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Zuversicht - Wie sehen wir die Zukunft individuell und weltweit, blicken wir zuversichtlich in die Zukunft?

Inhalt

Zuversicht aus lebenswissenschaftlicher und theologischer Sicht sowie BrotZEIT

Zuversicht - Über die aktuellen politischen Entwicklungen in den Niederlanden


Zuversicht aus lebenswissenschaftlicher Sicht

Von Martin Conradi

1. Einleitung

2. Keine Erörterung ohne Begriffsbestimmung – Was ist das: "Zuversicht", und was macht sie?

2.1 Allgemeinbegrifflichkeit

2.2 Zuversicht in der Medizin-Systematik

3. Beispiele für den Gegenstand Zuversicht (Hoffnung, Optimismus) im Medizinbetrieb, im Klinik-Alltag (ohne Sozial- und Seelsorgearbeit)

3.1 Placebo

3.2 Spiegeln

3.3 Religiosität

3.4 Weiteres

4. Grund legen – Eine Grundlage schaffen

5. Allgemeine Zukunftsfähigkeit aus lebenswissenschaftlicher Sicht

Anmerkungen

1. Einleitung

Martin ConradiDie Anfrage zielte etwa darauf, was ein Arzt seinen Patienten, zumal wenn sie alternd und kränkelnd auf ihr Lebensende zugehen, Zuversichtliches bieten könne. Doch ein einfaches ärztliches Rezept für Zuversicht gibt es hier nicht. Sogar dies: Wer nicht frühzeitig Zuversicht lernte, hat’s schwerer.

Das Thema ist ein allgemeinpsychischer Begriff, und der soll hier aus lebenswissenschaftlicher Perspektive besprochen werden. Dazu gehört über die Biowissenschaften im engeren Sinne hinaus auch die Psychologie einschließlich ihrer Aktivitätsfelder.

Zum Einstieg aber erst einmal ganz kurz persönlich: Zuversicht habe ich bereits als Kind erfahren. Ich meine hier nicht das Grundvertrauen auf meine Mutter. Sondern ich erfuhr Zuversicht mit dem Fahrrad: Sah ich einen Wurzelbuckel vor mir, wusste ich - ich will den breiten freien Weg links oder rechts davon nehmen. Ich sah zum Weglenken also scharf auf den Wurzelbuckel – und fuhr dann aber doch mit dem schmalen Reifen genau über ihn. – So funktioniert auch in der Medizin Zuversicht – zum Beispiel mit Placebo: Das inhaltlose Mittel bewirkt das mit ihm anvisierte Ziel. In Pädagogik und Politik wird dies Prinzip ebenfalls angewandt. Es muss bloß erreicht werden, das Ziel zu verinnerlichen.  

2. Was ist Zuversicht, und was macht sie?

 2.1 Allgemeinbegrifflichkeit

Mein Spontanverstehen dieses Begriffs ist zunächst so:

Zuversicht ist gesteigerte Hoffnung, – ist eine feste/eine sichere Hoffnung. 

Hoffnung kann noch einen großen bangen Anteil auf Nichterfüllung in sich bergen; doch Zuversicht beinhaltet eine geglaubte Anwartschaft auf das gewünschte Ergebnis. Das Erreichen gilt als sicher, nur eben noch nicht realisiert.

Diese Begrifflichkeit war keineswegs immer so. Noch zu Luthers Zeiten bedeutete Zuversicht in der Regel einfach nur Prognose, das "Vorhersehen des Künftigen, gleich ob gut oder böse." Dann aber wurde der Begriff belegt mit der "Erwartung dessen, was man wünscht." [1] Diese Entwicklung mit selektierender Wertbelegung eines Begriffes im Sinne des subjektiv Günstigen, des Gewünschten, spiegelt schon für sich den Drang in der Menschheit wieder nach einem zu unterstellenden anthropologischen Lebensprinzip eines lebensfördernden Optimismus. Zuversicht ist also der Begriff für einen von Menschen betriebenen Vorgang und nicht nur für einen feststehenden Zusammenhang. Und sie hat auch etwas Trutziges an sich. – Fortlaufend werden Forschungsbelege dafür geliefert, dass Optimismus und spezieller also auch Zuversicht real lebensfördernd sei. Das wurde gemessen an äußeren und inneren Lebenserfolgen, z. B. in Vergleichen von Karriere-Statistik, Krankheitsanfälligkeit und Lebenserwartung.

2.2 Wie ist der Begriff "Zuversicht" in der Medizin-Systematik bestimmt?

Zuversicht ist in der Praxis bislang noch kein fester Begriff mit gesonderter medizinischer oder psychologischer Spezifik. Sie ist aber neuerdings unter dem Begriff Optimismus Gegenstand von Forschungen. Zuversicht, oder Optimismus, kommt in den Glossarien meiner Fach-Wörterbücher oder in den einbändigen Lehrbüchern der Psychologie und der Psychiatrie bis ins Jahr 1995 nicht vor außer im krankhaften Fehlen von Zuversicht als Hoffnungslosigkeit. Sie ist einmal aufgeführt als Symptom der Depression. [2] Ein zweites Mal erscheint Hoffnungslosigkeit im Psychosomatik-Handbuch im Zusammenhang mit Hilflosigkeit. [3] Nicht aber fand ich weitere Erklärung zu Verursachung oder zur Behebung von solchem Mangel an Zuversicht. Darin ist die Psychotraumatologie inzwischen weiter gekommen; doch das kann ich noch nicht berichten.

Anthropologisch-medizinisch ebenso wie sprachwissenschaftlich ist Zuversicht der Begriff eines Gefühls im Normalbereich. Der ist abzuhandeln in der Philosophie, und dort gibt es dann Knotenpunkte mit z. B. Theologie und mit Lebenswissenschaften. Zuversicht wird quasi als allgemeiner lebensethisch-lebensmoralischer Themenbegriff [4] vorausgesetzt und benutzt.

Natürlich gibt es Zuversicht auch in der Medizin. Jedoch erinnere ich in Studium und Arztausbildung keine gezielte Beschäftigung mit dem Thema. Sondern das Umgehen mit und das Pflegen von Zuversichtlichkeit bei den Patienten, im Kollegenkreis und letztlich damit auch bei sich selbst war Alltagspraxis für jedermann.

Aber hierin ändert sich langsam etwas. In den 1970er Jahren wurde der Begriff Salutogenese [5] eingeführt als Pendant zur Pathogenese; also: Salutogenese ist die Gesundheitsentwicklung im Sinne auch einer Gesundheitsentfaltung gegenüber der Krankheitsentwicklung. Dies beinhaltet für die Praxis die Orientierung auf die Ressourcen, also: auf die Mittel, die Quelle dessen, was an Möglichkeiten verblieben ist. Konkret: Der Arzt sollte seinen Patienten nicht nur nach dem schmerzhaften Fuß fragen, sondern ihn auch auf den gesunden aufmerksam machen. [6]

Im Gesundheitswesen gehört der Begriff Zuversicht in das Feld der Seelischen Gesundheit [7], und zwar zum Bereich der Affektivität, also des seelischen Fühlens. [8]

Im Rahmen einer Bevölkerungsverwaltung und dann gar für den Globalbereich der Weltgesundheitsorganisation spielt Zuversichtsfähigkeit in der medizinischen Literatur eine wichtige Rolle, und zwar zunächst hinsichtlich der Friedensfähigkeit. – Und ein anderes Beispiel will ich zum Schluss noch zeigen.

Wie nun funktioniert Zuversicht im Gehirn? Sie ist an die Verarbeitung in Nervenzell-Netzwerken gebunden.

Die geistigen und seelischen Kräfte werden auf diese Bedürfnisbefriedigung konzentriert. "Insofern bestimmen letztlich solche Vorgänge stark das Verhaltensrepertoire von Mensch und Tier." [9] Eine Psychologin hat nun 2007 zwei Optimismus-Zentren im Gehirn gefunden. [10] "Optimisten denken anders": Sie antworteten in spezifischen Gehirnbereichen auf "positive" Bilder mit wesentlich größerer Intensität als die Pessimisten. [11] – Die Spezifität in der Schaltung auf "Zuversicht" im Sinne eines Optimismus gegenüber einer bloß sachlichen Prognose dürfte nun eben darin liegen, dass die psychischen Ressourcen von Spannungen befreit und wunschzielgerichtet harmonisiert sind.

3. Beispiele für das Phänomen Zuversicht (Hoffnung, Optimismus) im Klinik-Alltag (ohne Sozial- und Seelsorgearbeit)

3.1 Placebo [12]

Diesen Abschnitt verkürze ich auf eine Bemerkung: Außer Scheintabletten sind hierunter auch Scheintechniken einzuordnen: Schein-Akupunktur, Schein-Psychotherapie, Schein-Operation; und auch die helfen, und zwar selbst dann, wenn der Versuchsteilnehmer die 50 %ige Chance weiß, dass er keine Sach-Therapie erhält. [13]

3.2 Spiegeln oder einen Spiegelungseffekt

sehe ich als ein verwandtes Phänomen. In der LTI beschreibt Viktor Klemperer eine Schiffsreise, bei der eine Reihe von Mitreisenden an der Reling lehnen, und einem von ihnen wird übel und muss erbrechen. Bald darauf ergeht es dem Nachbarn ebenso, und die Reihe setzt sich bis zum Ende so fort. – Durch Mitempfinden werden die gleichen Reaktionen ausgelöst, gleichsam übertragen. Man hat dafür im Gehirn bestimmte Zellen gefunden und nennt sie Spiegelneurone, die womöglich bei allen in Gruppen lebenden Wesen vorhanden sind. Für das Spiegeln von einem Empfinden gibt es sie vielleicht nur bei Menschen. [14] (Ich glaube eher, diese Einschränkung trifft nicht zu.) – Auch dieser Mechanismus wird im ärztlichen Alltag ständig genutzt, selbst wenn der Arzt es nicht wissen wollte.

Ein Mensch mit Erwartungen hat also die Eigenschaft, durch die bewusste Orientierung auf einen Erwartungsinhalt zu dessen Erfüllung beizutragen. Das macht den Wert von Zuversicht aus: Sich selbsterfüllende Prophezeiung. Und oft eben das "Gutdenken" einer Sache im Gegensatz zum "Schlechtreden".

3.3 Religiosität

Religiositätist in diesem Sinne ebenfalls von medizinischer Relevanz. Eine vorhandene Religiosität bzw. Spiritualität kann ein tragender oder auch ein beeinträchtigender Faktor in der Zuversichtlichkeit sein. Während die Vorstellung eines liebevollen, gütigen Gottes eine hilfreiche Ressource darstellen kann, wird das Bild eines strengen, strafenden göttlichen Richters eher Ängste und depressive Symptome bewirken. [15][16]

"Beten hilft!" – sagen manche. "Stimmt nicht!", sagen andere. Neurologische Untersuchungen demonstrieren immerhin, dass spirituelles Denken bei Patienten bestimmte Hirnareale aktiviert, die Schmerzen bekämpfen und Krankheiten lindern helfen. Beim Beten und Meditieren werden bestimmte Hirnareale deaktiviert, die unsere Orientierung steuern – möglicherweise ein Grund, warum sich gläubige Menschen von Raum und Zeit losgelöst und Gott nahe fühlen. – In einer Krankheits-Studie ist auch festgestellt, dass es denjenigen Patienten deutlich besser ging, für deren Gesundheit andere Menschen beteten. – Wieder anderenorts wurde dazu passend bemerkt: Menschen, die sich geliebt wissen, sind gesünder. – Zu Auswirkungen von Gebet, Religion und Spiritualität auf die Genesung des Menschen gab es allein in den Jahren 2000 bis 2009 über 6000 neue medizinische Studien. [17]

3.4 Weiteres

Abschließend zur Abrundung für Zuversicht im Klinikbetrieb: Sie ist natürlich spontan anzutreffen bei wohl der Mehrzahl aller Patienten. Es ist erstaunlich, wie Menschen, die durch schwerste Missgeschicke betroffen wurden, sofort umschalten können auf Zuversichtsinhalte, die sie zuvor für sich ablehnten. [18] – (Ferner: alltägliche Psychagogik)

4. Grund legen – Eine Grundlage schaffen

Die Fähigkeit zu Zuversichtlichkeit mag angeboren sein in Hirnstruktur und Biochemie. Doch in der Lebenspraxis muss sie erst noch sozial gelehrt und gelernt werden.

Die Prägung der seelischen Konstitution geschieht bereits vorgeburtlich und in den ersten Lebensjahren; da kann man sich die Bezugspersonen noch nicht aussuchen. – Die Rolle der Bezugspersonen haben nach den Eltern dann zunehmend die Lehrer und Leiter. Nach dem 30. Lebensjahr sind die Lebenseinstellungen, zu denen "Zuversicht" gehört, nur noch sehr schwer veränderbar. [19]

Für Zuversichtsfähigkeit ist das Einüben von glücklichem Erleben wichtig. Zuversicht geht nicht ohne die Aussicht auf Glück, ohne Aussicht auf freudevolles Erleben. – Seit 2007 bietet in Heidelberg eine allgemeinbildende Schule das Unterrichtsfach Glücksschulung an. [20] – In anderen Bereichen gibt es solche Studiengänge schon länger: Well Being. [21]

Mit dem Älterwerden wächst dann die Eigenverantwortlichkeit für die eigene Entwicklung. Man soll zwar negative Gefühle bei sich nicht verdrängen, sondern sie wahrnehmen im Sinne von erkennen, aber nicht ihre Pflege wahrnehmen im Sinne von einem sich ihnen hingeben. Sondern ein Mensch ist als Subjekt dafür verantwortlich, negativen Gedanken etwas Positives entgegenzusetzen. Wir sind dafür eingerichtet, unsere angeborenen Triebe, Lüste und Ängste in geordnete Bahnen zu lenken und unsere Gedanken und Gefühle bewusst zu steuern. [22]

Natürlich passiert Zuversichtsstiftung auch in alltäglichen persönlichen Problem-Gesprächen. Auch bei Zuspruch gilt selbstverständlich Glaubwürdigkeit durch Wahrhaftigkeit: Nicht den Partner täuschen; womöglich aber auch nicht abrupt enttäuschen. Vielleicht kann man behutsam zu einem neuen, wieder geweiteten Blickwinkel verhelfen: Zum Beispiel statt bei tödlicher Krankheit nur das nahe Sterben zu sehen, noch gut leben bis zum Abschied. [23] Dann lebt der Patient diese Frist glücklicher und real länger. So bestätigen auch die sozialpsychologischen Mitarbeiter der Onkologischen Beratungsstelle in Berlin-Moabit; ihre Klienten sagen: "Durch Euch haben wir wieder Licht am Ende des Tunnels!" [24] Wenn der Partner Änderungsangebote in der Zukunftssicht nicht gleich annehmen kann, braucht er vielleicht nur erst einmal etwas Zeit.

Wo durch ungünstige Veranlagungen, Umfeldbedingungen oder Geschehnisse die Zuversichtsfähigkeit eingeschränkt ist, stehen immer doch noch Hilfen bereit in Beratungseinrichtungen und in Behandlungsstrukturen – auch für alte und für sehr alte Menschen.

In Katastrophensituation, wenn Traumatisierungen erlitten werden, kann man zunächst nicht erst neue Sehweisen lernen müssen. Dann heißt es, für Ruhe und Raum zu sorgen, dass Boden für Zuversichtlichkeit geschaffen wird: Einfach Abschirmung, Geborgenheit und Zuwendung bieten und berichten lassen. [25]

Wenn aber grässliches Schicksal anderer reflektiert wird, zum Beispiel nach Medienberichten ein Leben zur Zeit von Steinigung oder Inquisition mit Folter und Verbrennung, so lässt sich Leid dort und Dortiger nicht voll nachvollziehen für Externe. Dann ist man auch hilfeunfähig, kann sich aber im Gespräch Klarheit und Handlungslinien zu schaffen versuchen.

In allgemeinem konkretem Lebenskonflikt gehört zur Zuversichtsentwicklung also die Kommunikation. Wenn ein Mensch die Möglichkeit des Eintretens einer günstigen Lösung anschaulich vor Augen bekommt, dann neigt er wohl leichter dazu, Zuversicht dafür oder für eine vergleichbare Alternative zu entwickeln.

Ärztlich wird Zuversicht hin und wieder beim Patienten hervorzurufen versucht mit suggestivem Verhalten und solchem, das beim Patienten Spiegelung provoziert: Wenn man eine schlechte Nachricht trotz aller Sachoffenheit taktvoll locker-freundlich überbringt, lässt dies leichter eine positiv-aktive Einstellung bei Patienten und Angehörigen und die Orientierung auf die verbliebenen Ressourcen entstehen.

5. Allgemeine Zukunftsfähigkeit aus lebenswissenschaftlicher Sicht

Lebenswissenschaftliche Forschungen bieten auch Gründe für eine Zuversicht auf eine fortdauernde Überlebensfähigkeit der Menschheit.

Der Psychiater und Laborforscher Martin BAUER legt dar, dass die biologischen Wesen nicht in extensivem Überlebenskampf unterzugehen verdammt sind, wie es dem Darwinismus entsprechen würde. Sie können In Notsituationen sich aus einem Lebenskonflikt hinauslernen. Psychische Erfahrungen steuern die Entwicklung unserer Gene. [26]

Das Bild einer Amöbe ist seinem Beitrag als Sinnbild beigegeben mit dieser Legende:

Kooperativ und opferbereit statt aggressiv und egoistisch:

Eigentlich lebt die Amöbe Dictyostelium discoideum als Einzelgänger.

Wird die Nahrung knapp, schließen sich Zehntausende der Einzeller zu einem pilzförmigen Verband zusammen (Bild).

Die Amöben, die an die Spitze gelangen, überdauern als vermehrungsfähige Sporen die Hungerphase.

Jene, die den Stiel bilden, geben ihre eigene Fortpflanzungsfähigkeit zugunsten der Artgenossen auf.

(Eigenes PC-Bild – Im BLZ-Artikel zeigte GettyImages.de/vis311789 gut die im Stiel zur Stütze zusammengebackenen Opferzellen; aber „für Nichtcommerz nicht lizenzierbar“.)

Das Leben ist bis in die molekularen Vorgänge hinein ein großes kooperatives Projekt. Die Bildung von erstem Leben vor dreieinhalb Milliarden Jahren im Urmeer ist nicht denkbar, ohne dass die damals beteiligten Moleküle in eine Interaktion eintraten. … Wohin man schaut: Kooperation und Kommunikation – was nicht heißt, dass die Tatsache des Wettbewerbs und des Wettkampfes zu bagatellisieren wäre.

Menschen sind mit Empathie begabte Wesen, also mit Mitfühlsamkeit, und mit der Fähigkeit zu Kooperation. Wir sind auf gelingende Beziehungen hin konstruiert. Die Gemeinschaftserlebnisse führen im menschlichen Körper zur Ausschüttung von Glücksbotenstoffen wie Serotonin, körpereigene Opioide, Dopamin oder das Beziehungshormon Oxytoxin. Diese Botenstoffe setzen Gene in Gang und schalten andere ab.

Wir verfügen aber nicht über Automatismen, die diese soziale Akzeptanz jederzeit garantieren. Wir müssen sie füllen durch einen nie endenden Suchprozess, den wir Kultur nennen – also durch Erziehung, Bildung, Künste.

So vermittelt BAUER die Zuversicht, dass die Menschheit aus dem Dilemma der gegenwärtig durch sie selbst betriebenen Vernichtung ihrer Lebensbasis auf Erden und in der Welt auch mittels genetischer Veränderung herausfindet, die aus dem Lernprozess folgt, und nicht auf zufällige Mutationen angewiesen ist. Die Menschheit ist für eine solche Zukunft fähig: Kooperativ und opferbereit statt aggressiv und egoistisch.

Also: Es irren jene Fatalisten, die womöglich glauben, sie wären Realisten, soweit sie als ewige "Es-ist-doch-so-Propheten" die Unveränderbarkeit im Weltlauf heutiger Sicht konstatieren.

Sondern: die Utopisten aller Zeiten haben recht. – Auch schon vor Jahrtausenden, als unsere weisen Urahnen zum Beispiel die Bibeltexte erarbeiteten: Der Glaube versetzt Berge.


Anmerkungen

[1] http://urts55.uni-trier.de:8080/Projekte/WBB2009/DWB/wbgui_py?lemid=GZ10632 = Grimm-WB dort sind aber auch die biblischen Beispiele des "zuversichtlichen Gottvertrauens" angeführt.

[2] Lemke/Rennert, Neurologie und Psychiatrie, J. A. Barth, Leipzig, 1987

[3] (aber sie ist nicht Krankheits-Verursachung) Uexküll – Psychosomatische Medizin, Urban & Scwarzenbach, 1979-95, 5. A., 1352 S.; S. 203

[4] Wikipedia: Moral bezeichnet meist die faktischen Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien bestimmter Individuen, Gruppen oder Kulturen, sofern diese wiederkehren und sozial anerkannt und erwartet werden. (~ das lateinische moralis [die Sitte betreffend; lat: mos, mores Sitte, Sitten]) Unter Ethik hingegen versteht man die "Wissenschaft von der Moral", die "Diskussion über im Voraus angenommene Normen und Werte"

[5] Wikipedia: Gesundheitsentwicklung (lat. salus für Gesundheit, Wohlbefinden genesis ‚Geburt‘, ‚Ursprung‘ ‚ ‚Entstehung‘);bezeichnet zum Einen eine Fragestellung und Sichtweise für die Medizin und zum anderen ein Rahmenkonzept, das sich auf Faktoren und dynamische Wechselwirkungen bezieht, die zur Entstehung (Genese) und Erhaltung von Gesundheit führen.[1] Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923–1994) prägte den Ausdruck in den 1970er Jahren als komplementären Begriff zu Pathogenese. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen.

[6] http://blog.doccheck.com/de/archive/1315-Sind-Zaubertricks-in-der-Medizin-nuetzlich.html

[7] Wikpedia: "Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen."[1] ("Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.") [2]

[8] Wörterbuch Medizin, Zetkin-Schaldach, 11. A. 1956-80; "Gesamtheit von Stimmungen, Gefühlen, Gefühlswallungen und allgemeiner Erregbarkeit"

[9] Uexküll, s. Referenz 3, S. 135

[11] http://sciencev1.orf.at/science/news/5222  "Studiengruppe Gabrieli" (Harvard? Stanford?) Optimisten denken anders.

[12] Ein Placebo nach Wikipedia: (lat. "ich werde gefallen" – entspricht "Versprechen") im engeren Sinn ein Scheinarzneimittel, welches keinen Arzneistoff enthält und somit auch keine durch einen solchen Stoff verursachte pharmakologische Wirkung haben kann. Im Gegensatz zum wirkstofffreien Placebo wird ein wirkstoffhaltiges Präparat Verum genannt.

Im erweiterten Sinn werden auch andere Scheininterventionen als Placebo bezeichnet, z. B. Scheinoperationen.

Placeboeffekte sind positive Veränderungen des subjektiven Befindens und von objektiv messbaren körperlichen Funktionen, die der symbolischen Bedeutung einer Behandlung zugeschrieben werden. Sie können bei jeder Art von Behandlung auftreten, also nicht nur bei Scheinbehandlungen.

(Der Placebo-Einsatz beim Doppelblindversuch dagegen soll aber das geminderte Ergebnis Wirkung unter Placebo gegenüber dem wahren Mittel erkennen lassen. – Jatrogenie als Gegenbeispiel zu Placebo und mit ihrer Zuversichtsschädlichkeit soll hier nicht weiter betrachtet werde.)

Gegenstück zum Placeboeffekt ist der Nocebo-Effekt. Hierbei handelt es sich um unerwünschte Wirkungen, die analog einer Placebowirkung auftreten können, zurückzuführen auf den psychosozialen Kontext der Behandlung.

[13] Eigene Beobachtung: Eine Patientin bekam bei jeder Sitzung mit Kurzwelle am Kopf einen ausstrahlenden Nackenschmerz. Zu einer Probesitzung wusste sie, dass die Apparatur vom Stromnetz getrennt war – sie entwickelte trotzdem bei Schalterklick den zuvor eingeübten Schmerz.

[14] Joachim Bauer im Interview durch Maritta Tkalec in Berliner Zeitung 20090627

[15]  Klein C, Albani C. Religiosität und psychische Gesundheit Psychiat Prax 2007; 34: e2-e12

[16]  Thomas Klatt, rbb 21.01.2008 > GOTT UND DIE WELT <: Gesundbeten – Religion als Heilmittel; Manuskript bei rbb abrufbar;

[18] Eigene Erinnerung von Buch-Besprechungen in 1980er Jahren: Der Autor, ein junger Sportler, erlitt bei Turmsprung eine hohe Halsquerschnitt-Totallähmung und sann sofort nach weiterer Lebensgestaltung, wiewohl er gerade zuvor ausdrücklich Weiterleben-Wollen für diesen Fall abgelehnt hatte.

[19] Abgehandelt in: Dongus, Tanja: Von der präventiven und therapeutischen Wirkung positiver Emotionen und des Humors, Grin Verlag, München, 2004;

[20] Berliner Zeitung 2010-08-28, S. 3: "Die Lehre vom Leben" WILLY-HELLPACH-SCHULE in Heidelberg (Direktor Ernst Fritz-Schubert): Zweijährige Berufsfachschule für Wirtschaft à Realschulreife/Dreijähriges Wirtschaftsgymnasium à Allgemeine Hochschulreife/Kaufmännische Berufsschule Gesundheitsdienst à Medizinische, Zahnmedizinische, Pharmazeutische Fachangestellte (Gesundheitsdienst)/Kaufmännische Berufsschule à Bank+Industrie+Gesundheitskaufleute; – (http://www.whs.hd.bw.schule.de)

[21]  Fach Well-Being wird z. B. am Wellington-College geboten; von dort brachte Fritz-Schubert seine Idee mit.

[22] zitiert bei Dongus, Tanja, s. Referenz 19

[23]  Elisabeth Kübler-Ross mit 80 Fotos von Mal Warshaw: Leben bis wir Abschied nehmen, Kreuz-Verlag Stuttgart, 2. A. 1980/amerik. Originalausgabe "To live until we say good-bye" 1978

[24] Persönliche Mitteilung Juli 2010

[25] Lt. Psychologe zu Love-Parade-Unglück Duisburg 2010 (erinnert nach Berliner Zeitung-Interview)

[26] Dies als Kontrast zu Mutationen, die zufällig geschehen und mehrzählig ungünstig sind. (J. Bauer, Referenz 14)


Zuversicht aus theologischer Sicht

Von Utz Kesper

Christen glauben daran, dass Christus sein Reich mitten in dieser Welt baut und dass die Zukunft ganz und gar in seiner Hand liegt. Es kann nichts geschehen, was seinen Plänen endgültig entgegen läuft.

Christen wissen nicht, was kommt. Aber sie sind gewiss, wer kommt. Die Herren dieser Welt kommen und gehen. Aber Christus, der Herr aller Herren, kommt. Die Zukunft gehört ihm und seiner Herrschaft, auch wenn die Wege dabei verschlungen, dunkel und steil sind. Auch wenn immer wieder Irrlichter in die falsche Richtung weisen.

Christen sind der Zukunft zugewandt – und sind offen für Überraschungen, die in ihr liegen. Sie sind zugleich nüchtern und wissen, dass die alte Welt vergeht. Aber sie sind gewiss, dass die neue Welt Gottes nicht erst dann vom Himmel fällt, wenn die alte Welt untergegangen ist. Mit dem Kommen Christi breitet sich seine Herrschaft schon jetzt mitten unter uns aus. Diese Gewissheit ist die Initialzündung für die Hoffnung und Glaubenszuversicht. Sie gründet sich auf persönliche Glaubenserfahrung (>Existenzerneuerung<).

Gleichzeitig wissen Christen, dass es sich nicht nur um einen Denkvorgang handelt, sondern dass sie zu praktischer Verantwortung und zum Handeln aufgerufen sind. Das macht sie fähig, Schritte nach vorn zu tun.

Sollten sich die Christen mit ihrem Einsatz nicht durchsetzen können, so haben sie vermutlich Gelegenheit, wenigstens punktuell, hier und da, Inseln der Mitverantwortung zu schaffen. Nach Sören Kierkegaard ist Hoffnung "die Leidenschaft für das Mögliche." Auf jeden Fall werden Christen nicht aus dieser Welt auswandern, sondern, wenn es sein muss, mit ihren Zeitgenossen oder auch stellvertretend für sie mitleiden in der lebendigen Hoffnung auf das Kommen des Reiches Gottes im Ganzen.

Dietrich Bonhoeffer schrieb in einem Brief aus der Haft unter dem Naziregime: "Es gibt Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht. dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht."

Noch stehen auch Christen mit Zittern und Zagen vor den ungeheuren Veränderungen, die im Gange sind oder auf uns zukommen. Noch fesseln uns die Traditionen und flößen uns Angst und Feigheit ein. Jesus Christus aber ist nicht hinter uns, sondern vor uns. Er ist längst dort, wo auch wir hingehen sollen. Er baut sein Reich in die Zukunft hinein und erweckt in uns eine Hoffnung, die die Vergangenheit überwindet und uns zum Dienst in der Welt von heute und morgen stark macht. Dieser Dienst ist ein Weg mitten durch die Konflikte hindurch. Wer ihn gehen will, braucht vor allem Vertrauen auf Gottes Verheißungen und Hoffnung als "Leidenschaft für das Mögliche", wie Kierkegaard sagt.

Der Arzt und Kabarettist Eckhard von Hirschhausen sagte auf dem II. Ökumenischen Kirchentag im Mai 2010: "Die wichtigsten Wirkstoffe sind Hoffnung und Zuversicht, gelebtes Christentum also."

Ein vorletzter Gedanke: Das Wort Hoffnung ist in seiner sprachlichen Ableitung mit >Hüpfen< verwandt. Es meint sowohl das ungeduldige, erwartungsvolle Hochspringen des Kindes, das wissen will, was da kommt, weil das Kind sicher ist, dass etwas kommt.

Zum anderen verweist diese sprachliche Ableitung darauf, dass wir uns abstrampeln müssen, wenn die Ziele der Hoffnung - die utopischen Bilder, das Reich Gottes als Heimat der Menschen - nicht bloß Worte bleiben sollen. Eine praxislose Hoffnung bringt nur eine hoffnungslose Praxis hervor.

Abschließend ein weiterer sprachabgeleiteter Gedanke: Es ist nicht möglich, die Facetten, die in dem Wortpaar des griechischen Substantiv >parrysia< und seiner Verbform liegen, im Deutschen mit dem einen Wort Zuversicht zusammenzufassen. Die Nuancen des Wortes bewegen sich zwischen den Polen Freiheit und Hoffnung:

  1. >parrysia< stammt aus dem politischen Bereich und gehört zu den Merkmalen der antiken griechischen Demokratie. Es war ein Kennwort für die Freiheit des freien Bürgers. Zum Bereich der Freiheit gehört der Mut zur Offenheit im Reden, der nichts verschweigt oder verhüllt. Im Deutschen: Unerschrockenheit, Kühnheit, Mut, Freimütigkeit, Freudigkeit, Festigkeit, Sicherheit, Freiheit.
     

  2. In der Öffentlichkeit, in der sich Reden und Handeln abspielen, hat der griechische Bürger das Recht, alles zu sagen.

Im Gespräch mit Gott gilt: Freudige Zuversicht als Folge oder Begleiterscheinung von Glauben: Vertrauen, Glauben, Hoffnung, Erwartung, Zuflucht. – Gegensätze sind: Angst, Verzagen, Feigheit.


Zuversicht Über die aktuellen politischen Entwicklungen in den Niederlanden

Von Wil Jacobs

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,
heute Vormittag möchte ich für Sie die aktuellen politischen Entwicklungen in den Niederlanden, meinem Heimatland, einschätzen. Gern hätte ich das Thema breiter behandelt: die aktuellen politischen Entwicklungen in unseren Ländern, im "Alten Europa" oder in der Europäischen Union. Aber darüber weiß ich zu wenig. Deshalb nehmen wir ruhig als Ausgangspunkt die Niederlande, darüber weiß ich viel. Und ich habe mein Interesse und mein Wissen vor dem Hintergrund unserer heutigen Veranstaltung in den vergangenen Monaten in besonderem Maße darauf fokussiert. Ich wünsche mir, dass Sie nach meinen Ausführungen anhand eigener Kenntnisse und Erfahrungen Ihre Meinungen, Kommentare und Fragen in die Diskussion einbringen, so dass wir miteinander über das soeben genannte "breitere Bild von Europa" diskutieren, Ihre eigenen Bewertungen erfahren und miteinander Fazits ziehen können.

Heute vor genau zwei Monaten standen die Niederlande gegen Spanien im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft. Sie wissen es natürlich: Wir haben verloren. Es war zudem kein sehr schönes Spiel, aber - es war Sommer, in allen Städten sah man nur noch Orange, jeder hatte unglaublich viel Spaß, die Straßen, Kneipen und Biergärten waren voll. Jung und alt, Niederländer von Geburt an und in der wievielten Generation auch, sowie solche, die erst später zu Niederländern wurden, waren dabei, Rentner und Kinder, hoch qualifizierte Menschen und Leute, die schon im jungen Alter und bis heute einer einfachen Arbeit nachgingen, alle standen wir und waren wir für Holland. Unser Kronprinz - mit dem Nachnamen van Oranje - saß schließlich auf der Tribüne. 16 Millionen Niederländer, genau so viele Menschen, wie Deutsche in Nordrhein-Westfalen wohnen, waren auf einmal eine große Familie mit nur einem Ziel vor Augen: Weltmeister werden! Das hat leider nicht geklappt, aber wir hatten über einen Monat eine Super-Stimmung. Beim Bäcker wurde nicht über das Wetter geschimpft, nein, wir kauften "Oranje-Törtchen", die natürlich im Angebot waren.

UNANGENEHM

Verstehen wir uns dann aber wirklich so prächtig miteinander? Nein, eigentlich scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Das neue Jahrhundert hat uns wenig Dinge gebracht, über die wir hätten Spaß haben können. Das gilt für die internationalen Entwicklungen, die uns alle betreffen, und das gilt für gewisse Ereignisse in den Niederlanden. Ich will sie chronologisch skizzieren.

Nach einer Serie terroristischer Anschläge, von denen der vom 11. September 2001 am spektakulärsten war, gab es in den Niederlanden zwei politische Morde. Zuerst wurde Pim Fortuyn ermordet, der politische Stern des extrem rechten Randes im politischen Spektrum. Der Mord geschah zehn Tage bevor er mit vermutlich großen Gewinnen ins Parlament eingezogen wäre. Der Täter: ein linksradikaler Umweltaktivist. Dann wurde Theo van Gogh ermordet, ein Filmproduzent, der gegen den Islam war. Der Täter: ein Niederländer marokkanischer Herkunft. Sowohl Fortuyn als auch Van Gogh wurden zu Opfern von Fanatikern.

Für beide Opfer galt, dass sie heftige, um nicht zu sagen lautstarke, Kritik übten an der Islamisierung unserer Gesellschaft. Eine Thema, dass bis dahin tabu war. Nun waren die "neuen Niederländer", die Immigranten, die Schuldigen. Sie wohnten, und wohnen soll hier heißen mit all ihren anderen Sitten und Gebräuchen, vor allem in den älteren, dicht besiedelten Vierteln der Städte, wo die angestammte niederländische Bevölkerung langsam zu einer Minderheit wurde. Ist das nicht bedrohlich? Man schrieb über die terroristische Gefahr unter uns.

Die früher gern erzählten Geschichten über die Bereicherung unserer Kultur durch Immigranten wie Hugenotten, Niederländer aus den überseeischen Gebieten und Juden, wurden zur Seite gelegt. Ab sofort mussten die Dinge beim Namen genannt werden: die Kriminalität unter Jugendlichen marokkanischer und somalischer Abstammung war erschreckend deutlich höher als die von Niederländern gleichen Alters. Natürlich betraf das im wesentlichen jungen Leute und in besonderem Maße solche mit niedrigem Bildungsniveau sowie viele Arbeitslose. Eine ganz andere soziale Gruppe also im Vergleich mit den eben genannten Immigranten, die uns auf den Gebieten von Kunst und Kultur, Wissenschaft und Handel wirklich einmal bereicherten.

Aber das ist noch immer nicht die ganze Misere: So wie auch die Irländer, stimmten die Niederländer per Referendum gegen die Europäische Verfassung. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung war eine große Mehrheit dagegen. Die antieuropäische Stimmung verstärkte sich sogar durch dieses Ergebnis noch. Unsere Regierung sah später lieber von einem zweiten Referendum ab und unterzeichnete selbst, mit Zustimmung des Parlaments, den inzwischen in zweitrangigen Punkten geänderten Vertrag zur Europäischen Verfassung. Das war sicher kein Vorgang, der das Vertrauen der Menschen in die Regierung und den Machtapparat stärkte.

Wenige Jahre später waren renommiert geglaubte Banken scheinbar in ihrer Existenz bedroht und die Wirtschaftskrise brach in einem nie gekannten Umfang aus.

Auch unser Gesundheitssystem schien plötzlich weniger erhaben und stabil als wir immer dachten. Viele der zwischenzeitlich privatisierten staatlichen Unternehmen und Einrichtungen schienen ihre Vorstände üppiger zu entlohnen als es die weithin auf Leistungs- und Lastenausgleich eingestellten Niederländer für angebracht hielten, vom Interim-Management ganz zu schweigen. Durch die Vermarktung der Daseinsvorsorge im Zuge von Privatisierungen - mit dem ursprünglichen Ziel höherer Effizienz und niedrigerer Preise - verlor der Bürger, nun Kunde genannt, ein ganzes Stück seiner demokratischen Rechte: Denn immerhin wählen nicht wir die Vorstände der Wasserbetriebe oder des Krankenhauses. Die gemeinschaftliche Kontrolle aus den demokratisch gewählten Kommunalvertretungen heraus ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen einfach verschwunden.

Inzwischen ging am politischen Firmament ein neuer und erneut rechtsradikaler Stern auf: Jetzt nimmt ein Herr Wilders den Kampf gegen den Islam auf. Am Anfang stand der Kampf gegen das Tragen von Kopftüchern als erkennbares Symbol von Religiosität. Wenn Pim Fortuyn damals noch rief "Sag, was Du denkst" (also keine Political Correkness im öffentlichen Laben einerseits und andererseits Gemecker und Genörgel in der Kneipe), so geht Geert Wilders einen Schritt weiter: Er ernennt sich selbst zum Darsteller der "Volksgefühle": "Ich sage, was Ihr denkt!" Seine Partei (ohne Mitglieder und ohne innerparteiliche Demokratie) heißt: Partei für die Freiheit (PVV). Bei den Parlamentswahlen Anfang Juni 2010 erreichte diese Partei beinah so viele Sitze wie die siegreichen Liberalen und die Sozialdemokraten und wurde damit dritte politische Kraft im Land, noch vor den Christdemokraten. Das kam einem Erdbeben gleich. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung wurden unter anderem deshalb so schwierig, weil ein Regieren mit der PVV eigentlich überhaupt unmöglich ist. Die Positionen dieser Partei stehen in verschiedenen Punkten im Widerspruch zu unserer Verfassung. Andererseits ist die PVV der größte Wahlgewinner! Die PVV nicht in eine Koalition einzubinden, würde für sie freies Spiel in der Opposition und bei nächsten Wahlen vermutlich noch größere Gewinne bedeuten. Auch keine attraktive Perspektive. Inzwischen arbeitet Wilders gemeinsam mit Geistesverwandten in den USA, Großbritannien, Frankreich und, aufgepasst (!) auch in Deutschland an seiner International Freedom Alliance: für Freiheit und gegen den Islam.

BÖSE

Manchmal schien es so, als ob alle Niederländer böse und verärgert waren, voller Furcht, weil ihre alten Gewissheiten und Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und seiner homogenen Bevölkerung sich in Auflösung schienen zu befinden. Verärgert über die Machthaber in Den Haag, böse auf alle Banker, auf die Immigranten, auf die Wartelisten in der Daseinsvorsorge bei öffentlichen Einrichtungen, verbittert über die Bürokratie, voller Angst und Ärger aufgrund zunehmender Unsicherheit und Kriminalität. Leute wie Fortuyn und Wilders sprachen diese Dinge laut aus. Die Lebensqualität der niederländischen Gesellschaft sei in Gefahr. Auf kommunalpolitischer Ebene entstanden vor diesem Hintergrund verschiedene neue Initiativen und Gruppierungen unter dem Motto "Lebenswertes Rotterdam", "Lebenswertes Utrecht" und so weiter, die erfolgreich Sitze in den Räten der Städte und Gemeinden eroberten. Das, was wir früher von oben herab als "Provinzpolitik" kleinredeten und belächelten, ist inzwischen salonfähig geworden als eine Politik des "kleinen Nationalismus" gegen die arrogante Macht. Die Menschen erkennen sich in dieser politischen Strömung vor allem in einem wieder: in ihrer Ablehnung des als arrogant empfundenen den Haag und einer gleichermaßen weit von unserem tagtäglichen Leben entfremdeten Europäischen Union. Die traditionellen, überregionalen politischen Parteien haben eine anständige Tracht Prügel bezogen.

Parteibonzen, die Obrigkeit, das Establishment, die fett bezahlten Vorstände, manchmal sogar die richterliche Macht, sie alle waren inzwischen die Gekniffenen. Gleichzeitig wird von "denen da oben" gefordert, alle möglichen Missstände zu beseitigen. Schwierig, denn die Reichweite des Regierungshandelns hat aufgrund der Privatisierungen deutlich abgenommen und die Bürger werden immer öfter aufgefordert, ihre Probleme vor allem selbst zu lösen. Also nicht mehr Polizei im Wohnviertel, sondern bessere Schlösser in die Türen eingebaut!

RANDBEMERKUNGEN

Ich habe Ihnen soeben diejenigen gesellschaftlichen Faktoren skizziert, die die Grundlage bilden für die oft negative, pessimistische und manchmal sogar aggressive Stimmung, die in den vergangenen zehn Jahren die Niederländer, aber auch viele Europäer im Griff zu haben scheint. Zwei Randbemerkungen dazu:

  1. Die aufgezeigten Ereignisse und Faktoren sind nur zum Teil typisch niederländisch. Das eine oder andere kennen Sie sicher auch aus Ihrem eigenen Umfeld. Die Wirtschaftskrise (be)trifft uns alle. Rechtsradikalismus gibt es in Österreich, in Frankreich, Deutschland, Flandern, in Italien und in Großbritannien. Vermutlich kennen Sie Namen und Personen aus Ihrer eigenen Region. Beschränken wir uns noch einmal auf Europa, auf die Europäische Union. Auffällig sind überall Gegenbewegungen gegen die alte Sozialdemokratie und gegen den aufgeklärten Liberalismus. Darüber hinaus erleiden die alten christdemokratischen Parteien fast überall Verluste. Die alten Rettungsanker werden ersetzt durch eine Vielfalt verschiedener größerer oder kleinerer Parteien. Die Wählerinnen und Wähler flattern wie wild herum und landen im Rudel bei denjenigen, die rhetorisch oder visuell am meisten imponieren. Die alten Parteien sehen ihre Stammwählerschaft stark schrumpfen. Es besteht die große Sorge, dass mit dem Zuzug aus nicht nur islamitischen, sondern gleichermaßen aus den ärmeren Ländern der Europäischen Union die eigene Identität verlorengeht. Befürchtet wird in besonderem Maße eine Rezession, in der die bereits immer knapper gewordenen Arbeitsplätze, nun auch noch durch die hier unerwünschten Gäste eingenommen werden. Dabei stehen die Niederlande, wenn man die Zahlen und Fakten betrachtet, noch relativ gut da: Die relativ niedrige Arbeitslosigkeit und niedrige Inflationsrate sollten uns eigentlich optimistisch stimmen. Blicken wir über die Grenzen hinaus, wird klar, dass es andernorts schlimmer aussieht.
     

  2. Es ist zu verallgemeinernd, über die Niederländer (oder die Deutschen oder die Tschechen) zu sprechen. Die harten ökonomischen und gesellschaftlichen Fakten treffen uns alle. Aber sie treffen den einen viel härter als den anderen, oder besser: Sie treffen die eine soziale Gruppe oder Kategorie viel härter als die andere. Aus Sicht der Sozialwissenschaften (Soziologie, Demographie, Psychologie) lässt sich mehr darüber sagen:

  • Wir haben in den vergangenen zehn Jahren viel in Bildung und Ausbildung investiert. Die so genannte "intellektuelle Reserve" (das Bildungspotential das nicht ausgeschöpft wird) besteht in Europa eigentlich nicht mehr. Das heißt, dass in unseren Ländern eigentlich jeder eine ihm adäquate Bildung und Ausbildung erhalten kann. Die Anzahl der hochqualifizierten Menschen ist signifikant gestiegen. (Den Effekt der Abwertung von Diplomen lasse ich dabei mal außen vor.) So kommt es, dass unsere politischen Parteien durchdrungen sind von hochqualifizierten Menschen. Aber das bedeutet jedoch auch, dass sich gleichzeitig der Abstand zu den Menschen mit nur geringer Bildung vergrößert hat: Die Letztgenannten wohnen in anderen Vierteln, sie sprechen ein anderes Niederländisch, sie wählen andere, mehr volksnahe Parteien.
     

  • Aus meiner eigenen Forschungsarbeit zur Frage "Wer sind eigentlich die Kläger beim Nationalen Ombudsman?" wurde deutlich, dass die übergroße Mehrheit Männer waren, vor allem solche aus der Metropolenregion rund um das Regierungszentrum in Den Haag. Darunter wiederum gab es relativ viele Singles. Sie waren überdurchschnittlich gebildet, aber nicht hochqualifiziert. (Hinweis: Eine Klage beim Nationalen Ombudsman muss schriftlich eingereicht werden.) Und es waren vor allem ältere Herren, das heißt sie hatten Zeit. Welche Zeitungen lasen sie? Mehrheitlich die größte Tageszeitung der Niederlanden, die etwas Anti-Den-Haag ist, zugleich Spitze des freien Unternehmertums und mit viel Raum für Sport, Glanz und Glimmer.
     

  • Meckern ist zeitlos: Nörgler und Querulanten gibt es immer unter uns. Letztens las ich: In jedem Ausflugsbus sitzen drei unzufriedene Touristen, die diese ihre Meinung auch zum Ausdruck bringen. Weil das ansteckend sein kann, weiß der erfahrene Reiseleiter damit umzugehen, meist gelingt es ihm auf humoristische Art und Weise, die drei Unzufriedenen zu isolieren, so dass für alle anderen der Ausflug ein voller Erfolg wird. Versuche, die Nörgler zu unterdrücken, sind kontraproduktiv. Gib den Querulanten die Chance, sich zu äußern, aber halte sie in Schranken!

Ein vorläufiges Fazit: In unserer Gesellschaft erheben diejenigen ihre Stimme, die früher geschwiegen haben: dies infolge eines besseren Bildungsniveaus, durch populistische Führungskräfte und durch eine gewollte Beteiligungsstrategie, nämlich die Bürger in das politische Tagesgeschäft einzubeziehen. Darauf komme ich noch zurück.

POPULISMUS

Ich möchte gern zunächst das Problem behandeln, wie wir mit dem Phänomen des aggressiven, sich in die Politik einmischenden Bürgers, umgehen sollen. Eigentlich ist das doch eine gute Sache: Das Volk ist wach geworden und es meldet sich zu Wort. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Turbulenzen nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt sind. Und worum geht es eigentlich inhaltlich? Geht es vor allem um Widerspruch, um Einwendungen, wie legitim und gerechtfertigt dann auch, oder stehen wir am Anfang eines großen Umbruchs, einer Revolution unserer so gepflegten (westlichen) Demokratie? In den Niederlanden wurde in den letzten Jahren viel über den aufkommenden Populismus geredet und geschrieben, und eigentlich immer in negativem Sinne.

Ich denke aber hier bei dieser Veranstaltung auch an die Jahre 1988 und 1989 und an die Losung: Wir sind das Volk! Dieser Ausruf ist natürlich viel älter. Der 1810 geborene Ferdinand Freiligrath, später ein guter Freund von Karl Marx, schrieb im denkwürdigen Jahr 1848 ein Gedicht unter diesem Titel: Wir sind das Volk!

Und doch haben all diejenigen, die sich an die Machtergreifung durch die Faschisten erinnern, diejenigen, die nichts von Volkssturm halten, all diejenigen, die charismatischen Führungskräften eher mit einigem Argwohn begegnen, ein ungutes Gefühl in der Magengegend - und ich vermute, einige davon befinden sich auch hier unter uns - sie fürchten den wachsenden Populismus in diesen Jahren in unseren Ländern. Ich skizziere einige vermutliche Reaktionen darauf. Da sind

  • die bekannten Strauße, die den Kopf in den Sand stecken oder wegschauen;
     

  • diejenigen, die Verständnis haben für die Entwicklung, die sie versuchen zu begreifen und zu erklären;
     

  • diejenigen, die der Meinung sind, wir müssten besser auf die populistisch angehauchten Mitmenschen hören und;
     

  • diejenigen, die die Lösung sehen in der Reformierung unserer demokratischen Grundordnung durch die Einführung korrektiv-verbindlicher und beratend-empfehlender Referenda, von mehr Möglichkeiten für Einwendungen und Partizipation, von gewählten Bürgermeistern und Ministerpräsidenten und von mehr parlamentarischen Untersuchungskommissionen.

Die letzten beiden Reaktionen will ich gern kurz kommentieren; und gespannt bin ich, dann auch Ihre Meinung darüber zu hören.

  1. Die Bildungselite, diejenigen, die Teil dessen sind, was wir in den Niederlanden die "Haager Kreise" oder den "Amsterdamer Grachtengürtel" nennen (der elegante Ring der drei Grachten aus dem 17. Jahrhundert), wurden durch den Aufstieg des Populismus überrascht. Die Bildungselite, oder lassen Sie uns ehrlich sein, sagen wir doch lieber: Wir saßen zu wenig in der Kneipe, in ihren Kneipen, weil wir woanders wohnen, weil wir andere Zeitungen lesen und andere Fernsehprogramme gucken. Wir haben in diesem Sinne schlecht gehört auf die Stimme von der Straße. Für uns war Multikulti eine bereichernde Chance, für sie war es eine Bedrohung.
     

  2. Die Reden über die Reformierung unserer demokratischen Grundordnung umfassen meiner Meinung nach Vorschläge, intellektuelle, staatswissenschaftliche Antworten vom grünen Tisch. Sind das wirklich die Lösungen, auf die die Menschen in den dicht besiedelten Vierteln mit ihrer durchmischten Bevölkerung und ihren vielen Subkulturen warten?

In diesem Sommer hörte ich Töne, die Hoffnung geben:

Die Niederlande haben einen so genannten Vizekönig, den Vize-Präsidenten des "Raad van State", das höchste Beratungsorgan von Regierung und Parlament. Er war im Sommer direkt einbezogen in die Formierung der neuen Koalitionsregierung, von der ich bereits sprach und sagte, dass die Kabinettsbildung nicht einfach war aufgrund der Zersplitterung in der Parteienlandschaft und des starken Zuwachses bei den populistischen Parteien, landesweit und kommunal.

Sein Zwischenbericht trug den interessanten Titel: Was kann verbinden anstelle von trennen? Er signalisiert darin, dass viele Bürger das Gefühl haben, die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr beeinflussen zu können oder diese Einflussnahme zu verlieren. Er signalisiert, dass die Krise aufgrund ihres globalen Charakters die Menschen verunsichert. Die niederländische Regierung ist nur ein kleiner Mitspieler im globalen und europäischen Spiel; doch gleichzeitig halten viele Bürger die eigene Regierung verantwortlich für ihre Sorgen und Probleme. Viele empfinden die Regierung als ihren Gegner. Nun ist es in einer Atmosphäre sinkenden Vertrauens besonders schwierig, tiefgreifende Veränderungen durchzuführen. Und doch stehen diese auf der Tagesordnung. So haben die europäischen Spitzenpolitiker vereinbart, drastische Einsparungen vorzunehmen. Unser Vizekönig ist nun der Auffassung, dass, wenn unangenehme Maßnahmen unabwendbar sind, es besonders wichtig und von größtem Interesse ist, den Menschen sehr klar und deutlich zu erklären, was ihnen warum bevorsteht. Nur dann kann die Regierung seiner Meinung nach wieder an Meinungsführerschaft und Unterstützung gewinnen. Nur zuhören ist zu wenig.

Noch einmal will ich unseren Vizekönig zitieren, der schrieb: Wer Vertrauen gewinnen will, der muss Vertrauen haben. Und dann verweist er auf Gebiete, die meist weit entfernt sind von den so genannten "Haager Kreisen": die Dörfer, die Kleinstädte, das weite Umland, aber auch Bildung, Gesundheitswesen, mittlere und Kleinbetriebe. Diese dürfen nicht überreguliert werden: Geben wir ihnen den Spielraum, ihre eigenen Angelegenheiten auf ihre eigene Art und Weise zu regeln ohne zu viel administrativen Einfluss von oben.

ENGAGEMENT

Nach all dem Ärger will ich zum Abschluss gute Nachrichten verkünden. Denn die Niederlande sind mehr als die große Ökonomie, mehr als die Probleme in den durchmischten Wohnquartieren und mehr als das Regierungszentrum in Den Haag. Es gibt auch die anderen, die tagtäglichen Niederlande, in denen Wahlen eher eine Art TV-Hype zu sein scheinen, so wie es vor ein paar Wochen die Fußball-Weltmeisterschaft war. Vergessen wir nicht, dass der Wirtschaftsteil der Zeitungen nur für eine sehr kleine und dünne Oberschicht geschrieben ist, der Auslandsteil ist irgendwo in der Mitte der Zeitung versteckt. Nachrichten dieser Art im Fernsehen werden schnell weggezapt. Das ist nicht die Welt vieler Menschen. Die übergroße Mehrheit der Niederländer fühlt sich im eigenen Viertel zu Hause, bei unseren gemütlichen Geburtstagsfeiern, selbst auf dem Campingplatz in Spanien, wo wir unter uns sind. Sie werden jetzt vielleicht denken: Ja, das ist eine bestimmte Klasse. Nein, liebe Zuhörer, für die übergroße Mehrheit der Niederländer ist genau das ihr Leben, neben ihrem Leben auf Arbeit, wo sie montags mit Kollegen und vielleicht dem direkten Vorgesetzten über die Erlebnisse vom Wochenende reden, neben ihrem Leben im Sportklub, wo Papa die Kinder mit Ballspielen beschäftigt. Das ist das normale Leben, weit weg von Den Haag, weit weg von der großen Wirtschaftspolitik und weit weg von der Dritten Welt, für die wir natürlich gern regelmäßig einen kleinen Betrag spenden.

Was zeigen Analysen? Mehr als die Hälfte aller Niederländer über 18 Jahre leistet ehrenamtliche freiwillige, gesellschaftlich nützliche Arbeit! In den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Männer ebenso viele wie Frauen, diese dann meist auf anderen Gebieten. Die Männer mehr in Sportklubs, die Frauen öfter in Schulen sowie in Gesundheits- und Pflegediensten. Und diejenigen, die noch religiöse Bindungen haben, arbeiten ehrenamtlich in kirchlichen Einrichtungen. Nicht nur Christen, sondern auch unsere neuen Niederländer sind aktiv in und um ihre Moschee herum. Die Arbeit im Ehrenamt ist prozentual auf dem Lande etwas größer als in den Städten, Menschen mit den niedrigsten Bildungsniveaus machen stets etwas weniger mit. Die Meister im Ehrenamt sind übrigens die Protestanten: Sie setzen sich mehr als alle anderen für ihre Mitmenschen und für die Gesellschaft ein. Die Katholiken machen vor allem Nachbarschaftsarbeit und sind in Musikvereinen aktiv. Aber es wird noch besser: Außer dass die Hälfte aller Erwachsenen ehrenamtlich tätig ist, gibt es, gibt es viele Menschen, die sogenannte "informelle Hilfe" leisten. Sie versorgen hilfsbedürftige Nachbarn, räumen im Winter Schnee und Eis vom Fußweg, kaufen für andere mit ein oder helfen ihnen am Computer. Diese informellen Helfer sind schwer zu quantifizieren, niemand kann sie zählen, sie sind nirgendwo registriert. Es gibt Schätzungen und diese überraschen im positiven Sinn.

Aber wo kommen dann all die PVV-Wähler, diese bösen Populisten, her? Meine Hypothese: Zu einem gewissen Anteil sind das dieselben Menschen. Mit Den Haag oder Brüssel haben die nichts am Hut. Bei Wahlen oder solch einem Referendum bleiben sie eigentlich lieber zu Hause oder stimmen für einen, der das so gut rüberbringt. Ich habe für Sie eine Rechnung aufgemacht: Wir haben zwölf Millionen Stimmberechtigte in den Niederlanden. Von denen gingen etwas mehr als die Hälfte wählen, also gut sechs Millionen. Davon stimmten 15,5 Prozent für die PVV, also etwas mehr als ein Million Wähler. Eine Million zu viel, keine Frage, aber im Vergleich mit all den Menschen, die sich stark engagieren für ihr Umfeld, ist das eine kleine Minderheit.

Im Ehrenamt ist man ständig aktiv, wählen geht man selten. Vielleicht sollten wir in Presse und Fernsehen die Wahlen etwas niedriger hängen und ihnen etwas weniger Aufmerksamkeit schenken, so wie der geübte Reiseleiter im Bus sich lieber den Touristen widmet, die Spaß an der Reise haben als den drei nörgelnden Querulanten. Politik ist sehr wichtig, ganz bestimmt, wenn man sich traut, über Grenzen so als über Tellerränder hinaus zu schauen. Aber Politik ist auch ein Tagesgeschäft, ein Beruf, und ein Hobby für eine kleine Schicht Hochgebildeter. Im Ergebnis einer großen Forschungsarbeit des Niederländischen Zentralen Statistikbüros wurde, übrigens zu unserer Überraschung, deutlich, dass eine Mehrheit der niederländischen Bevölkerung Vertrauen hat in solche nationalen und internationalen Institutionen wie die Polizei, unsere Zweite Kammer, in das Europäische Parlament und in die Organisation der Vereinten Nationen. Dieses Vertrauen ist in den vergangenen sechs Jahren sogar gewachsen. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sind wir eigentlich sehr zufrieden. Ich bin neugierig auf Ihre Erfahrungen und Ihr Wissen in dieser Sache!

Die Niederlande sind ein kleines Land; wir wohnen dicht beieinander und wir passen ziemlich gut aufeinander auf. Das meine ich ganz sicher nicht im negativen Sinne. Es gibt ein hohes Maß an sozialem Zusammenhalt bei uns, in guten und in schlechten Zeiten, obwohl man von außen vielleicht manchmal das Gegenteil annehmen möchte. Unsere nationalen, um nicht zu sagen, nationalistischen Gefühle, spielen sich auf einem kleinen Spielfeld ab. Manchmal ist das sogar im wahrsten Sinne des Wortes der Fall. Wir feiern gern, und selbst wenn Oranje im Finale der Fußballweltmeisterschaft verliert, dann freuen wir uns alle gemeinsam, dass die Jungs so weit gekommen sind (auch wenn sie auf schändliche weise gefoult haben). Und dann gehen wir wieder zur Tagesordnung über.

Bin ich etwa naiv, wenn ich glaube, dass der Populismus, wie er sich aktuell, jedenfalls wie er sich aktuell in den Niederlanden zeigt, nur ein Schönheitsfältchen ist im Vergleich zu den Dingen, die unsere Eltern in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mitmachten? Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind doch heute ganz andere. Wir sind doch, auch heute noch, und ganz gewiss im Weltmaßstab gesehen, Bürger in Ländern voll Wohlstand, auch, wenn es innerhalb der Europäischen Union noch große Unterschiede gibt. Wir sollten unsere Errungenschaften einfach einmal aufzählen - aber zugleich wachsam bleiben.

  •  Dr. Wilhelmina Jacobs-Wessels, Delft, NL, Sozialwissenschaftlerin

Fragen/Behauptungen für die Arbeitsgruppen

(jede Gruppe behandelt die Frage 1, und wählt aus 2. - 14.)

  1. In welcher Hinsicht unterscheidet sich die Situation in Ihrem Land in Vergleich zu den Niederlanden?
  2. Wie reagieren Sie auf die Losung: "Wir sind das Volk"?
  3. Was sagen die beide Herren im Regierungszentrum zueinander?
  4. Ist Nationalismus eine Reaktion auf die Globalisierung? (Sprache, Separatismus)
  5. Sind unsere Europäischen Rechtsstaaten ein Puffer gegen rechtsradikale Entwicklungen?
  6. Bellende Hunde beißen nicht. Meckernde Bürger beruhigen sich auch wieder. Oder?
  7. Das demokratische Wesen unserer Staaten schwindet (Privatisierungen, Übertragung von Kompetenzen nach Brüssel, Politikverdrossenheit). Wohin führt das? Alternativen?
  8. Wie erhalten wir mehr demokratische Kontrolle auf die privatisierten einst öffentlichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge? Oder richtet das "der Markt" von allein?
  9. Ist die Freiheit der Meinungsäußerung ein abendländisches Ideal? Für wen? Mit welchen Beschränkungen?
  10. Bedeutet Demokratie "die Macht dem Volk" geben?
  11. Globalisierung und Krise: Sind die alten Parteien noch in der Lage zu re(a)gieren?
  12. Was ist am vernünftigsten? Die Rechtsradikalen in unsere demokratische Strukturen integrieren? Oder besser versuchen sie zu isolieren?
  13. Mehr Referenda, damit mehr Menschen öfter zu Wort kommen können?
  14. Die Regierenden müssen besser zuhören. Und/oder deutlicher artikulieren, womit sie sich weshalb gerade beschäftigen?
  15. ?.


Kurzbericht zu >BrotZEIT<

Von Martin Conradi

BrotZEIT [1] ist ein Projekt im Evangelischen Seniorenwerk in Zusammenarbeit mit Brot für die Welt, und soll bis auf weiteres erst ’mal ein Projekt bleiben, das heißt, bis auf weiteres ein ständiger Versuch. – Da das ESW kein Geld hat und da Brot für die Welt an der Zusammenarbeit mit BrotZEIT gelegen ist, bezahlt Brot für die Welt unsere Briefmarken, Reisekosten und die Jahrestagung.

Mit BrotZEIT will das Evangelische Seniorenwerk Menschen im "Dritten Lebensalter" ansprechen und zum Beispiel für die Arbeit von BROT FÜR DIE WELT gewinnen. Der Initiator war Frieder Theysohn, der sich 2003 noch vor seiner Pensionierung überlegte, was denn so eine Arbeitsruhe bringen kann. So erfand er diese Sache im Gespräch mit Frau Füllkrug-Weitzel. Frieder Theysohn ist 2008 gestorben, seither macht Martin Herrbruck, der von Vorgesprächen an dabei war, die Geschäftsführung und den Motor.

Wir also, die jetzt aus dem Berufsleben freigesetzt werden (und ich bin auch dort einer der Jüngeren) – gehören einer Pioniergeneration an. Wir haben in manchen Umbrüchen und Neuanfängen Erfahrungen gesammelt und den Beginn von Projekten und Initiativen für Menschen in der Dritten Welt miterlebt und vielfach uns dort eingesetzt.

Für solche Leute wollte das ESW einen Rahmen bieten, daß sie nach dem Wegbruch des regulären Arbeitsfeldes ihre nun frei gewordene Zeit doch wieder solidarisch einbringen können. So hatte Theysohn schon andere ZEIT-Projekte angelegt:

  • AusZEIT       –  Einsatz in einem diakonischen Projekt (im Ausland)

  • SprechZEIT  –  Ärzte und wer will geht an Krankenhausbetten

  • SchreibZEIT  –  Aufschreiben, was gelebt wurde (auch "Lebenslinien")

Diese Namen erklären sich quasi selbst. Mit BrotZEIT haben wir Nicht-Südwestdeutschen erst Bauchweh gehabt, aber man gewöhnt sich total.

Ich übernehme gerne diese Übertragung: Brot teilen heißt mehr als Almosen geben, und das wollen wir auf die uns verfügbare Weise tun, nämlich unsere ZEIT einbringen – und das im Hinblick auf die Eine Welt. - Wir wollen auch weiterhin solidarisch leben und die im Alter nun (angeblich) leichter verfügbare Zeit dafür einsetzen.

Erstes BrotZEIT-Motto war: Sehen – Beten – Handeln.

  1. Sehen: Informationen und Dokumente nutzen und uns austauschen.

  2. Beten: Oft ist das Gebet die einzige Art, die uns noch bleibt, globale Verantwortung wahrzunehmen. BrotZEIT kann uns dazu einüben und die Hoffnung stärken, dass Gott Gelingen geben wird für alles, was in Solidarität mit den Schwachen geschieht.

  3. Handeln: Wir kommen zusammen; es bringt jemand Brot mit, das wir teilen und verzehren. Wir suchen andere zum Mitmachen und bereiten Aktionen und Projekte vor, mit denen wir unsere Solidarität ausdrücken können.

Dann wurden Thesen entwickelt, zuletzt 2006 in Bischofsheim:

  1. Wir treffen uns in Gruppen zu einer Mahlzeit, feiern und teilen Brot und Zeit miteinander.

  2. Wir treten ein für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

  3. Wir fragen nach der Hoffnung, die uns zum Handeln führt.

  4. Wir treten ein für Menschen in Armut, Unrecht und Ausgrenzung.

  5. Wir sind den Verantwortlichen in Kirche, Staat und Wirtschaft ein konstruktiv-kritisches Gegenüber.

  6. BrotZEIT ist ein Projekt des Evangelischen Seniorenwerks in Zusammenarbeit mit der "Aktion: Brot für die Welt".

  7. Die Zusammenarbeit mit der Aktion "Brot für die Welt", seiner Projekt- und Kampagnenarbeit eröffnet uns ein weites Feld der Teilnahme an menschlicher Entwicklung.

Zu den Jahrestagungen 2006/2007 waren wir 25 Teilnehmer, jetzt wurden es 40 - 45.

Es gibt regionale Gruppen und auch Einzelkämpfer. Seine Aufgaben darf und muss jeder selbst bestimmen. Die sogenannten Einzelkämpfer haben evtl. eigene Gruppen an ihrem Ort; die Gruppe kommt zwar nicht zu uns, aber der Einzelne sucht in unserem Kreis Kontakt und Gemeinschaft.

Die Urgruppe ist die in der Pfalz um Kaiserslautern, die schon vorher quasi als Brot für die Welt-Gruppe an diesen Zielen engagiert war, die sich zum Beispiel um die Fair-Kaffee-Aktion in den Kirchen sehr verdient gemacht hat. Nach unserer Vorjahrestagung hier in Neuditendorf zum Thema Zukunftsfägiges Deutschland (II) in einer globalisierten Welt [2] sind die Freunde dort nun hoch aktiv in Vorbereitung von Gemeindeaktionen zu dieser Thematik. (Motto war die aktuelle Brot für die Welt-Thematik: ES IST GENUG FÜR ALLE DA!)

Eine andere Gruppe in Templin hat als energieökologische Aktivität vorbestanden.

Unsere Berliner Gruppe hat von Beginn 2006 an gesagt: Dritte Welt ist auch bei uns vor Ort. So halten wir Kontakt zur Abschiebungshaftseelsorge, ich bin als Beobachter Mitglied bei Asyl in der Kirche geworden, und so haben wir unter dem Motto "den Kindern Großeltern sein" ein Spendensammelprogramm entwickelt "Was kann Zille dafür, dass immer noch Kinder hungern?" Der Erlös wird je zur Hälfte gegeben an ein Berliner Straßenkinderprojekt der Methodisten "Kinder in die Mitte" und für ein Schulprojekt nach Papua-Neuguinea.

Um die Aktionsbasis zu verbreitern sind Multiplikatorenseminare vorgesehen. Das bisher einzige hat im Herbst 2008 im Domstift Brandenburg stattgefunden unter dem Motto "Erntedank – Lebensdank". Dort war zum Beispiel aus unserem Kreis hier Christine.

In einer anderen Zielrichtung gibt es zur Zeit Stagnation – weil der Partner Brot für die Welt zur Zeit arg im Umbruch ist. Der Versuch war schon begonnen, dass probiert wurde, in Rückkopplung zwischen Brot für die Welt und BrotZEIT die Basisarbeit von Brot für die Welt eingängiger zu gestalten, die Informationen an die Gemeinden zu "verlebendigen". – Brot für die Welt aber steht vor dem Zusammenschluss mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst, beide müssen ein Großteil Personal und Struktur wegrationalisieren und dann von Stuttgart und Bonn nach Berlin zusammenziehen. Da bleibt jetzt einiges auf der Strecke.

ESW und BfdW sind urwestdeutsche Institutionen und durch ihre Tradition noch stärker als die EKD insgesamt schon auf lediglich Altbundesländer eingespielt. Regionalvereine des ESW gibt es nur in Bayern und in der Pfalz. Brot für die Welt hat in Alt-Westberlin zunächst eine ganze Arbeitsstelle für Kontakt- und Aufbauarbeit zu den NBL eingerichtet, und diesen Arbeitplatz inzwischen halbiert. Die Kommunikation ist in manchem Wesentlichem mit den Neuen Bundesländern erschreckend gering – und wir Neuen haben oft das Gefühl, die Akteure aus dem alten deutschen Westen verstehen dies nicht als Problem oder werden aus anderen dortigen Strukturen heraus gehindert.

BrotZEIT steht noch auf etwas unsicheren Füßen. Aktionen leben von Akteuren. Martin Herrbruck als unser Allrounder ist zur Zeit wegen Krankheit außer Gefecht – da ist die Zukunft besonders offen. – Aber immerhin hatten wir zum Frühlingsbeginn diesen Jahres hier im Zinzendorfhaus unsere Tagung, zwar nicht unter dem Thema Zuversicht, sondern Thema 2010 war:

Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in uns ist (1.Petr 3,15).
Welche Hoffnung? Warum wollen wir die Welt verändern?

_______________________________

P. S.: In Anbetracht des Zeitlimits wurde auf manche Inhalte verzichtet: evtl. etwas Gruppenleben-Beschreibung, die Engagements der einzelnen (über BrotZEIT-Projekte hinaus vorbestehend), die Arbeit des Beirates.

Anmerkungen

[1] Der Projekttext trägt das Datum 24. 11. 2003; von Frieder Theysohn

[2] Informations- /Gemeindearbeitsmaterialien liegen aus und werden auf Anfrage von BfdW kostenfrei zugesandt.

Links

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