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Notwendige Abschiede auf dem Weg der Religionen in eine gemeinsame Herkunft

Von Klaus-Peter Jörns

Vortrag bei der Tagung "Juden Christen Muslime – Wie aufgeklärt, human, plural können monotheistische Religionen sein?" in der Ev. Akademie Tutzing vom 7.-9. April 2006, gehalten am 9.4.2006.  (Copyright und Literatur beim Verfasser - mailto:K-PJoerns@t-online.de Homepage http://www.klaus-peter-joerns.de)

Buch: Klaus-Peter Jörns "Notwendige Abschiede - Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum" Gütersloher Verlagshaus (Sept.) 2004. Dritte Auflage (Juli) 2006, 416 Seiten ISBN 3-579-06408-8, Geb. € 24,95 [D] / € 23,60 [A] / SFr 41,20

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Inhalt

Einleitung

1. Das kulturelle und das religiöse Gedächtnis der Menschheit hängen zusammen und müssen zusammen erforscht werden

2. Ererbte Probleme aus der Geschichte der Religionen und Vorschläge zu ihrer Lösung

3. Notwendige Abschiede von einigen dem Leben nicht dienlichen Glaubensvorstellungen

4. Eine heilsame Utopie und ein Weg zu ihrer Realisierung

Einleitung

Klaus-Peter JörnsNein, das Thema ist nicht verdruckt. Es geht um eine Denkbewegung, die eine gegenüber unserer Gegenwart veränderte Zukunft der Religionen auf dem Weg über die kritische Erinnerung einer gemeinsamen Herkunft eben dieser Religionen zu ereichen sucht. Ich unterstelle also, dass die uns aus der Vergangenheit und Gegenwart bekannte Situation nicht gut zu ertragen ist, insofern die Religionen, von denen wir reden, sich auf unterschiedlichste Weise und mit unterschiedlichsten Folgen immer wieder auch mit Gewalt bekämpft haben und mitschuldig sind an der auch im 21. Jahrhundert immer noch geübten Rechtfertigung von tödlicher Gewalt. Da es um eine bessere Zukunft geht, und da wir andererseits aber die Nähe zur Gewalt, die alle drei Religionen in ihren heiligen Schriften und im Verlauf der Geschichte mal als Täter, mal als Opfer, gezeigt haben, nicht ausblenden dürfen, wähle ich die etwas ungewöhnliche Denkbewegung zurück, um nach vorne zu kommen. Sie folgt nicht zuerst der Tatsache, dass Juden, Christen und Muslime zu den abrahamitischen Religionen gehören, sondern dem wunderbar knappen Satz von Odo Marquard: „Zukunft braucht Herkunft“, wie er ihn in seinem Aufsatzband „Abschied vom Prinzipiellen“ formuliert hat. Das heißt, ich werde über den Juden, Christen und Muslime verbindenden Fixpunkt Abraham hinaus zurückfragen, um jene gemeinsame Herkunft der Religionen zu beschreiben.

Im ersten Abschnitt werde ich auf den Zusammenhang von Religion und Kultur zu sprechen kommen, denn Religion gibt es nicht ohne Kultur. Weil wir in einer Zeit leben, in der sich die Kulturen, mehr als bisher gekannt, zu mischen beginnen, müssen auch die Probleme im Umgang der Religionen miteinander entschiedener als bisher in Angriff genommen werden – und zwar von den Religionen selbst. Die Lösung dieser Probleme sehe ich als den noch ausstehenden Beitrag der Religionen zum Frieden in der Welt an. Mit Albert Schweitzer gesprochen, geht es um mehr Ehrfurcht vor dem Leben, vor der Schöpfung Gottes. Gerade an ihr haben es die Religionen, vor allem durch ihre Jenseitsorientierung und durch ihren Anthropozentrismus, lange fehlen lassen.

Im zweiten Abschnitt komme ich auf die Gründe zu sprechen, die einer gemeinsamen Lösung dieser Zukunftsaufgabe bisher im Wege stehen. Primär geht es dabei um Rückwirkungen, die von einem nicht konsequent gedachten Monotheismus ausgehen. Mein Lösungsvorschlag nimmt das Thema meines Vortrages auf und spricht eine für die Lösung der Probleme hilfreiche gemeinsame Herkunft aller Religionen an. 

Im dritten Abschnitt nenne ich einige Glaubensvorstellungen, von denen wir uns um unserer Verantwortung für das Leben auf dieser Erde willen verabschieden sollten. Im vierten und letzten Abschnitt spreche ich eine realisierbare Utopie an, für die ich Partner suche.

Inhaltsverzeichnis


1 Das kulturelle und das religiöse Gedächtnis der Menschheit hängen zusammen und müssen zusammen erforscht werden.

Die Theorie vom „kulturellen Gedächtnis“ ist in aller Munde. Die Funktion dieses kulturellen Gedächtnisses zeigt sich in der Kraft, die Traditionen im Rahmen abgrenzbarer Kulturbereiche entfalten: sie prägen den Werte-, Rechts- und Bildungskanon, die Typologie der gesellschaftlich relevanten Institutionen und stehen nicht zuletzt auch mit den religiösen Traditionen in einem innigen Verhältnis. Denn das kulturelle Gedächtnis verbindet Kultur und Religion. Deshalb hat Jan Assmann inzwischen seine eigene Theorie vom kulturellen Gedächtnis weitgehend gleichgesetzt mit jenem Phänomen, das Thomas Luckmann als „die unsichtbare Religion“ beschrieben hatte. Für uns wichtig ist dabei allerdings, dass die in einer modernen, also kulturell offenen Gesellschaft aktiven Religionsgemeinschaften nur dann Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis haben, wenn sie sich an der kulturellen Kommunikation in der Gesellschaft beteiligen, in der sie leben. In dieser öffentlichen kulturellen Kommunikation entsteht so etwas wie ein – geschichtlich gesehen – Kurzzeitgedächtnis, das man auch das kommunikative Gedächtnis nennt. Auf dem Weg über das kommunikative Gedächtnis wird das kulturelle Gedächtnis – das man dann als Langzeitgedächtnis verstehen kann – in der jeweils aktuellen sozialen Situation erinnert und an die Bedürfnisse der Gegenwart angepasst. Denn das kulturelle Gedächtnis ist keine festbleibende Größe wie die Kanons heiliger Schriften, sondern geschichtlichem Wandel unterworfen. Das heißt: die gespeicherten Erfahrungen und Bedeutungen werden durch die kulturelle Kommunikation im Verlauf der Geschichte de facto ständig überschrieben. Die Hirnforschung stellt zu diesen religionssoziologischen und kulturwissenschaftlichen Theorien inzwischen überraschende Forschungsergebnisse hinzu, die zeigen, dass dieser Prozess des Überschreibens auch eine neuronal nachweisbare Seite hat.

Die öffentliche Kommunikation, an der gläubige und nicht gläubige Menschen teilnehmen, stellt also eine permanente ungesteuerte Umarbeitung des kulturellen Gedächtnisses dar, gegen die sich keine Institution, auch keine Religion, wehren kann. Dadurch kommt es, dass sich das kulturelle Gedächtnis bzw. dass sich die unsichtbare, ungeschriebene Religion der Menschen immer weiter von den kulturellen Standards entfernt, die in den heiligen Schriften, aus fernen Vergangenheiten stammend, literarisch konserviert werden. Wissenschaftliche Theologie und die regelmäßige Auslegung der heiligen Schriften in den Religionsgemeinschaften stellen nun ebenfalls eine permanente Arbeit am kulturellen Gedächtnis dar, obwohl es in ihnen primär um den jeweiligen Kanon der eigenen heiligen Schrift geht. Dabei handelt es sich nun aber um gesteuerte Arbeit, die auf Selbsterhalt aus ist. Dass es dabei auch um Arbeit am kulturellen Gedächtnis geht, hängt damit zusammen, dass die heutige Auslegung der heiligen Schriften nur gelingen kann, wenn sie die Menschen in ihren konkreten Lebensbezügen erreicht. Anders formuliert: Der Glaube war immer kulturkohärent und er wird immer kulturkohärent sein, um verstanden zu werden. Das heißt nicht, dass der Glaube sich prinzipiell der jeweils herrschenden Kultur unterworfen hätte oder heute unterwerfen müsste. Und es heißt auch nicht, dass wir Heutigen uns den kulturellen Standards des Abraham’schen Wüstenclans unterwerfen müssten, um Christen sein zu können. Beides ist mit dem Grundsatz der kulturellen Kohärenz nicht gemeint. Gemeint ist: Der Glaube muß dieselbe Sprache sprechen, die die Menschen sprechen und verstehen. Denn nirgends ist das kulturelle Gedächtnis so präsent wie in der Bedeutung der Wörter. Die Sprachen sind Trägerinnen des kulturellen Gedächtnisses. Einfluss auf eine Kultur nimmt eine Religion deshalb nur, wenn sie die Bedeutung der von den Menschen gesprochenen Wörter kennt. Denn nur dann kann sie hoffen, dass von den alten Gotteserfahrungen Einfluss auf die heute gesprochene Sprache und das mit ihr verbundene Denken und Handeln ausgeht.

Diese Einsicht ist der Grund dafür gewesen, dass heilige Schriften in die großen und kleinen Sprachen der Welt übersetzt worden sind – und nicht zuletzt dafür, dass die auf den Aramäisch sprechenden Jesus zurückgehenden christlichen Schriften von Anfang an in der griechischen Weltsprache Koiné und nicht auf Aramäisch verfasst worden sind. Das Ereignis Pfingsten redet – das ist meine These – diesseits der mythischen Sprache davon, dass der christliche Glaube durch den Übergang ins Griechische zu einer – damals – weltweiten religiösen Kommunikation des Evangeliums geführt hat.

Das Thema Sprache(n) stellt ein besonderes Kapitel bei den drei abrahamitischen Religionen dar. Denn die Christen sind mit der Wahl der damaligen Weltsprache Griechisch für ihren Kanon wesentlich weiter gegangen als die Juden, die den hebräischen Tenach zwar ins Griechische übersetzt haben. Aber die Juden haben als Liturgiesprache das Hebräische immer behalten, auch wenn sie im Alltag eine andere Sprache sprechen. Ein aramäisches Neues Testament aber hat es nie gegeben, das Griechische ist, gemessen an Jesu Muttersprache, das nichtmuttersprachliche Original geworden. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass das Arabische des Korans nicht nur Liturgiesprache, sondern auch die offizielle Sprache der arabischen Welt geworden und geblieben ist. Das Wort bemerkenswert schließt für mich aber auch eine Frage ein: die Frage nämlich, wie lange eine Sprache auf einem einmal festgeschriebenen Niveau festgehalten werden kann, ohne sich von dem Fluss der Kommunikation in anderen Sprachen und Kulturen abzukoppeln, die solche Festschreibung nicht kennen? Bekanntlich ist die Türkei an diesem Punkt einen anderen Weg gegangen, weil sie den Kontakt zur westlichen Zivilisation herstellen wollte.

Die Einsicht, dass Kultur und Religion zusammengehören, schließt ein, dass Arbeit am kulturellen Gedächtnis immer auch Arbeit am religiösen Gedächtnis der Menschheit darstellt. Unter dem religiösen Gedächtnis der Menschheit verstehe ich die Summe der erinnerbaren religiösen Überlieferungen aus allen Religionen. Die bewusste historisch-kritische Arbeit der Religionsgemeinschaften an ihren heiligen Schriften ist ein bedeutender Teil Kulturarbeit, und sie wird ergänzt durch den künstlerischen Umgang mit den alten Texten: Nicht zuletzt deswegen entdecken zurzeit auch die Bühnen wieder vermehrt religiöse Stoffe. Denn diese Arbeit am religiösen Gedächtnis hilft zu erkennen, warum die Geschichte so verlaufen ist, wie wir sie kennen, ja speziell, welche überlieferten Vorstellungen – im Guten wie im Bösen – hinter dem Verlauf der Geschichte als dominante Kräfte gestanden haben. Lange ist diese Arbeit als kritische Arbeit auch bei den Christen prinzipiell verweigert worden. Inzwischen ist die historische Kritik in beiden großen Konfessionen die Norm in der Theologenausbildung, und auch in einigen jüdischen Hochschulen durchaus üblich; selbst bei islamischen Koran-Wissenschaftlern kommt sie vor. Wie ergebnisoffen sie dann tatsächlich betrieben wird, ist eine andere Frage – und hängt davon ab, wie streng dogmatischen Normen bereits Antwortvorgaben machen.

Ich halte den Fortgang der historisch-kritischen Arbeit an den eigenen heiligen Schriften nach dem bisher Ausgeführten für eine zwangsläufig sich vollziehende Entwicklung, weil Religion nicht ohne Kultur und Kultur nicht ohne Religion und Geschichte insgesamt nicht ohne Kultur und Religion zusammen erforscht und verstanden werden können. Weil das so ist, haben die Religionsgemeinschaften nun allerdings nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht dazu, das religiöse Gedächtnis der Menschheit einer historischen Kritik zu unterziehen, und zwar jeweils beginnend beim eigenen Kanon. Denn nur so können bestimmte Probleme gelöst werden, die uns die Geschichte der Religionen vererbt hat und an denen wir immer noch leiden, weil sie Quellen des Unfriedens sind. Viele dieser Probleme hängen damit zusammen, dass überlieferte Glaubensvorstellungen durch ihre Kanonisierung in den heiligen Schriften in kulturellen Standards verankert sind, die wir kulturgeschichtlich längst hinter uns gelassen haben. Die so erzeugte Diskrepanz ist also letztlich die zwischen einer bei der Entstehung der heiligen Schriften wirksam gewesenen kulturellen Kohärenz und der heute notwendigen kulturellen Kohärenz bzw. dem heute notwendigen Lebensbezug des Glaubens. Ich vertrete dazu die These, dass diese Diskrepanz nicht mehr durch eine veränderte Auslegung allein überwunden werden kann, sondern notwendige Abschiede von überlieferten Glaubensvorstellungen erfordert.

Inhaltsverzeichnis


2 Ererbte Probleme aus der Geschichte der Religionen und Vorschläge zu ihrer Lösung.

2.1 Die verfeindeten inkonsequenten Monotheismen versperren den Blick auf die universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes.

Die drei bei dieser Tagung vertretenen Religionen eint, dass sie nach ihrem Selbstverständnis monotheistische Religionen sind. Entsprechend haben sie auch die uns bekannte Welt als Horizont im Blick; denn der Eine Gott ist für alle auch der Schöpfer der Welt. Nun ist es auf der anderen Seite aber eine Realität, dass der Monotheismus sehr unterschiedlich verstanden worden ist und wird. Wie stark die Unterschiede sind, belegt die Tatsache, dass Juden und Muslime den Christen vorwerfen, wegen der trinitarischen Gottesvorstellung keine wirklichen Monotheisten zu sein. Wir leben in einer gespaltenen Situation: Wir glauben alle nominell an die Einheit und Einzigkeit Gottes, aber wir leben in Religionen, deren Gottesvorstellungen auf der personalen Ebene nicht deckungsgleich sind, ja, sich auszuschließen scheinen. Jahwe bzw. Adonia soll nicht Allah sein, und keiner von beiden soll identisch sein mit dem trinitarischen Gott der Christen. Vor allem die Tatsache, dass der Mensch Jesus in diese Trinität aufgenommen worden ist, sprengt die Toleranzbereitschaft der anderen beiden Religionen.

Nun wäre dies ein Thema allein für theologische Spezialisten, wenn an ihm nicht eine Geschichte schrecklicher Auseinandersetzungen, ja, Kriege, Verfolgungen und Qualen hinge, die die einen von den anderen, und oft genug wechselseitig, haben erdulden müssen – und zwar jeweils angeblich in Gottes Namen. Dass es so hat kommen können, hängt wiederum mit dem Zusammenspiel von Religion und Kultur zusammen. Denn durch dieses Zusammenspiel haben sich bestimmte Glaubenvorstellungen – vor allem die Idee, vor den anderen von Gott erwählt zu sein - immer wieder als Saat ausgewirkt, aus der Hass und Krieg auch zwischen Völkern entstanden ist. Die mustergültige Intoleranz monotheistischer Religionen, die sie alle in ihrer Geschichte bewiesen und zum Teil geradezu gefeiert haben, ist dabei im Grunde nicht aus dem Glauben entstanden, dass es nur einen Gott gibt. Wären sich die abrahamitischen Religionen darin wirklich und konsequent einig, dass Gott nur einer sein kann und ist, hätten sie keinen Hochmut und keinen Haß auf die anderen verbreitet. Es liegt nicht am Monotheismus schlechthin. Sondern das Muster, nach dem über endlose Zeiten hin Juden, Christen und Muslime gegeneinander und gegenüber so genannten „Heiden“ vorgegangen sind, ist – um einmal einen neuen Begriff einzuführen – ein Monoheméterotheismus. Auf Deutsch heißt dieses Wort: Man glaubt, dass der eigene Gott, dass jeweils unser Gott, der einzige ist. Oder: Allein unser Gott ist Gott, oder: Der einzige Gott ist unser Gott. Es ist also ein Glaube, der Monotheismus und die Urform des Ethnozentrismus miteinander verschmilzt. Denn der Ethnozentrismus sieht stets das Eigene als das Eigentliche, Wahre, Gemeinte an. Deshalb verbindet sich die Vorstellung, erwählt zu sein, auch gerne mit der Verwerfung der Nichterwählten.

Dass dieses Problem von allergrößter Bedeutung ist, betrifft nicht nur das Verhältnis der abrahamitischen Religionen untereinander – zumal die Erwählungsvorstellung bereits aus dem Alten Ägypten stammt. Sondern die Religionen haben in der Geschichte mit dieser Verbindung aus Monotheismus und Ethnozentrismus ein Denk- und Handlungsmuster etabliert, das die Religionsfreiheit oft genug auch heute noch selbst da behindert, wo sie auf dem Papier gewährt wird – nämlich durch den Fremdenhass und durch verweigerte Integration. Gelöst werden kann das Basis-Problem, dass der Monotheismus durch den Ethnozentrismus verfälscht worden ist, nur, wenn die Religionen den Glauben an die Einheit und Einzigkeit Gottes endlich ernst nehmen und jede für sich darüber Auskunft geben werden, was die Vielfalt der Religionen und ihrer Konfessionen mit dem Einen Gott zu tun hat, an den sie formal glauben. Die Antwort kann dann natürlich nicht mehr im Ausdruck des Bedauerns bestehen, dass es eine Pluralität der Religionen und Konfessionen überhaupt gibt. Sondern sie muss so mit Gott verbunden werden, dass die angesprochene Vielfalt und Vielzahl eine dem Glauben an die Einheit Gottheit angemessene positive Bedeutung erhält. Nur so wird nach meinem Verständnis die Gottheit Gottes ernst genommen werden. Denn zu ihr passt es einfach nicht, zu sagen, die Vielfalt der Religionen und ihre geschichtlichen Einflüsse aufeinander sei von Gott nicht gewollt. Er stünde als der Blinde und Ohnmächtige in der Geschichte da. Zu sagen, Gott hätte die Diversifizierung der Religionen nicht gewollt, könnte man logischerweise überhaupt nur dann ernsthaft erwägen, wenn die monotheistischen Religionen zuerst in der Geschichte dagewesen wären. Das Gegenteil aber ist der Fall.

Alle monotheistischen Religionen sind, von der altägyptischen angefangen, auf dem Boden polytheistischer Vorgängerreligionen entstanden. Alle drei Religionen nehmen Überlieferungen auf, die schon weit vor den jüdischen Überlieferungen entstanden sind. Die Prägekraft der altägyptischen Religion vor allem ist hier zu nennen. Manfred Görg hat sie in überzeugender Weise bis ins christliche Glaubensbekenntnis hinein nachweisen können. Für mich gilt das auch für die Urform des Monotheismus, wie sie Amenophis IV. Echnaton im 14. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten eingeführt hat und wie sie – folgt man Siegmund Freud und Jan Assmann – auf dem Weg über Israel ins Christentum und auf dem Weg über die Bibel schließlich auch in den Islam gekommen und mehrfach modifiziert worden ist. Glaube, und dazu gehören nun einmal die theologisch reflektierten Glaubensvorstellungen, Glaube hat Geschichte. Religionsgeschichte ist eine Geschichte der permanenten Erinnerung von Geschichten, und im Prozess jeder Erinnerung werden die überlieferten Geschichten verändert, umgeschrieben. Wie wir damit umgehen, können wir den heiligen Schriften selbst nicht entnehmen, weil sie auf die Geschlossenheit des eigenen Kanons aus sind und allesamt Sicherungen eingebaut haben, die ihre Kanons vor Veränderungen schützen sollten. Doch gegen die Veränderungen des Lebens gibt es keinen Schutz, zumal wir glauben, dass dieser Eine und Einzige Gott in jeder Gegenwart gegenwärtig ist. Deshalb, glaube ich, ist Gott und bleibt Gott auch Herr über die heiligen Schriften, konkret: Er ist ihnen voraus. Wenn das so ist, dürfen sie nicht nur zur jeweiligen Vorvergangenheit hin offen sein, sondern die heiligen Schriften müssen auch den Gotteserfahrungen der Zukunft geöffnet werden.

Nach der Antwort auf die Frage zu suchen, was die Vielfalt der Religionen positiv mit dem Einen Gott zu tun hat, halte ich für eine unabweisbare Aufgabe, die sich uns stellt. Sie ist der erste und grundlegende Teil der Arbeit am religiösen Gedächtnis der Menschheit, der uns aufgegeben ist. Wenn die Religionen sich ihr weiterhin verweigern, weichen sie angesichts der für sie allesamt beschämenden Geschichte ihrer Verantwortung für den Frieden und den Schutz des Lebens aus. Dann wird sich auch die Religionsfreiheit nicht weiter entwickeln können. Denn dazu bedarf es eines neuen Bewusstseins der Gläubigen: des Bewusstseins, trotz aller Unterschiede, die es zwischen den Religionen gibt, im Glauben an die Einheit und Einzigkeit Gottes zusammenzugehören.

Ich fühle mich schuldig, Ihnen eine Antwort auf die von mir gestellte Frage zu geben. Sie lautet folgendermaßen: Alle Religionen bezeugen Begegnungen mit Gott, und zwar von den archaischen Religionen angefangen. In ihren Zeugnissen sind die Menschen, die diese Gotteserfahrungen gemacht und weitergegeben haben, aber immer mit enthalten, weil ihr Glaube und ihre Kultur nicht voneinander unabhängig, sondern eng miteinander verbunden gewachsen sind. Die Menschen haben mit dem, was ihnen von Gott entgegengekommen ist und was sie von ihm wahrgenommen haben, also zwangsläufig immer jene Vorstellungen und Bilder verbunden, die sie vorher schon als kulturelles Erbe in sich hatten. Ich nenne ein Beispiel aus meinem Glauben: Ich sehe in Jesus, wie ihn die Evangelisten zusammen genommen schildern, vor allem folgende Einflüsse wirksam: die aus Ägypten kommende Vorstellung vom Gottessohn, die jüdischen Vorstellungen vom Messias und vom Rabbi, und den zeitgleich wirksamen Glauben an den ersten therapeutischen Gott Asklepios im hellenistischen Bereich; denn von ihm hat Jesus den Titel des Soter, des Heilandes, geerbt. Was hier in der Jesusgestalt zusammengeflossen ist, soll exemplarisch meine Grundthese belegen. Sie lautet: Alle Religionen gehören als unterschiedliche Gedächtnisspuren von Gotteserfahrungen hinein in eine universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes. Für den, der dies glaubt, werden aus Religionen unterschiedliche Konfessionen des Glaubens an Gott.

„Zukunft braucht Herkunft“. Ein Teil unserer gemeinsamen Herkunft ist Jesus, ist Mose, ist Abraham. Aber diese Gestalten haben in sich auch schon viele Geschichten aus der universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes gebündelt. Ebenso können wir hinter den biblischen Schöpfungs- und Sintfluterzählungen mesopotamische Vorbilder finden, die von den Juden theologisch überarbeitet worden sind. Die Gottesmutter Maria ist die christliche Variante der ägyptischen Gottesmutter Isis, und das göttliche Kind ist der christlich umgestaltete ägyptische Kindgott und Gottessohn Horus. Es sind immer wieder erzählte und erzählend erinnerte Gedächtnisspuren, die wir finden können. Wo sie von einer Religion zur anderen hinübergewandert sind, sind sie umgeschrieben worden, je nachdem, wie die theologischen Prämissen es verlangt haben – einfacher gesagt: so, wie man sich den Verlauf der Geschichten vorstellen konnte. Bestes Beispiel dafür ist, wie die Leidensgeschichte Jesu im Koran umgeschrieben worden ist: Für den Koran ist es unvorstellbar gewesen, dass Jesus als Mann Gottes hingerichtet worden ist. Also ist er nicht hingerichtet worden, sondern allenfalls ein anderer an seiner Stelle.

Meine These von der universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes, in die die einzelnen Religionen als differente Gedächtnisspuren hineingehören, die sich gegenseitig beeinflusst, überlagert und verdrängt haben, besagt am Ende eins: Die Herkunft aller Religionen ist der Eine Gott selbst. Ihm hat es gefallen, sich in der ungeheuren Vielfalt, in der das Leben in Kulturen und Religionen Gestalt angenommen hat, von den Menschen wahrnehmen zu lassen. Die differenten Gottesvorstellungen sind dann – um mit Viktor von Weizsäcker zu formulieren – unterschiedliche Wahrnehmungsgestalten Gottes. Als solche sind sie auch Originale. Aber das Licht, das von ihnen ausgeht, ist Gottes Licht. Er allein ist die Wahrheit, darum ist Wahrheit weder jüdisch noch christlich noch muslimisch. Was wir in heiligen Schriften kennen, ist die Brechung der Wahrheit Gottes in kulturellen Wahrnehmungsgestalten. Dem müssen die Religionen selbstkritisch Rechnung tragen – weil sie sich bisher in ihren Ansprüchen auf die Wahrheit jeweils selbst absolut gesetzt haben.

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2.2 Das Beharren der einzelnen Religionen darauf, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein, versperrt den Blick auf die authentischen Erfahrungen Gottes.

Die Antwort auf die Frage, was wahr ist, kann nicht mehr dadurch beantwortet werden, dass die eigene Religion oder Konfession, in die hinein wir geboren und erzogen worden sind, zum selbstverständlichen Leitkriterium (a priori) für Wahrheit und somit zur Richterin über die anderen erhoben wird. Dieses Denkmodell folgt, auch in christlicher Variation, dem Ethnozentrismus in Reinkultur und ist für mich unglaubwürdig. Religiöse Wahrheit muss auf einer ersten Stufe sehr viel vorsichtiger erst einmal mit authentischen Erfahrungen verbunden gedacht werden – und die gibt es in allen Religionen. Denn wahr ist im religiösen Sinn, was Menschen von Gott wahrgenommen haben. Auf allen anderen Stufen ist die Wahrheitsfrage eine Frage theologischer Reflexionen und Entscheidungen. Und die setzen bestimmte Axiome und Prämissen voraus, die meist im Dunklen bleiben, aber aufgedeckt werden müssen, wenn Theologie zwischen den Religionen kommunikabel sein soll.

Ein Lehrstück stellt für mich als Christen das Nebeneinander der vier Evangelien dar. Hier wird exemplarisch ausgedrückt, dass es kein objektiv wahres Jesus-Bild gibt, sondern eine Mehrzahl differenter Jesus-Bilder, wie sie aus den Wahrnehmungen von kulturell unterschiedlich vorgeprägten Menschen entstanden sind. Wir haben nicht das originale Jesus-Bild in der Bibel, sondern mehrere unterschiedliche, in sich aber authentische Wahrnehmungsgestalten Jesu. Dazu passt für mich sehr gut, dass der Dekalog und der Koran keine bildlichen Darstellungen wollen. Ich sehe darin nicht ein Verbot von Vorstellungen, die sich uns Menschen ja unweigerlich durch die Erinnerung von menschlichen und tierischen Gestalten, Pflanzen und anderen Formen, aufdrängen. Sondern ich sehe darin das Gebot, die Freiheit des Denkens und Assoziierens nicht durch die Fixierung auf bestimmte, musterartige, also quasi objektive und also normierende Bilder, einzuschränken.

In diesem Zusammenhang ist es angebracht, noch ein Wort zum Stichwort Offenbarung zu sagen. Auch das, was inmitten der religiösen Überlieferungen Offenbarung genannt wird, hat diese Dignität nicht aus sich selbst, sondern durch eine theologische Qualifizierung (die gleichzeitig für andere Überlieferungen zur Disqualifizierung wird). Wir müssen also die beanspruchte Reichweite so genannter Offenbarungswahrheiten zurückschrauben auf das unter den jeweiligen Bedingungen Wahrgenommene und später Reflektierte. Gott können wir nicht als Garanten für die absolute Gültigkeit unserer eigenen theologischen Aussagen heranziehen. Gott hat nichts geschrieben. Er stellt vielmehr durch die Weite und Fülle der universalen Wahrnehmungsgeschichte alle Dogmatik, die absolute Aussagen macht, in Frage.

Von diesem Ansatz her sehe ich auch eine Möglichkeit, die differenten Gottesvorstellungen der Religionen im Rahmen der universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes nebeneinander stehen zu lassen. Wir müssen ihnen nicht von dem partikularen Standpunkt einer der Religionen aus Gewalt antun und erwarten, dass sie zugunsten unserer Gottesvorstellungen aufgegeben werden. Im Weg aufeinander zu würde ich damit beginnen, dass wir uns gegenseitig unsere religiösen Überlieferungen erzählend vorstellen und uns sagen, was wir an ihnen wichtig, schön und ergreifend finden, was uns trägt – im Leben wie im Sterben. Am Anfang muss, wenn wir dem Glauben folgen, dass alle Religionen ihre Herkunft aus Gott selbst haben, das Erzählen von alten und gegenwärtigen Gotteserfahrungen geschehen. Wahr ist dabei, was sich als wahr erweist. Wahrheit ist, wo es um Leben und Sterben geht, immer Wegwahrheit und keine Satzwahrheit.

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3 Notwendige Abschiede von einigen dem Leben nicht dienlichen Glaubensvorstellungen.

Ich formuliere nun in Form von Thesen, von welchen Glaubensvorstellungen wir uns in den abrahamitischen Religionen verabschieden sollten, wenn wir es ernst meinen mit dem Glauben, dass Gott Einer und ein Einziger ist. In ihm haben alle Religionen ihre gemeinsame Herkunft. Von dieser Herkunft her können sie auch eine gemeinsame Zukunft haben, ohne sich selbst aufgeben oder unterordnen zu müssen.

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3.1 Alle drei Religionen sind wirkliche Religionen.

Keine von ihnen kann eine Sonderstellung vor Gott beanspruchen, auch wenn sie in ihren Schriften entsprechende Selbstbezeichnungen bzw. Selbstverständnisse kennen: „von Gott erwählt“, „unser Gott ist der lebendige Gott“ etc. Gerade die genannten sind bereits in vorbiblischen religiösen Texten zu finden. Entscheidend ist, dass alle in die eine universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes hineingehören. Das heißt konkret: Es ist nicht zu verantworten, Judentum, Christentum und Islam – etwa wegen des Vorkommens der Abrahamgestalt in ihren Kanons – nun ihrerseits einen gemeinsamen qualitativen Vorsprung vor dem Buddhismus und anderen Religionen zusprechen zu wollen. Das würde nur zu einer neuen Form von Einschränkung des Monotheismus führen. Wir werden aber lernen müssen, dass auch Glaubensformen, die keine personal gedachte Gottesvorstellung kennen oder wollen, dennoch hineingehören in die eine Wahrnehmungsgeschichte Gottes.

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3.2 Keine heilige Schrift ist Offenbarung in dem Sinn, dass sie unabhängig von menschlicher Wahrnehmung und zeitbedingten kulturellen Einflüssen zustande gekommen wäre. 

Deshalb gilt für mich, dass auch kein einzelner Kanon die ganze Wahrnehmungsgeschichte Gottes fasst. Wollen wir Gott in seiner Weite und Größe die Ehre geben, müssen wir uns daran machen, seine Spuren in allen Religionen und im Kosmos zu finden und ernst zu nehmen. Deshalb müssen wir auch das, was die Naturwissenschaften von der nach unserem Glauben von Gott geschaffenen Welt erkennen, mit unserem Glauben verbinden. Dass sich heute so viele Menschen von den Kirchen abwenden oder nicht mehr an Gott interessiert sind, hat damit zu tun, dass wir Theologen die Wirklichkeit aufgespalten haben in die unverbundenen Bereiche Gott und Welt – und dies, obwohl vor allem die Lehre von der Fleischwerdung Gottes (Inkarnation) in Jesus doch deutlich machen, dass Gott und Menschen trotz aller kategorialen Unterschiedenheit zu einer gemeinsamen Wirklichkeit gehören.


3.3 Die heiligen Schriften der Religionen sind kulturkohärente Gedächtnisspuren innerhalb der einen universalen Wahrnehmungsgeschichte Gottes. 

Für den Glauben heute wegweisend sind sie nur in der Zusammenschau mit den Überlieferungen anderer Religionen. Wahr sind sie, wenn sie sich im Leben und Sterben der Menschen als wahr erweisen.

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3.4 Glaubenswahrheit wird nicht dadurch gültig, dass ein Mensch in eine Religion hineingeboren wird. 

Die bisherige Praxis bedeutet in gewisser Weise eine Vereinnahmung unmündiger Menschen für eine bestimmte Religion. Menschen müssen – und werden in Zukunft – das Recht haben, die ihrer eigenen Spiritualität entsprechende Religion zu wählen. Das setzt voraus, dass die kulturbedingten Anteile an den Religionen konvertierbar und das heißt: vom Gottesglauben selbst unterschieden werden.

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3.5 Monotheismus und Ethnozentrismus müssen auf allen Ebenen, von der öffentlichen bis zur privaten Frömmigkeit, strikt voneinander getrennt werden.

Denn böse Kinder des Ethnozentrismus sind, wie die Geschichte zeigt, immer wieder: die Verweigerung des Lebensrechts, der Rassismus und der Fremdenhass, und in allem die Instrumentalisierung Gottes für eigene, auch und gerade politische, Ziele.

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3.6 Die monotheistischen Religionen müssen darin ihren Gottesglauben ernstnehmen, dass Gott auch der Schöpfer unserer Mitgeschöpfe ist.

An der von Albert Schweitzer geforderten Ehrfurcht vor dem Leben haben es die abrahamitischen Religionen vor allem dadurch fehlen lassen, dass sie anthropozentrisch denken und die Würde der Tiere nur sehr bedingt achten. Ich halte es für dringend an der Zeit, dass die Zeit der Tieropfer in den Religionen zu Ende geht – und dazu gehört für mich auch das Schlachten der Osterlämmer bei den Christen.

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3.7 Jede Form der Heiligung von tödlicher Gewalt bindet Gott in das archaische System von Gewalt und Gegengewalt ein.

Darum müssen wir uns von Opfervorstellungen verabschieden, in welcher Form sie auch immer auftreten. Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen schließt für mich aus, dass er aus einer Gewalttat wie der Kreuzigung Jesu habe Heil schaffen wollen. Das Festhalten am Sühnopfertod Jesu und einem damit verbundenen Abendmahlsverständnis heiligt bewusst oder unbewusst alltäglich die Instrumentalisierung von tödlicher Gewalt. Davon müssen wir Abschied nehmen.

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3.8 Dass wir (Christen) das zustande bringen, setzt voraus, dass wir uns entschlossen auch von der Idee trennen, unsere Sterblichkeit sei Strafe für Ungehorsam gegen Gott.

Alle Geschöpfe sind, wie die Erde selbst, von Anfang an sterblich geschaffen. Und ohne Sünde. Nur wenn wir dies akzeptieren, können wir etwas dagegen tun, dass der Tod so systematisch verdrängt wird, wie es bei uns geschieht, aber auch dagegen, dass wir weiterhin aus dem Tod eines Unschuldigen Erlösung für uns suchen. Wer Gottes unbedingter Liebe glaubt, braucht keine Erlösung, ist ja erlöst von den alten Formen Angst machender Religion.

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3.9 Wir müssen nicht nur aus den heiligen Schriften, sondern auch aus der Geschichte lernen. Das Kriterium, das ich aus ihr für eine kritische Arbeit am religiösen Gedächtnis der Menschheit ableite, ist das der Lebensdienlichkeit.

Die konkreten Fragen lauten: Haben die Religionen einen erkennbaren Dienst am Leben geleistet? Welche Vorstellungen in ihnen haben sich als eher lebensdienlich und welche als eher lebensfeindlich erwiesen? Welche Rolle haben dabei die Selbstbilder und die Fremdbilder der Religionen gespielt? Die Antworten auf diese Fragen müssen die Religionen untereinander und auch im Hören auf Religionsfremde finden. Denn keine Religion lebt allein auf der Erde. 

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4 Eine heilsame Utopie und ein Weg zu ihrer Realisierung. 

Zum Schluss komme ich noch auf meinen frommen Wunsch zu sprechen, einen Kanon aus den Kanons der Religionen zusammenzustellen.

Ich wünsche mir, dass Menschen aus unterschiedlichen Religionen sich zusammenfinden mögen, um einen Kanon aus den Kanons zusammenzustellen. Ich finde, [es ist dringlich, mit einem solchen Projekt innerhalb der Arbeit am religiösen Gedächtnis der Menschheit jetzt zu beginnen, wo Angehörige unterschiedlicher Religionen und Kulturen immer näher zusammenrücken. Im "Himmel" brauchen wir keine Bibel oder andere Kanons mehr. Aber] jetzt muss ein solcher Kanon dazu helfen, dass die Angehörigen der unterschiedlichen Religionen die Grundlagen der anderen Religionen von Primärtexten her kennen lernen. Nur so können sie auch Anteil gewinnen an den Schätzen, die die anderen Religionen aufbewahrt haben. Und nur so können sie auch die eigene Religion in dem ungewohnten Rahmen der anderen Religionen – also wirklich neu – sehen lernen.

Mir geht es nicht um einen Kanon der Kanons. Das wäre ein völlig unüberschaubares religionsgeschichtliches Archiv, das niemandem helfen würde. Mir geht es um eine Textausgabe, die für die Hand interessierter Menschen gedacht und die von Umfang und Gestaltung her auch lesbar ist. Sie soll ausschnitthaft dokumentieren, dass die unterschiedlichen religiösen Gedächtnisspuren, die wir kennen, die eine universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes spiegeln. 

Ein Kanon aus den Kanons könnte möglicherweise eine Textauswahl bieten, die von Motiven oder Themen ausgeht, die in allen Religionen vorkommen. Sie drücken dann den Lebensbezug des Glaubens aus. Da geht es um duale Grunderfahrungen mit Tod und Leben, Licht und Finsternis, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, aber auch mit männlichem und weiblichem Lebensverständnis. Große Themen wie Weltschöpfung und Sintflut müssen genauso vertreten sein wie diejenigen Erzählungen, die in den Religionen jeweils als Heilsgeschichte verstanden werden. Ebenso müssen die großen Regeln für das Zusammenleben der Menschen und Völker in diesen interreligiösen Kanon hinein, und natürlich Gebete aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen, die vermitteln, was als Heil und was als Unheil verstanden wird, was als Glück und was als Unglück gilt.

Die Festkalender der einzelnen Religionen und die Grundstruktur der Feste, das Zusammenspiel von offiziellem Kult und häuslichen Feiern, Praxen der Meditation und Askese, Riten an den großen Lebensstationen Geburt, Initiation, Heirat, Tod müssen die Textauswahl ergänzen. Denn bei solchen Anlässen werden in der Regel Abschnitte aus den heiligen Schriften gelesen. Und weil es in allem um den Lebensbezug des Glaubens geht, müssen auch zentrale Rechtstexte dokumentiert werden.

Alle Kanontypen müssen mit sorgfältigen Registern und Glossaren versehen sein und Kommentare enthalten, die Auswahl und Art der Präsentation erklären. Dabei geht es nicht um eine nivellierende Textharmonie, sondern darum, Übereinstimmungen, Abhängigkeiten und Unterschiede deutlich werden zu lassen. Ganz besonders wichtig ist, den Lesern und Leserinnen zu vermitteln, aus welchen kulturgeschichtlichen Phasen einzelne Texte stammen. Erst von solchen Hintergründen her lassen sich ja viele Überlieferungen wirklich verstehen.

Ein Kanon aus den Kanons kann und soll auch in den Gottesdiensten benutzt werden können. Nur so können Brücken zu anderen Religionen gebaut, nur so kann vermittelt werden, dass alle Wahrnehmungen Gottes in die eine universale Wahrnehmungsgeschichte Gottes gehören. Weil damit die Basis von Toleranz nicht nur, sondern auch von wirklichem Verständnis geschaffen werden kann, hätte ein solcher Kanon aber auch in einem staatlichen Religionsunterricht seinen natürlich Platz, in dem es darum geht, die Religionen zu verstehen, die in Europa nebeneinander leben.

Niemand kann einen solchen Plan allein realisieren. Darum suche ich Partnerinnen und Partner, die daran – teils durch Fachkenntnisse, teils durch finanzielle Hilfe – mitwirken wollen und können.

 

 

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