Am Gestade des
Indischen Ozeans neben der alten Dansborg in
Trankebar steht ein schlichter Denkstein. Er erinnert an die Geburtsstunde
der deutschen evangelischen Mission in Indien. In diesen Tagen sandte Indien der
deutschen Kirche alle Missionsarbeiter zurück. Der Stunde wird man keinen
Denkstein errichten, aber einen tiefen Einschnitt in der Missionsgeschichte des
20. Jahrhunderts wird sie immer bilden. Und wenn der Kern der Weltgeschichte
zuletzt in der Reichsgottesgeschichte liegt, darf man diese Stunde wohl auch
unter den Fanfaren des Krieges eine weltgeschitliche nennen.
Bedeutende
Ereignisse kommen selten unvermittelt. Seitdem unsere Missionare auf den
Palnibergen unter dem Eindruck des 4. August 1914 das Lutherlied sangen und die
Hände zum Beten des 46. Psalms falteten, haben sie nicht viele ruhige Stunden
mehr gehabt. Lange trug das Kabel und der Funke des Gedankens Befürchtungen und
Hoffnungen herüber und hinüber. Endlich - Ende November vorigen Jahres wurde die
Abreise der deutschen Missionsangehörigen, unter denen 39 Glieder unserer
Leipziger Mission sich befanden, Tatsache. Mit erbleichenden Gesichtern und
feuchten Augen ließen die eingeborenen Prediger ihre geistlichen Väter ziehen.
Die alternde "Golconda" ist wohl auf keiner ihrer vielen Reisen von so viel
Teilnahme und Fürbitte umringt ihre Bahn gezogen. Auch der Schiffsgesellschaft
drückte missionarischer Geist seinen besonderen Stempel auf. Und der alte
Seemannsspruch: "Gott ist mein Leitsmann" ward hier sichtbare Wahrheit. Wohin
das Schiff kam, da schwieg der Sturm und die Wogen glätteten sich. Keine Mine
und kein Torpedo durften schaden. Die Unbilden der langen Fahrt mit Weib und
Kind auf dem überfüllten Schiffe ertrug man mit Geduld und nicht ohne Humor.
Zweimal kostete man Äquatorgluten, zwischendurch den Boreas vom Kap der Hoffnung
her, eine Vorbereitung auf das winterliche Europa. Trotz schmerzlicher
Enttäuschung - der Propst blieb in England gefangen - ging's unaufhaltsam der
Heimat entgegen. Der Telegraph spielte zwischen Holland und Leipzig. Endlich
ward unser Bahnhof in nächtlicher Stunde Zeuge eines ergreifenden Wiedersehens,
und die verödeten Räume des Missionshauses in der Carolinenstraße füllten sich
wieder. Die Heimat bot alle Liebe auf zu freundlichem Willkommen.
Auch an
heiliger Stätte wollte sie die Angekommenen grüßen. Sonntagabend. Graue
Dämmerung. Die alte Nikolaikirche umlagert von Hunderten und Tausenden, die
Einlass begehren. Endlich tun die Türen sich auf. Lichterglanz. Ein Fluten,
Drängen und Schieben. Jeder Platz, jeder Winkel besetzt. Von ferne auch sind sie
gekommen, der Zwiesprache der deutschen Mutter mit der indischen Tochter zu
lauschen. Die Stimmen der
Thomaner verklingen. "Ein feste Burg ist unser Gott" bekennt mit singendem
Mund die Gemeinde. Dann spricht
D. Ihmels aus, was die heimische Kirche bewegt: Tiefes Mitgefühl mit denen,
die sie an dieser Stätte einst aussandte und nun so unvermutet wiedersieht,
tiefer Schmerz im Blick auf die schwergetroffene indische Mission. Dennoch
spricht sie nicht nur mit Beugung, sondern vertrauensvoll auch heute: "Dein
Wille geschehe auf Erden wie im Himmel." So gewiss Gottes Gedanken unendlich
höher sind als unsere Gedanken, so gewiss kann er aus dem, was unsern Gedanken
völlig widerspricht, zuletzt doch Gutes hervorwachsen lassen - wenn wir uns nur
umso ernstlicher um den Missionswillen unseres himmlischen Königs
zusammenschließen. "Die Fähnlein des Königs gehen voran!"
Im Namen der
indischen Tochter redet Missionar Göttsching. Von seinem weißen Amtskleide
sticht das von Indiens Sonne gebräunte Gesicht seltsam ab. Auch aus seinen
Worten klingt der Ton der Klage über den schweren Schlag, den die indische
Missionskirche erlitten, aber zuletzt doch der Ton des Vertrauens, des
Vertrauens zu Gott, zu den Dienern der schwedischen Brudermission, zu den
eingeborenen Pastoren und zu den Missionsgemeinden mit ihrem ausgeprägten
kirchlichen Bewusstsein. Die lutherische Christenheit Indiens wird nicht unter
andersartigen Kirchengemeinschaften sich verlieren, nicht ins Heidentum
zurücksinken. Nur wenn die heimische Kirche mit ihrer Hilfe aufhören wollte oder
müsste, wäre die Zukunft sehr ernst. Mit Gesang. Gebet und Segen schließt die
einzigartige Feier - eine weltgeschichtliche Stunde.
Ihr Mahnruf
aber soll weiterklingen durch Tag und Jahr, durch Krieg und Frieden und nicht
nur bei denen, die ein offenes Ohr für ihn haben: "Die Fähnlein des Königs gehen
voran!" Es ist noch viel zu tun.
Mit
vorstehenden Worten gab der Berichterstatter des Leipziger Kirchenblattes die
Stimmung wieder, die am Sonntag den 16. Januar 1916 in den Missionskreisen
Leipzigs herrschte. Es war der unmittelbar nach ihrer Ankunft auf europäischem
Boden veranstaltete Begrüßungstag für die mit der ersten Golcondafahrt
heimgekehrten Tamulenmissionare. Die nachfolgenden Blätter bringen die
Einzelheiten ihrer Vertreibung vom Missionsfelde durch die britischen
Machthaber. Für den Augenblick hat es den Anschein, als wäre durch einen
staatlichen Gewaltakt die zweihundertjährige Geschichte deutscher Missionsarbeit
in Indien zum jähen Abschluss gekommen. Wer sorgfältiger liest und tiefer
blickt, wird aber zwischen den Zeilen manches entdecken, was uns zu der Hoffnung
berechtigt, dass hier nur eine missionsgeschichtliche Periode schließt, die
nicht ohne Fortsetzung bleiben wird. Der Herr der Kirche gestaltet freilich die
Arbeit seiner Knechte in der Fortsetzung zuweilen anders, als diese es sich
dachten.
Der Weltkrieg
schien anfangs unsere indische Mission verhältnismäßig wenig zu schädigen.
Weitaus die meisten deutschen Missionare durften in den ersten Monaten auf ihren
Stationen bleiben und ihre Arbeit, wenn auch auf ihren Wohnort beschränkt und
durch argwöhnische Aufsicht in mancher Hinsicht behindert, fortsetzen. Von
unserer Leipziger Mission gilt das in noch höherem Grade als bei den anderen
Gesellschaften. Im Verlauf des ersten Kriegsjahres wurden von den Unsrigen nur
die Missionare Handmann, Ruckdäschel und Hammitzsch in das Kriegsgefangenenlager
von Ahmednagar geschafft. Aber je mehr die Erregung in der britischen
Bevölkerung Ostindiens wuchs - das Auftreten der "Emden" im Indischen Ozean und
der Eintritt der Türkei in den Krieg trugen wesentlich dazu bei, um so heißer
ward der Boden unter den Füßen der "in Freiheit" gebliebenen Missionarsfamilien.
Über ihren Häuptern schwebte beständig ein Damoklesschwert. Als um die Mitte des
Jahres 1915 die Lage immer bedrohlicher ward, trat der mit der Führung der
Amtsgeschäfte in der deutschen Tamulenmission betraute Missionskirchenrat am 16.
Juli zu einer Sitzung mit den Vertretern der schwedischen Tamulenmission in
Wülupuram, einer kleinen Station südlich von Madras, zusammen. Die
kirchliche Gemeinschaft und das seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts
bestehende geschichtliche Band wiesen den Weg zur Erhaltung unsrer bedrohten
Missionsarbeit. Die schwedischen Brüder erboten sich, bei einer Gefangensetzung
oder Vertreibung der deutschen Missionare als ihre Stellvertreter den deutschen
Zweig der Arbeit fortzuführen. Sie übernahmen damit eine bedeutende Last, denn
die Zahl der deutschen Missionare war viel größer als die der schwedischen.
Glücklicherweise durften letztere gerade in dieser Zeit eine Verstärkung aus der
Heimat erwarten.
Die Vorschläge
von Wülupuram, deren Einzelheiten hier übergangen werden mögen, fanden die
Billigung der deutschen und schwedischen Heimatbehörden, die am 15. September
vorigen Jahres eine gemeinsame Sitzung im Leipziger Missionshaus hielten. Es
wurde bei dieser Gelegenheit eine freundliche Fügung Gottes erkannt, dass die
Schwedische Kirchenmission, die früher in einem Tochterverhältnis zu der von
Leipzig stand, kurz vor dem Kriege durch bereitwilliges Entgegenkommen des
Missionskollegiums die Rechte einer Schwester erlangt und nun als selbständige
Mission eines neutralen Landes unter der Drangsalierung der deutschen
Gesellschaften nicht mit zu leiden hatte. Es soll den schwedischen Freunden
unvergessen bleiben, dass sie in dieser kritischen Zeit uns die Treue bewahrten
und das Banner der lutherischen Kirche in Südindien hoch hielten.
Ungehindert
zogen die zur vorläufigen Fortführung der Arbeit an den wichtigsten Plätzen
ersehenen schwedischen Männer ein, während die älteren Leipziger Missionare noch
an diesen ihren Amtsstellen weilten. Es kam auf diese Weise überhaupt nicht zu
einer Unterbrechung der Arbeit. Mit aller Behutsamkeit konnte sie zu treuen
Händen übergeben werden.
Di« förmliche
Übergabe fand am 19. November 1915 in Madras statt, einige Tage vor der
unfreiwilligen Abreise des Propstes Meyner und anderer deutscher Missionare von
ihrem Arbeitsfelde. Das wichtige Schriftstück, das hierüber aufgesetzt und von
beiden Seiten unterzeichnet wurde, lautet:
"Am 13.
November erhielten wir eine beglaubigte Abschrift des Protokolls der Übergabe
der Leipziger Tamulenmission an die Schwedische Kirchenmission, unterzeichnet
von den Vertretern beider Gesellschaften und datiert Leipzig, 15. September und
Stockholm, 7. Oktober 1915. Da auf Anordnung der Regierung am 21. dieses Monats
die Mehrzahl der deutschen Missionsarbeiter mit der "Golconda" Indien verlassen
(die Abfahrt verzögerte sich in Wirklichkeit bis zum 24. November), so übergibt
am heutigen Tage Propst Th. Meyner den Vorsitz im Kirchenrat und die Leitung der
Mission an Superintendent D.
Bexell. Gleichzeitig scheiden die Brüder
Göttsching,
Gäbler und Kannegießer aus dem Kirchenrat aus, und die Leitung der Mission
untersteht von jetzt an dem schwedischen Missionsrat der Schwedischen
Kirchenmission in Indien mit Bruder Brutzer und Bruder Hoffmann; Pastor Samuel
ist außerordentliches Mitglied. Diese Übergabe wird allen Gemeinden durch
Zirkular mitgeteilt, und an die englische Regierung werden wir eine Abschrift
des englischen Übergabeprotokolls und der in Madras erfolgten Übergabe
einsenden."
Es folgen noch
die neuen Adressen und Titel.
Wie die
Folgezeit lehrte, wurde durch diesen Akt der Fortbestand unserer Arbeit im
Tamulenlande gesichert. Es war hierbei von größtem Werte, dass die beiden im
Protokoll genannten Missionare Brutzer und Hoffmann und zwei Lehrerinnen, Frl.
von Gernet und Frl. Hansen, in der Arbeit und an ihrem bisherigen Ort bleiben
konnten. da sie die russische Staatsangehörigkeit besaßen. Wie es den
reichsdeutschen Familien erging, mögen uns die Erlebnisse des Missionars
Kannegießer von Triwallur unweit Madras zeigen.
"Alle in Indien
noch frei wohnenden Deutschen und Österreicher werden soweit sie im
militärpflichtigen Alter stehen, im Gefangenenlager zu Ahmednagar interniert.
Alle übrigen Männer, die unter oder über dem wehrpflichtigen Alter stehen, sowie
alle Frauen und Kinder werden in ihre Heimat zurückbefördert."
So lautete der
Erlass der obersten indischen Regierungsbehörde, der in der zweiten Augustwoche
1915 durch alle englisch-indischen Zeitungen ging und von ihnen mit Freude und
Genugtuung begrüßt wurde. Der monatelang erbittert geführte Pressefeldzug, an
dem sich zu unserem Schmerze auch eine große Anzahl englischer Missionare
beteiligte, hatte nun sein Ziel erreicht: allem, was deutsch heißt in Indien,
auch der deutschen Mission, schien nun ein sicheres Ende bereitet zu sein. Unter
dem 17. August erhielten alle unsere älteren Missionare und die Frauen der
übrigen von den Distriktsbehörden den amtlichen Befehl, "sich bereit zu halten,
innerhalb eines Monats, vom 13. August ab gerechnet, Indien zu verlassen. Wer
das Schicksal der im wehrpflichtigen Alter stehenden Männer war darin noch
nichts gesagt. Wir holten unverzüglich unsere Kisten und Koffer hervor. Ich
packte für Ahmednagar und traf besonders unter meinen Büchern eine sorgfältige
Auswahl für die Zeit der Gefangenschaft. Viel schwerer war es, für die lange
Reise durch alle Zonen bis in den deutschen Winter hinein das Nötigste an
Kleidern und anderem, besonders für die Kinder, auszuwählen; umso mehr als wir
keinerlei Auskunft darüber bekommen konnten, wie viel Reisegepäck mitzunehmen
gestattet war. Und was sollten wir mit unseren Möbeln und dem übrigen Hab und
Gut machen? Da stellte sich auch manchmal verstohlen ein Tränlein ein beim
Gedanken an die bevorstehende Trennung, wenn die Kinder ängstlich fragten:
"Papa, wann werden sie Dich fortschaffen?" Unsre Hoffnungen und Wünsche
schrumpften damals auf den einen zusammen: wenn sie uns Männer nur wenigstens
erst nach der Abreise der Familien nach Ahmednagar abführen wollten.
Unsre
eingeborenen Christen waren tief erschüttert und bestürzt. Das hatten sie nicht
erwartet, dass ihre christliche Regierung auch die Mission antasten und
zerstören werde. Ihr Schmerz spricht deutlich aus einem Briefe, den ich damals
von einem unsrer tamulischen Pastoren erhielt. Er schreibt:
"Gestern Abend
kehrte ich aus dem Distrikt nach Hause zurück und erfuhr durch den Katecheten
die schreckliche Nachricht, dass alle unsre Missionare, die über dem
Militäralter stehen, und alle Familien unserer Missionare binnen kurzem nach
Deutschland zurückgeschickt werden sollen. Das sind wahrlich herzbrechende
Nachrichten. Ich konnte die ganze letzte Nacht keinen Schlaf finden. Sie, unsre
Wohltäter und geistlichen Führer, haben Ihre Heimat um unsertwillen verlassen
und müssen nun hier all diesen Kummer, diese Entbehrungen und Entwürdigungen
erdulden. Wie eine Mutter leidet für ihre Kinder, so haben Sie es alles ertragen
um unsertwillen und um unseres Heilandes willen. Der Erzfeind Satan wütet jetzt
gegen den Herrn und Seine Knechte. Aber unser Herr wird gewisslich Sieger
bleiben für uns. Doch tut es unsern Herzen weh, Ihre gram- und sorgenerfüllten
Gesichter zu sehen. Möge der allmächtige Heiland, der Herr über Winde und
Wellen, des Teufels Ungestüm zur Ruhe bringen zu Seiner Zeit und in Ihre Herzen
den himmlischen Frieden geben, den die Welt nicht kennt. Möge der Herr, der
unser treuer Hirte ist, Sie unter Seinen Schutz nehmen und Sie alle trösten und
erquicken. Sein Wille geschehe! Amen."
Wir hielten uns
bereit, äußerlich und innerlich. Aber die Ausführung des Ausweisungsbefehls
schob sich hinaus. Wochen und Monate, vergingen, ohne dass etwas geschah. Schon
jubelten unsere Christen und" meinten, dass es wieder einmal nur blinder Lärm
gewesen sei, geschlagen mit der doppelten Absicht, die aufgeregten Presseleute
zu besänftigen und uns zu ängstigen. Als wir an den Verkauf unsrer einzelnen
Möbelstücke gingen und alles Übrige einpackten, schüttelte mein Pastor den Kopf.
Er wies mich auf Jes. 30, 15-21 und sagte, er habe diese Stelle beim Bibellesen
angetroffen und sie habe ihn sehr getröstet. Gottes gnädige Hand war bei dieser
langen Hinauszögerung freilich mit im Spiele. Wir haben das alle deutlich
gespürt. Dadurch gewannen wir Zeit, alles in Ruhe zu ordnen und für die Übergabe
unsrer Stationen und unsres ganzen Werkes an die in Indien verbleibenden beiden
baltischen Brüder Brutzer und Hoffmann und an die uns von Anfang an nah
verbundene Schwedische Kirchenmission gehörig vorzubereiten, so dass wir Indien
mit der tröstlichen Gewissheit verlassen konnten, dass der Fortbestand unsrer
lutherischen tamulischen Missionskirche gesichert sei. Und der Herr schenkte uns
zum Unterpfand dafür, dass Er selbst sorgen und Seine Schafe weiden werde, noch
einen großen Freudentag. Am 3. Oktober durften wir in der vor 200 Jahren von
Ziegenbalg erbauten Jerusalemskirche in Trankebar zehn wohl vorbereitete
tamulische Kandidaten der Theologie zum geistlichen Amt ordinieren, die als
Ersatzleute bereit standen, um überall in die durch die Ausweisung der
Missionare entstandenen Lücken einzutreten.
Und noch ein
unerwartetes Ereignis trat ein. Unterm 30. Oktober teilte mir mein oberster
Distriktsbeamter folgendes mit:
"Von der
Provinzialregierung zu Madras bin ich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass Sie
sich bereit zu halten haben, Indien zu verlassen. Sie werden, soweit gegenwärtig
bekannt ist, Ihre Frau und Kinder begleiten. Das Datum der Abfahrt des Dampfers,
der Sie nach Europa bringen soll, wird Ihnen mitgeteilt werden, sobald die
Regierung Befehle darüber erhalten hat."
Das gleiche
Schreiben erhielten alle unsere Missionare mit Ausnahme der vier unverheirateten
jungen Brüder Zacharias, Zeilein, Wagner und Petermann, die in jenen Tagen nach
Ahmednagar abgeholt wurden. Die deutsche Regierung, so hieß es, habe
durchgesetzt, dass alle Ärzte und ordinierten Geistlichen anstatt der
Gefangensetzung mit ihren Familien nach der Heimat zurückbefördert werden
müssten, und dass dies auch mit den bereits in Ahmednagar gefangen gesetzten
Missionaren und Ärzten zu geschehen habe. Wo und wie dies Gerücht in Indien
zuerst entstanden ist, ist mir nicht bekannt geworden. Tatsache ist, dass unser
Propst von der Madras-Regierung den Auftrag erhielt, eine Liste aller unsrer
ordinierten Missionare einzusenden und unsern in Ahmednagar gefangen gefetzten
sieben Brüdern Zeugnisse über ihre Ordination zuzustellen. Auch befand sich
unter den Golcondapassagieren ein junger österreichischer Arzt, der von
Ahmednagar kam. In der Nähe meiner Station
Triwallur wohnt ein aus der Gegend von Bozen gebürtiger Priester. Er hatte
auch den Befehl erhalten, Indien zu verlassen, und daraufhin alle seine Sachen
bis auf einen Koffer Reisegepäck verkauft. Seine Gemeinde hatte ihm sogar
bereits eine Abschiedsfeier veranstaltet. Da traf in letzter Stunde die
Nachricht ein, dass er in Indien bleiben dürfe, und so bereitete ihm seine
Gemeinde am nächsten Tage wieder einen Empfang. Er hatte mir erzählt, dass von
all seinen Verwandten nur noch eine einzige Schwester am Leben sei, und dass
diese in Italien sich aufhalte. Möglich, dass man ihn der Gesinnung nach für
einen Alliierten hielt und durch seine Ausweisung bei ihm vermutete
englandfreundliche Gefühle zu verletzen fürchtete. Tatsächlich war ja in der
Presse des öfteren empfohlen worden, elsässische Priester, die nachweisen
könnten, dass Verwandte von ihnen im französischen Heere kämpfen, von der
Ausweisung auszunehmen.
In der Zeit,
vom 30. Oktober bis zum Tage unsrer Abreise aus Triwallur, den 23. November,
sind mir nicht weniger als zehn amtliche Schreiben der Behörde zugegangen über
alle möglichen Einzel Ketten zur Vorbereitung für die Reise; so unter dem 1.
November dass ich zwei Photographien von mir für den Reisepaß einsenden möge, da
ich nicht interniert, sondern in die Heimat zurückbefördert werde; unter dem 2.
November darüber, was ich von meinem persönlichen Eigentum verkaufen dürfe und
was nicht; unterm 9. November, dass ich möglicherweise mit meiner Familie auf
der "Golconda" reisen müsse, die um den 21. November Madras verlassen werde;
unterm 11. November, dass das Reisegepäck sechs Zentner pro Person betragen
dürfe und dass die. Kisten nicht zugenagelt sein dürften, weil sie vor der
Abreise einer Untersuchung unterzogen werden würden; auch sollten wir uns mit
Decken, Kopfkissen, Handtüchern, Seife und anderen nötigen Reiseutensilien
versehen; unterm 13. November, dass wir wahrscheinlich in einem holländischen
Hafen gelandet werden würden und deshalb einen Scheck auf eine holländische Bank
mitnehmen dürften, der aber 1500 Rs. nicht überschreiten dürfe, und dass unser
schweres Gepäck bis zum 20. November mit einer genauen Liste seines Inhalts bei
dem Polizeipräsidenten von Madras eingegangen sein müsse; unterm 16. November
auf meine Anfrage, dass die allgemeine Inhaltsbezeichnung "Bücher", "Wäsche,"
"Haushaltgegenstände" usw. genüge, und dass ich die Kisten anstatt des Zunagelns
mit Schlössern versehen und für jedes Schloss den Schlüssel beilegen solle;
unterm 17. November, dass wir Decken, Kopfkissen, Handtücher usw. nicht
mitzunehmen brauchten, da solche auf der "Golconda" vorhanden seien; unterm 18.
November, dass die Regierung auch die Kosten der Fracht des schweren Gepäcks
tragen werde; unterm 20. November, dass ich meinen Feldstecher nicht mit nach
Deutschland nehmen dürfe, aber den Namen irgend eines Freundes in Indien angeben
könne, bei dem er abgegeben werden solle.
Man sieht, dass
für alle Einzelheiten mit der größten Umständlichkeit gesorgt worden ist.
Nichtsdestoweniger wurden wir bis zum letzten Augenblick in Ungewissheit darüber
gelassen, ob wir mit der "Golconda“ wirklich fortkämen oder nicht. Einigen von
uns ist auch in letzter Stunde noch abtelegraphiert worden. Zweckdienlicher
wären die vielen Angaben gewesen, wenn wir sie eher und im Zusammenhang auf
einmal erhalten hätten. Die Nachricht, dass die Reise um das Kap der guten
Hoffnung gehen und also dieben bis acht Wochen dauern würde, erhielt ich erst
ganz kurz vor der Abreise, nachdem alle Koffer bereits gepackt waren, durch ein
gedrucktes Schreiben, das mir später wieder abgenommen wurde. Tag und Stunde
unsre Abreise von Triwallur verriet mir ein eingeborener Polizeiinspektor, tags
vorher. Ich vermute, dass die offizielle Mitteilung erst nach meiner Abreise
eingetroffen ist.
Nachdem ich bei
allen Gottesdiensten seit Mitte August immer gedacht hatte, dass es der letzte
sein könne, hielt ich nun bewegten Herzens meine letzte tamulische Predigt am
letzten Trinitatissonntage über die letzten Dinge auf Grund des vorgeschriebenen
Evangeliums Matth. 24, 1-14. Die Nachricht von unserm Weggang war wie ein
Lauffeuer durch alle Dörfer der Umgegend gegangen, und viele Leute kämm in den
letzten Tagen, uns noch einmal zu sehen und Abschied von uns zu nehmen;
besonders auch viele alte Witwen, welche weinten und auf ihre Kleider zeigten,
um ihre Dankbarkeit für die Wohltaten, die die Mission ihnen bisher getan, zu
bezeugen. Einige Dorfgemeinden schickten ihre Ältesten als Abgeordnete, und ich
sah Tränen in manch altem harten Pariahgesicht. Besonders wohltuend war es mir
zu beobachten, dass keiner die sonst gewohnte Geste des Bettelns machte; aus all
ihren Worten sprach die ehrliche Trauer über ihr kommendes Verlassensein und die
Sorge um uns während der bevorstehenden langen und gefährlichen Reise. Ein
heidnischer Zimmermann, der mir beim Schließen unsrer Kisten half, sagte, er
wünsche uns nur glückliche Heimkunft in unser Vaterland, wenn er es auch nicht
glauben könne, dass man uns sicher heimbringen werde. Einige eingeborene Beamte
aus der Stadt besuchten uns noch und sprachen ihre Teilnahme und Trauer über
unsern Weggang aus. "Dieser schmutzige Krieg", so sagte einer, "zu was für
widersinnigen Maßnahmen führt er doch die Menschen." "Aber Sie können versichert
fein", so fügte er hinzu, "man wird Sie nicht behelligen und Ihnen zu nahe
treten, denn man weiß: unsere Sympathien sind mit Ihnen."
Obgleich die
Tamulen feierliche Begrüßungs- und Abschiedsfestlichleiten mit Bekränzung,
Ansprachen und Betelausteilung sonst so sehr lieben, wagten sie doch diesmal mit
richtigem Taktgefühl dergleichen nicht. Aber am späten Abend des letzten Tages
(22. November) versammelten sich die beiden tamulischen Pastoren und die aus den
Dörfern herbeigekommenen Katecheten, Lehrer und Gemeindeglieder dicht gedrängt
um uns in meinem Arbeitszimmer zu einer stillen Abend- und Abschiedsandacht. Der
Pastor Sebastian hielt eine kurze Ansprache, in der er mich bat, unsrer
heimischen Missionsbehörde und der ganzen deutschen lutherischen Muttergemeinde
den Dank nicht nur unsrer indischen Christen sondern ganz Indiens zu übermitteln
für die größte Gabe, die Deutschland dem indischen Volke gebracht: Gottes Wort.
Deutsche Missionare seien es gewesen, die zuerst das göttliche Wort vor 200
Jahren in Indien gepredigt und in eine indische Sprache übersetzt hätten, und
die deutsche Mission sei es gewesen, die Indien das reine Evangelium in der
ganzen Tiefe und Klarheit des lutherischen Verständnisses über mittelt habe.
Dies, werde Indien dem deutschen Volke auf ewig zu danken haben.
Noch gab es
mancherlei zu ordnen und zu packen, Zeugnisse und Empfehlungen für unsere
Dienstboten zu schreiben und dergleichen mehr. So wurde es Mitternacht, ehe wir
uns zum letzten Mal in unserm liebgewordenen indischen Heim zur Ruhe niederlegen
konnten. Früh fünf Uhr erschien bereits der eingeborene Polizei-Inspektor, der
den Auftrag hatte, uns abzuholen. Es war noch völlig dunkel und schwerer
Monsunregen strömte vom Himmel herab. Vor dem Verlassen unseres Hauses las der
Pastor noch den 121. Psalm und sprach ein kurzes Gebet. Trotz des starken Regens
drängte sich auf dem Bahnsteig Kopf an Kopf, und viele braune Hände erhoben sich
zu dem "parabarennuku stottiram", als der Zug sich in Bewegung setzte. Dieser
Nachtschnellzug von Coimbatore hatte die wenigen Deutschen, die an seiner Linie
wohnten, die Geschwister Fehlbeig, Schwester Lina Streng, Fräulein Hübener,
einige Nonnen, drei Damen, Kaufmannsfrauen mit ihren Kindern, die in Yercaud
interniert gewesen waren, und die Geschwister Stallmann von der Missouri-Mission
in Ambur, alle mit polizeilicher Begleitung nach Madras zu bringen. Wir waren
die letzten, die zustiegen. Auf dem Zentralbahnhof in Madras mussten wir lange
auf den von
Bellary kommenden Zug warten, der die dort interniert gewesenen Basler
Missionsgeschwister und drei Hermannsburger Familien von ihren Stationen
brachte. Um alles Aufsehen in der Stadt zu vermeiden, wurden unsere Wagen
zusammengeschoben und als Sonderzug direkt hinaus in den durch Polizei und
Militär abgesperrten Hafen gefahren, wohin kurz vorher ein aus dem Süden
gekommener Zug unsere Geschwister Göttsching,
Zehme, Hartmann, Bauer, Heydenreich und Wannske und die Schwestern Emma von
Soden, Else Frey und Johanna Herget gebracht hatte. Um allen noch einmal die
Hand zum Abschied zu drücken, kamen die in Madras verbleibenden Brüder Brutzer
und Bexell zum Hafen, wurden aber dort nicht eingelassen. Zum Glück war ihnen
der Versuch gelungen, uns auf dem Zentralbahnhof wenigstens noch einmal zu sehen
und zu sprechen. Unter Einsendung eines ärztlichen Zeugnisses hatte Bruder
Heydenreich bei seinem Distriktsbeamten zwar rechtzeitig darum nachgesucht, mit
den noch in Indien verbleibenden Geschwistern erst beim nächsten Transport
geschickt zu werden, da der Zustand seiner Frau sie am Reisen behinderte. Er war
jedoch mit Frau und Kindern und allem Gepäck nach Madras beordert worden und
bekam erst im letzten Augenblick nach nochmaliger ärztlicher Untersuchung seiner
Frau Erlaubnis, wieder auf seine Station Poreyar zurückzukehren. Außer ihnen und
den in Ahmednagar gefangenen sieben Brüdern sind von der Leipziger Mission die
Geschwister Gaebler, Heller und Hammitzsch im Süd-Arkot-Distrikt, Geschwister
Maennig in Trankebar und Frau Handmann mit ihren Kindern vorläufig in Indien
zurückgeblieben. Die in Kodaikanal wohnenden emeritierten Missionare v.
Pamperrien und Beisenherz mit ihren Gattinnen erhielten auf ihr Ansuchen
Erlaubnis, wegen ihres hohen Alters in Indien, und zwar auf den Bergen in
Kodaikanal zunächst verbleiben zu dürfen.
Ehe wir an Bord
des Schiffes gehen durften, fand eine allerdings sehr summarische Untersuchung
unseres Reisegepäcks statt. Ich kam unter den letzten daran. Die Untersuchung
beschränkte sich auf die Frage, ob ich Gold- und Kupfergeld bei mir habe. Das
erstere tonnte ich verneinen und die wenigen übriggebliebenen indischen
Kupfermünzen gab ich bereitwilligst ab. Man hielt sie wohl für gefährliche
Kontrebande, mit der wir den in entsetzlicher Kupfernot befindlichen deutschen
Munitionsfabriken hätten aufhelfen können. Hinterher hat man das Lächerliche der
Sache eingesehen, denn einem jeden von uns wurde später das abgenommene
Kleingeld gewissenhaft abgezählt in verschlossenem Briefumschlag wieder
zugestellt.
Im Herrn
geliebte Geschwister! Bald schlägt für Euch die Abschiedsrunde. Am Vorabend
Eurer Abreise haben wir uns noch einmal zusammengefunden vor dem Angesicht
unseres Herrn und Gottes, um ihn um seinen Segen und seinen Schutz für die weite
Reise zu bitten und um seinen Trost und Stärke für Eure Herzen. Der morgige Tag
wird für unsere Leipziger Mission nicht nur, sondern auch für die Mission im
großen und ganzen zu einem sehr bedeutungsvollen Tage: eine christliche
Regierung entfernt christliche Missionare und ihre Familien aus einem
heidnischen Lande, welches ihrer Fürsorge untersteht; und zwar nicht, weil
irgendwelche belastende Gründe vorliegen, irgendeine Unbotmäßigkeit oder
Ungesetzlichkeit, sondern unter dem Drucke einer erregten öffentlichen Meinung.
Die Regierung trägt für das, was sie tut, die Verantwortung vor Gott, - wir sind
als gute lutherische Christen gewohnt, der Obrigkeit still zu halten und zu
gehorchen. Wir tun es, wenn auch mit tiefem Schmerz im Herzen. Ja. dieser
Schmerz wird noch durch die Tatsache vermehrt, dass die erste öffentliche
Anregung zu diesem Schritt der Regierung in dem Brief eines hochangesehenen
englischen Missionsmannes lag. Wir ziehen - denn im Herzen ziehen wir Leipziger
Missionare alle mit euch - wir gehen, aber mit reinem Gewissen und erhobenem
Haupt gegenüber all den Verdächtigungen, Anschuldigungen und Lügen, die falsche
Propheten durch die Presse in der Öffentlichkeit verbreiteten. Vor Gott jedoch
beugen wir uns in dieser Abschiedsstunde im Rückblick auf unsere Arbeit in der
Tamulenmission gar tief im Gefühl unserer Unwürdigkeit und Untüchtigkeit, im
Bewusstsein unserer Amtssünden, besonders unserer Lauheit und unserer
Versäumnisse. O, dass unsere Mission zurzeit ein solches Ende finden muss! Das
ist ein Bußruf. ein herzandringender Bußruf unseres heiligen Gottes, dem wir
dienen wollen, auch an uns! Heute, so ihr seine Stimme höret! Wie deutlich
spricht der Herr zu uns durch diese Demütigung, die uns durch die
"Repatriierung" auferlegt wird! Lasset uns unter ein Gotteswort uns stellen und
aus demselben Trost und Klarheit für uns holen. Als ein solches Wort, das uns in
dieser Zeit Halt und Festigkeit verleihen kann. hat sich mir beim Nachdenken das
Wort des Herrn, das er durch den Propheten Jeremia im 29. Kapitel an die nach
Babylon geführten Juden richtete, dargetan.
Jer. 29, 4-5,
7-14a
So spricht der
Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Gefangenen, die ich habe von Jerusalem
lassen wegführen gen Babel: Bauet Häuser, darin ihr wohnen möget; Pflanzet
Gärten, daraus ihr die Früchte essen mögt; sucht der Stadt Bestes, dahin ich
euch habe lassen wegführen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn's ihr wohl
gehet, so gehet's euch auch Wohl. Denn so spricht der Herr Zebaoth, der Gott
Israels: Laßt euch die Propheten, die bei euch sind, und die Wahrsager nicht
betrügen, und gehorcht euren Träumen nicht, die euch träumen. Denn sie weissagen
euch falsch in meinem Namen; ich habe sie nicht gesandt, spricht der Herr. Denn
so spricht der Herr: Wenn zu Babel siebenzig Jahre aus sind, so will ich euch
besuchen und will mein gnädiges Wort über euch erwecken, dass ich euch wieder an
diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe,
spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leibes, dass ich euch gebe
das Ende, des ihr wartet. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich
bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden. Denn so
ihr mich von ganzem Herzen suche» werdet, so will ich mich von euch finden
lassen, spricht der Herr. Gewiss müssen wir sagen, dass äußerlich die Lage der
Juden, die nach Babel deportiert waren, eine andere war, als die, in der Ihr,
die Ihr repatriiert werden sollt, Euch befindet. Innerlich angesehen erscheinen
die Verhältnisse doch nicht so verschieden. Die Juden verließen ihre geliebte
Heimat und mussten in der Fremde weilen mit sehnsuchtsvollem Herzen und heißem
Verlangen nach dem Heimatlande und der Heimatstadt. Ihr zieht ins Vaterland.
Aber doch - ist Euch Indien durch das jahrelange Weilen hier im Land und durch
die Jahre lange Mühe und Arbeit nicht auch zur zweiten Heimat geworden? Habt Ihr
das Land und Volk nicht lieb, um das Ihr im Schweiß des Angesichts gerungen, das
Volk, dem Eure Sorge und Euer Gebet galt? Als Ihr hinauszoget, da nahmet Ihr
Abschied von der alten Heimat und Freundschaft, um eine neue zu finden, und Ihr
habt sie gefunden. Die Trauer, die die Juden empfanden, als sie sich lösen
mussten von dem Grund und Boden, geheiligt durch die Geschichte und die Arbeit
der Vorväter, durchzieht gewiss in ähnlicher Weise auch Eure Herzen, wo Ihr nun
wirklich den durch die Arbeit und Mühe unserer lutherisch-deutschen Vorläufer
geheiligten Boden der Tamulenmission verlassen müsst. Wir bedürfen des Trostes
und der Stärkung. Wir wollen in die Zukunft schauen, um unsern Mut zu heben und
Richtlinien für unser ferneres Tun zu gewinnen.
Die Weisungen,
die der Herr den Juden in der Fremde gab, sie passen nicht ganz auf Euren Fall,
- aber sie enthalten doch eine Ermunterung zu dem, was Ihr gewiss von ganzem
Herzen aus eigenem Antriebe tun werdet in Eurem teuren Vaterlande, das nun in
gewissem Sinne - , so sonderbar es lautet - Euch zum Gefängnis und
Deportationsort wird: "Suchet der Stadt Bestes, betet für sie zum Herrn, denn
wenn's ihr wohlgeht, so geht es euch auch wohl!" In die geistige und geistliche
Arbeit für Euer Vaterland in dieser schweren Zeit sollt auch Ihr mit eintreten.
Wie weise unseres Herrn Führung doch ist! Seid gewiss, der Herr bedarf Euer
jetzt dort! Ihr sollt in Eurer Heimat von Eurem Glauben zeugen, den er in der
Heidenwelt erprobt hat. Tretet ein mit Freuden, mit heiligem Mut und Eifer, mit
erhobenen Händen in die Arbeit, in die der Herr Euch ruft. Lasst die Menschen,
die Euch nach Seinem Willen in die Heimat schaffen müssen, ohne dass die Mission
an äußeren Mitteln Schaden leidet, beiseite! Schauet nur nach ihm! Beurteilt all
das, was Ihr durchmachen müsst, nicht nach dem beschränkten Maßstab menschlicher
Kurzsichtigkeit. Die Herzen in die Höhe! - und von der Höhe Gottes aus schaut in
die Zukunft! Unser Text führt uns auf die Höhe, lässt uns in das gelobte Land
schauen und strömt über von Trostworten!
O über die
Liebe unseres treuen Gottes! Wie tröstet er gleich einer Mutter! Er spricht vom
Ende der Gefangenschaft in bestimmter, absehbarer Zeit! Er spricht vom Besuchen,
von seinem gnädigen Wort, das er erweckt, das er ins Leben, in Erfüllung, in
Wirtlichkeit setzen will. Und zum Schluss vom Wiederbringen an diesen Ort - an
seinen Ort! Mit diesen Worten, die stark wie Felsen in den schäumenden Wogen der
Weltgeschichte stehen, will er nun auch Euch geleiten, will er Euch tragen und
halten, will Euch mit all seiner herrlichen, siegesgewissen Hoffnung erfüllen!
Wir stellen uns und Euch in vollem Glauben und fester, ruhiger Zuversicht unter
das Wort: Er wird alles wohlmachen! Was er vornimmt, das gerät. Er ist nicht,
wie wir Menschen, die Pläne schmieden, die dann doch zu schanden werden, wie wir
das ja auch in dieser Zeit großer, weltgeschichtlicher Ereignisse erleben
konnten! Er spricht: "Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe." Denkt
die Gedanken unseres Gottes nach - die Reise wird Euch Zeit geben! - und wir
können Gottes Gedanken nachdenken, weil sie Gestalt angenommen haben und gelebt
sind - vorgelebt für unsere kleinen Lebenswege mit ihrem Freud und Leid,
Unterliegen und Siegen und für die großen Heerstraßen der ganzen
Menschheitsgeschichte durch Dunkel zum Licht, zum Sieg des Lichts -in der Person
und dem Leben unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi! Er wird mit seinem
Geiste und seinem verklärten menschlichen Mitgefühl und Mitleid mit Euch sein
und Euch grüßen zu jeder Zeit mit seinem: "Friede sei mit euch! Meinen Frieden
lasse ich euch! den Frieden, den niemand rauben kann!" Ja, in ihm, der unser
Friede ist, erkennen wir es mit herzlicher Freude, dass er doch Gedanken des
Friedens und nicht des Leides hat, auch wenn sie für eine Weile Gedanken des
Leides zu sein scheinen: "Dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet!" Welch
ein Trost! Er sagt uns ein Ende, des wir warten, zu; also ein selig, herrlich
Ende nach allem Streit, aller Mühsal und Not!
Und auch für
das Werk, das Ihr verlassen müsst, brauchen wir, nicht zu sorgen. Er weiß, was
für Gedanken er mit diesem Werk hat. Es hängt nicht von uns und unserer
Nationalität ab, sondern von der Treue und dem Glauben derer, die er aus
allerlei Volk in die Arbeit stellt. Und dass er unsere Arbeit in die Hände
unserer Glaubensgenossen, die durch lange Freundschaft mit unserem Werke
vertraut sind, gelegt hat trotz allem, was dagegen stand und steht, soll unsere
Augen zum Abschied öffnen für unseres Gottes wunderherrliche Wege und seine
unerforschlich tiefe Weisheit!
Und nun endlich
nennt er uns auch den tiefsten Trost und das Mittel, wie wir denselben immer und
immer wieder erneuern können! "Ihr werdet mich anrufen!" Kein Gebot! Keine
Bitte! Der Herr nennt eine Tatsache: sie werden bitten. Es ist
selbstverständlich für Gottes Volk, dass sie den Herrn suchen, von ganzem Herzen
suchen; ihn, der größer ist als unser Herz, wenn Schleier sich vor die Augen
senken und das Herz in uns bangt und zagt. Wer von ganzem Herzen sucht, der
findet. "Ich will mich von euch finden lassen", spricht der Herr. Eine
unendliche Gnade! "Alles, was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich
euch geben!" Die Gewissheit: "Ich bin es, fürchte dich nicht!" wird die Antwort
und die Erhörung eines jeden Gebetes aus suchendem Herzen sein. Das ist es, was
der Herr auch über Euch zum Abschied sagt: "Ihr werdet mich anrufen und hingehen
und mich bitten, ihr werbet mich von ganzem Herzen suchen, und ich will mich von
euch finden lassen!" Ihn haben ist unsere Seligkeit, das Ziel seiner
Friedensgedanken!
So gehet denn
hin, liebe Brüder und Schwestern, gehet hin unter dem starken, gnädigen Geleit
unseres treuen Herrn und Heilandes, betet und bittet in seinem Namen und von
ganzem suchenden Herzen bei allem, was Euch zu tun obliegen wird in den Tagen
der Reise, in den Tagen der Pflichterfüllung im Vaterland«, und er wird sich von
Euch finden lassen. Er wird Euer Gefängnis wenden, er wird Euch wieder die
Freiheit schenken, nach eigener Wahl die Straße zuziehen, die Euer von ihm
berührtes Gewissen Euch weist, wenn die Straßen der Welt wieder frei sind für
die Boten des reinen Evangeliums der Liebe und Wahrheit und wenn die Völler der
Welt und ihre Herrscher eingesehen haben, dass das Reich unseres Herrn und
Königs nicht von dieser Welt ist; dass es höher und weiter ist. dass es die Welt
überwindet!
Zehn Jahre bin
ich nun in Eurer Mitte gewesen, habe Leid und Freud, Wohl und Wehe unserer
Leipziger Mission und unseres Missionsgeschwisterkreises mit Euch geteilt. Wir
sind mehr und mehr eins geworden, haben uns in der Liebe zu der gemeinsamen
Arbeit gefunden - nun sollen alle diese Bande plötzlich zerrissen werden! Es ist
noch kaum denkbar und ist so sehr schmerzlich und traurig. Doch wir müssen uns
fassen in der Kraft des Herrn, dessen Wege nicht unsere und dessen Gedanken
nicht unsere sind. Wir müssen ihm stille halten und harren. Und sollte das
schwer sein, wo er uns seiner Gedanken des Friedens versichert? Sein Friede
umwalte Euch! Zieht hin in Frieden und wirket aus seine Friedensgedanken, bis
wir uns wiedersehen hier oder dort in der Herrlichkeit und ihn loben für seine
Barmherzigkeit, deren wir nicht wert sind. Dir sei die Ehre in alle Ewigkeit, o
Herr! Amen.
Da lag sie nun
vor uns, die "Golconda", das merkwürdige Missionsschiff, das die
Missionsfamilien von sechs deutschen evangelischen Missionsgesellschaften aus
allen Teilen Indiens gewaltsam von ihrer Arbeit entfernen und zurück in ihre
Heimat befördern sollte. Was war das für ein Drängen und Schieben auf dem
kleinen, in Kalkutta bereits mit den aus Burma und der Provinz Bengalen
eingebrachten Deutschen gefüllten Schiff, bis da jeder seine Kabine gefunden,
die Kinder besorgt und das Gepäck an seinen Platz gebracht hatte.
Der breite Quai
bot ein unbeschreibliches Bild der Verwirrung mit seinen unzähligen
durcheinander und übereinander geworfenen großen und kleinen Gepäckstücken. Bis
zum Mittag des nächsten Tages dauerte die Verladung. Jeder stand und beobachtete
in der Nähe der Schiffsbrücke die hereinkommenden Sachen, um sein Handgepäck,
das die nötigsten Kleidungsstücke für die lange und alle Wärmezonen kreuzende
Reise enthielt, in der Nähe seiner Kabine auf die Seite zu bringen. Was nicht
rechtzeitig noch abgefasst wurde, das verschwand mit den großen Kisten und
Kasten in den Tiefen des unteren, schwer zugänglichen Schiffsraumes, wo über
einer Ladung Magnesiumerzes wiederum alles durcheinander geworfen wurde, so dass
viele Kisten zerbrachen. Einer unserer Brüder hatte ein interessantes kleines
Erlebnis mit einem der tamulischen Gepäckträger. Dieser wunderte sich, dass wir
alle so gut tamulisch sprachen, was er von Engländern nicht gewohnt war, und
fragte, wer wir seien und wohin wir gingen. Als er hörte, wir seien Deutsche und
würden nach Deutschland gebracht, zog er schweigend seine Kappe und salutierte
mit tiefer Verbeugung.
Abgesehen von
den englischen Schiffsoffizieren bestand die ganze Bemannung des Schiffes an
Matrosen. Köchen und Dienern aus Eingeborenen, meist Mohammedanern aus der
Provinz Bengalen, mit denen wir aus Südindien kommenden Missionare leider nicht
sprechen konnten, da ihre Sprache Hindostani war, und sie nur ganz wenige
Brocken Englisch verstanden. Unsere Kinder versuchten es immer wieder
vergeblich, sich mit ihnen zu verständigen. Nach einigen Tagen kam mein Junge
glückstrahlend: "Papa, ich habe einen gefunden, der Tamulisch kann." Es war ein
aus Madras gebürtiger tamulischer Diener, ein katholischer Christ namens Antoni,
der in seiner Jugend mit seinen Eltern nach Kalkutta verzogen war. Er ist uns
dann auf der ganzen Reise immer sehr behilflich gewesen.
Wir waren
während der Fahrt dem Hauptmann einer Abteilung von etwa 25 englischen Soldaten
unterstellt, die zu unserer Bewachung mitgeführt wurden. Wir können nicht sagen,
dass wir von ihnen irgendwie behelligt worden wären. Einige von ihnen haben in
den Häfen, wo wir anlegten, aber das Schiff nicht verlassen durften, in der
freundlichsten Weise Besorgungen für uns gemacht. Freilich war die Art, wie die
meisten von ihnen sowohl wie manche Schiffsoffiziere vor aller Augen auf Deck
mit den etwa 30 Frauenspersonen verkehrten, die, aus der Hefe der europäischen
Bevölkerung hervorgegangen, auch in den indischen Hafenstädten ihr Wesen treiben
und die mit uns auf dem Schiff untergebracht waren, um nach ihrer Heimat in den
Donauländern zurückbefördert zu werden, während der ganzen Reise tief empörend
für uns alle.
Der
sympathischste und freundlichste Engländer auf dem Schiff war ohne Zweifel der
Arzt, ein schon älterer Herr, der sich der vielen Kranken mit seiner allerdings
sehr lückenhaften, kleinen Schiffsapotheke unermüdlich angenommen hat.
Am Nachmittag
des 24. November gab die Schiffspfeife das Signal zur Abfahrt. In tiefer
Bewegung standen wir alle auf Deck, um den letzten Abschiedsgruß in das indische
Land hinüberzuwinken. Es drängte uns, ein Lied zum Abschied anzustimmen. Wir
unterließen es jedoch, um nicht den Eindruck einer Demonstration zu erwecken.
Erst als das Schiff den Hafen verlassen hatte und die Türme von Madras fern am
Horizonte standen, stimmten wir an: "In Gottes Namen fahren wir" und "Harre
meine Seele, harre des Herrn." Dann machten wir uns untereinander bekannt oder
erneuerten alte Bekanntschaften, froh, dass wir nach langer Isolierung auf
unseren Stationen wieder einmal Gelegenheit hatten, unter so vielen deutschen
Brüdern und Schwestern unsere Gedanken auszutauschen.
Die folgende
Zusammenstellung zeigt, wie sich die Missionsangehörigen unter den Fahrgästen
auf die verschiedenen Missionsgesellschaften verteilten:
Wie schon aus
dieser Liste ersichtlich ist, mussten viele Frauen, besonders aus der Basler
Mission, mit ihren Kindern ohne ihre Männer reisen, die noch in Ahmednagar
festgehalten sind. Die Zahl aller Kinder an Bord war 171, weitaus die meisten
unter 6 Jahren bis herab zum Säuglingsalter. Letztere hatten keine besonderen
Reisepässe ausgestellt bekommen, und so erklären sich Verschiedenheiten in den
Angaben über die Gesamtzahl der Passagiere. 477 Personen reisten mit Pass; die
ohne Pass beförderten Säuglinge eingeschlossen mögen es wohl 500 Passagiere
gewesen sein. Wenn man dazu die Mannschaft des Schiffes einrechnet, die mit 250
durchaus nicht zu hoch eingeschätzt sein dürfte, so waren auf der "Golconda" im
ganzen 750 Menschen untergebracht, und das für die Zeit einer 53tägigen
Seereise. Die "Golconda" ist ein altes Schiff von etwa 6.000 Tonnen Gehalt. Vor
27 Jahren hat die Gattin unsres Propstes Meyner als Braut ihre erste Reise nach
Indien auf ihr gemacht. In Kalkutta hatte man sie erst durch Einbauen von Betten
und Kabinen in die Frachträume des Schiffes zum Transport so vieler Passagiere
eingerichtet. Dermaßen waren alle Räume überfüllt, dass einige Personen,
darunter auch Damen, es vorzogen, für die ganze Dauer der Reise nachts ihre
Betten auf den Tischen des Speisesaales aufzuschlagen. Dabei hatten viele
Familien unter Krankheitsnot schwer zu leiden, wiederum besonders die
Geschwister aus der Basler Mission, die aus dem Gefangenenlager von Bellary
kamen, wo sie alle von der Malaria durchseucht worden waren. Die Gattin unseres
Bruders Hartmann war auf dem ganzen Wege von Madras bis Kapstadt so schwach und
elend, dass der Arzt ernstlich erwog, ob es nicht angezeigt sei, die Familie
Hartmann in Kapstadt auszuschiffen und dort auf eine spätere Fahrgelegenheit
warten zu lassen.
Zwei Kindlein, ein Kaufmanns- und ein Missionarstöchterchen, starben auf der
Reise und wurden unter feierlicher Beteiligung aller Passagiere, eingehüllt in
die schwarz-weiß-rote Flagge, in den indischen Ozean bestattet. Beide waren in
der Kriegszeit geboren; ihre Väter waren weit fort im großen Gefangenenlager
Ahmednagar, wo das eine von beiden auch getauft worden ist und den Friedensnamen
Irene erhalten hatte. Zweimal hatten wir den Äquator und den südlichen
Wendekreis zu überschreiten, und der Wechsel des Klimas machte sich besonders
hinter Kapstadt im Atlantischen Ozean geltend. Es werden nur ganz wenige ohne
Husten und heftige Halskatarrhe davongekommen sein. Merkwürdigerweise gab es
während der ganzen siebenwöchigen Reise nur verhältnismäßig wenig Seekrankheit.
Wie hatten wir uns vor den um diese Jahreszeit üblichen Monsunstürmen im
Indischen Ozean und vor Winterstürmen in den europäischen Gewässern gefürchtet!
Aber das Meer war ruhig und nur ganz selten mäßig bewegt. Vor Madagaskar
kündigte der Kapitän an, dass wir wahrscheinlich einen Sturm bekommen würden.
Der erste Schiffsoffizier schrieb deshalb Listen aus zwecks Verteilung der
Passagiere auf die Rettungsboote. An allen Kabinentüren fanden wir eines Tages
die Nummer des Rettungsbootes angeschrieben, in das sich die einzelnen Insassen
im Falle der Gefahr zu begeben hätten. Es rief nicht wenig Unruhe und Bestürzung
hervor, als wir fanden, dass nach dieser Anordnung die Männer und Frauen der
einzelnen Familien durchweg getrennt waren. Die Verteilung war so getroffen,
dass sie auch bei der größten Selbstbeherrschung der Einzelnen mit
Naturnotwendigkeit eine ungeheure Panik und Verwirrung hätte anrichten müssen.
Eine Rettung wäre ja auch bei der Übelfüllung des Schiffes mit seinen engen
Gängen und steilen Treppen und bei der großen Zahl der Frauen und Kinder so gut
wie ausgeschlossen gewesen. Aber wir gaben uns ganz in Gottes Hand und erfuhren
es jeden Tag wieder aufs Neue, dass wir da völlig sicher und geborgen waren. Das
Meer blieb auf der ganzen langen Fahrt ruhig. In Kapstadt erfuhren wir, dass
allerdings drei Tage vorher ein fürchterlicher Sturm an der Südküste Afrikas
getobt hatte, und in Gibraltar erzählten englische Matrosen, die tags vorher mit
einem Torpedoboot angekommen waren, wie sehr ihnen die stürmische See im Golf
von Biscaya zugesetzt hatte. Aber unser Schiff zog ruhig seine stille Straße.
Und hatte uns vor der Winterkälte gebangt, umso mehr als das Schiff keinerlei
Heizungsanlagen hatte, so durften wir erleben, dass Mitte Januar im englischen
Kanal und in der Themsemündung strahlender Sonnenschein uns grüßte und milde
Frühlingsluft uns umwehte. Wie oft habe ich da an das Wort gedacht, das mein
Pastor mir in seinem letzten Briefe nach Madras geschrieben:
"Wie Noahs
Arche Gottes Herzen teuer war,
so wird sein Auge auch auf der Golconda freundlich ruhen."
Postcard GOLCONDA Built in 1888 by William Doxford & Sons,Sunderland. Tonnage: 6,037g, 3,960n, 6,000dwt. Engine: Triple Expansion by Builder, 4,360 I.H.P., 13 Knots. Launched 8th February 1887,
Completed September 1888, Yard No 166
Golconda 1887 - 1915 became Indian Government transport,
1916 sunk by mine in North Sea, 19 lives lost.
Wir fühlten uns
auf der ganzen Reise getragen von den Gebeten unsrer in Indien zurückgelassenen
Gemeinden und unsrer Lieben und Freunde in der deutschen Heimat. Selbst der
englische Kapitän des Schiffes sagte, er habe noch nie in seinem Leben eine so
wunderbare Fahrt gehabt. Deshalb waren wir auch trotz vieler Widerwärtigkeiten,
trotz Unbequemlichkeit und Schmutz des Schiffes und oft ungenießbaren Essens
immer in fröhlicher Stimmung. Ein schöner Geist christlicher und
deutschnationaler Einmütigkeit verband bis auf einen bestimmt abgegrenzten Rest
uns alle, deutsche Lutheraner und Tiroler Kapuziner, Missionare, Kaufleute und
Handwerker bis zu dem 15jährigen deutschen Schiffsjungen, der mit seiner
Mundharmonika zum Marschieren ums Deck herum aufspielte. Einer ging dem anderen
hilfreich zur Hand; wir waren wie eine große Familie. Wohl noch nie ist auf
einem Schiff so viel gesungen worden wie auf der Golconda. Es war ja auch
Advents- und Weihnachtszeit. Und nicht nur unsre Choräle in den Gottesdiensten
und täglichen Morgen- und Abendandachten, nicht nur Weih-nachts- und andere
geistliche Lieder, auch unsre frischen oder wehmütigen oder trotzigen Volks- und
Vaterlandslieder wurden oft und begeistert gesungen zum Klavier, zur Zither und
zur Gitarre. Dabei fehlte es auch nicht an lustigem Humor. Von Kapstadt an wurde
auf Weihnachten gerüstet. Wir hatten in eine gemeinsame Kasse zur Bescherung für
die Kinder Beiträge zusammengelegt, und der erste Schiffsoffizier übernahm die
Besorgung von Äpfeln, Nüssen und Spielzeug und auch eines Christbaums in Gestalt
einer langnadligen Kiefer aus Kapstadt. Die größeren Kinder, von denen manche
nur mit Schwierigkeit deutsch sprechen konnten, übten eifrig alle Morgen und
Abende "Ihr Kinderlein kommet", "O du fröhliche" und "Stille Nacht". Sie sahen
mit Spannung dem festlichen Tage entgegen. Gerade an den drei Weihnachtstagen,
während das Schiff über den Äquator fuhr, hatten wir noch einmal recht tropische
Hitze. Das hielt jedoch den ersten Offizier, der damals bewies, dass unter einer
rauhen Schale bei ihm ein gutes Herz wohnte, nicht ab, als Weihnachtsmann im
Pelz und langem Barte unter dem brennenden Christbaum den vielen Kindern ihre
Tüten und Pakete eigenhändig auszuteilen.
Wer von uns
hätte sich noch zwei Monate vorher träumen lassen, zur Weihnachtszeit 1915
St. Helena zu sehen, die öde Felseninsel, die gerade vor 100 Jahren dem
Welteroberer Napoleon zum Verbannungsort wurde! Es hieß, es seien gefangene
Deutsche aus Südwest da, und die Soldaten höhnten, bald werde man auch den
deutschen Kaiser dahin bringen. Ansichtspostkarten waren zu haben mit dem
Aufdruck: "made in Germany". Als trauriges Wahrzeichen des düsteren Ortes lag
ein verbranntes und zur Hälfte gesunkenes Petroleumschiff im Hafen, und das
Städtchen hinter dem Hafen war nachts ohne Licht.
Waren wir
bisher auf der weiten Wasserwüste nur ganz wenigen Schiffen begegnet, so merkten
wir später an der Straße von Gibraltar, dass wir in die Kriegszone eintraten.
Schiff um Schiff tauchte auf; meist Fracht- und Kohlendampfer, darunter aber
auch ein Hospitalschiff mit Verwundeten vom östlichen Kriegsschauplatz und
schnelle, die Meerenge absuchende Torpedoboote. Des Nachts huschte unaufhörlich
das grelle Licht der Scheinwerfer von Küste zu Küste, und an vielen Stellen
blitzten am schwarzen Gibraltarfelsen Signallichter auf. Dasselbe Treiben
wiederholte sich in verstärktem Maße dann später an der englischen Küste, wo wir
bei Deal zwei Tage lang vor Anker liegen mussten, weil, wie es hieß,
Flottenaktionen die Weiterfahrt gefährdeten. Wir hörten auch des Öfteren dumpfe
Kanonenschüsse.
Während der
letzten Tage wurden wir in der größten Ungewissheit über unser weiteres
Schicksal gehalten. Nach London, hieß es, sollten wir gebracht werden. Warum
nach London? In Indien war uns doch gesagt worden, wir würden in einem
holländischen Hafen landen! Sollte unser Gepäck in London noch einmal gründlich
gemustert werden? Sollten die jüngeren Männer unter uns doch noch in England
interniert werden? Sollte irgendein unvorhergesehenes Ereignis eingetreten sein?
- Die letzte Nacht auf der Golconda war die schwerste. Wir lagen zwischen
Gravesend und
Tilbury mitten auf der Themse. Offiziere kamen an Bord. Am späten Nachmittag
mussten wir alle mit unsern Kindern auf Deck antreten zur Vorlegung der Pässe
und zwei Stunden lang im scharfen Nordostwind stehen. Die Kinder froren und
fingen an zu weinen. Nach dem späten Abendessen brachten wir sie zu Bett. Da
Plötzlich gegen zehn Uhr ging der Befehl durchs Schiff: "Alles Handgepäck zur
Durchsuchung aufs Mitteldeck bringen und familienweise antreten zur Aushändigung
der Pässe für die Weiterreife". Alles lief durcheinander. Koffer wurden gepackt
und nach dem Mitteldeck geschleppt, wo sie sich immer mehr anstauten. Die Mütter
weckten ihre Kinder aus dem Schlafe, zogen sie an und wickelten sie in wollene
Decken und Tücher. Wer sein Gepäck durch die Revision gebracht und die Scheine
für die Weiterfahrt erhalten hatte, begab sich auf die Dampffähre, die drei-
oder viermal hinüber und herüber ging, um Passagiere und Gepäck in dunkler,
regnerischer Nacht auf ein holländisches Schiff zu bringen. Sieben Männer wurden
festgehalten; aus welchem Grunde, ist uns nicht bekannt: die drei Konsuln von
Kalkutta, Rangun und Madras, unser Propst Meyner, der Hermannsburger Missionar
Wickert, ein Musikdirektor und ein Photograph aus Österreich. Es war für sie ein
schwerer Abschied von Frau und Kind, so nahe vor dem Ziele, in völliger
Ungewissheit um ihr Schicksal, und wir alle fühlten ihr Weh mit. Die ganze Nacht
hindurch dauerte die Überführung von Schiff zu Schiff bis gegen fünf Uhr
morgens. Ich war mit meiner Familie der letzte, der zur Revision anzutreten
hatte. Auch hier ging es wieder summarisch zu: "Führen Sie Geld mit sich?" -
"Nein". "Keinen einzigen Penny?" - "Nein, keinen Penny, nur noch einige indische
Münzen." "Weiter nichts?" - "Noch einen Cheque auf eine holländische Bank über
100 Rupien". "Gehen Sie!" So war alles abgemacht. Freilich, zu unsrer Bestürzung
merkten wir später, dass unser ganzes Handgepäck auf der Golconda
zurückgeblieben war, und so ging es noch vielen anderen. Aber auf der
"Mecklenburg" war bald alles Ungemach der schlimmen Nacht vergessen. Nach der
schmutzigen "Golconda" fühlten wir uns auf dem schönen, sauberen holländischen
Schiff wie im Paradies. Von der Abfahrt aus der Themsemündung haben wohl die
wenigsten von uns etwas gemerkt. Wir erwachten erst, als wir schon weit draußen
in See waren. Mit außerordentlicher Geschwindigkeit durchschnitt der kleine
Doppelschraubendampfer die Wellen, die sich von Stunde zu Stunde immer stärker
entgegenbäumten und nach Mittag so hoch stiegen, dass sie unaufhörlich übers
Deck hereinbrachen. Über 11.000 Seemeilen hatten wir auf ruhiger See
zurückgelegt, und nun auf dem letzten Stück der langen Reise erlebten wir noch
einen richtigen Sturm. Dazu war unser Weg noch besonders gefahrvoll, da wir ein
englisches Minenfeld umfahren mußten. Wie leicht konnte unser Schiff auf eine
durch den Sturm abgetriebene Mine geraten[2].
Ungefähr in der Mitte der Fahrt mußten wir einer entgegenkommenden Flottille von
kleinen englischen Kreuzern und Torpedobooten ausweichen. So brauchten wir trotz
aller Kraftanstrengung der Maschinen 3½ Stunden länger als die sonst übliche
Überfahrtszeit. Gegen vier Uhr nachmittags kam der Leuchtturm von
Vlissingen in Sicht. Wir versammelten uns auf dem oberen Deck. Aus
übervollem Herzen entströmte uns allen der Gesang von "Nun danket alle Gott".
Unvergesslich
wird die Golcondafahrt all ihren Teilnehmern bleiben. Wie dem Volk Israel in der
Wüste des Tages in einer Wollensäule und des Nachts in einer Feuersäule, so war
uns der Herr allen spürbar voran-gezogen. Es war das wunderbarste Ereignis
unseres Lebens.
Als die
Ausweisung der indischen Missionarsfamilien in der Heimat bekannt wurde, traten
die Direktoren der in Indien tätigen deutschen Missionsgesellschaften zu einer
gemeinsamen Beratung in Kassel zusammen. Sie beschlossen, die Hilfe der
Deutschen Regierung anzurufen und je einen Vertreter zur Abholung der Ihrigen
nach Holland zu schicken. Nach Lage der Dinge konnte nur einer der dortigen
Häfen für die Landung in Betracht kommen.
Unser
Missionsdirektor
D. Paul übernahm die Verhandlungen mit dem Auswärtigen Amt in Berlin. Er
fand für alle Wünsche bereitwilliges Entgegenkommen. Das Marineamt sagte eine
Benachrichtigung der Unterseebootsführer zugunsten der in die europäischen
Gewässer kommenden "Golconda" zu, das Auswärtige Amt die Hilfe der deutschen
Konsulatsvertreter in den Niederlanden, das Preußische Ministerium der
öffentlichen Arbeiten die freie Eisenbahnfahrt für alle Heimkehrenden von der
holländischen Grenze bis zum Sitz der Missionsgesellschaften. Später stellte
sich heraus, dass für die holländische Strecke ein Extrazug gestellt wurde, so
dass den Missionen außer geringen Nebenspesen für die Beköstigung auf der
"Mecklenburg" und für das nachgesandte Gepäck keinerlei Reisekosten für die
weite Fahrt erwuchsen. Allen Regierungsstellen gebührt der wärmste Dank für
dieses Entgegenkommen. Oberhofprediger
D. Dryander in Berlin, der als Vorsitzender der Vereine vom Roten Kreuz von
den Vorbereitungen der Behörden Kenntnis erlangt hatte, bot von selbst die Hilfe
der Roten Kreuz-Station an der Grenze an.
Eine
Schwierigkeit erwuchs aus der Unsicherheit, wann und wo das Transportschiff
landen würde. Die in Friedenszeichen üblichen telegraphischen Meldungen über den
Schiffsverkehr hatten seit Kriegsbeginn aufgehört. Nach langem Forschen konnte
endlich festgestellt werden, dass die "Golconda" am 22. Dezember in
St. Helena gewesen und um den 10. Januar in Holland zu erwarten war.
Um den
Heimkehrenden die Landung und den Grenzübergang nach Möglichkeit zu erleichtern
und ihre sofortige Zerstreuung auf deutschem Boden zu verhindern, schickten wir
bald nach Neujahr unseren Missionar Tr. Rüger aus, der ein halbes Jahr früher
aus der hinterindischen Gefangenschaft kommend diese Reise schon einmal gemacht
hatte. Er mag auf den folgenden Seiten selbst von seinem Suchen und Finden
erzählen. Er berichtet:
"Mit großer
Freude empfing ich den Auftrag, unsere lieben Missionsgeschwister aus Indien in
Holland abzuholen. Es sollte alles getan werden, ihnen den Weg zu ebnen. Ich
fuhr in der Nacht vom 5. bis 6. Januar nach Rotterdam in der Hoffnung, vom
dortigen deutschen Konsul etwas Genaueres über unsere Reisenden zu erfahren. Mit
ängstlicher Sorge musterte ich in dem Gedanken, ob ich auch noch zurecht käme,
jeden begegnenden Zug. Von der großen Reisegesellschaft, die nicht leicht zu
übersehen war, ließ sich nichts entdecken. Endlich erreichte ich Rotterdam. Dort
sofort zum deutschen Konsul. Ihm war noch keine Meldung über die Ankunft unserer
Reisenden geworden. Nur soviel erfuhr ich, dass drei Vertreter anderer Missionen
in einer Viertelstunde nach Vlissingen abreisen wollten. Zum Hauptbahnhof konnte
ich nicht mehr rechtzeitig zurück, um mein Gepäck zu holen und mich gleich
anzuschließen. Doch glückte es mir, die drei Vertreter D. Nottrot (Goßnersche
Mission), Pastor Bahnsen (Breklum) und Missionar Harms (Hermannsburg) auf der
ersten Haltestelle zu treffen und gleiches Reiseziel zu verabreden. Am folgenden
Tage stießen noch zwei Herren zu uns, und so warteten wir sechs Leute auf die
Unseren. Die Tage Harrens in Vlissingen waren eine rechte Geduldsprobe. Wir
machten uns mit den dortigen Geistlichen bekannt und erfuhren zu unserer Freude,
dass mehrere Missionsfreundinnen unter Leitung von Frau Pastor Voorhoeve und
Frau Pfarrer Talma geschäftig waren, für den Empfang der Reisenden Vorkehrungen
zu treffen. Die letzteren sollten womöglich sofort zur deutschen Grenze
weiterbefördert, aber vorher mit Speise und Trank erquickt und die Bedürftigen
unter ihnen mit warmer Kleidung versehen werden. Mit tiefer Rührung sahen wir
all die Liebe und Fürsorge, die man den Unsrigen entgegenbrachte. Aber noch
immer blieb es eine offene Frage, ob die "Golconda" direkt nach Holland käme
oder ihre Fahrgäste in England absetzen würde. Nach altbewährtem Grundsatz
"getrennt marschieren" reisten drei von uns, darunter der Schreiber dieses, nach
Rotterdam, um auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein. Es gab ja nur drei
Möglichkeiten für die Ankunft: Vlissingen, Rotterdam oder Amsterdam; letztere
beiden Orte nahe beieinander. So saßen wir auf der Lauer, immer in Fühlung
miteinander. Am 12. Januar endlich erreichte uns die telegraphische Nachricht:
"Landung morgen Nachmittag in Vlissingen". Wir trafen daraufhin am Abend
desselben Tages wieder alle in Vlissingen zusammen, kauften am nächsten Morgen
das Nötigste für die Reise ein und begaben uns um drei Uhr nachmittags zum
Bahnhof. In liebenswürdiger Weise gab der holländische Admiral uns sechs
Vertretern der Missionsgesellschaften Eintrittskarten zur großen Halle, die
polizeilich abgesperrt war. An das Schiff durften wir leider nicht heran. Aber
alle Reisenden mussten die große Halle passieren, in der wir uns verteilten, um
unsere Leute herauszusuchen. Erst kamen, von Pferden gezogen, große Wagen mit
Handgepäck, das sofort in den bereitgestellten Zug gebracht wurde. Dann kam ein
Menschenstrom herein. Man konnte es allen Ankömmlingen ansehen, wie froh sie
waren, nach dem letzten so stürmischen Teil der Reise endlich festen Boden unter
den Füßen zu haben. Aber die Spuren der überstandenen Leiden waren noch
deutlicher auf den hageren und farblosen Gesichtern zu lesen. Gespannt musterte
ein jeder von uns die Gestalten. Von unsern Geschwistern kam zuerst Frau Meyner.
die Gattin unseres lieben Propstes, mit ihrem Töchterchen heran. Sie brachte die
betrübende Kunde, dass ihr Mann in England zurückgehalten worden sei. Wie mich
das schmerzte! Vorbei wogten die Menschen. Ein liebes, vertrautes Gesicht nach
dem andern tauchte auf. "Hierher Leipzig", "hier Basel", "hier Hermannsburg", so
klang es. Ein frohes Wiedersehen und Grüßen überall. Nach kurzer,
glücklicherweise sehr oberflächlichen Durchsuchung des Gepäcks brachten wir
unsere Leute zum Amtszimmer des deutschen Konsuls, der ihre Namen aufschrieben
ließ. Dann ging's hinaus auf den großen Bahnsteig und hinein in den
bereitstehenden Zug. Geschäftig eilten die Damen von Vlissingen den Bahnsteig
entlang, um Fleischbrühe und Kaffee sowie Butterbröte zu verteilen. Auch warme
Kleidungsstücke und in Papierdüten verpackte Wegzehrung wurden vorsorglich
mitgeben. Glücklicherweise gab es auch Milch für die kleinen Kinder. Nach zwei
Stunden waren die Reisenden verladen, und nun ging's der Heimat zu. Mitternacht
erreichten wir Goch, die deutsche Grenzstation. Der Empfang auf dem
vaterländischen Boden war sehr freundlich. Die Offiziere waren besonders den
Missionsleuten gegenüber äußerst liebenswürdig. Herr Oberleutnant Merk begrüßte
die Ankommenden mit einer herzlichen Ansprache, und da genaue Listen vorbereitet
waren, konnten die Förmlichkeiten schnell erledigt werden. Hier in
Goch hatte das Rote Kreuz alles zum Empfang vorbereitet. Die ganze Nacht
hindurch wurde unermüdlich Kaffee und Butterbrot ausgegeben. Gegen 5.000
Butterbrote sind verteilt und gegen 600 Liter Kaffee ausgeschenkt worden.
Unermüdlich walteten die Schwestern und ihre Helferinnen ihres Amtes. Auch für
Nachtlager war Vorsorge getroffen, wenn auch nur ein Teil der Reisenden sich
dieser Bequemlichkeit erfreuen konnte. Die meisten blieben im Zug, der die ganze
Nacht hindurch geheizt wurde. Inzwischen war auch das mitgekommene Handgepäck
ausgeladen und in langen Reihen aufgestellt worden. Manch einer der lieben
Reisenden musste da freilich die betrübende Wahrnehmung machen, dass sein
Handgepäck auf dem englischen Dampfer zurückgeblieben war, was besonders für die
Familien mit Kindern peinlich war. Man half sich gegenseitig aus, soweit das
möglich war[3].
In einem außergewöhnlich langen Zuge verließen die meisten der Missionsleute
Goch am Freitagvormittag 10 Uhr. Leider blieben wegen der Länge des Zuges die
hintersten Wagen, in denen wir saßen, recht kalt, so dass die durch das warme
Tropenklima verweichlichten Reisenden unter der nordischen Temperatur
empfindlich litten. Ganz durchfroren und hungrig langten wir nachmittags gegen 4
Uhr in Hannover an und erfuhren zu unserer Bestürzung, dass der Schnellzug, der
uns nach Leipzig bringen sollte, nicht auf unseren verspäteten Zug gewartet
hatte. Wir mussten daher die schon nach Leipzig telegraphierte Ankunft für die
Nachzeit anmelden. Der 2½stündige Aufenthalt im gut durchwärmten Wartezimmer hat
uns aber recht gut getan, zumal da die Flau Oberin und eine Anzahl Schwestern
vom dortigen
Heniettenstift herbeieilten und uns reichlich mit Speise und Trank
erquickten, auch noch Wegzehrung für die weitere Fahrt mitgaben. Auch unseren
verehrten früheren Lehrer. Herrn Pastor Lic. Lohmann, hatten wir hier die Freude
zu begrüßen. Erquickt und neu gekräftigt konnten wir in gut geheiztem Zuge den
letzten Abschnitt unserer Reise antreten. In Halle gab es freilich nochmals
Wagenwechsel. Wir mussten in dem überfüllten Leipziger Zuge uns Platz suchen, so
gut es gehen wollte. Die vorher geschlossene Reisegesellschaft wurde dabei
auseinandergerissen. Aber es war ja nur eine kurze Fahrt. Nachts ½12 Uhr kamen
wir endlich wohlbehalten an; auf dem Bahnsteig freundlich begrüßt von den
Unseren, welche die übermüdete Reisegesellschaft ins gastliche Missionshaus
geleiteten, wo alles aufs Beste zum Empfang zugerichtet war. Die späte
Nachtstunde vereitelte den geplanten feierlichen Abendsegen im Betsaale. Aber
durch alle Herzen zog beim Einschlafen in den behaglichen Betten ein inniges
Dankgebet: "Bis hierher hat der Herr geholfen."
Angesichts der
sich kundgebenden Teilnahme der Missionsgemeinde hatte es das Missionskollegium
für billig erachtet, auch ihr Gelegenheit zu geben, unsere Heimgekehrten an der
Stätte, von der einst die Missionare zum Dienst unter den Tamulen Indiens
abgeordnet worden waren, in einem feierlichen Gottesdienst zu begrüßen, zu dem
uns die Nikolaikirche von zuständiger Seite freundlichst zur Verfügung gestellt
wurde.
Unser
Missionsblatt brachte über diese denkwürdige Veranstaltung folgenden Bericht:
Schon lange vor dem auf sechs Uhr abends festgesetzten Beginn der Feier begann
sich das Gotteshaus bis auf den letzten Platz der obersten Emporen so zu füllen,
dass Späterkommende scharenweise umkehren mussten. Noch nie hat Leipzig einen
Missionsgottesdienst mit so großer Beteiligung der Gemeinde und solcher
Aufmerksamkeit der Versammlung gesehen. "Man konnte es fühlen, dass allen das
Herz ergriffen war, und sie das Bewusstsein einer einzigartigen Gottesstunde
hatten." Auch von auswärts hatten sich zahlreiche Freunde der Mission
eingestellt. Ihre Zahl würde gewiss noch größer gewesen sein, wenn ihnen
rechtzeitig mit Sicherheit hätte angegeben werden können, an welchem Tage die
Feier stattfinden würde. Auf dem Altarraum hatten die besonders Geladenen Platz
genommen. Unter ihnen befanden sich die Generalität, Vertreter des
Landeskonsistoriums, des Rates der Stadt Leipzig, der Universität, der
Kreishauptmannschaft, des Reichsgerichts und der mit unserer
Missionsgesellschaft verbundenen Vereine aus verschiedenen Teilen Deutschlands.
Feierlich
tönten die Klänge eines Orgelpräludiums durch den weiten, in festlicher
Beleuchtung strahlenden Raum der Kirche. Jetzt erschienen aus der Beichtkapelle
im Zug die Missionsleute, geführt von Missionsdirektor
D. Paul, und nahmen vor der Kanzel Platz. Auch von den Kindern begleiteten
die fünf ältesten ihre Eltern. Das war so beweglich, dass manchem die Tränen in
die Augen traten und die Stimme versagen wollte, als nun der Gemeindegesang mit
dem für diese Stunde so zutreffenden Liede einsetzte:
Christen
erwarten in allerlei Fällen
Jesum mit seiner allmächtigen Hand.
Mitten in Stürmen und tobenden Wellen
Sind sie gebauet auf felsiges Land.
Wenn sie die Mächte der Trübsal bedecken,
Kann doch ihr Grauen sie wenig erschrecken.
Jauchzen die
Feinde zur Rechten und Linken,
Drohet und hauet ihr blinkendes Schwert,
Lassen doch Christen die Häupter nicht sinken,
Denen sich Jesus im Herzen vermählt.
Wüten die Feinde mit Schnauben und Toben,
Schauen sie dennoch voll Trostes nach oben.
Freue dich,
wenn du statt freundlichen Blicken
Mancherlei Jammer erduldest und Not;
Wisse, was Gott will erhöhn und erquicken,
Muss erst mit Jesu durch Leiden und Tod.
Willst du mitleben, so musst du mitsterben,
Anders kann keiner den Himmel ererben.
Nachdem hierauf
der Missionsdirektor vor dem großen Altar die Eingangsliturgie gehalten hatte,
trat er vor den im Vorderraum des Altarplatzes errichteten kleinen Altar, von
dem aus sonst die Abordnung unserer Missionare zu geschehen pflegt, und verlas
den 80. Psalm, dieses gewaltige und doch zugleich kindlich gläubige Bittgebet Assaphs, dessen Inhalt die Gemeinde in dieser Stunde sich so recht von Herzen
aneignen und aus ihm zugleich die Gewissheit der Erhörung durch den Hirten
Israels schöpfen konnte. Dann nahm er das Wort zu folgender Ansprache, die in
kurzer mit tiefer Bewegung gesprochenen Worten den Grund der Feier ankündigte:
Im 80. Psalm
wird unter dem Bilde des Weinstocks, der aus Ägypten geholt und im gelobten
Lande eingepflanzt ist, eine göttliche Pflanzung beschrieben, die wir von Kind
auf kennen und lieben. Gegen Ende des Psalms wandelt sich die Beschreibung des
Weinstocks in eine herbe Klage über seine Verwüstung. Von dieser Klage über die
Schädigung einer Gottespflanzung soll in dieser Stunde eine Fortsetzung
geschehen.
Wenn wir uns
sonst in der Epiphanienzeit versammelten, freuten wir uns an den Missionsfeldern
der Erde, deren manches wie ein Garten Gottes anzusehen war bis in unsere Tage
herein. Nun hat der Weltkrieg auch diese Pflanzungen verwüstet. Auf einzelnen
Missionsfeldern - es sei nur an Kamerun und
Tsingtau erinnert - hat sich buchstäblich erfüllt, was hier von dem
zerbrochenen Zaun und dem Tränenbrot gesagt ist.
Unsere
Leipziger Mission ist nicht so schwer geschlagen wie einzelne andere. Aber es
ist doch auch über uns eine große Heimsuchung ergangen. Zwar unser Arbeitsfeld
in Deutsch-Ostafrika steht zurzeit noch unversehrt da. Noch immer läuten unsere
Kirchenglocken auf den Vorbergen des
Kilimandjaro und des
Meru oder in den Gebirgstälern des Parelandes. Noch immer ziehen dort große
Scharen von Knaben und Mädchen in unsere Missionsschulen. noch immer werden
Heiden zur Taufe vorbereitet und in die christliche Kirche aufgenommen. Aber
unsere dortigen Brüder und Schwestern haben schwer an der großen Einsamkeit und
dem gänzlichen Abgeschnittensein von der Heimat zu tragen. Eine so junge
Tochterkirche wie die afrikanische bedarf der Verbindung mit der Mutter noch
sehr. Die Unsrigen aber erhielten in den ersten zwölf Kriegsmonaten nicht eine
Zeile von uns. Darüber haben sie bitterlich geklagt, wenn sie auch sonst keinen
drückenden Mangel litten.
Viel schwerer
ist unsere Tamulenmission getroffen. Von Beginn des Krieges an wurden unsere
Brüder und Schwestern in Ostindien als feindliche Ausländer gehalten. Wie viele
Bitterkeit sich daraus ergaben, werden wir heute noch hören. 1½ Jahre fast haben
sie jede Nacht mit Bangen und Hoffen dem Morgen entgegengesehen, was wohl aus
ihnen werden würde, bis zu jenem Novembertage, da sie in Madras das englische
Schiff "Golconda" bestiegen, um in die Heimat zu fahren. In siebenwöchiger Reise
sind sie nun zu uns gekommen, haben dabei zweimal den Äquator überfahren und
sind aus dem heißen Klima der Tropen in die winterliche deutsche Heimat
versetzt. Unser Herz ist in dieser denkwürdigen Stunde geteilt zwischen Dank und
Trauer. Die heimische Missionsgemeinde hat es sich nicht nehmen lassen wollen,
diese hier anwesenden Brüder und Schwestern samt ihren Kindern gemeinsam zu
begrüßen, ehe sie sich hierhin und dorthin zerstreuen. Mit den Missionsfreunden
und dem Kirchenvolk in Leipzig sind die Freunde aus unserem engeren Vaterland
Sachsen gekommen, an der Spitze die Vertreter des sächsischen Kirchenregiments.
Die Abgeordneten von Altenburg, Hannover, Hamburg, Lauenburg, Mecklenburg,
Bayern, Breslau: sie alle wollten gern die Heimgekehrten von Angesicht zu
Angesicht sehen.
Nun grüßen wir
Euch, ihr lieben Brüder und Schwestern. Was Ihr habt entbehren und leiden
müssen, unsere heimische Liebe will suchen, es Euch zu mildern und freundlich zu
ersetzen. Die hier versammelte große Gemeinde soll nun auf die Zwiesprache
zwischen der Mutterkirche und ihrer indischen Tochter lauschen. Der Herr hat den
Seinen verheißen, er wolle sie trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Er mache
heute unter uns diese Verheißung wahr! Herr Gott Zebaoth, tröste uns, lass dein
Antlitz leuchten, so genesen wir. Amen.
Wie die
göttliche Antwort auf die Bitte der Gemeinde mochte es von vielen empfunden
werden, als hierauf der Thomanerchor in vollendet schöner Weise die von E. F.
Richter komponierte Motette "Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet"
anstimmte, die am Schluss in das gewaltige "ob Tausend fallen zu deiner Seite"
ausklang, um von der Gemeinde mit dem Gesang der beiden eisten Strophen des
Lutherliedes "Ein feste Burg ist unser Gott" als dem Ausdruck gläubiger
Zuversicht auf die verheißene göttliche Hilfe beantwortet zu werden.
Nun betrat Geh.
Kirchenrat Prof.
D. Ihmels die Kanzel zu folgender Rede an die heimgekehrten
Missionsgeschwister, welcher er Malth. 6. 10: "Dein Wille geschehe auf Erden wie
im Himmel" zu Grunde legte:
Wir grüßen
euch, die ihr vom Hause des Herrn seid, - euch unsere lieben indischen
Missionsgeschwister. Wir grüßen euch, bei aller Trauer über das, was geschehen
ist, doch in dankbarer Freude, dass Gott euch auf gefahrvollem Pfad sicher
geleitet und uns dies Wiedersehen gegeben hat. Wir grüßen euch und - segnen
euch.
Im Hause des
Herrn, in dieser altehrwürdigen Nikolaikirche, an der Stätte, da ihr, meine
lieben Brüder, einst abgeordnet wurdet, will die Heimat euch einen ersten warmen
kirchlichen Gruß bringen: die missionierende Kirche der Heimat grüßt durch mich
euch, die Vertreter der indischen Missionskirche. Wir tun es in tiefer, starker
Bewegung, aber auch in ehrfürchtiger Beugung unter den Willen Gottes, in
getroster Zuversicht und heiligem, heißem Geloben.
In tiefer,
starker Bewegung. Wir erleben in dieser Stunde ja wieder einmal mit elementarer
Gewalt, dass Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind und unsere Wege nicht
seine Wege. Als ihr, meine lieben Brüder, an dieser Stelle abgeordnet wurdet,
kanntet ihr den Ernst des Lebensweges, der vor euch lag. Euch sind keinerlei
Schwierigkeiten eures Berufes verschwiegen; wir haben auch das Gelübde von euch
fordern müssen, dass ihr, wenn es sein müsste, auch euer Leben im Dienst des
Herrn nicht wert achten wolltet. Aber darauf waren weder ihr noch wir gefasst,
dass Indien jemals unsere Sendboten zurücksenden werde, Indien - England, das
uns bisher gerade in der Mission so eng Verbündete England.
Unsere gesamte
Missionsgeschichte in Indien wie in Afrika kennt bisher keine Stunde wie diese
Stunde. Auch in unserer Mission ist es durch die verschiedensten Kämpfe
hindurchgegangen, auch sie hat ihre Märtyrer; dagegen dass die organisierte
Gewalt eines christlichen Kulturstaates unserer Missionsarbeit ein Ziel setzen
werde - an diese Möglichkeit hätten wir nicht einmal gedacht. Nun aber, da diese
Möglichkeit Wirklichkeit wurde, stehe ich nicht an, diese Stunde eine
weltgeschichtliche zu nennen. Wenn anders die Geschichte des Reiches Gottes die
Seele der Weltgeschichte ist, dann muss wohl diese Stunde weltgeschichtliche
Bedeutung haben, da zum ersten Male in unserer Mission staatliche Gewalt und
nationales Interesse mit dem übernationalen Interesse des Christentums und der
geistlichen Gewalt des Reiches Gottes in ernsthaftem Konflikt zusammenstößt.
Zwar, ich
vergesse nicht, und damit ich nicht England Unrecht tue oder doch zu übertreiben
scheine, will ich es auch ausdrücklich aussprechen: Gewiss, auch in diesem
Augenblick will England mit seinem Gegensatz zu unserer Mission nicht die Sache
des Evangeliums selbst treffen. Wir erkennen auch dankbar an, dass gerade unsere
Leipziger Mission in Indien eine verhältnismäßig lange Schonzeit gehabt hat; wir
möchten auch gern annehmen, dass auch jetzt die indische Regierung zu ihrem
Vorgehen mehr durch den Druck der öffentlichen Meinung als durch eigene
Entschließung gekommen ist. Vor allem aber wollen wir in der Missionsgemeinde
dafür danken, dass die führenden Missionsmänner Indiens in einer gemeinsamen
öffentlichen Erklärung den Abgang unserer Missionare mit einer warmen
Sympathieerklärung für ihre Arbeit und mit dem Ausdruck zuversichtlicher
Hoffnung auf spätere neue gemeinsame Arbeit begleitet haben. Das alles wollen
wir nicht ver-
schweigen, denn
das gibt uns schon jetzt zu der Hoffnung Raum, dass dennoch eine gewisse
Fortführung unserer Arbeit und eine volle Wiederaufnahme nach dem Frieden
möglich sein wird.
Aber auch, wenn
ich ganz- davon absehe, dass auch ganz andere Stimmen aus englischen
Missionskreisen laut geworden sind, so bleibt die Tatsache doch bestehen, dass
zum ersten Male in unserer Leipziger Mission nicht der feindliche Gegensatz
einzelner, auch nicht die Feindschaft wilder Horden, sondern der Gegensatz eines
christlichen Kulturstaates unserer Arbeit Schranken gesetzt hat. Das ist eine
Tatsache von erschütterndem Ernst und von gewaltiger grundsätzlicher Tragweite.
Welche Fragen und Sorgen erheben sich! Welche möglichen Zukunftsperspektiven
eröffnen sich - ich mag sie nicht einmal andeuten.
Es bedarf auch
nicht erst des Ausblicks in die Zukunft, um das schmerzliche Gewicht dieser
Stunde zu empfinden. Die Gegenwart gibt Anlass genug zur Klage. Wir klagen um
euch, ihr lieben Missionsgeschwister, und um das, was ihr erlebt habt. Wie
schwer müsst ihr allein schon darunter gelitten haben, dass ihr durch alle diese
Kriegsmonate von der Heimat, ja sogar von sicheren Nachrichten aus der Heimat
wesentlich abgeschnitten waret. Wir klagen vor allem aber mit euch um die
Gefährdung eurer Arbeit selbst. Was werdet ihr empfunden haben, als ihr euch von
euren Gemeinden verabschieden und den Boden Indiens verlassen musstet, der eure
bisherige Lebensarbeit umschließt. Seid gewiss, euer Leid ist unser Leid; eure
Sorge ist unsere Sorge; und eure Klage ist unsere Klage. Die Klage des 80.
Psalms, den ihr vorhin vom Altar vernommen habt, möchten wir auf die Gegenwart
anwenden und seine Worte wandelnd ausrufen: Warum, Herr, dürfen wir den
Weinstock, den du auch in Indien dir gepflanzet hast, nicht weiter pflegen? -
warum nicht?
Warum nicht?
Wir haben keine Antwort, aber wir beugen uns in heiliger Ehrfurcht unter den
Willen unseres Gottes. Schon diese Beugung dünkt uns innerliche Befreiung. Auch
über dem, was heute geschieht, waltet der Wille unseres Gottes, der Wille, der
auf Erden geschehen soll wie im Himmel.
Wie im Himmel.
Nun möchte ich den Himmel zerreißen können und euch zeigen, mit welcher Majestät
und Sicherheit der Wille Gottes im Himmel geschieht, und wie alles wetteifert,
ihn zu erfüllen. Gleich also soll Gottes Wille auf Erden geschehen: so
majestätisch, so sicher, so selbstverständlich. Wir kurzsichtigen Menschen sehen
immer wieder nur die Widerstände gegen den Willen Gottes; wir hören vielleicht
nur die Stimmen, die Gott den Krieg erklären. Aber der im Himmel wohnt, lachet
ihrer, und der Höchste spottet ihrer. Selbst die Menschen, die gegen ihn
anstürmen, müssen doch nur seinen Willen erfüllen. Das ist der Wille unseres
Gottes, unter den wir uns beugen. Vor Menschen beugen wir uns auch in dieser
Stunde nicht, aber vor dir, Herr, beugen wir uns tief im Staube, dein Wille
geschehe.
In
ehrfürchtiger Beugung sprechen wir so. Diese Beugung aber heißt Buße. Wohl
klagen wir in dieser Stunde über andere; ich darf aber versichern: wir klagen
auch heute erst recht über uns selbst. Zwar, was Menschen unserer Mission antun,
das hat sie in keinem Stück um sie verdient; sie leidet um Wohltat willen. Unter
Gottes Gericht dagegen beugen wir uns auch heute. Sind wir etwa nicht dankbar
genug gewesen für die lange Friedensarbeit, die Gott uns in Indien gönnte? Waren
wir nicht eifrig genug in der Arbeit? Waren wir nicht treu genug im Gebet?
Jedenfalls, nach Gottes Willen müssen wir es gebrauchen können, dass Gottes
Gedanken durch unsere Gedanken hindurchfahren und wir es aufs neue lernen
müssen, dass es mit all unseren Gedanken nichts ist und nichts mit all unseren
Plänen und nichts mit unseren Berechnungen, ja, nichts mit uns selbst, sondern
dass Er allein der Herr ist. Er allein.
Es ist uns gut,
sage ich. das zu lernen. Denn was ist die feinste und daher zuletzt schwerste
Versuchung, die uns in der Arbeit des Reiches Gottes begegnen kann? Doch diese,
dass wir uns einbilden, des Herrn Sache führen zu müssen und dann dem Herrn
zumuten wollen, sich zu unserer Sache zu bekennen. Gerade ein Missionsmann hat
einmal mit einem seltsamen Wort erklärt: "Auf den lieben Gott kann man sich ein
für allemal nicht verlassen". Ein befremdliches Wort, das zunächst einen
Augenblick fast gotteslästerlich klingt, und doch steckt tiefe Wahrheit darin.
Solange wir noch Gott zu unseren Gedanken herabziehen wollen und zu einem
Vorspann für unsere Pläne gebrauchen, widersteht er uns. Erst wenn wir gelernt
haben, dass er allein der Herr ist und wir nur Werkzeuge in seiner Hand, kann er
uns gebrauchen und dürfen wir uns auf ihn verlassen. Gesegnet darum dennoch
diese so schwere Stunde, wenn sie das uns aufs Neue verstehen lehrt. Gleichwie
in diesem furchtbaren Kriege überhaupt unsere Gedanken über Gott immer wieder
korrigiert werden und wir mit heimlichem Zittern, ich darf aber auch hinzusetzen
mit seligem Bangen, immer aufs neue lernen müssen, wer Gott ist, so soll auch
unsere Mission in dieser Stunde aufs neue erfahren, dass unser Gott allein Gott
ist und Er allein der Herr.
Kommt denn,
dass wir in der Tiefe vor ihm anbeten: Du allein bist der Herr; du allein bist
heilig; dein Wille geschehe. Nicht unser Wille geschehe; dein Wille geschehe -
dein guter, gnädiger Wille.
In bußfertiger
Beugung sprechen wir so; eben darum auch in starkem, zuversichtlichem Vertrauen.
Denn was anders dürfte bei uns dem guten, gnädigen Willen Gottes antworten als
unbegrenztes Vertrauen? Gewiss sind Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken. Aber
warum sind sie es nicht? Doch nur darum nicht, weil sie höher sind als unsere
Gedanken. Bei den Propheten des Alten Bundes spricht Gott, dass seine Gedanken
um so weit höher sind als der Menschen Gedanken, denn der Himmel höher ist denn
die Erde. In unserem Text aber hörten wir Jesum sagen, dass Gottes Wille auf
Erden in derselben Weise geschehen soll, wie er im Himmel geschieht. Das lasset
uns im Glauben zu fassen versuchen.
Zuallererst
will ich es euch, ihr lieben heimkehrenden Brüder und Schwestern, gesagt haben.
Wir möchten euch ja aus dieser Kirche nicht ohne einen starken persönlichen
Trost entlassen. Habt ihr drüben eure Hütte abbrechen müssen und seid in
buchstäblichem Sinn Pilgrime und Fremdlinge in dieser Welt geworden, ist euer
Leben auch durch viel innere Erschütterungen hindurchgegangen, so sollt ihr
wissen, dass Gott die unruhvolle Seele mit seinem Frieden füllen kann und will,
und dieser Friede ist höher als alle Vernunft. Unser Gott wird auch daheim für
euch rechte Arbeit haben, und er kann auch, wenn es sein Wille ist, zu rechter
Stunde euch zurückführen, reich gesegnet, innerlich noch mehr gereift, und vor
euch eine offene Tür. Wagt nur zu glauben.
Vor allem aber
möchte ich uns für die Missionsarbeit die Gewissheit groß machen, dass auch
jetzt der himmlische Wille unseres himmlischen Königs das Regiment hat. Gewiss
sind schwere Stürme über unsere indischen Missionsfelder dahingebraust; aber
müssen es durchaus Herbststürme sein, dass wir nur Klagelieder anstimmen
dürften? Können es nicht auch Gewitterstürme sein, die neues Leben aus der Erde
locken? Oder können unsere indischen Gemeinden es nicht gebrauchen, dass auch
einmal ein Sturmwind sie schüttle? Etwas meinen wir doch schon jetzt davon zu
spüren, dass diese schwere Zeit für sie ein Segen wurde. Ihr, meine lieben
Brüder, sagt uns doch, dass sie in dieser Zeit, soweit das bei der Eigenart des
Volkscharakters überhaupt erwartet werden darf, mit besonderer Freudigkeit um
euch und euer Evangelium sich zusammengeschlossen haben. Sie sind auch willig
geworden, von ihrer Armut für die Sache des Reiches Gottes zu opfern, und auch
sonst fehlt es nicht an Spuren, dass die Verselbständigung der Gemeinden gerade
jetzt schnellere Fortschritte machen dürfte, als wir im Frieden zu glauben
wagten. Muss das uns nicht alles Bürgschaft sein, dass doch auch in der
indischen Missionsarbeit Gottes Gedanken sich als höher erweisen werden denn
unsere Gedanken?
Jedenfalls
schulden wir Gott schon heute dafür tiefen Dank, dass unsere Leipziger Mission
in der gegenwärtigen schweren Zeit vor anderen Missionen günstig dasteht. Wir
haben einen besonders tüchtigen Stand eingeborener Pastoren, der eine ganz
vortreffliche Ausbildung empfangen hat und sich seit langem in die Arbeit
eingewöhnen konnte. Ihm dürfen wir mit besonderem Vertrauen für diese Zeit die
Gemeinden befehlen. Dazu ist es freundliche Führung Gottes, dass zwei unserer
Missionare, die nicht deutscher Nationalität sind, auch während des Krieges in
Indien bleiben dürfen. Vor allem aber müssen wir dafür dankbar sein, dass die
uns Verbündete schwedische Mission mit solcher Bereitwilligkeit in unsere Arbeit
eingetreten ist. Dabei hat sie so aufrichtige brüderliche Liebe, ein so hohes
Maß der Selbstverleugnung und so rückhaltlose Hingabe an die Aufgabe bewährt,
dass wir ihr nicht genug danken können. Vielleicht darf ich aber doch einmal bei
dieser Gelegenheit den Lutheranern Amerikas auch öffentlich von Herzen danken,
dass sie in dieser schweren Zeit mitten unter allem Gegensatz in ihrer Umgebung
tapfer und treu zu unserer Mission sich bekannt haben. Ist auch das alles uns
nicht Weissagung auf eine glücklichere Zukunft? Mich dünkt, wir müssten sehr
undankbar sein, wenn wir nicht zu glauben versuchten, dass Gott auch mit unserer
indischen Mission noch etwas vor hat - Großes, ja Größeres als bisher.
Blicke ich aber
auf die gesamte deutsche Missionsarbeit, dann scheinen sich doch gerade auch
durch den Krieg für sie neue Türen aufzutun. Oder sollte Gott wirklich den Islam
nur zu politischer Bundesgenossenschaft mit uns zusammengeschlossen haben? Und
wenn sich für uns gegenwärtig ganz neue ungeahnte Verkehrswege und
Verkehrsmöglichkeiten erschließen, sollte das wirtlich nach Gottes Willen nur
der deutschen Kultur und nicht auch dem Evangelium zugute kommen? Oft möchte man
meinen, es täten sich weite, weite, neue Fernsichten vor unseren Augen auf.
Indes ich will
nicht etwa nun meinerseits heute in den Fehler fallen, den ich vorhin rügte,
dass ich Gottes Wege vorauszudenken versuchte. Nur darum wollte ich bitten, dass
wir mit unseren Gedanken nicht bei dem bleiben, was vor Augen ist, sondern
unsere Augen und Herzen zu dem emporheben, der im Himmel wohnt. Wollen die
Menschen ihm auf Erden den Weg versperren, so bricht er sich neue Bahn, und wenn
er irgendwo eine Tür zuschließt, so vermag er zehn neue Türen aufzutun. Das
lasset uns zu glauben wagen.
Jedenfalls
würden wir diese Stunde ganz und gar nicht nach dem Willen unseres Herrn
durchleben, wenn sie uns nur fremdartig anmutete. Recht verstanden darf und soll
sie vielmehr uns Bürgschaft sein, dass gerade auch jetzt unsere Mission auf
Gottes Wegen geht. Niemals ist die Gemeinde Jesu und auch die Missionsgemeinde
ihrem Herrn, der am Kreuze starb, näher, als wenn sie ihm nach den Passionsweg
zieht. Ich frage: wann hat das Gebetswort unseres Textes seine tiefste Weihe
empfangen? Ist es nicht in Gethsemane geschehen? In jener Stunde, da der Sohn
Gottes mit blutigem Schweiß und Tränen zu der Gewissheit aufs Neue sich
hindurchrang: Dein Wille geschehe? Was für eine Stunde war das! Schien es nicht
mit unserem Herrn ganz aus zu sein? Ganz aus auch mit seinem Lebenswerk? In
Wahrheit haben in jener Stunde die heiligen Engel Gottes die Harfen gerüstet,
dass sie das neue Lied einer ewigen Erlösung anstimmten. Soll uns das nicht Mut
machen, dass wir unserem Herrn auch weiter auf dem Kreuzeswege folgen und auch
unsere Mission aufs Neue unter das heilige Geheimnis seines Lebens stellen:
Durch Sterben zum Leben?
Ja, kommt,
lasst uns mit Jesu ziehen, dass wir mit ihm sterben und - mit ihm leben. Lasst
uns nur anhalten an der Tränensaat, damit Freudenernte daraus erwachse. Auch
durch alles, was heute geschieht, kommt doch zuletzt der Tag der Ernte nur um
ein gutes Stück näher. Der Tag der Ernte, da auch ihr, meine lieben Brüder mit
Freuden eure Garben bringen weidet; denn - die Tränensaat ist aus, und welch ein
Jubel wird erklingen Mit süßem Ton im Vaterhaus. Welch eine Stunde, wenn die
Gemeinde zum letzten Mal auf Erden ihren wiederkommenden Herrn grüßt: Dein Wille
geschehe!
Im Blick auf
diese große Stunde lasst uns zuletzt aufs neue gemeinsam unserem himmlischen
Könige huldigen und gemeinsam unseren Willen seinem Willen zum Opfer bringen.
Ihr, meine lieben heimkehrenden Brüder und Schwestern, werdet mit Verwunderung
inne werden, wie einmütig gegenwärtig unser Volk um seine angestammten Fürsten
und zuletzt um unseren teuren Kaiser zusammengeschlossen ist. Mag auch
mancherlei oberflächliche Begeisterung des Anfangs verflogen sein, so sind wir
doch auch heute noch, auch in unserem Leipzig, auch in unserem Sachsenlande, mit
starkem Ernst entschlossen, mit unserem Könige und dem Kaiser bis auf Gottes
Stunde auszuhalten und durchzuhalten. Nun wohl, dies Bild des deutschen Volkes,
das ihr Heimkehrenden vorfindet, sei euch und uns ein Gleichnis für die Weise,
wie wir in der Missionsgemeinde um unseren himmlischen König uns zusammenscharen
sollen. Des Königs Fähnlein gehen voran. Unter seiner Fahne ist unser Platz.
Einmütig, restlos.
Einmütig. Auch
das war eine Frucht, die wir von dieser Stunde erhofften, dass die
Missionsgemeinde desto enger um ihren Herrn und Meister sich zusammenschließen
werde. Darum danken wir dir, du Leipziger Christenvolk, dass du unsere Hoffnung
nicht beschämt hast sondern heute in so großen Scharen zu der Sache unserer
Mission dich bekanntest, dass dieses große Gotteshaus die Tausende nicht zu
fassen vermochte. Wir können nur von ganzem Herzen bitten, dass du auch weiter
der Sache unserer Mission die Treue hältst. Dieser Leipziger Abend sei dann
zugleich eine Weissagung auf die heilige Einmütigkeit, in der die gesamte
Missionsgemeinde sich aufs Neue um ihren Herrn sammelt. Was auch immer an
Sondermeinungen uns sonst trenne, in dem Gehorsam gegen den Missionswillen
unseres himmlischen Königs lasset uns eins sein!
Ihm gehöre
gemeinsam unser Wille, rückhaltlos und restlos. Was sündig ist und eigene Art,
das falle unter dem Gericht dieser Zeit von uns ab. Der Herr begehrt uns ganz.
Ganz wollen wir ihm uns geben - restlos.
Das sei der
Willkommensgruß, den wir euch, ihr lieben Brüder und Schwestern, bei eurer
Heimkehr entbieten. Wir legen unsere Hand in eure Hand, und ihr legt eure Hand
in unsere Hand, dass wir in dieser feierlichen Stunde gemeinsam geloben und
beten: dein Wille geschehe. Amen.
Nun hätte nach
der ursprünglichen Verabredung eigentlich unser indischer Propst
Meyner das Wort
zu einer Ansprache ergreifen sollen. Da er aber leider in England zurückgehalten
wurde, trat der älteste der heimgekehrten Brüder, Missionar
Göttsching aus Tritschinopoli, an seine Stelle. Vielen wird der fremdartige Anblick des
Missionars unvergesslich bleiben, der in seinem Weißen indischen Talar auf der
Kanzel erschien und dessen Antlitz noch gar deutlich die Spuren des langen
Aufenthalts in dem heißen Klima Indiens und der ausgestandenen Nöte der letzten
Zeit erkennen ließ. Mit hohem Interesse lauschte die Gemeinde seinem Bericht,
dessen Wortlaut wir im Folgenden wiedergeben:
Mit einem von
widerstreitenden Gefühlen bewegten Herzen trete ich jetzt vor euch: mit dem
Gefühl jubilierender Freude und mit dem Gefühl tiefer Trauer. Es ist mir
einerseits, als sähe ich eine geliebte Mutter wieder nach langer, langer
Trennung, und anderseits doch wieder, als hätte ich eine geliebte Familie und
Gattin verlassen, wäre gewaltsam von ihr weggerissen worden. Wir sehen unser
liebes deutsches Vaterland wieder, unser Mütterlein, das uns geboren und erzogen
hat, das Land, in dem die starken Wurzeln unserer Kraft liegen. Das ist unsere
Freude. Und ob es gleich schwere Tage erlebt hat, so ist es doch bis jetzt stark
und siegreich daraus hervorgegangen. Das macht unsere Heimkehr so fröhlich. Denn
es hätte auch eine schmerzliche Heimkehr sein können, wie wir in Indien oft
gefürchtet hatten. Und wir sehen unsere Freunde und Verwandten wieder, nach
denen wir so lange gebangt haben. Und zuletzt, wir sehen dich wieder, liebe
Muttergemeinde, die uns geistlich geboren und erzogen hat durch Wort und
Sakrament. Mit Rücksicht auf dies dreifache Wiedersehen klingt es in unseren
Herzen jubilierend: Herr Gott, dich loben wir, Herr Gott, wir danken dir! Aber
daneben steht die Trauer in unseren Herzen, dass wir unsere geliebte
Missionsarbeit verlassen haben, dass wir von unseren lieben geistlichen Kindern
weggenommen sind, die wir geliebt haben, und die uns wieder liebten. Die Wunde
ist noch frisch in unseren Herzen, obwohl wir schon tausende von Meilen von
unseren indischen Gemeinden entfernt sind, und es klingt in unseren Herzen die
Bitte: Herr, gib uns unsere indische Missionsarbeit zurück, lass uns bald wieder
unsere indische Heimat sehen! Denn das Tamulenland ist uns zur Heimat geworden.
Ich konnte nicht anders, als euch diesen Blick in mein Herz tun lassen. Nun
lasst mich euch von Herzen danken für den Willkomm, den ihr uns bereitet habt.
Sobald wir den Boden Europas in Vlissingen betraten, wurden wir von lieben
Freunden empfangen. Und in Goch sorgte für uns das Rote Kreuz. Als wir nach
eisiger Fahrt in Hannover anlangten, war es das Henriettenstift, das sich unser
angenommen hat; und hier in Leipzig können wir uns nicht genug wundern über alle
die Liebe und Freundlichkeit, die unser wartete. Da hat man denen, die keine
warmen Kleider hatten, warme Kleider hingelegt, da hat man Vorräte für uns
bereit gehalten. Pastoren sind von Haus zu Haus gegangen und haben Lebensmittel
eingesammelt. Man hat uns blühende Blumen auf den Weg gelegt, man hat uns
Wohnungen angeboten für die Zeit, die wir in Deutschland verleben sollen. Ich
gestehe: wir haben auf dem Schiff manchmal miteinander geredet, ob wohl die
deutsche Missionsliebe infolge der schweren Drangsal dieses Krieges nicht
erkaltet sein werde. Nun rufen wir euch zu: Vergelte es euch der liebe Gott, wie
freundlich ihr uns empfangen habt im Heimatland! Wir sehen in diesem Empfang ein
Zeichen, dass es dem alten bösen Feind, der ohne Zweifel durch diesen Krieg das
Wort Gottes, die Mission, vernichten will, nicht gelingen wird, sondern dass sie
nach dem Kriege neu und schöner aufblühen wird als vorher. Wir rufen euch
unserseits zu: Seid getrost und unverzagt, wie wir es vorher uns zugerufen
haben. Es wird auch in diesem Kriege nach dem Worte des Apostels gehen: "Als die
Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Gezüchtigten, und doch nicht ertötet,
als die Sterbenden, und siehe, wir leben."
Und nun laßt
mich euch etwas erzählen von den Einwirkungen, die der Krieg auf unsere indische
Mission gehabt hat, alles in dem Sinne des eben angeführten Schriftwortes, und
sodann noch einiges von unserer Fahrt auf der "Golconda".
Wie stand es in
Indien, als der Krieg ausbrach? Ganz im Anfang zeigte sich ein großes Bangen in
unseren Gemeinden, das noch vermehrt wurde durch allerlei Zeitungsnachrichten.
In einer südindischen Zeitung lasen wir, dass die deutsche Mission von einigen
wohltätigen Kaufleuten unterstützt würde. Da aber der deutsche Handel jetzt
entzweigeschlagen wäre, so müsste die deutsche Mission zusammenbrechen. Es wurde
den deutschen Missionen geraten, sich bald in den Schutz der englischen Kirche
zu begeben. Das hörten und lasen unsere Christen und wurden dadurch sehr
betroffen.
Als dann aber
keine von diesen Nachrichten zutraf, als kein wirklicher Notstand eintrat, da
staunten sie und beruhigten sich. Und so ist es bis jetzt geblieben. Am meisten
staunten die Engländer. Sie hatten allen Ernstes geglaubt, dass es nun bald mit
unseren Mitteln zu Ende ginge. Und noch mehr haben wir selbst uns gewundert. Wir
sind kleingläubig gewesen, aber der Herr hat den Kleinglauben beschämt. Er hat
uns das tägliche Brot gegeben. Wir haben sparen müssen. Die Gehälter wurden
gekürzt. Missionsdiener, die nicht unbedingt nötig waren, wurden entlassen,
Schulen wurden geschlossen. Es ist allerlei Abbruch geschehen, aber nicht in
wesentlichen Dingen. Nicht irgendein Lebensfaktor ist durch den Krieg bisher
geknickt. Wir haben die Christen in dieser Zeit reichlich ermahnt, selbständiger
zu werden und mehr für die Mission, auch finanziell, zu tun. Ein gerechter
Beurteiler muss immer bedenken, dass unsere indischen Gemeinden arm sind. Sie
gehören entweder den niederen Ständen an oder, wenn sie den Mittelständen
angehören, so haben sie doch nur ein sehr mäßiges Einkommen und können nicht
viel tun. Sie haben aber doch in einzelnen Fällen mehr getan als bisher.
Vor allem
wurden sie gezwungen, für die Erziehung ihrer Kinder mehr zu tun. Hier hatten
sie sich bisher zu sehr auf die Mission verlassen. Die Mission sollte ihre
Kinder in den Kostschulen erhalten. Jetzt' wird ihnen gesagt: Ihr müsst den
größten Teil selbst bezahlen, sonst müssen wir eure Kinder fortschicken. Gerade
diese Verhältnisse vermehrten die Arbeit des Missionars. Die Klagen der Eltern:
wir können nicht so viel für die Erziehung der Kinder geben, setzt doch unseren
Beitrag herab! haben uns viel beschäftigt. Das wird aber ein Segen für unsere
Mission sein. Die Eltern werden in Zukunft mehr daran denken müssen, dass sie
selbst für ihre Kinder zu sorgen haben. Es wurden auch Gaben für die Notlage der
Mission gesammelt. Ich habe in Tritschinopoli meinem Nachfolger Dr. Heuman eine
schöne Summe in die Hand gegeben. Und so ist es wohl auf anderen Stationen auch
gewesen. Die Gemeindekassen mussten für Erhaltung der Pastoren und Katecheten
einen reichlichen Prozentsatz beitragen. So sind die Ausgaben der Mission etwas
verringert worden. Um Missverständnissen zu begegnen, muss ich eins sagen: die
indische Mission kann weder jetzt noch in absehbarer Zeit der wesentlichen
finanziellen Hilfe der deutschen Muttergemeinde entraten. Würde der Krieg eine
solche Wendung nehmen, dass entweder die Muttergemeinde nicht mehr zahlen könnte
oder wollte oder dass es unmöglich wäre, Geld nach Indien zu schicken, so würde
allerdings eine sehr ernste Lage geschaffen werden. Als ich einen Tag vor meiner
Abreise meine letzte Katechese in Tritschinopoli hielt, habe ich der Gemeinde
bewegten Herzens gesagt, dass die vierte Bitte den besonderen Sinn für diese
Zeit habe, dass Gott der Mission die nötigen Mittel darreiche, und dass sie sich
als Gottes Mitarbeiter ansehen möchten. Wollt auch ihr, liebe Missionsfreunde,
die vierte Bitte für unsere Mission beten!
Welche Wirkung
hat der Krieg auf unser Schulwesen gehabt? Eine sehr ernste. Die Schulen wurden
bisher zu einem großen Teil von der Regierung erhalten. Im Jahre 1914 leistete
sie einen Beitrag von über 35.000 Rupien. Diese Unterstützung ist jetzt
vollständig in Wegfall gekommen. Man will keine Schulen mehr unterstützen, die
von Deutschen geleitet werden. Dadurch ist eine sehr ernste Lage eingetreten.
Man ist nahe daran, wenn es nicht schon geschehen ist, unseren Schulen die
staatliche Anerkennung zu entziehen. Unsere Schüler könnten dann keine gültigen
Examina mehr machen, man würde ihnen keine Zeugnisse mehr geben, und damit
würden die Schulen den Kindern nicht weiter vorwärts helfen im Leben.
Das aber würde
auch einen starken Einfluss auf das Gemeindeleben haben und einen Rückschlag in
ihm bedeuten. Auf der anderen Seite aber könnte es für die Mission zu einem
Segen werden. Es würde sie finanziell etwas entlasten und das Schwergewicht auf
andere wichtige Dinge lenken, auf Evangelisation und Gemeindeleben. Unser teurer
Propst Meyner, der mit uns bis London gefahren ist und jetzt dort zurückgehalten
wird, hat in Schulsachen zuletzt viele Schwierigkeiten gehabt. Er ist von einem
Würdenträger zum anderen gegangen, aber es hat nichts genützt. Uns ist es
zweifelhaft, ob man den schwedischen Brüdern die Erlaubnis geben wird, die
Schulen weiterzuführen, und ob man ihnen die Regierungsunterstützung wieder
gewähren wird. Nur von einer, der Mädchenindustrieschule In Tritschinopoli, ist
es anzunehmen, weil sie die besten und feinsten Handarbeiten in ganz Indien
liefert und deshalb von den englischen Damen sehr geschätzt wird.
Wird unsere
tamulische Kirche die Versuchungen und Gefahren dieser Zeit siegreich
überwinden? Die Gefahr, die ihr droht, besteht nicht darin, dass die
eingeborenen Christen ins Heidentum zurückfallen. Das ist nur bei neugegründeten
oder noch nicht befestigten Gemeinden denkbar. Die Schwierigkeiten liegen meines
Erachtens auf anderen Gebieten. Unsere Gemeinden sind umgeben von der
katholischen Kirche und von britisch-reformierten Gemeinden und Sekten. Die
Gemeindeglieder sind verwandt mit Gliedern dieser Kirchen und kommen auf Schritt
und Tritt mit ihnen zusammen. Es scheint, als ob die Engländer es für ein
verdienstliches Werk halten, die lutherischen Gemeinden aus der "Gefangenschaft"
der deutschen Mission zu erlösen. Zwar die Tüchtigkeit unserer Missionsarbeit
ist jetzt auch öffentlich anerkannt worden, und wir bewundern die kühnen Männer,
die den Mut gehabt haben, vor der Öffentlichkeit zu bezeugen: die Deutschen
haben Großes in Indien geleistet und es ist nicht recht, das nicht anzuerkennen.
Der indischen Hetzpresse zum Trotz haben einige so gesprochen, und wir wollen es
ihnen Dank wissen. Im Allgemeinen aber findet sich Unfreundlichkeit, ja
Gehässigkeit gegen unsere Mission auch unter den englischen Geistlichen, auch
unter den englischen Missionaren. Ich habe einen von Hass gegen uns erfüllten
Brief, der in der größten südindischen Zeitung veröffentlicht war, zu
beantworten gesucht. Die Zeitung nahm jedoch meine Antwort nicht auf. Später hat
ein angesehenes indisches Missionsblatt sie mit freundlichen Bemerkungen
abgedruckt. Man beschuldigte uns, dass wir Spione seien, dass wir die
Eingebornen aufhetzten, ihnen barbarische Gedanken beibrächten und anderes mehr.
Für die Hindus ist es sehr schwer, dem entgegenzutreten. Es hat mich oft
betrübt, dass in unseren Gemeinden auch nicht eine Stimme dagegen laut geworden
ist. Die Erklärung liegt wohl darin, dass unsere Christen finanziell von den
Engländern abhängen. In Tritschinopoli sind die Gemeindeglieder meist
Angestellte der Eisenbahn. Sie würden entlassen werden, wenn sie öffentlich
etwas zu unseren Gunsten sagen würden. Wenn die Krisis lange dauern sollte, so
besteht die Gefahr, dass unsere indischen Gemeinden absorbiert werden. Dagegen
haben wir zu beten. Und doch möchte ich keinesfalls die Gefahr als zu bedrohlich
hingestellt haben. Ich bezeuge es vielmehr vor der teuren Muttergemeinde, dass
wir viele treue lutherische Christen haben, die wissen, was sie an ihrer Kirche
besitzen.
Wir haben einen
zweifachen Trost, der uns um das Weiterbestehen der lutherischen Kirche in
Indien nicht bange werden lässt. Einmal haben wir unsere schwedischen Brüder mit
zwei baltischen Brüdern zusammen. Sie führen unsere Mission in unserem Geiste
weiter. Aber es ist eine Riesenarbeit, die sie tun, und wir haben große Sorge,
dass sie bald darunter zusammenbrechen könnten, wie die Basler Mission fürchtet,
dass die wenigen Schweizer Missionare die Arbeit nicht lange aushalten werden.
Dann aber haben wir auch unsere tamulischen Pastoren, jetzt 40 an der Zahl. Die
meisten von ihnen sind durch Bruder Zehme tüchtig theologisch ausgebildet
worden. Er hat ihnen und damit der ganzen südindischen Kirche zuletzt noch als
Geschenk seine Dogmatik und Kirchengeschichte hinterlassen. Auf diese Leute
setzen wir unsere Zuversicht. Es ist freilich nicht unmöglich, dass man den
Schweden die Arbeit erschwert, denn man kennt ihre Sympathie für die deutsche
Sache, und sie werden deshalb nicht mit Wohlwollen angesehen. Wenn man ihnen
große Schwierigkeiten bereitet, dann haben wir nur noch die eingebornen
Pastoren. Es ist mir in beweglicher Erinnerung, wie diese mit bleichen,
entsetzten Gesichtern auf die verschiedenen Stationen kamen. Man sah ihnen die
Bangigkeit an. Die ältesten weinten wie die Kinder, als sie uns zum letzten Male
sahen und uns die Hand drückten, unter ihnen die Pastoren Samuel und
Dewasagajam. Der Inder ist keine selbständige und opfermutige Natur. Er
fürchtet sich vor sich selbst. Aber Gott kann die Schwachen stärken. Wir haben
eine ganze Anzahl von tüchtigen und treuen Männern unter ihnen und hoffen, dass
Gott die anderen treu machen wird. Auch nach dieser Seite kann der Krieg von
großem Segen sein. Er wird unsere indischen Amtsbrüder festigen, dass sie uns
später noch mehr wert sind als bisher. Wir Missionare haben eine schwere Zeit
hinter uns. Uns bangte um unsere Verwandten. Viele bekamen 1½ Jahr lang keine
Nachricht von ihnen. Andere erhielten Trauernachrichten über Verwundung und Tod.
Wir haben vor allem getrauert um unser deutsches Vaterland und seinetwegen
gezittert. Wir verstehen in Indien die Weltstellung Englands vielleicht noch
besser, als man sie hier in Deutschland verstehen kann. Als wir von der
Kriegserklärung hörten, waren wir entsetzt, haben das Lied "Ein' feste Burg ist
unser Gott" angestimmt und den 46. Psalm gebetet: "Gott ist unsere Zuversicht
und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben." Wir hatten
nur indische Zeitungen zur Verfügung, und ihr könnt euch denken, dass die nicht
immer richtige, authentische Nachrichten enthielten. Anfangs waren wir sehr
betrübt und hielten den Stand der deutschen Waffen und des deutschen Vaterlandes
für ganz schrecklich. Nach und nach lernten wir zwischen den Zeilen lesen und
wurden ruhiger. Was uns aber allezeit schrecklich gewesen ist, das waren die
großen Verunglimpfungen, die man dem Deutschtum und unserem teuren deutschen
Kaiser angedeihen ließ. Ich griff täglich mit fast physischem Ekel nach den
Zeitungen. Man verdächtigte uns endlich selbst der Spionage und des Aufruhrs,
obwohl wir alles getan haben, um unsere Meinung den indischen Christen und
Heiden nicht aufzudrängen. Ich persönlich habe nie mit meinen Christen über den
Krieg gesprochen. Als mich die Pastoren von den Bergen abholten, sagte ich zu
ihnen: "Ihr lest ein indisches Blatt und ich lese ein indisches Blatt. Fragt
mich nie nach meiner Meinung über den Krieg." Die Christen waren denn auch so
taktvoll, es nicht zu tun. Aber es war eine schwierige Lage, von einer Sache
nicht zu sprechen, von der unser Herz voll war, mit denen, die Sympathie für sie
hatten. Unter den meisten Christen war Sympathie für unsere Sache vorhanden,
auch unter den Heiden. Als ich auf dem Bazar kurz vor der Abreise etwas zu
kaufen hatte, trat mir ein reicher und einflussreicher Brahmane entgegen und
sagte: "Ich habe Ihr Schicksal mit Teilnahme verfolgt. Sie werden jetzt aus dem
Lande Vertrieben. Glauben Sie, dass unsere aufrichtige Teilnahme Ihnen folgen
wird."
Wir Leipziger
Missionare haben weniger zu leiden gehabt als die Missionare anderer
Gesellschaften. Wir wurden weniger feindselig behandelt. Das ist wohl darauf
zurückzuführen, dass wir in den Hauptdistrikten unserer Mission wohlwollende,
grossgesinnte Beamte hatten. Sie halfen uns und leisteten vielfach Bürgschaft
auf die Gefahr hin, sich die Unzufriedenheit der Regierung zuzuziehen. Sie
hätten unsere Heimsendung gern in eine Internierung in Kodaikanal umgewandelt.
Aber sie konnten schließlich nichts mehr für uns tun, da sie den Weisungen der
oberen Stellen Folge leisten mussten. Gleich zu Anfang wurden drei unserer
Brüder gefangen gesetzt. Der eine war ohne Pass gereist, von den anderen weiß
ich nichts Näheres. Dann aber blieb unsere Mission lange Zeit unbelästigt. Erst
zuletzt wurden noch vier unverheiratete Missionare interniert, so dass jetzt
einschließlich der drei afrikanischen zehn Leipziger Missionare sich in dem
großen Konzentrationslager von Ahmednagar bei Bombay befinden. Aber wir waren
alle in beständiger Gefahr, gefangen gesetzt zu werden. Manche haben immer
wieder eingepackt und ausgepackt, weil sie sich keine Stunde sicher fühlten, ob
sie nicht gefangen genommen oder von ihren Familien entfernt würden. Wir fühlten
uns recht wie arme Sünder in dieser Zeit. Wir standen unter dem Druck der
allgemeinen Verachtung und vermieden es deshalb, in die Stadt zu gehen.
Schwer wurde
unsere Arbeit getroffen durch das Verbot zu reisen. Ich hatte in dieser
Beziehung einen Vorzug vor anderen, indem mir bis zum Juli volle Freiheit
gelassen wurde, im Distrikt zu reisen. Auch meine Frau genoss diese
Vergünstigung. Dann aber gestattete die Regierung eine derartig milde Behandlung
nicht mehr; doch gab mir der Distriktsbeamte alle Monate einmal einen Paß.
Natürlich litt die Missionsarbeit unter diesen Verhältnissen. Die Heidenpredigt
war so gut wie ganz ausgeschlossen. Denn wer sich auf die Straße stellte, um
öffentlich zu reden, setzte sich der Gefahr aus, als Aufwiegler angesehen zu
werden. In einzelnen Gebieten wurde die Heidenpredigt direkt verboten. Zuletzt
kam das Allerschwerste. Ich war gerade im Begriff, in meinem Filialort Mötupatti
auf die Kanzel zu steigen, als meine Frau und die Schwestern einen Brief
brachten, der den Befehl erhielt, Indien zu verlassen. Ich will nicht davon
reden, wie schwer das für uns war. Der Diftriktsbeamte sagte: "Wie die Sachen
stehen, glaube ich nicht, dass England je wieder den deutschen Missionaren die
Türe Indiens öffnen wird." Ich aber glaube, Gott wird die Türen wieder öffnen,
denn er kann ja die Herzen der Menschen lenken wie Wasserbäche.
Und nun noch
ein kurzes Wort über die Reise. Es ist geradezu ein Wunder zu nennen, dass wir
die lange Fahrt über das Meer so gut überstanden haben. Die ganze Zeit über war
wunderbar ruhiges Wetter. Ein Sturm wäre aber auch gar nicht auszuhalten
gewesen. Vor unserer Abfahrt Sturm, nachher wieder Sturm, aber wo wir fuhren,
war Ruhe. Als wir am Kap ankamen, hörten wir, dass kurz vorher dort ein
furchtbarer Sturm getobt hatte. Ebenso war es im Golf von Biskaya. Kapitän und
Mannschaft sprachen ihre Verwunderung aus, sie hätten noch nie eine so schöne
und ruhige Fahrt gehabt. Wir aber wissen, warum. Wir wurden getragen von den
Gebeten vieler lieben Gotteskinder in Indien, Deutschland und der ganzen Welt.
Eine große Schwierigkeit bestand darin, dass der Dampfer überfüllt war. 475
Deutsche befanden sich darauf, dazu 25 englische Soldaten zur Bewachung, im
Ganzen mit der Schiffsbesatzung etwa 750 Personen, darunter 171 kleine Kinder.
Man kann sich denken, wie groß die Beengung war. Auch vor Krankheiten wurden wir
wunderbar behütet. Und die Behandlung auf dem Schiff von Seiten der Offiziere
war gut. Sehr interessant war die Schiffsgesellschaft. Da waren Kapuziner,
Jesuiten, Nonnen von vier verschiedenen Orden und auch ein alter, 60jähriger
Rabbiner aus Palästina, der Angst hatte, dass er in Österreich noch zum
Heeresdienst eingezogen werden könnte. Weil unser Propst Meyner die
Ordinations-Urkunde nicht bei sich hatte, wurde er in England zurückgehalten.
Und doch glaube ich nicht, dass das der einzige Grund war. Denn andere
Missionare hatten ebenfalls ihren Ordinationsschein nicht bei sich und wurden
doch freigelassen. Mit Meyner sind noch drei Konsuln und ein Hermannsburger
Missionar zurückgehalten, außerdem ein Musikdirektor und ein Photograph aus
Österreich. Und nun zuletzt noch etwas Erfreuliches von der Reise. Das war der
wundervolle christliche und protestantisch-missionarische Geist, der unser
Zusammensein beherrschte. Die große Mehrzahl der Gefangenen waren
protestantische, lutherische Missionare. Jeden Sonntag und Festtag hörten wir
schöne Predigten, von denen uns viele in bleibender Erinnerung sein werden. Wir
haben unsere Morgenandachten gehabt mit Gesang und Gebet, wir haben Choräle und
geistliche Volkslieder gesungen, daneben auch andere Lieder. Es war ein
fröhliches, friedliches Beieinandersein. Es war etwas Herrliches um diesen Geist
des Gebets, der jeden Tag die Fahrt Gott dem Herrn an das Herz legte. Auch die
Gemeinschaft mit den anderen Konfessionen war schön. Die Liebe zur deutschen
Mutter hatte uns alle verbunden. Nonnen und Diakonissen, Jesuiten und
lutherische Geistliche - es war eine große Verbrüderung auf dem Grunde des
Deutschtums. Wir gingen an Deck zusammen auf und ab und sangen deutsche
Volkslieder. Es war eine hohe Begeisterung.
Wir haben viel
zu danken. Und ich bitte: Dankt ihr mit uns! Der Gott, der uns so väterlich
geleitet hat, kann das unmöglich getan haben, um uns fernerhin im Stich zu
lassen. Ich hörte vorhin von einer Dame, die noch nachträglich von der Golconda
gekommen ist, dass einen Tag nach unserer Fahrt ein anderes Schiff auf eine Mine
geraten und untergegangen sei. Ich weiß nicht, ob die Nachricht sich bestätigt.
Uns hat der Herr auf Adlersflügeln getragen und uns zu euch gebracht. Nun wollen
wir beieinander bleiben, so lange es Ihm gefällt. Aber wir wollen bitten, dass
Gott uns die Tore Indiens wieder öffnen möge zu Seiner Stunde. Amen.
Noch einmal
wurde hierauf die Gemeinde durch einen Gesang des Thomanerchors erquickt. Gar
lieblich und tröstlich drang es zum Herzen, wie sie die schöne Komposition zum
23. Psalm von
Franz Magnus Böhme "Der Herr ist mein getreuer Hirt" vortrugen. Nachdem dann
Superintendent D. Cordes das Schlussgebet und den Segen gesprochen hatte, wurde
die einzigartige Feier mit dem Gesang des Liedes: "Verleih uns Frieden
gnädiglich" beendet. Ihr Segen bleibe bei uns und erweise sich wirksam in der
Missionsgemeinde zu gläubigem Durchhalten, bis des Herrn Stunde kommt, da er aus
der Tränensaat die Freudenernte für uns erwachsen lässt.
Anmerkungen
[1]Diese
Ansprache hielt Missionar E. Brutzer, der Stationarius von Madras, am
Abend vor der Einschiffung in die "Golconda" dem kleinen Kreise der von
dieser Station Abschied nehmenden Geschwister. Sie war für alle
Abfahrenden gedacht. Die aus dem Tamulenlande zusammengeholten Familien
aber durften, wie aus Missionar Kannegießers Bericht hervorgeht, in der
Präsidentschaftstadt nicht verweilen.
[2]Der
Dampfer "Mecklenburg" ist bei einer seiner nächsten Kanalfahrten
tatsächlich auf eine Mine gestoßen und gesunken.
[3]Der
größte Teil des vermissten Reisegepäcks mit Einschluss der großen
Gepäckstücke kam 14 Tage später in Leipzig an, nachdem Missionar
Göttsching, von hier auf Erfordern der Grenzbehörde nach Goch
zurückgereist war und aus einem auf dem dortigen Bahnsteig liegenden
riesigen Haufen die teilweise sehr beschädigten Kisten und Koffer der
Unsrigen herausgesucht hatte.