Einleitung
Nein, das Thema ist nicht
verdruckt. Es geht um eine Denkbewegung, die eine gegenüber unserer
Gegenwart veränderte Zukunft der Religionen auf dem Weg über die
kritische Erinnerung einer gemeinsamen Herkunft eben dieser Religionen
zu ereichen sucht. Ich unterstelle also, dass die uns aus der
Vergangenheit und Gegenwart bekannte Situation nicht gut zu ertragen
ist, insofern die Religionen, von denen wir reden, sich auf
unterschiedlichste Weise und mit unterschiedlichsten Folgen immer wieder
auch mit Gewalt bekämpft haben und mitschuldig sind an der auch im 21.
Jahrhundert immer noch geübten Rechtfertigung von tödlicher Gewalt. Da
es um eine bessere Zukunft geht, und da wir andererseits aber die Nähe
zur Gewalt, die alle drei Religionen in ihren heiligen Schriften und im
Verlauf der Geschichte mal als Täter, mal als Opfer, gezeigt haben,
nicht ausblenden dürfen, wähle ich die etwas ungewöhnliche Denkbewegung
zurück, um nach vorne zu kommen. Sie folgt nicht zuerst der Tatsache,
dass Juden, Christen und Muslime zu den abrahamitischen Religionen
gehören, sondern dem wunderbar knappen Satz von Odo Marquard: „Zukunft
braucht Herkunft“, wie er ihn in seinem Aufsatzband „Abschied vom
Prinzipiellen“ formuliert hat. Das heißt, ich werde über den Juden,
Christen und Muslime verbindenden Fixpunkt Abraham hinaus zurückfragen,
um jene gemeinsame Herkunft der Religionen zu beschreiben.
Im ersten Abschnitt werde ich auf
den Zusammenhang von Religion und Kultur zu sprechen kommen, denn
Religion gibt es nicht ohne Kultur. Weil wir in einer Zeit leben, in der
sich die Kulturen, mehr als bisher gekannt, zu mischen beginnen, müssen
auch die Probleme im Umgang der Religionen miteinander entschiedener als
bisher in Angriff genommen werden – und zwar von den Religionen selbst.
Die Lösung dieser Probleme sehe ich als den noch ausstehenden Beitrag
der Religionen zum Frieden in der Welt an. Mit Albert Schweitzer
gesprochen, geht es um mehr Ehrfurcht vor dem Leben, vor der Schöpfung
Gottes. Gerade an ihr haben es die Religionen, vor allem durch ihre
Jenseitsorientierung und durch ihren Anthropozentrismus, lange fehlen
lassen.
Im zweiten Abschnitt komme ich
auf die Gründe zu sprechen, die einer gemeinsamen Lösung dieser
Zukunftsaufgabe bisher im Wege stehen. Primär geht es dabei um
Rückwirkungen, die von einem nicht konsequent gedachten Monotheismus
ausgehen. Mein Lösungsvorschlag nimmt das Thema meines Vortrages auf und
spricht eine für die Lösung der Probleme hilfreiche gemeinsame Herkunft
aller Religionen an.
Im dritten Abschnitt nenne ich
einige Glaubensvorstellungen, von denen wir uns um unserer Verantwortung
für das Leben auf dieser Erde willen verabschieden sollten. Im vierten
und letzten Abschnitt spreche ich eine realisierbare Utopie an, für die
ich Partner suche.

1 Das kulturelle
und das religiöse Gedächtnis der Menschheit hängen zusammen und müssen
zusammen erforscht werden.
Die Theorie vom „kulturellen
Gedächtnis“ ist in aller Munde. Die Funktion dieses kulturellen
Gedächtnisses zeigt sich in der Kraft, die Traditionen im Rahmen
abgrenzbarer Kulturbereiche entfalten: sie prägen den Werte-, Rechts-
und Bildungskanon, die Typologie der gesellschaftlich relevanten
Institutionen und stehen nicht zuletzt auch mit den religiösen
Traditionen in einem innigen Verhältnis. Denn das kulturelle Gedächtnis
verbindet Kultur und Religion. Deshalb hat Jan Assmann inzwischen seine
eigene Theorie vom kulturellen Gedächtnis weitgehend gleichgesetzt mit
jenem Phänomen, das Thomas Luckmann als „die unsichtbare Religion“
beschrieben hatte. Für uns wichtig ist dabei allerdings, dass die in
einer modernen, also kulturell offenen Gesellschaft aktiven
Religionsgemeinschaften nur dann Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis
haben, wenn sie sich an der kulturellen Kommunikation in der
Gesellschaft beteiligen, in der sie leben. In dieser öffentlichen
kulturellen Kommunikation entsteht so etwas wie ein – geschichtlich
gesehen – Kurzzeitgedächtnis, das man auch das kommunikative Gedächtnis
nennt. Auf dem Weg über das kommunikative Gedächtnis wird das kulturelle
Gedächtnis – das man dann als Langzeitgedächtnis verstehen kann – in der
jeweils aktuellen sozialen Situation erinnert und an die Bedürfnisse der
Gegenwart angepasst. Denn das kulturelle Gedächtnis ist keine
festbleibende Größe wie die Kanons heiliger Schriften, sondern
geschichtlichem Wandel unterworfen. Das heißt: die gespeicherten
Erfahrungen und Bedeutungen werden durch die kulturelle Kommunikation im
Verlauf der Geschichte de facto ständig überschrieben. Die Hirnforschung
stellt zu diesen religionssoziologischen und kulturwissenschaftlichen
Theorien inzwischen überraschende Forschungsergebnisse hinzu, die
zeigen, dass dieser Prozess des Überschreibens auch eine neuronal
nachweisbare Seite hat.
Die öffentliche Kommunikation, an
der gläubige und nicht gläubige Menschen teilnehmen, stellt also eine
permanente ungesteuerte Umarbeitung des kulturellen Gedächtnisses dar,
gegen die sich keine Institution, auch keine Religion, wehren kann.
Dadurch kommt es, dass sich das kulturelle Gedächtnis bzw. dass sich die
unsichtbare, ungeschriebene Religion der Menschen immer weiter von den
kulturellen Standards entfernt, die in den heiligen Schriften, aus
fernen Vergangenheiten stammend, literarisch konserviert werden.
Wissenschaftliche Theologie und die regelmäßige Auslegung der heiligen
Schriften in den Religionsgemeinschaften stellen nun ebenfalls eine
permanente Arbeit am kulturellen Gedächtnis dar, obwohl es in ihnen
primär um den jeweiligen Kanon der eigenen heiligen Schrift geht. Dabei
handelt es sich nun aber um gesteuerte Arbeit, die auf Selbsterhalt aus
ist. Dass es dabei auch um Arbeit am kulturellen Gedächtnis geht, hängt
damit zusammen, dass die heutige Auslegung der heiligen Schriften nur
gelingen kann, wenn sie die Menschen in ihren konkreten Lebensbezügen
erreicht. Anders formuliert: Der Glaube war immer kulturkohärent und er
wird immer kulturkohärent sein, um verstanden zu werden. Das heißt
nicht, dass der Glaube sich prinzipiell der jeweils herrschenden Kultur
unterworfen hätte oder heute unterwerfen müsste. Und es heißt auch
nicht, dass wir Heutigen uns den kulturellen Standards des Abraham’schen
Wüstenclans unterwerfen müssten, um Christen sein zu können. Beides ist
mit dem Grundsatz der kulturellen Kohärenz nicht gemeint. Gemeint ist:
Der Glaube muß dieselbe Sprache sprechen, die die Menschen sprechen und
verstehen. Denn nirgends ist das kulturelle Gedächtnis so präsent wie in
der Bedeutung der Wörter. Die Sprachen sind Trägerinnen des kulturellen
Gedächtnisses. Einfluss auf eine Kultur nimmt eine Religion deshalb nur,
wenn sie die Bedeutung der von den Menschen gesprochenen Wörter kennt.
Denn nur dann kann sie hoffen, dass von den alten Gotteserfahrungen
Einfluss auf die heute gesprochene Sprache und das mit ihr verbundene
Denken und Handeln ausgeht.
Diese Einsicht ist der Grund
dafür gewesen, dass heilige Schriften in die großen und kleinen Sprachen
der Welt übersetzt worden sind – und nicht zuletzt dafür, dass die auf
den Aramäisch sprechenden Jesus zurückgehenden christlichen Schriften
von Anfang an in der griechischen Weltsprache Koiné und nicht auf
Aramäisch verfasst worden sind. Das Ereignis Pfingsten redet – das ist
meine These – diesseits der mythischen Sprache davon, dass der
christliche Glaube durch den Übergang ins Griechische zu einer – damals
– weltweiten religiösen Kommunikation des Evangeliums geführt hat.
Das Thema Sprache(n) stellt ein
besonderes Kapitel bei den drei abrahamitischen Religionen dar. Denn die
Christen sind mit der Wahl der damaligen Weltsprache Griechisch für
ihren Kanon wesentlich weiter gegangen als die Juden, die den
hebräischen Tenach zwar ins Griechische übersetzt haben. Aber die Juden
haben als Liturgiesprache das Hebräische immer behalten, auch wenn sie
im Alltag eine andere Sprache sprechen. Ein aramäisches Neues Testament
aber hat es nie gegeben, das Griechische ist, gemessen an Jesu
Muttersprache, das nichtmuttersprachliche Original geworden. Vor diesem
Hintergrund ist es bemerkenswert, dass das Arabische des Korans nicht
nur Liturgiesprache, sondern auch die offizielle Sprache der arabischen
Welt geworden und geblieben ist. Das Wort bemerkenswert schließt für
mich aber auch eine Frage ein: die Frage nämlich, wie lange eine Sprache
auf einem einmal festgeschriebenen Niveau festgehalten werden kann, ohne
sich von dem Fluss der Kommunikation in anderen Sprachen und Kulturen
abzukoppeln, die solche Festschreibung nicht kennen? Bekanntlich ist die
Türkei an diesem Punkt einen anderen Weg gegangen, weil sie den Kontakt
zur westlichen Zivilisation herstellen wollte.
Die Einsicht, dass Kultur und
Religion zusammengehören, schließt ein, dass Arbeit am kulturellen
Gedächtnis immer auch Arbeit am religiösen Gedächtnis der Menschheit
darstellt. Unter dem religiösen Gedächtnis der Menschheit verstehe ich
die Summe der erinnerbaren religiösen Überlieferungen aus allen
Religionen. Die bewusste historisch-kritische Arbeit der
Religionsgemeinschaften an ihren heiligen Schriften ist ein bedeutender
Teil Kulturarbeit, und sie wird ergänzt durch den künstlerischen Umgang
mit den alten Texten: Nicht zuletzt deswegen entdecken zurzeit auch die
Bühnen wieder vermehrt religiöse Stoffe. Denn diese Arbeit am religiösen
Gedächtnis hilft zu erkennen, warum die Geschichte so verlaufen ist, wie
wir sie kennen, ja speziell, welche überlieferten Vorstellungen – im
Guten wie im Bösen – hinter dem Verlauf der Geschichte als dominante
Kräfte gestanden haben. Lange ist diese Arbeit als kritische Arbeit auch
bei den Christen prinzipiell verweigert worden. Inzwischen ist die
historische Kritik in beiden großen Konfessionen die Norm in der
Theologenausbildung, und auch in einigen jüdischen Hochschulen durchaus
üblich; selbst bei islamischen Koran-Wissenschaftlern kommt sie vor. Wie
ergebnisoffen sie dann tatsächlich betrieben wird, ist eine andere Frage
– und hängt davon ab, wie streng dogmatischen Normen bereits
Antwortvorgaben machen.
Ich halte den Fortgang der
historisch-kritischen Arbeit an den eigenen heiligen Schriften nach dem
bisher Ausgeführten für eine zwangsläufig sich vollziehende Entwicklung,
weil Religion nicht ohne Kultur und Kultur nicht ohne Religion und
Geschichte insgesamt nicht ohne Kultur und Religion zusammen erforscht
und verstanden werden können. Weil das so ist, haben die
Religionsgemeinschaften nun allerdings nicht nur ein Recht, sondern auch
eine Pflicht dazu, das religiöse Gedächtnis der Menschheit einer
historischen Kritik zu unterziehen, und zwar jeweils beginnend beim
eigenen Kanon. Denn nur so können bestimmte Probleme gelöst werden, die
uns die Geschichte der Religionen vererbt hat und an denen wir immer
noch leiden, weil sie Quellen des Unfriedens sind. Viele dieser Probleme
hängen damit zusammen, dass überlieferte Glaubensvorstellungen durch
ihre Kanonisierung in den heiligen Schriften in kulturellen Standards
verankert sind, die wir kulturgeschichtlich längst hinter uns gelassen
haben. Die so erzeugte Diskrepanz ist also letztlich die zwischen einer
bei der Entstehung der heiligen Schriften wirksam gewesenen kulturellen
Kohärenz und der heute notwendigen kulturellen Kohärenz bzw. dem heute
notwendigen Lebensbezug des Glaubens. Ich vertrete dazu die These, dass
diese Diskrepanz nicht mehr durch eine veränderte Auslegung allein
überwunden werden kann, sondern notwendige Abschiede von überlieferten
Glaubensvorstellungen erfordert.

2 Ererbte
Probleme aus der Geschichte der Religionen und Vorschläge zu ihrer
Lösung.
2.1 Die
verfeindeten inkonsequenten Monotheismen versperren den Blick auf die
universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes.
Die drei bei dieser Tagung
vertretenen Religionen eint, dass sie nach ihrem Selbstverständnis
monotheistische Religionen sind. Entsprechend haben sie auch die uns
bekannte Welt als Horizont im Blick; denn der Eine Gott ist für alle
auch der Schöpfer der Welt. Nun ist es auf der anderen Seite aber eine
Realität, dass der Monotheismus sehr unterschiedlich verstanden worden
ist und wird. Wie stark die Unterschiede sind, belegt die Tatsache, dass
Juden und Muslime den Christen vorwerfen, wegen der trinitarischen
Gottesvorstellung keine wirklichen Monotheisten zu sein. Wir leben in
einer gespaltenen Situation: Wir glauben alle nominell an die Einheit
und Einzigkeit Gottes, aber wir leben in Religionen, deren
Gottesvorstellungen auf der personalen Ebene nicht deckungsgleich sind,
ja, sich auszuschließen scheinen. Jahwe bzw. Adonia soll nicht Allah
sein, und keiner von beiden soll identisch sein mit dem trinitarischen
Gott der Christen. Vor allem die Tatsache, dass der Mensch Jesus in
diese Trinität aufgenommen worden ist, sprengt die Toleranzbereitschaft
der anderen beiden Religionen.
Nun wäre dies ein Thema allein
für theologische Spezialisten, wenn an ihm nicht eine Geschichte
schrecklicher Auseinandersetzungen, ja, Kriege, Verfolgungen und Qualen
hinge, die die einen von den anderen, und oft genug wechselseitig, haben
erdulden müssen – und zwar jeweils angeblich in Gottes Namen. Dass es so
hat kommen können, hängt wiederum mit dem Zusammenspiel von Religion und
Kultur zusammen. Denn durch dieses Zusammenspiel haben sich bestimmte
Glaubenvorstellungen – vor allem die Idee, vor den anderen von Gott
erwählt zu sein - immer wieder als Saat ausgewirkt, aus der Hass und
Krieg auch zwischen Völkern entstanden ist. Die mustergültige Intoleranz
monotheistischer Religionen, die sie alle in ihrer Geschichte bewiesen
und zum Teil geradezu gefeiert haben, ist dabei im Grunde nicht aus dem
Glauben entstanden, dass es nur einen Gott gibt. Wären sich die
abrahamitischen Religionen darin wirklich und konsequent einig, dass
Gott nur einer sein kann und ist, hätten sie keinen Hochmut und keinen
Haß auf die anderen verbreitet. Es liegt nicht am Monotheismus
schlechthin. Sondern das Muster, nach dem über endlose Zeiten hin Juden,
Christen und Muslime gegeneinander und gegenüber so genannten „Heiden“
vorgegangen sind, ist – um einmal einen neuen Begriff einzuführen – ein
Monoheméterotheismus. Auf Deutsch heißt dieses Wort: Man glaubt, dass
der eigene Gott, dass jeweils unser Gott, der einzige ist. Oder: Allein
unser Gott ist Gott, oder: Der einzige Gott ist unser Gott. Es ist also
ein Glaube, der Monotheismus und die Urform des Ethnozentrismus
miteinander verschmilzt. Denn der Ethnozentrismus sieht stets das Eigene
als das Eigentliche, Wahre, Gemeinte an. Deshalb verbindet sich die
Vorstellung, erwählt zu sein, auch gerne mit der Verwerfung der
Nichterwählten.
Dass dieses Problem von
allergrößter Bedeutung ist, betrifft nicht nur das Verhältnis der
abrahamitischen Religionen untereinander – zumal die
Erwählungsvorstellung bereits aus dem Alten Ägypten stammt. Sondern die
Religionen haben in der Geschichte mit dieser Verbindung aus
Monotheismus und Ethnozentrismus ein Denk- und Handlungsmuster
etabliert, das die Religionsfreiheit oft genug auch heute noch selbst da
behindert, wo sie auf dem Papier gewährt wird – nämlich durch den
Fremdenhass und durch verweigerte Integration. Gelöst werden kann das
Basis-Problem, dass der Monotheismus durch den Ethnozentrismus
verfälscht worden ist, nur, wenn die Religionen den Glauben an die
Einheit und Einzigkeit Gottes endlich ernst nehmen und jede für sich
darüber Auskunft geben werden, was die Vielfalt der Religionen und ihrer
Konfessionen mit dem Einen Gott zu tun hat, an den sie formal glauben.
Die Antwort kann dann natürlich nicht mehr im Ausdruck des Bedauerns
bestehen, dass es eine Pluralität der Religionen und Konfessionen
überhaupt gibt. Sondern sie muss so mit Gott verbunden werden, dass die
angesprochene Vielfalt und Vielzahl eine dem Glauben an die Einheit
Gottheit angemessene positive Bedeutung erhält. Nur so wird nach meinem
Verständnis die Gottheit Gottes ernst genommen werden. Denn zu ihr passt
es einfach nicht, zu sagen, die Vielfalt der Religionen und ihre
geschichtlichen Einflüsse aufeinander sei von Gott nicht gewollt. Er
stünde als der Blinde und Ohnmächtige in der Geschichte da. Zu sagen,
Gott hätte die Diversifizierung der Religionen nicht gewollt, könnte man
logischerweise überhaupt nur dann ernsthaft erwägen, wenn die
monotheistischen Religionen zuerst in der Geschichte dagewesen wären.
Das Gegenteil aber ist der Fall.
Alle monotheistischen Religionen
sind, von der altägyptischen angefangen, auf dem Boden polytheistischer
Vorgängerreligionen entstanden. Alle drei Religionen nehmen
Überlieferungen auf, die schon weit vor den jüdischen Überlieferungen
entstanden sind. Die Prägekraft der altägyptischen Religion vor allem
ist hier zu nennen. Manfred Görg hat sie in überzeugender Weise bis ins
christliche Glaubensbekenntnis hinein nachweisen können. Für mich gilt
das auch für die Urform des Monotheismus, wie sie Amenophis IV. Echnaton
im 14. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten eingeführt hat und wie sie – folgt
man Siegmund Freud und Jan Assmann – auf dem Weg über Israel ins
Christentum und auf dem Weg über die Bibel schließlich auch in den Islam
gekommen und mehrfach modifiziert worden ist. Glaube, und dazu gehören
nun einmal die theologisch reflektierten Glaubensvorstellungen, Glaube
hat Geschichte. Religionsgeschichte ist eine Geschichte der permanenten
Erinnerung von Geschichten, und im Prozess jeder Erinnerung werden die
überlieferten Geschichten verändert, umgeschrieben. Wie wir damit
umgehen, können wir den heiligen Schriften selbst nicht entnehmen, weil
sie auf die Geschlossenheit des eigenen Kanons aus sind und allesamt
Sicherungen eingebaut haben, die ihre Kanons vor Veränderungen schützen
sollten. Doch gegen die Veränderungen des Lebens gibt es keinen Schutz,
zumal wir glauben, dass dieser Eine und Einzige Gott in jeder Gegenwart
gegenwärtig ist. Deshalb, glaube ich, ist Gott und bleibt Gott auch Herr
über die heiligen Schriften, konkret: Er ist ihnen voraus. Wenn das so
ist, dürfen sie nicht nur zur jeweiligen Vorvergangenheit hin offen
sein, sondern die heiligen Schriften müssen auch den Gotteserfahrungen
der Zukunft geöffnet werden.
Nach der Antwort auf die Frage zu
suchen, was die Vielfalt der Religionen positiv mit dem Einen Gott zu
tun hat, halte ich für eine unabweisbare Aufgabe, die sich uns stellt.
Sie ist der erste und grundlegende Teil der Arbeit am religiösen
Gedächtnis der Menschheit, der uns aufgegeben ist. Wenn die Religionen
sich ihr weiterhin verweigern, weichen sie angesichts der für sie
allesamt beschämenden Geschichte ihrer Verantwortung für den Frieden und
den Schutz des Lebens aus. Dann wird sich auch die Religionsfreiheit
nicht weiter entwickeln können. Denn dazu bedarf es eines neuen
Bewusstseins der Gläubigen: des Bewusstseins, trotz aller Unterschiede,
die es zwischen den Religionen gibt, im Glauben an die Einheit und
Einzigkeit Gottes zusammenzugehören.
Ich fühle mich schuldig, Ihnen
eine Antwort auf die von mir gestellte Frage zu geben. Sie lautet
folgendermaßen: Alle Religionen bezeugen Begegnungen mit Gott, und zwar
von den archaischen Religionen angefangen. In ihren Zeugnissen sind die
Menschen, die diese Gotteserfahrungen gemacht und weitergegeben haben,
aber immer mit enthalten, weil ihr Glaube und ihre Kultur nicht
voneinander unabhängig, sondern eng miteinander verbunden gewachsen
sind. Die Menschen haben mit dem, was ihnen von Gott entgegengekommen
ist und was sie von ihm wahrgenommen haben, also zwangsläufig immer jene
Vorstellungen und Bilder verbunden, die sie vorher schon als kulturelles
Erbe in sich hatten. Ich nenne ein Beispiel aus meinem Glauben: Ich sehe
in Jesus, wie ihn die Evangelisten zusammen genommen schildern, vor
allem folgende Einflüsse wirksam: die aus Ägypten kommende Vorstellung
vom Gottessohn, die jüdischen Vorstellungen vom Messias und vom Rabbi,
und den zeitgleich wirksamen Glauben an den ersten therapeutischen Gott
Asklepios im hellenistischen Bereich; denn von ihm hat Jesus den Titel
des Soter, des Heilandes, geerbt. Was hier in der Jesusgestalt
zusammengeflossen ist, soll exemplarisch meine Grundthese belegen. Sie
lautet: Alle Religionen gehören als unterschiedliche Gedächtnisspuren
von Gotteserfahrungen hinein in eine universale Wahrnehmungsgeschichte
Gottes. Für den, der dies glaubt, werden aus Religionen unterschiedliche
Konfessionen des Glaubens an Gott.
„Zukunft braucht Herkunft“. Ein
Teil unserer gemeinsamen Herkunft ist Jesus, ist Mose, ist Abraham. Aber
diese Gestalten haben in sich auch schon viele Geschichten aus der
universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes gebündelt. Ebenso können wir
hinter den biblischen Schöpfungs- und Sintfluterzählungen mesopotamische
Vorbilder finden, die von den Juden theologisch überarbeitet worden
sind. Die Gottesmutter Maria ist die christliche Variante der
ägyptischen Gottesmutter Isis, und das göttliche Kind ist der christlich
umgestaltete ägyptische Kindgott und Gottessohn Horus. Es sind immer
wieder erzählte und erzählend erinnerte Gedächtnisspuren, die wir finden
können. Wo sie von einer Religion zur anderen hinübergewandert sind,
sind sie umgeschrieben worden, je nachdem, wie die theologischen
Prämissen es verlangt haben – einfacher gesagt: so, wie man sich den
Verlauf der Geschichten vorstellen konnte. Bestes Beispiel dafür ist,
wie die Leidensgeschichte Jesu im Koran umgeschrieben worden ist: Für
den Koran ist es unvorstellbar gewesen, dass Jesus als Mann Gottes
hingerichtet worden ist. Also ist er nicht hingerichtet worden, sondern
allenfalls ein anderer an seiner Stelle.
Meine These von der universalen
Wahrnehmungsgeschichte Gottes, in die die einzelnen Religionen als
differente Gedächtnisspuren hineingehören, die sich gegenseitig
beeinflusst, überlagert und verdrängt haben, besagt am Ende eins: Die
Herkunft aller Religionen ist der Eine Gott selbst. Ihm hat es gefallen,
sich in der ungeheuren Vielfalt, in der das Leben in Kulturen und
Religionen Gestalt angenommen hat, von den Menschen wahrnehmen zu
lassen. Die differenten Gottesvorstellungen sind dann – um mit Viktor
von Weizsäcker zu formulieren – unterschiedliche Wahrnehmungsgestalten
Gottes. Als solche sind sie auch Originale. Aber das Licht, das von
ihnen ausgeht, ist Gottes Licht. Er allein ist die Wahrheit, darum ist
Wahrheit weder jüdisch noch christlich noch muslimisch. Was wir in
heiligen Schriften kennen, ist die Brechung der Wahrheit Gottes in
kulturellen Wahrnehmungsgestalten. Dem müssen die Religionen
selbstkritisch Rechnung tragen – weil sie sich bisher in ihren
Ansprüchen auf die Wahrheit jeweils selbst absolut gesetzt haben.

2.2 Das
Beharren der einzelnen Religionen darauf, im Besitz einer absoluten
Wahrheit zu sein, versperrt den Blick auf die authentischen Erfahrungen
Gottes.
Die Antwort auf die Frage, was
wahr ist, kann nicht mehr dadurch beantwortet werden, dass die eigene
Religion oder Konfession, in die hinein wir geboren und erzogen worden
sind, zum selbstverständlichen Leitkriterium (a priori) für Wahrheit und
somit zur Richterin über die anderen erhoben wird. Dieses Denkmodell
folgt, auch in christlicher Variation, dem Ethnozentrismus in Reinkultur
und ist für mich unglaubwürdig. Religiöse Wahrheit muss auf einer ersten
Stufe sehr viel vorsichtiger erst einmal mit authentischen Erfahrungen
verbunden gedacht werden – und die gibt es in allen Religionen. Denn
wahr ist im religiösen Sinn, was Menschen von Gott wahrgenommen haben.
Auf allen anderen Stufen ist die Wahrheitsfrage eine Frage theologischer
Reflexionen und Entscheidungen. Und die setzen bestimmte Axiome und
Prämissen voraus, die meist im Dunklen bleiben, aber aufgedeckt werden
müssen, wenn Theologie zwischen den Religionen kommunikabel sein soll.
Ein Lehrstück stellt für mich als
Christen das Nebeneinander der vier Evangelien dar. Hier wird
exemplarisch ausgedrückt, dass es kein objektiv wahres Jesus-Bild gibt,
sondern eine Mehrzahl differenter Jesus-Bilder, wie sie aus den
Wahrnehmungen von kulturell unterschiedlich vorgeprägten Menschen
entstanden sind. Wir haben nicht das originale Jesus-Bild in der Bibel,
sondern mehrere unterschiedliche, in sich aber authentische
Wahrnehmungsgestalten Jesu. Dazu passt für mich sehr gut, dass der
Dekalog und der Koran keine bildlichen Darstellungen wollen. Ich sehe
darin nicht ein Verbot von Vorstellungen, die sich uns Menschen ja
unweigerlich durch die Erinnerung von menschlichen und tierischen
Gestalten, Pflanzen und anderen Formen, aufdrängen. Sondern ich sehe
darin das Gebot, die Freiheit des Denkens und Assoziierens nicht durch
die Fixierung auf bestimmte, musterartige, also quasi objektive und also
normierende Bilder, einzuschränken.
In diesem Zusammenhang ist es
angebracht, noch ein Wort zum Stichwort Offenbarung zu sagen. Auch das,
was inmitten der religiösen Überlieferungen Offenbarung genannt wird,
hat diese Dignität nicht aus sich selbst, sondern durch eine
theologische Qualifizierung (die gleichzeitig für andere Überlieferungen
zur Disqualifizierung wird). Wir müssen also die beanspruchte Reichweite
so genannter Offenbarungswahrheiten zurückschrauben auf das unter den
jeweiligen Bedingungen Wahrgenommene und später Reflektierte. Gott
können wir nicht als Garanten für die absolute Gültigkeit unserer
eigenen theologischen Aussagen heranziehen. Gott hat nichts geschrieben.
Er stellt vielmehr durch die Weite und Fülle der universalen
Wahrnehmungsgeschichte alle Dogmatik, die absolute Aussagen macht, in
Frage.
Von diesem Ansatz her sehe ich
auch eine Möglichkeit, die differenten Gottesvorstellungen der
Religionen im Rahmen der universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes
nebeneinander stehen zu lassen. Wir müssen ihnen nicht von dem
partikularen Standpunkt einer der Religionen aus Gewalt antun und
erwarten, dass sie zugunsten unserer Gottesvorstellungen aufgegeben
werden. Im Weg aufeinander zu würde ich damit beginnen, dass wir uns
gegenseitig unsere religiösen Überlieferungen erzählend vorstellen und
uns sagen, was wir an ihnen wichtig, schön und ergreifend finden, was
uns trägt – im Leben wie im Sterben. Am Anfang muss, wenn wir dem
Glauben folgen, dass alle Religionen ihre Herkunft aus Gott selbst
haben, das Erzählen von alten und gegenwärtigen Gotteserfahrungen
geschehen. Wahr ist dabei, was sich als wahr erweist. Wahrheit ist, wo
es um Leben und Sterben geht, immer Wegwahrheit und keine Satzwahrheit.

3 Notwendige
Abschiede von einigen dem Leben nicht dienlichen Glaubensvorstellungen.
Ich formuliere nun in Form von
Thesen, von welchen Glaubensvorstellungen wir uns in den abrahamitischen
Religionen verabschieden sollten, wenn wir es ernst meinen mit dem
Glauben, dass Gott Einer und ein Einziger ist. In ihm haben alle
Religionen ihre gemeinsame Herkunft. Von dieser Herkunft her können sie
auch eine gemeinsame Zukunft haben, ohne sich selbst aufgeben oder
unterordnen zu müssen.

3.1 Alle
drei Religionen sind wirkliche Religionen.
Keine von ihnen kann eine
Sonderstellung vor Gott beanspruchen, auch wenn sie in ihren Schriften
entsprechende Selbstbezeichnungen bzw. Selbstverständnisse kennen: „von
Gott erwählt“, „unser Gott ist der lebendige Gott“ etc. Gerade die
genannten sind bereits in vorbiblischen religiösen Texten zu finden.
Entscheidend ist, dass alle in die eine universale
Wahrnehmungsgeschichte Gottes hineingehören. Das heißt konkret: Es ist
nicht zu verantworten, Judentum, Christentum und Islam – etwa wegen des
Vorkommens der Abrahamgestalt in ihren Kanons – nun ihrerseits einen
gemeinsamen qualitativen Vorsprung vor dem Buddhismus und anderen
Religionen zusprechen zu wollen. Das würde nur zu einer neuen Form von
Einschränkung des Monotheismus führen. Wir werden aber lernen müssen,
dass auch Glaubensformen, die keine personal gedachte Gottesvorstellung
kennen oder wollen, dennoch hineingehören in die eine
Wahrnehmungsgeschichte Gottes.

3.2 Keine
heilige Schrift ist Offenbarung in dem Sinn, dass sie unabhängig von
menschlicher Wahrnehmung und zeitbedingten kulturellen Einflüssen
zustande gekommen wäre.
Deshalb gilt für mich, dass auch
kein einzelner Kanon die ganze Wahrnehmungsgeschichte Gottes fasst.
Wollen wir Gott in seiner Weite und Größe die Ehre geben, müssen wir uns
daran machen, seine Spuren in allen Religionen und im Kosmos zu finden
und ernst zu nehmen. Deshalb müssen wir auch das, was die
Naturwissenschaften von der nach unserem Glauben von Gott geschaffenen
Welt erkennen, mit unserem Glauben verbinden. Dass sich heute so viele
Menschen von den Kirchen abwenden oder nicht mehr an Gott interessiert
sind, hat damit zu tun, dass wir Theologen die Wirklichkeit aufgespalten
haben in die unverbundenen Bereiche Gott und Welt – und dies, obwohl vor
allem die Lehre von der Fleischwerdung Gottes (Inkarnation) in Jesus
doch deutlich machen, dass Gott und Menschen trotz aller kategorialen
Unterschiedenheit zu einer gemeinsamen Wirklichkeit gehören.
3.3 Die
heiligen Schriften der Religionen sind kulturkohärente Gedächtnisspuren
innerhalb der einen universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes.
Für den Glauben heute wegweisend
sind sie nur in der Zusammenschau mit den Überlieferungen anderer
Religionen. Wahr sind sie, wenn sie sich im Leben und Sterben der
Menschen als wahr erweisen.

3.4
Glaubenswahrheit wird nicht dadurch gültig, dass ein Mensch in eine
Religion hineingeboren wird.
Die bisherige Praxis bedeutet in
gewisser Weise eine Vereinnahmung unmündiger Menschen für eine bestimmte
Religion. Menschen müssen – und werden in Zukunft – das Recht haben, die
ihrer eigenen Spiritualität entsprechende Religion zu wählen. Das setzt
voraus, dass die kulturbedingten Anteile an den Religionen konvertierbar
und das heißt: vom Gottesglauben selbst unterschieden werden.

3.5
Monotheismus und Ethnozentrismus müssen auf allen Ebenen, von der
öffentlichen bis zur privaten Frömmigkeit, strikt voneinander getrennt
werden.
Denn böse Kinder des
Ethnozentrismus sind, wie die Geschichte zeigt, immer wieder: die
Verweigerung des Lebensrechts, der Rassismus und der Fremdenhass, und in
allem die Instrumentalisierung Gottes für eigene, auch und gerade
politische, Ziele.

3.6 Die
monotheistischen Religionen müssen darin ihren Gottesglauben ernstnehmen,
dass Gott auch der Schöpfer unserer Mitgeschöpfe ist.
An der von Albert Schweitzer
geforderten Ehrfurcht vor dem Leben haben es die abrahamitischen
Religionen vor allem dadurch fehlen lassen, dass sie anthropozentrisch
denken und die Würde der Tiere nur sehr bedingt achten. Ich halte es für
dringend an der Zeit, dass die Zeit der Tieropfer in den Religionen zu
Ende geht – und dazu gehört für mich auch das Schlachten der Osterlämmer
bei den Christen.

3.7 Jede Form
der Heiligung von tödlicher Gewalt bindet Gott in das archaische System
von Gewalt und Gegengewalt ein.
Darum müssen wir uns von
Opfervorstellungen verabschieden, in welcher Form sie auch immer
auftreten. Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen schließt für mich aus, dass
er aus einer Gewalttat wie der Kreuzigung Jesu habe Heil schaffen
wollen. Das Festhalten am Sühnopfertod Jesu und einem damit verbundenen
Abendmahlsverständnis heiligt bewusst oder unbewusst alltäglich die
Instrumentalisierung von tödlicher Gewalt. Davon müssen wir Abschied
nehmen.

3.8 Dass wir
(Christen) das zustande bringen, setzt voraus, dass wir uns entschlossen
auch von der Idee trennen, unsere Sterblichkeit sei Strafe für
Ungehorsam gegen Gott.
Alle Geschöpfe sind, wie die Erde
selbst, von Anfang an sterblich geschaffen. Und ohne Sünde. Nur wenn wir
dies akzeptieren, können wir etwas dagegen tun, dass der Tod so
systematisch verdrängt wird, wie es bei uns geschieht, aber auch
dagegen, dass wir weiterhin aus dem Tod eines Unschuldigen Erlösung für
uns suchen. Wer Gottes unbedingter Liebe glaubt, braucht keine Erlösung,
ist ja erlöst von den alten Formen Angst machender Religion.

3.9 Wir müssen
nicht nur aus den heiligen Schriften, sondern auch aus der Geschichte
lernen. Das Kriterium, das ich aus ihr für eine kritische Arbeit am
religiösen Gedächtnis der Menschheit ableite, ist das der
Lebensdienlichkeit.
Die konkreten Fragen lauten:
Haben die Religionen einen erkennbaren Dienst am Leben geleistet? Welche
Vorstellungen in ihnen haben sich als eher lebensdienlich und welche als
eher lebensfeindlich erwiesen? Welche Rolle haben dabei die Selbstbilder
und die Fremdbilder der Religionen gespielt? Die Antworten auf diese
Fragen müssen die Religionen untereinander und auch im Hören auf
Religionsfremde finden. Denn keine Religion lebt allein auf der Erde.

4 Eine
heilsame Utopie und ein Weg zu ihrer Realisierung.
Zum Schluss komme ich noch auf
meinen frommen Wunsch zu sprechen, einen Kanon aus den Kanons der
Religionen zusammenzustellen.
Ich wünsche mir, dass Menschen
aus unterschiedlichen Religionen sich zusammenfinden mögen, um einen
Kanon aus den Kanons zusammenzustellen. Ich finde, [es ist dringlich,
mit einem solchen Projekt innerhalb der Arbeit am religiösen Gedächtnis
der Menschheit jetzt zu beginnen, wo Angehörige unterschiedlicher
Religionen und Kulturen immer näher zusammenrücken. Im "Himmel" brauchen
wir keine Bibel oder andere Kanons mehr. Aber] jetzt muss ein solcher
Kanon dazu helfen, dass die Angehörigen der unterschiedlichen Religionen
die Grundlagen der anderen Religionen von Primärtexten her kennen
lernen. Nur so können sie auch Anteil gewinnen an den Schätzen, die die
anderen Religionen aufbewahrt haben. Und nur so können sie auch die
eigene Religion in dem ungewohnten Rahmen der anderen Religionen – also
wirklich neu – sehen lernen.
Mir geht es nicht um einen Kanon
der Kanons. Das wäre ein völlig unüberschaubares
religionsgeschichtliches Archiv, das niemandem helfen würde. Mir geht es
um eine Textausgabe, die für die Hand interessierter Menschen gedacht
und die von Umfang und Gestaltung her auch lesbar ist. Sie soll
ausschnitthaft dokumentieren, dass die unterschiedlichen religiösen
Gedächtnisspuren, die wir kennen, die eine universale
Wahrnehmungsgeschichte Gottes spiegeln.
Ein Kanon aus den Kanons könnte
möglicherweise eine Textauswahl bieten, die von Motiven oder Themen
ausgeht, die in allen Religionen vorkommen. Sie drücken dann den
Lebensbezug des Glaubens aus. Da geht es um duale Grunderfahrungen mit
Tod und Leben, Licht und Finsternis, Gut und Böse, Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit, aber auch mit männlichem und weiblichem
Lebensverständnis. Große Themen wie Weltschöpfung und Sintflut müssen
genauso vertreten sein wie diejenigen Erzählungen, die in den Religionen
jeweils als Heilsgeschichte verstanden werden. Ebenso müssen die großen
Regeln für das Zusammenleben der Menschen und Völker in diesen
interreligiösen Kanon hinein, und natürlich Gebete aus den
unterschiedlichsten Lebenssituationen, die vermitteln, was als Heil und
was als Unheil verstanden wird, was als Glück und was als Unglück gilt.
Die Festkalender der einzelnen
Religionen und die Grundstruktur der Feste, das Zusammenspiel von
offiziellem Kult und häuslichen Feiern, Praxen der Meditation und
Askese, Riten an den großen Lebensstationen Geburt, Initiation, Heirat,
Tod müssen die Textauswahl ergänzen. Denn bei solchen Anlässen werden in
der Regel Abschnitte aus den heiligen Schriften gelesen. Und weil es in
allem um den Lebensbezug des Glaubens geht, müssen auch zentrale
Rechtstexte dokumentiert werden.
Alle Kanontypen müssen mit
sorgfältigen Registern und Glossaren versehen sein und Kommentare
enthalten, die Auswahl und Art der Präsentation erklären. Dabei geht es
nicht um eine nivellierende Textharmonie, sondern darum,
Übereinstimmungen, Abhängigkeiten und Unterschiede deutlich werden zu
lassen. Ganz besonders wichtig ist, den Lesern und Leserinnen zu
vermitteln, aus welchen kulturgeschichtlichen Phasen einzelne Texte
stammen. Erst von solchen Hintergründen her lassen sich ja viele
Überlieferungen wirklich verstehen.
Ein Kanon aus den Kanons kann und
soll auch in den Gottesdiensten benutzt werden können. Nur so können
Brücken zu anderen Religionen gebaut, nur so kann vermittelt werden,
dass alle Wahrnehmungen Gottes in die eine universale
Wahrnehmungsgeschichte Gottes gehören. Weil damit die Basis von Toleranz
nicht nur, sondern auch von wirklichem Verständnis geschaffen werden
kann, hätte ein solcher Kanon aber auch in einem staatlichen
Religionsunterricht seinen natürlich Platz, in dem es darum geht, die
Religionen zu verstehen, die in Europa nebeneinander leben.
Niemand kann einen solchen Plan
allein realisieren. Darum suche ich Partnerinnen und Partner, die daran
– teils durch Fachkenntnisse, teils durch finanzielle Hilfe – mitwirken
wollen und können.
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