmächten, voraushaben.
Und übrigens – auch dies eine alte revisionistische Legende – sei die Weimarer
Republik ja daran zugrunde gegangen, dass Nazis und Kommunisten gemeinsame Sache
gemacht hätten. Grass‘ Rechtfertigungslogik erscheint deshalb so perfide, weil
sie mit jenen berühmten Wahrheiten operiert, die »auch endlich mal gesagt werden
müssen«, und zwar immer dann, wenn das Dritte Reich zu einem Ereignis unter
vielen verkleinert werden soll.
Der Günter Grass des FAZ-Interviews, der dem prominenten
Schriftsteller mitunter seltsam unähnlich scheint, schreckt nicht davor zurück,
die deutschen Konzentrationslager mit dem amerikanischen Alltagsrassismus in
einen kruden moralischen Zusammenhang zu bringen. In der Kriegsgefangenschaft,
erzählt Grass, sei er erstmals mit »diesen Verbrechen«, gemeint sind die Morde
in den Konzentrationslagern, konfrontiert gewesen und habe gleichzeitig sehen
müssen, »wie in den amerikanischen Kasernen die Weißen die in getrennten
Baracken untergebrachten Schwarzen als Nigger beschimpften«. Auf Grass scheint
alles gleich schockierend gewirkt zu haben: die Konzentrationslager und die
Kasernen. Der deutsche Faschismus und der amerikanische Rassismus. Wenn ein
Großschriftsteller sich zu einem Großouting anschickt, aber doch den Mut gleich
wieder verliert, dann verschmilzt alles Unrecht, alle Niedertracht dieser Welt
zu einem undurchdringlichen Schuldzusammenhang, in dem der Einzelne keine Rolle
mehr spielt.
Grass‘ vermeintliche Offensive ist in Wahrheit ein
Versteckspiel, ein schlecht geführtes Rückzugsgefecht, gewürzt mit kleinen
Abgeschmacktheiten. So spricht Grass ausgerechnet hier von Paul Celans
»übersteigerten Ängsten«. Paul Celan, der Dichter der Todesfuge, des
bedeutendsten Requiems auf die ermordeten Juden, der im Holocaust seine Familie
verlor und 1967 Selbstmord beging, habe ihn, Grass, übrigens um sein
Erzähltalent beneidet. Das ist alles, was dem alten Grass zum Themenkreis Juden
in Deutschland einfällt.
Die Liste der Absurditäten ließe sich fortsetzen. Grass
jedenfalls hat es geschafft, dass nun eine Diskussion über die
Erpressungsmethoden der Waffen-SS geführt wird, über die unfreiwillig
Rekrutierten, und so, wie die Debatte läuft, kommt es einem vor, als sei außer
Himmler eigentlich niemand freiwillig dabei gewesen. Gelitten haben an
Nazideutschland mal wieder in erster Linie die Deutschen, nicht nur an dem
selbstangezettelten Krieg, nicht nur an ihrer SS-Mitgliedschaft, sondern, wie
das Beispiel Grass zeigt, vor allem an ihrem selbstauferlegten
Nachkriegsschweigen. Nur die ostdeutschen Schriftsteller, die hatten es leicht,
denn sie wurden nach 1945 mit einer »neuen glaubhaften Ideologie versorgt«.
Grass nennt Christa Wolf und Erich Loest, gerade Loest, der sich während seiner
jahrelangen Haft in Bautzen besonders gut versorgt gefühlt haben muss. Am Ende
spricht Grass von seiner eigenen »unvermeidbaren« Egozentrik, aber dieses
»unvermeidbar« wirkt auf das gesamte Interview zurück. Was war denn überhaupt
vermeidbar? Die Waffen-SS? Hitler? Der deutsche Faschismus scheint etwas
Naturwüchsiges gewesen zu sein, worüber eine Diskussion im Grunde wenig lohnt.
»Das kann man nicht bereuen«, sagt Grass mit Bezug auf seinen egozentrischen
Charakter, und man hat den merkwürdigen Eindruck, dass er
noch viel mehr nicht bereut.
Frank Schirrmacher behauptet in einer gloriosen
Leitartikelthese, »dass die große Nachkriegserzählung der Deutschen« mit Grass
und seinem Eingeständnis, also mit der FAZ vom vergangenen Samstag, ende. Dieses
angebliche Ende ist aber so wenig ein Ende, wie Grass‘ Eingeständnis ein
Eingeständnis ist.
Die Zeit vom 16.08.2006

Heimkehr eines Denunzianten
Günter Grass und der entspannte deutsche Patriotismus
Von Wiglaf Droste
Ganze 61 Jahre lang war er hartleibig, nun hat sich Günter
Grass gelöst: »Das musste raus, endlich!«, kofferte Grass ächzend in die
Frankfurter Allgemeine Zeitung hinein. Deren Chef Frank Schirrmacher, ein Kai
Diekmann für Halbalphabeten, schmiss sich stolz wie Oskar aus der »Blechtrommel«
in die Hühnerbrust und blies grienend die feisten Wangen auf. Grass war in der
Waffen-SS, mit 17, sechs Jahrzehnte lang verschwieg er das und hob den dicken
Zeigefinger gegen alle, die ihre Vergangenheit nicht lückenlos aufdeckten. Das
ist keine Sensation, das ist nicht »Mann beißt Hund«, sondern »Hund beißt Mann«,
das passt wie Arsch auf Eimer. Einer der größten Langeweiler aller Zeiten hat
ein kleines, braunes Geheimnis. Und weil sein neues Buch, »Beim Häuten der
Zwiebel« außer ein paar hoffnungslos verdeutschlehrerten Pappköpfen niemanden
mehr interessierte, plauderte Grass alles aus.
Beziehungsweise eben doch nicht. Wenn es denn ein Geständnis
wäre, das den Namen verdiente! Aber Grass ist noch in der Selbstbezichtigung
eitel. ICH war bei der Waffen-SS, ICH, der große Günter! Der Nobelpreisträger!
Der, das verschweigt er aus gutem Grund, diesen Preis nie bekommen hätte, wenn
er seine Vergangenheit nicht so kalkuliert für sich behalten hätte, wie er jetzt
mit ihr hausieren geht.
Es geht hier nicht um Moral oder Doppelmoral, sondern um die
Mechanismen des Gewerbegebiets der moralisierenden Literatur. Grass war und ist
ein Ödling. »Words don’t come easy« hieß ein Schmierlied aus den 80er Jahren –
es ist die Lebenshymne von Günter Grass: »Words, pieh dieh dieh, don’t come easy
to me, how can I find a way to make you see, pieh dieh dieh ...« Den mangelnden
Musenkuss hat Grass schon immer durch den Griff zu den großen Jahrhundertthemen
zu kompensieren gesucht. So sind 50 Jahre sozialdemokratische Staatsklempnerei
zusammengekommen, und wie alle Sozialdemokraten wurde auch Grass die Angst nicht
los, als ewiger vaterlandsloser Geselle behandelt zu werden.
Von Vertretern der deutschen Mannestugenden Herumeiern,
Mauern und Feigesein gibt es viele; entsprechend groß ist das Verständnis für
Grass. Der sozialdemokratische Prittstift Klaus Staeck springt Grass zur Seite,
auch Gregor Gysi kumpelt mit - und die Waffen-SS wirkt auf einmal wie eine
Jugendbewegung, nur respektabler und sportiver als Punk oder Hippietum. Wer dort
einmal anheuerte, auf den ist Verlass, die Waffen-SS ist gute Schule und Zucht,
und eine Nazi- oder SS-Vergangenheit hat noch keinem Deutschen geschadet.
Das weiß auch Günter Grass, ein Denunziant reinsten Wassers,
ein Geschaftelhuber und brüllender Opportunist, ein Gruppe-47-Intrigant, der mit
dafür sorgte, dass brillante Kollegen wie
Albert Vigoleis
Thelen im deutschen Kulturbetrieb untergebuttert wurden, und der
Heinar Kipphardt in
den siebziger Jahren, auf dem Höhepunkt der RAF-Hysterie, die Polizei auf den
Hals hetzte und gemeinsam mit dem damaligen Münchner SPD-Oberbürgermeister
Hans-Jochen Vogel erfolgreich die Absetzung Kipphardts als Dramaturg der
Münchner Kammerspiele betrieb.
Die Nachrichtenagenturen melden: »Günter Grass bekommt nach
seinem Waffen-SS-Geständnis Rückendeckung von Historikern. Der Fall werde dem
Image des Literaturnobelpreisträgers nicht schaden, sondern ›eher zum besseren
Verständnis der Vergangenheit beitragen‹, sagte der Berliner Historiker
Arnulf Baring der
Berliner Morgenpost. Das Bild des Dritten Reiches müsse in dem Sinne
zurechtgerückt werden, dass man die damaligen Sichtweisen stärker
berücksichtigen müsse.« Ja klar, man muss den Führer auch mal von innen heraus
verstehen.
»›Nicht jeder, der in der NSDAP oder gar der Waffen-SS war,
muss deshalb verbrecherische Ziele verfolgt haben‹, sagte Baring und erklärte
weiter, ›man sollte grundsätzlich bei dem, was junge Leute getan haben oder auch
heute tun, nachsichtig sein‹. Es handle sich ja nicht um Menschen ›mit vollem
Urteilsvermögen‹. Mit Blick auf die aufgeheizte Atmosphäre der Kriegsjahre
›konnte jemand wie Grass kaum zu anderen Schlussfolgerungen kommen, als in der
Waffen-SS eine tolle Herausforderung zu sehen‹. Er vermute, der Fall Grass werde
zu einem gelassenen und gerechteren Urteil über die Verstrickung vieler
Deutscher in den Nationalsozialismus führen.«
Da ist es, das Wort des Jahres 2006: »entspannt«. Ein
»entspannter Patriotismus« wurde im Sommer 2006 erfunden – er ist das Synonym
für Lärm, für Die-Welle-und-den-Lärrie-Machen. Wenn schwarzrotgold behängte,
grölende, grunz- und strunzdumme Fußballprollfans angeblich alle ganz toll
»entspannt« waren bei der WM – wer möchte das dann noch sein?
Günter Grass, unbedingt. Davon, dass Juden deportiert wurden,
hat er in Danzig selbstverständlich nichts mitbekommen; Rassismus hat er
erstmals erlebt, als er sah, wie in der US-Armee Schwarze von Weißen
diskriminiert wurden. Den Antiamerikanismus des volksdeutschen Kerls hat Grass
auch noch drauf – hier ist ein deutscher Denunziant bei sich und bei seinem Volk
angekommen. Der Erste Schriftsteller dieses verlogenen Deutschlands heißt Günter
Grass.
junge Welt vom 16.08.2006

Die Untiefe der eigenen Biografie
Günter Grass: Das Geständnis und einige Fragen
Von Hans-Dieter Schütt
Günter Grass war, siebzehnjährig, bei der Waffen-SS, 10.
Panzerdivision »Frundsberg«. Das wird in des Autors Erinnerungsbuch »Beim Häuten
der Zwiebel« zu lesen sein (Herbst-Spitzentitel bei Steidl), und am vergangenen
Wochenende gestand Grass in der FAZ gleichsam vorab. Wer das Gespräch liest, der
erfährt, trotz des neuen Sachverhalts, im Grunde nur das Alte: wie ein Mensch
naturgemäß erst mählich wissend wird – über den Weg des frühen Irrtums; man
rutscht über naiven Glauben, über das Inhalieren von Propaganda und auch über
reichlich blinde Zufälle ins Unglück, manchmal sogar ins potenzielle Verbrechen.
Man ist in der Zeit, die Zeit wirft den Menschen, der Mensch stolpert herum, und
erst viel später reibt er sich die Augen.
»Das musste raus, endlich«, sagt Grass. Er sagt es jetzt, ein
Jahr vor seinem achtzigsten Geburtstag. Von Mut wird da niemand reden. Von
Kalkül? Störte dieser biografische Punkt jene schier institutionalisierte
politisch-moralische Leitrolle, die der Romancier und bekennende soziale
Demokrat Jahrzehnte bravourös, unbeirrbar, felsenfest einnahm, fordernd auch
gegen andere?
Diese eine Frage
Seltsam: Grass gehört zu jenen, die einem Verdrängen, einem
Verlangen nach »normalem« Umgang mit deutscher Vergangenheit nie nachgaben, aber
sein jetziges Geständnis wirkt, als habe er geduldig auf das Dämmern solch
umstrittener Normalität gewartet. Eine Normalität, die den von Schuld Berührten
ebenfalls verstärkt zugesteht, gelitten zu haben. Auch Täter – kleine zudem –
waren Menschen, befangen in menschlicher Anfechtbarkeit, getrieben von
Befehlszwängen, oftmals zu schwach für rechtzeitigen Charakter. Schwäche ist ein
Menschenrecht. Viele Jahre demokratische Standhaftigkeit unterm Signum Grass
werden von einer kurzen SS-Zeit nicht wirklich angetastet. Und doch ... Das
Gefühl beginnt mit leichten Revisionsarbeiten ...
Da erklärt jemand seine Verführbarkeit, da spricht einer für
viele, die nur unter stark belastenden Zusammenhängen jung sein durften – aber
in diese Bitte um Verständnis für Millionen drängt sich doch unaufgefordert der
Gedanke, wie gering noch immer jene Wenigen in diesem Lande gelten, die im
gleichen Alter wie Grass in Lagern oder unter Fallbeilen starben, junge
Widerstandskämpfer, Kommunisten zuerst, Hitler-Gegner von Anfang an. Die Qual
der Mehrheit, im Gefolge von Krieg wieder in ein anständiges Leben zu finden –
beschäftigt sie die Öffentlichkeit intensiver als die gequälten Minderheiten,
die für dieses anständige Leben das ihre opferten?
Günter Gaus schrieb: »Unter alten Kommunisten in der DDR habe
ich immer wieder das Bedürfnis gefunden, das, was man nach so vielen Opfern
politisch in die Hand bekommen und was man daraus gemacht hat, vor kritischen
Nachfragen zu schützen. Schnelle Urteile über diese Einstellung, die einen Teil
Selbstbetrug enthält, hat jeder selbst zu verantworten. Solche Urteile in
Westdeutschland hängen ab vom unterschiedlichen Grad Respekt vor der
Widerstandsleistung der deutschen Kommunisten.« Wann ist bundesdeutsches
öffentliches Bewusstsein mit jenem teils noch immer rigiden Antikommunismus, der
wenig Respekt verrät, auf der Höhe dieser Aussage? Die Frage kommt einem
unwillkürlich, angesichts jener psychologischen Fürsorglichkeit in den Sinn, wie
sie jetzt in der FAZ, im Falle Grass, wieder einmal die Generation der Mitläufer
erfährt.
Berechtigt. Aber ...
Und: Es kommt einem beim späten Geständnis von Grass auch die
sehr unterschiedliche Art der Erinnerungskultur in Ost und West in den Sinn. Die
Jahre nach der deutschen Einheit waren Auf- und Abrechnungsjahre. Verständlich,
dass vor allem im Osten gekehrt wurde. Denn mit ihrem Ende durfte (musste!) die
DDR endlich beim richtigen Namen jener Dinge genannt werden, die dieses Ende
herbeigeführt hatten. Für viele kam die Frage »Haben wir umsonst gelebt?« auf
die Tagesordnung, und eine Beschäftigung mit dieser Frage ist immer nur dann
eine Bereicherung von Existenz, wenn nicht schon die Frage selbst wie ein
trotziges, im Grunde schon vorher antwortendes »Natürlich nicht!« klingt. Vor
allem darf diese Frage nicht als Kampf gesehen werden, den man gegen andere
führt. Es ist vielmehr eine Selbstbegegnungsart. Eine Freiheitsform, auch wenn
man fortan vielen Missverständnissen ausgesetzt bleibt; aber was wäre Freiheit
anderes als immer nur Platz zwischen den Prangern.
Es verhält sich wohl so, wie der Aphoristiker Horst Drescher
schrieb: »Ich denke, jeder Mensch über fünfzig sollte einmal einen Abend oder
eine Nacht darauf verwenden, darüber nachzudenken, wann sein Leben beendet war;
man kommt bei angemessener Ehrlichkeit bis auf den Tag.« Und dann setzt Drescher
das entscheidende Achtungszeichen: »So ein Abend oder so eine Nacht, die gehören
noch zum Leben!«
Überspitzt von Beendigung des Lebens zu sprechen, das meint
hier: Wann habe ich im gesellschaftlichen Gefüge, in das ich verstrickt bin,
eigentlich aufgehört, genau zu prüfen, den inneren Einwänden zu folgen, auch
wenn die Überzeugung auf dem Spiel stand; wann habe ich aufgegeben, fremde
Einflüsterungen als solche zu empfinden; wann habe ich nachgelassen,
Verunsicherungen ernst zu nehmen; wann habe ich begonnen, unter Verweis aufs
Große und Ganze eigene Beschädigungsspuren und solche am Großen und Ganzen
hässlich schönzureden.
Die forsche Unnachgiebigkeit und das souveräne
Instanzbewusstsein, mit dem DDR-Gegner im Osten und DDR-Fremde im Westen nach
1989 einstige sozialistische Protagonisten in eine diesbezügliche
Rechenschaftslage brachten, war der beträchtlichen Wahrheitsscheu mancher dieser
Betreffenden geschuldet. Die Unnachgiebigkeit der kritischen Nachfrage, welche
speziell einigen hartnäckig erinnernden Bürgerrechtlern die hämische Bezeichnung
»Bürgerrächer« einbrachte, war und ist also durchaus nötig – und dieses Beharren
auf Unversöhnlichkeit, solange ihr kein wirklich spürbares Gegengewicht von
voraussetzungsloser Scham und deutlichem Unrechtsbewusstsein beigegeben ist,
erhielt ja jüngst am neuralgischen Punkt Hohenschönhausen neue verständliche
Impulse.
Andererseits aber fiel immer auch jenes pauschale
Hoheitsgebaren auf, jene westliche Selbstgewissheit, die so unbotmäßig
gewaltsam, geradezu staatsanwaltsam daherkam. Nichts ist deckungsgleich
miteinander in Verbindung zu bringen, aber mit welch moralsatter Fraglosigkeit
wurde in den Biografien von
Christa Wolf und
Bernhard Heisig oder
Stefan Heym oder Monika
Maron herumgeklaubt. Mit welch beinahe inquisitorischer Unanfechtbarkeit
wurde jede MfS-Unterschrift, in Jugendjahren geleistet, zur biografischen
Strafsache erster Güte hochgeschrieben. Mitunter geradezu erbarmungslos. So, als
sei nur all das menschlich und akzeptabel, was gewissermaßen von früh an auf
westdeutsches Leben hinauslief. In der DDR sein? In der DDR bleiben? Wie konnte
man nur! Dieser anmaßende Duktus schnitt Wege zur Selbstkritik ab und rief
oftmals nur noch die verständliche Abwehr feindseliger Abwertungen, also
Rechtfertigungen hervor.
»Es ist ja eine Binsenwahrheit, dass unsere Erinnerungen,
unsere Selbstbilder trügerisch sein können.« So Grass in der FAZ. Wohl wahr.
Aber die Welt macht Unterschiede. Dem einen lässt sie Zeit, solche Bilder selber
zu korrigieren; anderen wird Vergessen umgehend als Verheimlichung nachgetragen,
Gedächtnisschwäche einzig als bewusste Lüge vorgeworfen.
Schild verbogen
Gewissen ist eine Bestrafung der Schwächlinge für ihre
Schwäche, sich selber in Frage zu stellen. Meistens überstrapaziert man sich
dabei, und es bedarf einer Hilfe zur Balance. So entstand übrigens das Bedürfnis
nach Literatur. So entstanden Schriftsteller und Leser. Schreiben und Lesen ist
Lebbarmachung des Lebens, ist Erträglichmachen von Unerträglichem. Der Leser
trifft im Roman, der ihn wirklich erfasst, immer auf sich selbst. Auch der
Schriftsteller hat bloß sich selber als Stoff, aber er schreibt an sich selber
entlang – in gewisser Entfernung. Günter Grass ist jetzt mit sich selbst
zusammengeprallt. Es ist dabei nicht viel passiert. Westdeutschland hat sich mal
wieder etwas den Zeigefinger gequetscht, ein Aushängeschild ist ein bisschen
verbogen.
Was bleibt, ist eine Bestätigung: vorsichtig zu sein. Nichts
ist untiefer als die eigene Biografie. Du stehst vor dir selber und begegnest
dabei einem Unbekannten. Du ahnst, dass dich von dort, wohin du so gern
schweigen möchtest, andauernd einige wichtige Wahrheiten anstarren. Die
vielleicht ins Freie müssen. Aber Verschwiegenes wärmt, gegen die Kälte draußen;
bist du jedoch mit dir allein, kehrt sich der Frost gegen dich selber. Was soll
man tun in so einem Klima?
Wie sagte Brecht, der jetzt in vieler Munde ist? »Sollen
andere über ihre Schande reden, ich rede über meine.« Die Anlässe zum Reden sind
identisch mit den Anlässen zum Schweigen. Das Leben hat für den Wechsel von
einem zum anderen offenbar nur immer die falschen Zeitpunkte parat.

Günter Grass über seine Zeit bei der Waffen-SS
Wegen
des Wirbels um das späte Bekenntnis von Günter Grass zu seiner
Waffen-SS-Vergangenheit ist das neue Buch des Schriftstellers "Beim Häuten der
Zwiebel" bereits am Mittwoch in den Verkauf gegangen. Ursprünglich wollte der
Steidl-Verlag es am 1. September in den Handel bringen. Die Startauflage von
150.000 Stück sei "nichts Ungewöhnliches für Grass", sagte eine Sprecherin des
Steidl-Verlags.
In dem Kapitel "Wie ich das Fürchten lernte" beschreibt Grass
seine Erinnerungen an die Kriegszeit. Er nennt jedoch die näheren Umstände
seines Einberufungsbefehls nicht und beschreibt die Zeit bei der Waffen-SS ab
der Seite 121, wie in folgenden Wortlaut-Auszügen dokumentiert:
"Der Zwiebelhaut steht nichts
eingeritzt, dem ein Anzeichen für Schreck oder gar Entsetzen abzulesen
wäre. Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die
jeweils dann zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein
Kessel wie der von Demjansk aufgesprengt oder Charkow zurückerobert
werden musste. Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht
anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann sah, wird vor allem die
Waffengattung wichtig gewesen sein: wenn nicht zu den U-Booten, von
denen Sondermeldungen kaum noch Bericht gaben, dann als Panzerschütze in
einer Division, die, wie man in der Leitstelle Weißer Hirsch wusste, neu
aufgestellt werden sollte, und zwar unter dem Namen 'Jörg von
Frundsberg'. Der war mir als Anführer des Schwäbischen Bundes aus der
Zeit der Bauernkriege und als 'Vater der Landsknechte' bekannt. Jemand,
der für Freiheit, Befreiung stand.
Der dumme Stolz meiner jungen
Jahre
Auch ging von der Waffen-SS etwas
Europäisches aus: In Divisionen zusammengefasst kämpften freiwillig
Franzosen, Wallonen, Flamen und Holländer, viele Norweger, Dänen, sogar
neutrale Schweden an der Ostfront in einer Abwehrschlacht, die, so hieß
es, das Abendland vor der bolschewistischen Flut retten werde.
Also Ausreden genug. Und doch
habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den
Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner
jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus
nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand
konnte sie erleichtern.
Zwar war während der Ausbildung
zum Panzerschützen, die mich den Herbst und Winter lang abstumpfte,
nichts von jenen Kriegsverbrechen zu hören, die später ans Licht kamen,
aber behauptete Unwissenheit konnte meine Einsicht, einem System
eingefügt gewesen zu sein, das die Vernichtung von Millionen Menschen
geplant, organisiert und vollzogen hatte, nicht verschleiern. Selbst
wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht
abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird.
Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiss."
Von früh bis spät geschliffen
"Wir Rekruten meines Alters und
langgediente Soldaten, die von der Luftwaffe als so genannte
'Hermann-Göring-Spende' zur Waffen-SS abkommandiert waren, wurden von
früh bis spät geschliffen und sollten, wie es ankündigend hieß, 'zur Sau
gemacht werden'." "Einmal wöchentlich langweilten wir uns während einer
Unterrichtsstunde, in der es um Lebensraum und Weltanschauung ging: Blut
und Boden... Davon blieb Wortmüll, der, zählebig, noch heute im Internet
abzurufen ist."
Grass schreibt, dass er von einem
Obersturmführer über seine "Berufswünsche für die Zeit nach dem Endsieg"
befragt wurde. "Ich verschwieg, dass ich sicher war, Künstler werden zu
wollen, und gab eher vage das Studium der Kunstgeschichte als Ziel an,
worauf mir fördernde Unterstützung in Aussicht gestellt wurde, wenn ich
bereit und befähigt sei, so etwas wie eine Junkerschule für
Führungskräfte zu besuchen. Dort, sagte er, bilde man jetzt schon
völkisch bewusste Männer für Aufgaben aus, an denen es nach dem Endsieg
nicht fehlen werde: auf dem Gebiet der Raumplanung, bei der notwendigen
Umsiedlung von fremdvölkischer Population, als Führungskraft in der
Wirtschaft, beim Wiederaufbau der Städte, im fiskalischen Sektor,
vielleicht sogar im gewünschten Bereich der Kunst... Dann befragte er
mich nach bereits vorhandenen Kenntnissen. (...) Ich redete pausenlos
und wahrscheinlich großspurig über Dürers Selbstbildnisse, den
Isenheimer Altar und Tintorettos 'Wunder des heiligen Markus', indem ich
des Apostels Sturzflug von oben herab als Beispiel kühner Perspektive
lobte. (...) Unter Kopfschütteln wurde ich von dem netten Onkel mit
knapper Handgeste entlassen: offenbar untauglich für eine Laufbahn als
Führungskraft nach dem Endsieg, denn keine Junkerschule entzog mich dem
Drill."
Erinnerungen nur "Bildsalat"
"Angeblich lag die Front vor
Sagan, einer schlesischen Kleinstadt, die zwar zurückerobert worden war,
doch weiterhin umkämpft blieb. (...) Aber wir kamen nur bis Weißwasser,
wo jede Zuordnung und mit ihr das Marschgepäck samt Tagebuch und
draufgeschnalltem Wintermantel verloren ging. Ab dann reißt der Film. So
oft ich ihn flicke und wieder anlaufen lasse, bietet er Bildsalat."
Konkrete Erinnerungen beschreibt
Grass aus dem Einsatz an der Ostfront, als die sowjetischen Armeen die
deutschen Linien durchbrachen. "Mich sehe ich, wie gelernt, unter einen
der Jagdpanther robben. (...) Drei Minuten, eine Ewigkeit lang, mag die
Orgel spielen. Von Angst besetzt, pisse ich mir in die Hose. Dann
Stille." (...) "So kurz die Zeitspanne war, sie genügte: Schon im
Verlauf erster Lektion lernte ich, mich zu fürchten."
"Danach gehörte ich nur noch
Kampfeinheiten an, die nicht mehr zu benennen waren, Bataillone,
Kompanien lösten sich auf. Die Division Frundsberg gab es nicht, falls
es sie je gegeben hatte." (...) "Im Wirrwarr des Rückzugs suchte ich
Anschluss an versprengte Haufen, die gleichfalls Reste ihrer
Truppeneinheit suchten." (...) "Fest steht, dass ich Mitte April zwei
Mal als Teil einer zusammengewürfelten Gruppe hinter die russischen
Kampflinien geraten bin. Das geschah in der Hast des Rückzugs. Und jedes
Mal war ich Teil eines Spähtrupps mit unklarem Auftrag." |
"Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel", Steidl-Verlag, 480
Seiten mit elf Rötelvignetten, ISBN 3-865213308, 24,00 Euro
FAZ vom 16.08.2006

Der Fall Grass und seine Vorläufer
Langsam verzieht sich der Pulverdampf um Günter Grass
Enthüllungen über seine Nazi-Vergangenheit und die Diskussion wird sachlicher.
Das war nicht immer so, noch vor nicht allzu langer Zeit fielen die "Hetzjagden"
auf Politiker, Künstler und Intellektuelle, die durch Nazi-Verstrickungen
auffielen, deutlich heftiger aus.
"Wie sollen wir der gefolterten und ermordeten
Widerstandkämpfer, wie sollen wir der Toten von Auschwitz und Treblinka
gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagten, heute hier die
Richtlinien der Politik zu bestimmen?" Diese rigorose Mahnung, am 1. Dezember
1966 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht, stammt von
Schriftsteller Günter Grass. Gerichtet hat der sie vor 40 Jahren an
Kurt Georg Kiesinger
(CDU) kurz vor dessen Wahl zum Bundeskanzler. Grass' Vorwurf war der Höhepunkt
einer Diskussion, die die Amtszeit des Ex-NSDAP-Mitglieds Kiesinger
überschattete.
Vier Jahrzehnte später geht die Öffentlichkeit mit den
schwärzesten Jahren der deutschen Geschichte allgemein sachlicher um, versucht
zu differenzieren. Auch im Fall Grass: Der Fakt allein, dass er einige Monate
lang Mitglied der Waffen-SS war, steht nicht im Zentrum der Kritik - wohl aber
der Umstand, dass Grass mehr als 60 Jahre lang zu diesem Aspekt seiner
Vergangenheit schwieg. Noch in jüngerer Vergangenheit war der Umgang mit
Nazi-Enthüllungen anders. Seit 1945 werden immer wieder Politiker, Industrielle,
Künstler und selbst Sportler mit ihrer mehr oder weniger starken Verstrickung in
die Diktatur konfrontiert, meist unfreiwillig.
Der von Historikern wohl am meisten zitierte frühe Fall war
der von Kanzleramts-Staatssekretär
Hans Globke. 1935 hatte
er einen Kommentar zu den NS-Rassengesetzen geschrieben, auch vom Holocaust
wusste er nach eigenen Worten. Andererseits wurde er nie Mitglied der NSDAP und
suchte Kontakt zum Widerstand. Als Staatssekretär unter
Konrad Adenauer (CDU)
und bis zu seinem Tod 1973 war Globke Zielscheibe scharfer Kritik. Politische
Gegner und auch die DDR brandmarkten den Fall Globke als Synonym für eine
angeblich scheinheilige Vergangenheitsaufarbeitung in der Adenauer-Zeit. Im
Gegensatz zu Fällen wie
Theodor Oberländer
- Teilnehmer am Münchner Hitlerputsch 1923, NSDAP-Mitglied seit 1933,
Bundesvertriebenenminister von 1953 bis 1960 - haftete der Fall Globke auch
heute noch vielen im Gedächtnis.
Eine "meisterhaft konzentrierte Hetze" nannte der Historiker
Golo Mann später den Fall
Hans Filbinger (CDU).
1978 wies der Schriftsteller Rolf Hochhuth nach, dass der baden-württembergische
Ministerpräsident Ankläger und später Richter eines Kriegsgerichts war, von
dessen Todesurteilen mindestens eines vollstreckt worden war - sieben Wochen vor
Kriegsende. Von einem "furchtbaren Juristen" sprach Hochhuth, und die Wellen der
Empörung schlugen hoch. So hoch, dass selbst die CDU ihrem Vizevorsitzenden die
Unterstützung versagte: Filbinger trat von allen Ämtern zurück.
Beendet war die Affäre damit noch lange nicht: Auch als
Filbinger vor zwei Jahren von allen Parteien zum Abgeordneten der
Bundesversammlung gewählt wurde, war die Entrüstung groß. Hochhuth sprach von
einer "entsetzlichen Entscheidung", SPD und Grüne, Zentralrat der Juden und auch
ausländische Kommentatoren sahen es ähnlich. Einer der Filbinger-Kritiker:
Günter Grass.
Verständnis äußerte Grass hingegen, als im Dezember 2003 drei
Literaturwissenschaftlern vorgeworfen worden war, NSDAP-Mitglied gewesen zu
sein. Walter Höllerer,
Mitbegründer der "Gruppe 47", gestand seine Mitgliedschaft ein, der Germanist
Peter Wapnewski hielt
sie für möglich, obwohl er nie ein Parteibuch gesehen habe.
Walter Jens hatte "keine
Erinnerungsbilder" an eine Mitgliedschaft. Grass wandte sich gegen den "Hämeton"
der Kritiker: Mit Enthüllungen dieser Art könne man "nicht ein Leben zudecken",
sagte der Nobelpreisträger damals der "FAZ".
Im Gegensatz zu seiner Kritik an Unionspolitikern erklärte
Grass im Fall dieser drei Intellektuellen seine Nachsicht - auch mit der
eigenen, in Jugendzeiten braun gefärbten Lebensgeschichte. Und er bot damals
auch eine Erklärung an, warum Jens und Wapnewski fast 60 Jahre lang geschwiegen
hatten - wie er nun selbst: "Scham! Ich kann es nur von meiner eigenen Biografie
her erklären. Diese Befangenheit in der Ideologie des Nationalsozialismus ist
eine Periode, in der ich mich im Rückblick als eine völlig fremde Person
begreife und mir mein Verhalten nicht erklären kann."
Handelsblatt vom 16.08.2006

"An Grass kann sich kein Kamerad erinnern"
Von Jens Todt
Seit Tagen debattiert die Republik über das Bekenntnis des
Literatur-Nobelpreisträgers Günter Grass, die letzten Kriegsmonate bei der
Waffen-SS verbracht zu haben. Edmund Zalewski diente in der gleichen Division
wie Grass - doch an den späteren Schriftsteller mag er sich nicht erinnern.
Die überraschende Beichte des Nobelpreisträgers in der
"Frankfurter Allgemeinen Zeitung" am vergangenen Freitag hat auch alte
Kriegskameraden hellhörig werden lassen. "Ich habe ein bisschen recherchiert,
nachdem ich davon gehört hatte", so der ehemalige Waffen-SS-Mann Edmund Zalewski,
"aber keiner konnte sich an Günter Grass erinnern".
Der Veteran pflegt indes einen anderen Umgang mit seiner
eigenen Vergangenheit als Grass. Bis heute trifft er sich regelmäßig mit den
Kameraden von damals. Für seine freiwillige Verpflichtung in der mörderischen
Truppe zeigt er keine Reue, er sei "kein politischer Soldat" gewesen. "Ich hatte
einfach das Gefühl, für Deutschland kämpfen zu müssen", so Zalewski. Auch sei er
niemals Mitglied der NSDAP gewesen, "ich hatte einen katholischen Hintergrund."
Günter Grass hatte gesagt, er habe sich 1944 als Freiwilliger
zur U-Boot-Flotte gemeldet, sei dort aber nicht aufgenommen worden. Da er aber
offenbar als Freiwilliger in den Büchern vermerkt worden war, landete er -
vermutlich im Oktober 1944, wie US-Dokumente nahelegen - nicht in einer normalen
Wehrmachtseinheit, sondern bei einer Elitetruppe der Waffen-SS. In der
"Vorläufigen Erklärung des Kriegsgefangenen", einem Formular der US-Armee, wurde
der Danziger später als Lade-Schütze der 10. SS-Panzerdivision "Frundsberg"
bezeichnet.
Der Division gehörte auch der heute 83-jährige Zalewski an.
Der ehemalige Unterscharführer erinnert sich noch gut an die letzten
Kriegswochen in Spremberg nahe Cottbus, wo auch Grass die letzten Tage des
Krieges erlebte. Die SS-Panzerdivision Frundsberg sei zu diesem Zeitpunkt
bereits von gut 19.000 Mann "auf 9.000 bis 10.000 Soldaten zusammengeschmolzen"
gewesen.
Die hohen Verluste im Kampf gegen die vorrückende Rote Armee
seien durch Wehrmachtssoldaten notdürftig ausgeglichen worden. "Viele Soldaten
von überall her landeten bei uns, viele stammten vom Balkan", erinnert sich
Zalewski, "aber das waren dann keine Freiwilligen mehr, die wurden
abkommandiert". Teilweise seien die Gefallenen auch durch Bodenpersonal der
Luftwaffe ersetzt worden, von den eingefleischten SS-Männern wurde die
Personalauffrischung geringschätzig "Hermann-Göring-Spende" genannt.
Zalewski selbst war "eigentlich Nachrichtenmann", wurde
später jedoch zum Grenadier ausgebildet. "Ich habe unseren Kommandeur Heinz
Harmel häufig in einem Kommandopanzer an die Front begleitet", erinnert sich der
ehemalige SS-Mann.
Er habe zum Teil gute Erinnerungen an diese Zeit, vor allem
was die Kameradschaft mit den anderen Soldaten in den Kampfpausen angeht.
Allerdings habe er auch schreckliche Gefechte erlebt, sagt Zalewski heute.
Hitler wirft er vor, zu einem Zeitpunkt, als der Krieg schon verloren war, noch
Zehntausende jugendliche Soldaten verheizt zu haben. "Damit kam ich nicht klar."
Er selbst will an keinerlei Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein. "Unsere
Division war clean", behauptet Zalewski.
Zusammengewürfelter Haufen
Vom 21. bis 23. April 1945 wurden die Reste der Division von
der Roten Armee bei Spremberg aufgerieben; der Plan, die Sowjets auf dem Marsch
Richtung Berlin aufzuhalten, scheiterte. "Nach dem Kessel von Kausche gab es die
Division Frundsberg nicht mehr", so Zalewski. Tausende kamen ums Leben oder
landeten in Kriegsgefangenschaft, wie auch Unterscharführer Zalewski.
Nach dem Krieg habe er in den Dürener Metallwerken
gearbeitet, doch der Kontakt zu den ehemaligen Angehörigen der SS-Truppe riss
niemals ab. Zalewski ist bis heute Schriftführer der "Kameradschaft Frundsberg",
eines Veteranenvereins, dessen Mitglieder sich jährlich an Kriegsschauplätzen
treffen. "Inzwischen sind wir nur noch 60 Kameraden, das war natürlich mal
anders", so Zalewski, "aber wir sind jetzt ja allesamt um die 80 Jahre alt und
mehr."
Gelegentlich nutzt auch brauner Nachwuchs die Gelegenheit, um
Kriegsteilnehmer aus nächster Nähe zu betrachten, wie im Juli 2004, als
Jungnazis ehemalige "Frundsberger" zu einer Kriegsgräberstätte nahe Spremberg
begleiteten.
Große Bedeutung misst Zalewski dem Bekenntnis des späteren
Literatur-Nobelpreisträgers nicht bei. Zum Ende des Krieges sei bei dem
zusammengewürfelten Haufen der 10. Division "alles querbeet gelaufen". Die
einstmals gefürchtete Truppe sei "hoffnungslos aufgesplittet" gewesen, so
Zalewski wehmütig, "eigentlich waren wir keine echte SS-Division mehr".
Spiegel vom 16.08.2006

Petra Pau fühlt mit Günter Grass
Die Vizepräsidentin des Bundestages
Petra Pau (Linkspartei.PDS)
fühlt sich in Günter Grass hinein. Am Mittwoch verbreitete die Linksfraktion
Auszüge ihres Briefes an den Schriftsteller:
Sehr geehrter Günter Grass, Sie haben eingeräumt, daß Sie als
17jähriger gegen Ende des 2. Weltkrieges der Waffen-SS angehörten. Sie sprachen
spät darüber, aber nun ist es raus. Was Ihnen seither widerfährt, bedaure ich
sehr. Gewiß, Sie sind eine öffentliche und preisgekrönte Persönlichkeit. Aber
das erklärt nicht alles. Ich unterstelle: Sie hatten Gründe für Ihr Schweigen
und Sie haben Gründe für Ihr Reden. Ich muß sie nicht teilen. Aber ich kann sie
respektieren.
Zugleich bitte ich Sie zu bedenken: Dasselbe erfahren
unzählige Ostdeutsche seit 16 Jahren. Es wird nicht differenziert, es wird nicht
gewogen, sie werden eingetütet und abgestempelt. Vielleicht können Sie das jetzt
nachvollziehen.
Im offiziellen Bayern gilt sogar schon als verdächtig, wer zu
DDR-Zeiten dem Kleingartenverband oder einem Anglerverein angehörte. Dumpfsinn?
Ja!
Sie haben einmal gemahnt, wir Deutschen hätten nicht gelernt,
mit unserer Geschichte umzugehen. Ihr Zitat wird derzeit gegen Sie gesetzt. Es
stimmt dennoch, nicht pauschal, aber noch immer und viel zu oft.
Ich wünsche daher, Ihre späte Offenbarung wird weniger zum
Anlass für besserwissende Polemik genommen und statt dessen mehr für bessernde
Besinnung.
junge Welt vom 17.08.2006

FR-Interview mit Klaus Staeck
"Was Grass mehr beschäftigt"
Frankfurter Rundschau: Sie selbst sind Günter Grass bereits
zur Seite gesprungen und haben Ihren Respekt vor seinem Geständnis geäußert. Ein
großer Teil der geäußerten Kritik bezieht sich jetzt darauf, dass dieses
Geständnis zu spät kommt.
Klaus
Staeck: Darüber kann man geteilter Meinung sein, das ist richtig. Er selbst
hat in diesem Zusammenhang von Scham gesprochen - ein Wort, das eigentlich gar
nicht in die Zeit passt. Ich nehme ihm diese Scham ab. Weil man die Folgen eines
solchen "Coming-outs", einer solchen Offenbarung in dieser Gesellschaft, die
teilweise eine hämische ist, ja nicht abschätzen kann. Viele, die jetzt meinen,
Grass sei für sie keine moralische Instanz mehr, für die war er im Zweifel nie
eine. Da ist auch viel Heuchelei im Spiel.
Es ist das Gerücht aufgekommen, Grass habe seine
SS-Mitgliedschaft jetzt offenbart, um Enthüllungen anderer zuvorzukommen.
Ich habe ihn gefragt, ob da irgendeine Not bestanden hätte,
dass andere diese Tatsache offen legen würden. Auch sein Verleger Steidl hat das
gefragt. Doch er hat gesagt: Nein. Er hat es aus freien Stücken getan.
Martin Walser hat eingeworfen, Grass' Schweigen werfe vor
allem ein "vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten
Denk- und Sprachgebrauch" - sein Argument aus der Paulskirchenrede, als er sich
über Auschwitz als "Moralkeule" echauffierte.
Das ist Walsers Meinung, die teile ich so nicht. Da bringt
Walser möglicherweise eigene Beschädigungen noch mal zur Sprache. Es ist
allerdings so, dass es in den sechziger Jahren zumindest schwierig gewesen wäre
für Grass, sich zu offenbaren, weil die Diskussionen rigoroser geführt wurden
als heute.
Grass selbst hat nach dem Aufflammen der Diskussion gesagt,
er befürchte, dass er zur Unperson erklärt werde. Sie haben bereits mit ihm
gesprochen. Haben Sie ihn auch sehr verletzt erlebt?
Ja, so habe ich ihn wahrgenommen. Aber seine Meinung, dass er
zur Unperson gemacht wird, teile ich so nicht. Grass hat immer polarisiert. Dass
es jetzt seine Person direkt betrifft, auch das wird er durchstehen. Er hat mal
in einer Veranstaltung gesagt, wer Angst vor dem Feuilleton hat, der soll kein
Schriftsteller werden. Das habe ich mir gut gemerkt.
Finden Sie selbst die Diskussion aggressiv?
Ich hätte nicht diese Riesenaufmerksamkeit erwartet. Denn
schließlich ist das Buch, in dem das Faktum drinsteht, Ende Juli verschickt
worden, an 350 Journalisten. Es hat 14 Tage auf deren Schreibtischen gelegen,
ohne dass irgendjemand offenbar diese Brisanz, die manche jetzt erkennen wollen,
wahrgenommen hat. Das sagt eigentlich mehr über unseren Journalismus aus als
über die Sache selbst. Es gibt andere Stellen in dem Buch, die Grass und auch
mich viel mehr beschäftigen.
Welche?
Grass erzählt dort von einem Zeugen Jehovas, der in seiner
Einheit kämpfte. Zeugen Jehovas haben generell den Kriegsdienst verweigert. Der
sagte damals, nein, ich fasse kein Gewehr an. Als der dann abgeholt wurde, hat
Grass die Zähne nicht auseinander gekriegt, um den zu schützen. Das macht er
sich viel mehr zum Vorwurf als die Mitgliedschaft in der Waffen-SS: Dass sie
alle geschwiegen haben, als der abgeholt wurde.
Sie haben in der Akademie der Künste auch
Diskussionsveranstaltungen mit Peter Handke angeregt, als der im Mittelpunkt des
Protests stand. Ist etwas Ähnliches mit Grass geplant?
Ich habe Grass sofort eingeladen, und ich hoffe, wir kommen
schnell zu einem Termin.
Frankfurter Rundschau vom 17.08.2006

Frankfurter Krebsgang
Grass hat der politischen Kultur geschadet
Von Ingo Arens
Selten hatte man Günter Grass so fröhlich gesehen. Als der
Lübecker Ende September 1999 im Stockholmer Stadthuset den Nobelpreis für
Literatur entgegennahm, erlebte die Welt ihn als Ausbund von Energie und Glück.
Bis in den frühen Morgen tanzte der Ausgezeichnete die wesentlich jüngere
Festgemeinde in Grund und Boden. Natürlich war da ein Hedonist in seinem
Lebenselement. Doch womöglich verdankte sich die Ausgelassenheit des Plebejers
im Frack auch einem Antrieb, den keiner kannte, einem geheimen Triumph. Seht
her. Einer wie ich kann es bis ganz nach oben schaffen. Trotz dieser
Vergangenheit ...
Die demonstrative Freude damals an dem späten Sieg über den
Makel einer Biografie hätten wir gerne mit Grass geteilt. Doch dazu hätten wir
von diesem wunden Punkt wissen müssen. Jetzt kehrt sich alles um und die
Geschichte, dieses "verstopfte Klo" (Grass), fordert ihr Recht. Nicht
auszuschließen, dass der Moralist in den durch sein FAZ-Interview
aufgepeitschten Fluten versinkt wie die Passagiere des torpedierten
Kriegsschiffes Wilhelm Gustloff, die sich Ende Januar 1945 aus Ostpreußen heim
ins Reich retten wollten - Helden von Grassens letztem Buch Im Krebsgang aus dem
Jahr 2002.
Es ist nicht so sehr das verschwiegene Detail an sich, das
Grass nun bis zum Lebensende beschweren wird wie ein Mühlstein. Welchem Mann
wollte man heute die Verhältnisse ankreiden, in die er vor knapp 60 Jahren
hineingeraten war. Es ist vielmehr der Zeitpunkt seines Bekenntnisses. Dass der
in Sachen NSDAP-Mitgliedschaft erinnerungsschwache Walter Jens den denkwürdigen
Akt für richtig terminiert hält, weil "vorher manches besserwisserisch
erschienen" wäre, ist hoffentlich kein Indiz für die Erinnerungskultur in diesem
Land.
Verglichen mit dem Flakhelfer Martin Walser, dem die
"Dauerrepräsentation unserer Schande" bekanntlich auf die Nerven geht, hat
Günter Grass gezeigt, wie man aus der Vergangenheit lernen und in Sachen
Bewältigung hartnäckig bleiben kann. Und was er über die deutsche
Wiedervereinigung gesagt hat, wird nicht falsch, weil er ein wichtiges Detail
seiner Biografie bewusst verschwiegen hat. Doch welches Licht wirft es auf die
Aufrichtigkeit von einem, der gern Donnerworte in "Bewältigungs"-Debatten
schleuderte, wo das leise Selbstbekenntnis gefragt gewesen wäre? Nicht nur ein
Titan des Typus "engagierter Intellektueller" ist angeschlagen. Das moralische
Reden in Deutschland insgesamt, das Grass unbeirrt praktizierte, als viele es
längst im Orkus des Posthistoire verklappten, wird nach diesem Geständnis noch
lange unter dem Verdacht der Doppelbödigkeit stehen. Diesen Schaden hat Grass
der politischen Kultur in Deutschland auch zugefügt.
Das Betrüblichste an dieser Detonation mit Langzeitwirkung
ist jedoch die Selbstgerechtigkeit, mit der Grass sein Ver-Schweigen brach.
Nicht nur, dass er mit der früher geschmähten Zeitung der "Herrschenden" ein
spektakuläres Interview samt Vorabdruck einfädelte, die das Geständnis wie einen
zweckdienlichen Mediencoup wirken ließen. Der Verteilungskampf im literarischen
Feld ist härter geworden, verlangt immer höhere Einsätze, notfalls eben die
eigene Biografie. Im Krebsgang nach Frankfurt inszeniert Grass sich auch, als
buhle er um Mitleid, ja Beifall für die Mühsal der Erinnerung. Jahrelang hätten
ihn Schuldgefühle geplagt, so Grass. Doch dann habe er darüber schreiben müssen.
Aber wie? "Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste
daran ... Ich wollte davon erzählen. Denn das ist meine Sache". Dass Grass das
Politikum seines Geständnisses vor allem als Problem der ästhetischen Form, als
Schlussstein eines Lebens und im Buch sieht und kein Wort des Bedauerns über die
politisch-moralische Fehlleistung findet, jetzt gar eine Kampagne wittert, ihn
zur "Unperson" zu machen, nur weil man diesen Widerspruch hinterfragt, das
dürfte dann selbst dem treuesten Grass-Fan die Tränen in die Augen treiben.
Freitag vom 17.08.2006

Und Grass wundert sich
Die öffentliche Selbstrechtfertigung des großen Schriftstellers ist so
unnötig wie ärgerlich
Von Jens Jessen
Was hatte Günter Grass erwartet? Dass ihn die Öffentlichkeit
nach dem Bekenntnis, als 17-Jähriger in der Waffen-SS gedient zu haben,
überschwänglich ans liebende Herz drücken würde? Sein Vorwurf, dass jetzt einige
versuchten, ihn »zur Unperson zu machen«, hat etwas eigentümlich Unangemessenes,
vor allem nach dem gewaltigen Spektakel der Selbstanklage, das er mit seinem
zweiseitigen Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung inszeniert hat. Im
Übrigen kann auch von vernichtenden Urteilen bisher nicht die Rede sein. Die
wenigsten haben sich an dem Faktum gestoßen, zumal da Grass eine frühe
Nazibegeisterung niemals verhehlt hat. Die meisten haben sich nur über den
verspäteten Schritt in die Öffentlichkeit gewundert. Dafür ist nichts
bezeichnender als der Umstand, dass die Kritiker, die ein Vorabexemplar seiner
Memoiren hatten, in den Passagen über die SS-Division Frundsberg zunächst nichts
Skandalöses sehen mochten.
Und in der Tat hat diese Enthüllung auch nichts Skandalöses.
In den letzten Kriegsmonaten bestand die Division kaum mehr aus fanatisierten
Freiwilligen, sondern aus einem letzten Aufgebot Wehrpflichtiger, die an der
Westfront und in der Lausitz eine vergebliche Defensive führten. Die Enthüllung
hat eher etwas Trauriges und etwas Lächerliches – und erst zuallerletzt auch
etwas Bedenkliches. Das Traurige liegt vor allem in der Verspätung. Denn hätte
Grass früher von der SS gesprochen, es hätte die Wucht seiner moralischen
Einmischungen, seiner Anklage unzureichender Vergangenheitsbewältigung nicht
beschädigt, sie im Gegenteil gesteigert und durch den persönlichen Irrtum
beglaubigt. Wie wäre es gewesen, wenn Grass bei seiner Kritik an Kohls und
Reagans umstrittenem Besuch des Soldatenfriedhofs Bitburg gesagt hätte: Unter
den jugendlichen SS-Leuten, die dort liegen, hätte auch ich sein können? Grass
wäre einer gewesen, der wusste, wovon er sprach, wenn er den Deutschen ins
Gewissen redete. Erst indem er das symbolisch-fatale Detail des doppelten S
unterschlug, kann es heute so scheinen, als habe er sich seine
Nachkriegsautorität erschlichen.
Das ist natürlich Unfug. Moralische Appelle leben von der
Kraft des Arguments, nicht von der Untadeligkeit des Autors. Die Reden und
Bücher, in denen Grass die Deutschen an ihre Schuld und Verantwortung erinnerte,
bleiben entweder wahr in sich – oder waren es nie. Wer jetzt behauptet, Grass
habe seine Glaubwürdigkeit verloren, sollte sich fragen, ob er überhaupt an die
Würde der Moral glaubt oder nur an die prominente Persönlichkeit des Moralisten.
Es steht zu fürchten, dass die Debatte um die Waffen-SS-Zeit des Autors, je
länger sie fortschreitet, zur Stunde der Heuchler werden könnte.
An der Heuchelei hätte freilich Grass selbst seinen Anteil.
Denn nicht die Öffentlichkeit, über die er jetzt klagt, hat seine Jugendsünde
dramatisiert. Er selbst hat für ein Höchstmaß an Dramatik gesorgt, indem er in
kalkuliertem Abstand zum Erscheinen der Autobiografie sein Geständnis als
Aufschrei einer gequälten Seele in maximaler Lautstärke inszenierte. Mit anderen
Worten, Grass hat sich nicht nur Asche aufs Haupt gestreut, er hat die
Werbetrommel gerührt, man könnte auch sagen, er hat Geständnis und Selbstanklage
zu einem verkaufsfördernden Instrument gemacht. Darin liegt eine Eitelkeit, auch
ein Unernst, die befremden.
Vor allem aber liegt in der Geste, die mit dem Qualschrei des
schlechten Gewissens den sofortigen Wunsch nach Trost und Verzeihen verbindet,
etwas Lächerliches. Grass sucht nicht nach Gründen seines Schweigens, er häuft
umgehend Entschuldigungsgrund auf Entschuldigungsgrund. Er, der Vielgeliebte,
will jetzt, nachdem die Last von der Seele ist, augenblicks wieder und noch mehr
geliebt werden. Er macht sich in dem Interview klein und dumm, im Grunde tut er
noch immer wie der kindliche Wirrkopf, der von den Umständen und der Propaganda
»verführt« wurde. Als hätte er selbst nicht stets das Wort von der Verführung
gegeißelt, das die Schuld vom Volk auf finstere Mächte umschichtet.
Was Grass zu seiner Selbstentschuldigung vorbringt, macht
erst das eigentlich Bedenkliche des Falls aus. Wie er mit Schwung das
»Antibürgerliche« der Nazis herausstellt und die Faszination der
»Volksgemeinschaft« schildert, in der »Klassenunterschiede oder religiöser
Dünkel« keine vorherrschende Rolle mehr spielten, wie er dagegen die
»grauenhafte« Adenauerzeit setzt »mit all den Lügen und dem ganzen katholischen
Mief« und schließlich sogar behauptet, dass es solche »Art von Spießigkeit«
nicht einmal bei den Nazis gegeben habe – das verrät eine distanzlose
Einfühlung, die für Momente vergessen lässt, dass Grass jemals erwachsen
geworden ist und sich von dem Hokuspokus der nationalsozialistischen Propaganda
befreit hat (die übrigens im Hass auf katholische Milieus gebadet hat). Man
sieht den 78-Jährigen vor sich wie einen, der sofort wieder auf eine Ideologie
hereinfallen könnte, wenn sie nur antibürgerlich genug daherkäme und ein Ende
der Klassengesellschaft verspräche.
Und in der Tat war das ja die Verheißung der
Studentenbewegung nach 1968, die sich gegen die Spießigkeit der Elterngeneration
wandte, genauso wie Grass es seinerzeit tat, als er sich zum Wehrdienst meldete.
Man könnte es sogar als Verdienst des Interviews sehen, über die Fortdauer
solcher Motive aufzuklären; aber im Sinne von Grass dürfte es kaum sein. Die
Passagen lesen sich wie mentalitätsgeschichtliche Belege zu Götz Alys These von
Hitlers Volksstaat, der eben nicht nur genuin rechte, sondern auch linke
Hoffnungen und Sehnsüchte befriedigte. Zwei Generationsgenossen von Grass, der
Schriftsteller Rolf Hochhuth und der Kritiker Joachim Kaiser, haben denn auch
bei diesen Stellen sofort aufgemerkt und auf die besondere Anfälligkeit
kleinbürgerlicher und proletarischer Schichten für die Nazipropaganda
hingewiesen.
Der großbürgerliche Degout, der diese beiden Glücklichen vor
Nazisympathien bewahrte, hat sich sonst freilich auch nicht als wirksame Bremse
gegen Hitler erwiesen. Trotzdem bleibt der Blick wertvoll, den Grass in das
Museum der politischen Ressentiments gewährt, die das Nazireich mit der
Bundesrepublik verbinden. Dazu gehört auch die krude Anekdote, in der Grass
behauptet, mit echtem Rassismus nicht im Reich, sondern zum ersten Mal in der
Kriegsgefangenschaft konfrontiert worden zu sein; nämlich mit dem Rassismus der
amerikanischen Soldaten gegenüber ihren farbigen Kameraden. Das mag auch in der
Tat so gewesen sein, aber im Zusammenhang seines Geständnisses wirkt es doch,
als wollte er sagen: Seht her, andere Nationen sind auch nicht besser.
Wie auch immer Grass auf dieses glitschige Terrain geriet: Es
ist ein rechtes Elend, ihn darauf herumpatschen zu sehen. Vor allem aber: Die
öffentliche Selbstrechtfertigung war vollkommen unnötig. Inzwischen wissen wir,
dass er seine Waffen-SS-Angehörigkeit weder im privaten Kreis noch den
amerikanischen Behörden verschwieg. Fürchtete er am Ende seine Bewunderer, denen
er darum die schlechte Nachricht unbedingt persönlich zustellen wollte?
Die Zeit vom 17.08.2006

"Grass war der Anführer einer Clique, die sich etwas
rüder gab"
Der Publizist Klaus Rainer Röhl, Gründer der Zeitschrift "Konkret",
erinnert sich an die gemeinsame Schulzeit mit Günter Grass.
Welt am Sonntag: Herr Röhl, Sie sind Günter Grass in der
Schulzeit in Danzig begegnet. Wie war er?
Klaus Rainer Röhl: Günter Grass und ich waren auf einer
Schule, dem Conradinum in Danzig-Langfuhr. Grass war in meiner Parallelklasse.
Beide Klassen unterrichtete der Nazi-Turnlehrer Wallerand. Für mich als den
schlechtesten Turner der Klasse eine große Qual. Meine Mitschüler wurden von
Wallerand angeheizt, mich im täglichen Turnunterricht mit Schlagbällen zu
bewerfen, ich sollte hart werden. Die Klasse johlte, es war eine Art Steinigung.
Diese exzessive Kameradenerziehung wurde in der Pause auf dem Schulhof oft genug
fortgesetzt. Grass war der Anführer einer Clique, die sich etwas rüder gab und
sich auch feixend an diesen Aktionen gegen mich beteiligte. Von dem
Einzelgänger, den Grass gern öffentlich für sich in Anspruch nimmt, konnte auch
damals schon in keiner Weise die Rede sein. Als ich Grass in den 60er-Jahren das
erste Mal nach dem Krieg im Zusammenhang mit der Gruppe 47 begegnete - ich gab
damals "Konkret" heraus, er hatte seine "Blechtrommel" bereits geschrieben, in
der wie auch in seiner Novelle "Katz und Maus" dieser Turnlehrer erwähnt wird -
erinnerte er mich an diese Aktionen: Ich sei doch die "Susi" vom Schulhof
gewesen, die Heulsuse, über die er sich damals lustig gemacht hätte.
In seinem neuen Buch sagt Grass, dass er sich gegen den
Nazi-Turnlehrer aufgelehnt hätte und deshalb von der Schule geflogen sei ...
Röhl: Na ja, Grass war doch eher der Liebling des
Turnlehrers, was ja nicht heißt, dass er sich mit dem nicht angelegt haben kann.
In der Tat flog Grass, mit mehreren aus seiner Clique, vom Conradinum.
Vielleicht ist dies ein Vorfall, über den Grass jetzt auch sein Schweigen
brechen sollte: Grass und die von ihm angeführte Clique sollen ein hübsches
Mädchen von einem benachbarten Lyzeum, früher Helene-Lange-Schule, in der
Nazizeit in Gudrun-Schule umbenannt, in den nahe gelegenen Uphagen-Park gelockt,
mit Chloroform betäubt und dann nackt ausgezogen und irgendwie durchgegrabbelt
haben. Ich habe diese Geschichte in meinem Buch "Deutscher Narrenspiegel"
zitiert, und Mitschüler, auch aus der Grass-Clique, haben sie mir bestätigt.
Grass schreibt jetzt etwas konturenlos in seiner Autobiografie von einem
hässlichen Mädchen von der Gudrun-Schule, das er heiß und innig geliebt, nicht
gekriegt, aber gekränkt hätte. Ein Verfremdungsknäuel?
Grass meint, er habe sich gegen den Mief des Elternhauses
aufgelehnt. Deshalb habe er sich so früh wie möglich freiwillig gemeldet.
Röhl: Wir alle waren seit unserem 13. Lebensjahr permanent im
Einsatz: bei Kartoffelernteeinsätzen, beim Schippen, bei Kriegsübungen, erst im
Jungvolk, dann kam man mit 14 Jahren automatisch in die Hitlerjugend, dann ins
Wehrertüchtigungslager und schließlich in den Reichsarbeitsdienst, und von da
aus direkt zur Wehrmacht. Insofern wirkt es etwas eigenartig, wenn Grass jetzt
sagt, er wollte aus der Enge und dem Mief seiner Familie heraus. Wir waren doch
alle seit Jahren kaum zu Hause.
War es damals üblich, sich freiwillig zum Militärdienst zu
melden?
Röhl: Ja. Es wurde jeder sowieso eingezogen, und wer sich als
Gymnasiast freiwillig meldete, konnte sich die Waffengattung aussuchen, sprich:
ob er zu den Panzern, zur Marine, zur Luftwaffe oder eben zur Waffen-SS wollte,
und war als Offiziersbewerber privilegiert. Niemand wollte bei der Infanterie
verheizt werden, wo die nicht Freiwilligen hineingesteckt wurden. Ich meldete
mich zum Beispiel mit 15 Jahren freiwillig zur Panzerwaffe.
Grass sagt, seine Erinnerung an seinen Einberufungsbefehl
sei "undeutlich", er meint, dass er eventuell gar nicht bemerkt haben könnte,
dass er zur Waffen-SS abkommandiert war.
Röhl: Also, die Einberufungsbefehle zur Waffen-SS oder zur
Wehrmacht sahen so unterschiedlich aus, dass es völlig ausgeschlossen ist, dass
Grass den Unterschied nicht bemerkt hat. Die Waffen-SS galt als eine
Elitetruppe, und die SS-Zeichen, der Totenkopf, die Runen und all das war in der
einen oder anderen Form auf allen SS-Dokumenten unübersehbar. Alle warteten
damals gespannt oder ängstlich auf diesen Brief und schauten als Erstes nach,
wohin man nun kam. Die Waffen-SS machte keine Gefangenen und die Russen machten
keine Gefangene von der Waffen-SS, die wurden gleich erschossen, das war das
allgemeine Wissen unter uns Schülern. Das reizte sogar einige dazu, Helden
werden zu wollen. Ich hatte schlicht und ergreifend Angst und wollte unter
keinen Umständen zur Waffen-SS.
Und doch wären Sie beinahe auch bei der Waffen-SS gelandet.
Röhl: Grass kam, wie er jetzt schreibt, im Herbst 1944
17-jährig zur Waffen-SS, und ich kam, gerade 16 Jahre alt geworden, Anfang
Januar 1945 zu der Militärausbildung in ein Lager des Reichsarbeitsdienstes. Da
erhielten Ende März sechs Kameraden und ich einen Marschbefehl, einen
versiegelten Brief, mit dem wir von Neumünster nach Hamburg fahren und uns im
Besenbinderhof melden sollten. Als wir dort ankamen, sahen wir, dass wir in den
ersten Stock geschickt wurden, wo an der Tür das Schild stand: Waffen-SS.
Führernachwuchs. Wir bekamen einen riesigen Schreck, schlichen wieder heraus,
brachen draußen heimlich das Siegel des Briefes auf und sahen, dass wir
tatsächlich alle sieben als Führernachwuchs zur Waffen-SS geschickt wurden. Wir
beschlossen den Marschbefehl zu vernichten. Grass beschreibt in seinem neuen
Buch, wie auch jugendliche Deserteure in diesen letzten Kriegstagen behandelt
wurden, sie wurden zur Abschreckung überall aufgehängt. Nur, weil unsere kleine
Gruppe zusammenhielt, ging es. Dann meldeten wir uns umgehend im zweiten Stock
bei der Wehrmacht und sagten, wir hätten unseren Marschbefehl bei einem der
vielen Tieffliegerangriffe verloren. Gott sei Dank fragte in diesen schon sehr
wirr gewordenen Tagen keiner nach.
Was halten Sie vom Schriftsteller Günter Grass?
Röhl: Eines stand für mich schon bei der ersten Lektüre der
"Blechtrommel" fest, die ich zum großen Teil für eine stark verfremdete
Autobiografie halte: Grass war das genaue Gegenteil von seinem kleinen, gegen
die Nazis rebellierenden Oskarchen. Sein Werk, von dem viel in unserer
Heimatstadt Danzig spielt, habe ich durchweg bewundert und habe auch bewundert,
wie Grass in jeder Lebenslage und in jedem System immer oben auf schwamm.
Die Fragen stellten Bettina Röhl und Alan Posener
Welt am Sonntag vom 20.08.2006

Uwe Timm: "Es hätte Anlässe gegeben"
Das Gespräch führte Volker Corsten
Der Schriftsteller Uwe Timm hat die Geschichte seines Bruders
aufgeschrieben. Karl Heinz Timm meldete sich freiwillig zur SS, starb im Krieg -
aber sein Schicksal lastete über Jahrzehnte wie ein Schatten auf der Familie.
Ein Gespräch über Scham, Verdrängung und den Versuch, Günter Grass' Schweigen zu
verstehen.
Es ist gerade einmal drei Jahre her, da erzählte Uwe Timm,
66, in seinem erschütternden Buch "Am Beispiel meines Bruders" (Suhrkamp) eine
Geschichte, die sehr an die von Günter Grass erinnert, wenngleich sie - anders
als die von Grass' - tragisch war und tödlich endete. Uwe Timm spürt darin der
Vergangenheit seines älteren Bruders Karl Heinz nach, der sich freiwillig zur SS
meldete und 1943 in der Ukraine starb. Und Uwe Timm, der in Hamburg aufwuchs und
heute in München lebt, erzählt in seinem Buch davon, wie die Erinnerung an den
toten Bruder auf der Familie lastete.
Welt am Sonntag: Herr Timm, Sie sagten einmal, dass Sie Ihr
Buch "Am Beispiel meines Bruders" erst schreiben konnten, als Ihre Eltern und
Ihre ältere Schwester gestorben waren. Günter Grass hat 60 Jahre gebraucht, bis
er seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS thematisierte. Braucht es diese Zeit,
um sich mit den ganz unangenehmen Seiten der eigenen Vergangenheit
auseinanderzusetzen?
Uwe Timm: Ich brauchte sie unbedingt. Die Vergangenheit in
der Nazizeit ist doch ein zentrales Problem, das fast alle Familien betrifft -
mit den ganz wenigen Ausnahmen jener, die wirklich im Widerstand waren oder
Menschen konkret geholfen haben. Ich hätte das Buch nicht schreiben können so
lange meine Mutter lebte.
Haben Sie deshalb Verständnis für Günter Grass?
Timm: So etwas braucht einfach Zeit, gerade wenn man es
aufschreiben will. Das gilt vermutlich auch für Grass. Schließlich kann man die
eigene Vergangenheit nicht einfach abwickeln. Gerade weil sie so etwas Quälendes
hat. Diese deutsche Katastrophe ist einfach kaum zu begreifen. Es gibt
Erklärungen, aber sie bleibt unbegreiflich.
Ist es gerade für jene Menschen, die in den letzten
Kriegsjahren 15, 16 oder 17 Jahre alt waren, besonders schwierig? Die sogenannte
Flakhelfer-Generation, die nur mit der NS-Propaganda aufgewachsen war und dann
nach dem Krieg mit der Wahrheit konfrontiert wurde.
Timm: Ja. Es gab eine ideologische Erziehung, die darauf
abzielte, Empathie, also Mitleid, abzustellen. "Zäh wie Leder, hart wie
Kruppstahl, schnell wie Windhunde" - dieses Naziprogramm für die Jugendlichen.
Im Falle meines Bruders habe ich beim Lesen seines Tagebuchs und seiner Briefe
einfach gestaunt, dass es so etwas wie Mitleid bei ihm nicht gab und dass sogar
Selbstmitleid aberzogen worden war. Wenn man plötzlich damit konfrontiert wird,
dass der Geist, in dem man erzogen wurde, all die Tugenden, die gefordert waren,
letztlich nur dazu dienten, etwas ganz Unmenschliches, Fürchterliches zu tun.
Das abzuarbeiten ist sehr, sehr schwierig. Mitleid und Scham hängen eng
zusammen. Man muss sich in jemanden hineinversetzen können, um voller Scham zu
erkennen, dass man falsch gehandelt hat.
Grass sagt, das Schlimmste, was er sich vorwirft, sei, dass
er nicht gefragt hat. Nicht, als seine Verwandten auf einmal nicht mehr da
waren, nicht, warum auf einmal ein Schulkamerad oder ein Lehrer einfach nicht
mehr da war ...
Timm: Das kann ich gut verstehen. Meine Mutter ist eine der
wenigen in meinem Umkreis gewesen, die sich nach dem Krieg Vorwürfe machte:
Warum habe ich nicht gefragt, wo sind unsere jüdischen Nachbarn geblieben, die
in der Osterstraße deportiert wurden? Dieses "Wir haben es nicht gewusst" war
tatsächlich ein "Wir haben es nicht wissen wollen". Man hätte wissen können, man
hätte fragen können, das wäre ja immerhin der erste Ansatz gewesen zu so etwas
wie Zivilcourage.
Wie schwer war es eigentlich in der Nachkriegszeit, sich als
SS- oder Waffen-SS-Mitglied zu bekennen?
Timm: Da gab es verschiedene Phasen. Gleich nach dem Krieg
gab es viele SS-Leute, die erzählten ganz munter von ihren Erlebnissen.
Ehemalige Soldaten debattierten offen, wie man den Krieg noch hätte gewinnen
können. Wohl wissend, dass es Auschwitz gegeben hatte.
Also war es nach dem Krieg gar nicht so unüblich, dass Leute
gesagt haben: Ich bin da reingezogen worden.
Timm: Es war sozusagen Alltagsgespräch. Aber durch die
größere Distanz wird das natürlich immer unverständlicher. Wie auch die deutsche
Geschichte immer unverständlicher wird. Und so ist auch dieses Hinauszögern von
Grass unverständlich. Man steht jetzt da und ist völlig überrascht. Aber er
brauchte das offensichtlich und kann es ja letztendlich auch nicht erklären. So
wie man die deutsche Geschichte letztendlich nicht völlig erklären kann.
Jüngere, die den Krieg in erster Linie durch
Guido-Knopp-Dokumentationen kennengelernt haben, in denen Zeitzeugen sich immer
sehr genau erinnern, werden sich bei der Lektüre der Grass-Erinnerungen fragen:
Wieso hat er ausgerechnet in dem Kriegs-Waffen-SS-Kapitel einen "Filmriss" nach
dem anderen.
Timm: Na ja, das alles ist ja auch schon 60 Jahre her. Ich
kann mir schon vorstellen, dass da neben dem schlichten Vergessen auch
Verdrängung am Werk ist. Und die Erinnerung selbst ist ja etwas sehr Biegsames.
Das erklärt auch die Brüche bei Grass. Dass es Stellen gibt, wo die Erinnerung
womöglich nicht hin will, wo das Unterbewusstsein vielleicht einen Riegel
vorschiebt.
Während der Fußball-WM gab es eine neue, ungewohnt fröhliche
Identifikation mit dem Land. Und mit Grass kommt auf einmal wieder eine Debatte,
die man eigentlich schon zu den Akten gelegt zu haben glaubte ...
Timm: Das ist eine sehr richtige Beobachtung. Ich finde das
aber ganz heilsam. Dieser Versuch, die Nation irgendwie konfliktfrei zu sehen,
hat immer etwas Problematisches. Ich finde das in anderen Nationen immer
problematisch, etwa in England oder in Frankreich. Es ist ja ein Vorteil, dass
die Vergangenheitsbewältigung, wie das immer genannt wird, also, die kritische
Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit einen ungebrochenen naiven
Nationalismus immer wieder verhindert hat. Und dazu hat Grass ja viel dazu
beigetragen. Ich kann mich entsinnen, damals, beim Sechs-Tage-Krieg, als er nach
Israel fahren und Hilfssendungen organisieren wollte. Er ist ja jemand, der das
wirklich gelebt hat und nicht nur manchmal laut ins Horn gestoßen hat. Und was
die Vergangenheit angeht, so hat er sie schonungslos und wunderbar beschrieben,
gerade in der "Blechtrommel" und in "Katz und Maus".
Den beiden besten Grass-Büchern ...
Timm: Ich habe das als Bild noch immer vor Augen, obwohl ich
das jetzt vor 40 Jahren oder noch länger gelesen habe, wie Vater Matzerath die
NSDAP-Nadel verschlucken will, also so quasi seine politische Schuld
runterschluckt und daran erstickt, nicht. Oder dieser Junge, Joachim Mahlke, der
unbedingt ein Ritterkreuz haben will - das sind sozusagen zwei Pole im Werk von
Grass. Ich hatte einen Gemeinschaftskundelehrer, der über Grass schimpfte, er
fand ihn pornografisch, aber schlimmer noch war, dass Grass die Wehrmacht
verächtlich machte. Das war ein alter Nazi und Antisemit, und er war unser
Lehrer, das war die Situation. Für mich war Grass damals sehr wichtig. Ich habe
ihn gelesen, und er war Teil meiner literarischen und politischen Emanzipation.
Können Sie eigentlich auch verstehen, dass er gerade den
Jüngeren, die nicht seine Erfahrungen teilen, oft auf die Nerven geht?
Timm: Das kann schon sein. Aber man sieht ja doch, dass in
seinem Werk etwas ist, was uns alle betrifft, denn sonst würden sich nicht alle
über diese Beichte aufregen. Ich denke mal, das zentrale Problem reicht über die
Generationen hinweg. Es ist eben diese deutsche Geschichte. Nicht zufällig sind
ja zuletzt mehrere Bücher jüngerer Autoren erschienen, die sich plötzlich mit
den Großeltern auseinandersetzen, weil sich die Schubladen öffneten, und es
kamen Tagebücher und Briefe heraus, in denen man den netten Opa teilweise nicht
wieder erkannte, weil er Naziparolen geschrieben hatte. Das ist der emotionale
Konflikt. Und das ist ein wesentlicher Gegenstand von Literatur. Gerade die
Schnittstellen von Gefühlswelt und Erkenntnis, die sich oft nicht decken, sind
das Spannende in der Literatur, wie im Leben.
Können Sie es denn nachvollziehen, dass man Grass jetzt an
den hohen Maßstäben misst, die er selbst an andere gelegt hat?
Timm: Natürlich, obwohl da auch offensichtlich einige alte
Rechnungen beglichen werden. Eigentlich ist Grass' langes Schweigen eine
traurige Sache. Denn Grass offenbart sich als Teil der deutschen Geschichte, die
man nur mit Trauer betrachten kann.
Aber hat das Bekenntnis nicht auch etwas Befreiendes? Wird
Grass nicht dadurch sympathischer?
Timm: Kann sein. Ich frage mich nur: Warum hat er das nicht
gemacht, als die ersten Ritterkreuzträger der SS sich wieder getroffen haben und
das feierten? Als meinetwegen der Schönhuber, der Gründer der Republikaner,
sagte: Ich war dabei. Warum hat er das nicht in Bitburg gemacht. Ich denke mal,
er hätte viele Anlässe gehabt, um das auch zu sagen. Gerade weil er nicht einmal
direkt schuldig geworden ist. Er sagt ja, er hat nicht einmal einen Schuss
abgegeben. Während mein Bruder diesen fürchterlichen Satz schrieb:"75 Meter, ein
Iwan raucht Zigarette, ein Fressen für mein MG".

Grass: SS-Akten längstens öffentlich zugänglich
Günther Grass hätte die Katze nicht selbst aus dem Sack
lassen müssen. Das Archiv mit den Dokumenten, die seine SS-Zugehörigkeit
belegen, stand der Öffentlichkeit seit 1959 offen.
Die jetzt entdeckten, den Einsatz in der SS-Panzerdivision
Frundsberg belegenden Dokumente aus Grass' Zeit als US- Kriegsgefangener
schlummerten jahrzehntelang unangetastet im riesigen Archiv der Deutschen
Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin. Nur ein einziges Mal wurden sie nach
Angaben der Institution bis zum vergangenen Montag herausgezogen. Vor 13 Jahren
hatte ein Rentenversicherungsträger Einsicht in die Akten verlangt.
Dabei waren die von Grass persönlich unterschriebenen
Dokumente weder unter Verschluss noch geheim. «Seit dem ersten grossen Erfolg
von Günter Grass hätte jeder danach fragen können und Akteneinsicht bekommen»,
sagte der stellvertretende Behördenleiter Peter Gerhardt (64) am Mittwoch der
Nachrichtenagentur DPA.
Der Schriftsteller sei spätestens seit seinem internationalen
Durchbruch mit der «Blechtrommel» (1959) eine Person des öffentlichen Lebens.
Und für solche gelte der ansonsten übliche Datenschutz nicht.
Für die Enthüllung im «Fall Grass» hätte eine neugierige
Privatperson acht Euro auf den Tisch legen müssen. So viel kostet die Kopie
einer Aktenseite bei der Behörde. Wäre die Mitgliedschaft in der berüchtigten
Elitetruppe schon früher herausgekommen - die an diesem Mittwoch erschienene
Kindheits- und Jugend-Autobiografie «Beim Häuten der Zwiebel» von Günter Grass
hätte sich wohl wesentlich schlechter verkauft.
20min.ch vom 20.08.2006

Neue Akten aufgetaucht
Im Lazarett verschwieg er seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS
Von MICHAEL BACKHAUS, HELMUT BÖGER und BURKHARD UHLENBROICH
Der Fall Günter Grass, er wird immer komplizierter. Ein neuer
Aktenfund in Berlin belegt, dass Grass als 17-Jähriger gegen Ende des Zweiten
Weltkriegs zunächst nicht als SS- sondern als Wehrmacht-Soldat registriert
wurde.
Diese Akte Grass, deren Inhalt BILD am SONNTAG bekannt ist,
wurde inzwischen vom Berliner Datenschutzbeauftragten Alexander Dix (55)
gesperrt.
Im Archiv „Krankenbuchlager“ des Berliner Landesamtes für
Gesundheit und Soziales werden 29 000 Lazarettkrankenbücher aus dem Zweiten
Weltkrieg mit 25 Millionen Eintragungen über verwundete Soldaten gehütet.
Darunter auch die Krankenakte von Grass, der am 20. April
1945 durch Granatsplitter im Raum Spremberg (Brandenburg) verwundet und am 28.
April ins Lazarett Marienbad eingeliefert wurde.
Merkwürdig: Im Lazarett wurde Grass als Angehöriger einer
Panzerjägerabteilung des Heeres aus einem Potsdamer Ersatztruppenteil geführt.
Auch seine Erkennungsmarke stammte nicht von der SS-Division „Frundsberg“, der
er nach eigenen Angaben angehört hat.
Das steht im Widerspruch zur 1946 von der US-Army angelegten
Karteikarte des Kriegsgefangenen Grass, die Anfang dieser Woche von der
„Deutschen Dienststelle“ veröffentlicht wurde. Sie belegt Grass’ Darstellung, er
sei Soldat der Waffen-SS gewesen.
Der Literatur-Nobelpreisträger schreibt in seiner am Mittwoch
vorzeitig veröffentlichten Autobiografie, er habe auf Rat eines Obergefreiten
der Wehrmacht seine SS-Uniform weggeworfen.
Dass der weltberühmte Dichter mehr als 60 Jahre lang seine
SS-Vergangenheit verschwiegen hat, wirft ihm auch ein ehemaliger Soldat der 10.
SS-Panzerdivision „Frundsberg“ vor. Der Rentner Edmund Zalewski (82) aus Düren
zu BamS:
„Gern würde ich mal mit Grass selbst sprechen. Dann würde ich
ihn fragen: Kamerad Grass, warum warst du so feige und hast du so lange
geschwiegen?“ Der ehemalige SS-Unterscharführer (Unteroffizier) Zaleweski
verärgert: „Grass benutzt die Division ‚Frundsberg‘ der Waffen-SS, um sein Buch
besser zu verkaufen.“
Der Bielefelder Historiker Professor Dr. Hans-Ulrich Wehler
(75) klagt, „die Leute können kaum unterscheiden zwischen der allgemeinen SS und
der Waffen-SS, die gegen Kriegsende zum großen Teil aus gezogenen Männern
bestand“.
Die 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“ war laut Wehler „ein
zusammengewürfelter Haufen, der erst ab 1943 zum Einsatz gekommen ist. Mir sind
keine Unterlagen bekannt, dass diese Division für Kriegsverbrechen
verantwortlich gewesen ist“.
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (86), Hauptmann der
Infanterie im Zweiten Weltkrieg, ist überzeugt, Grass sei selbst verantwortlich
für den Wirbel um die späte Enthüllung seiner SS-Vergangenheit. Von Weizsäcker
zu BamS:
„Jetzt fallen alle Steinewerfer über ihn her. Und dafür trägt
er die Verantwortung. An die Kraft seiner Literatur und seiner prägenden
Leistungen für das deutsch-polnische Verhältnis nach dem barbarischen Krieg
ändert das nichts!“
Auf die Frage, weshalb manche Polen in Danzig Grass jetzt
verleugnen wollen, antwortete von Weizsäcker: „Das bleibt ein vorübergehender
Ausdruck einer gegenwärtigen polnischen Suche nach Distanz zum deutschen
Nachbarn.
Für mich selbst war die Herstellung von menschlichen und
politischen Beziehungen zwischen uns Deutschen und dem ersten Opfer des Zweiten
Weltkrieges, also den Polen, der prägende Grund, mich für ein politisches Mandat
im Bundestag zu bewerben. Ich weiß aus langer Erfahrung, wie viel Günter Grass
persönlich dazu beigetragen hat.“
Der Publizist Manfred Bissinger (65), ein enger Grass-Freund,
verteidigt dessen spätes Geständnis:
„Mit Werbung für sein neues Buch hat das nichts zu tun. Grass
wollte die Deutungshoheit über sich und sein Leben behalten. Sicher hat sein
Image einen Kratzer abgekriegt, sicher ist auch die Frage legitim, warum er
nicht schon früher Bilanz gezogen hat. Ich glaube, er brauchte einfach Zeit, um
die richtige Form zu finden. Seine Autobiografie ist ein glänzendes Buch. Es
zeigt auf, wie Menschen verführt werden können.“
Die Vermutung des Literatur-Kritikers Hellmuth Karasek (72),
Grass hätte niemals den Nobelpreis bekommen, wenn damals seine SS-Vergangenheit
bekannt gewesen sei, hält Bissinger „für schlichten Blödsinn“.
Bild vom 20.08.2006 |