Unstrittig steht eine strukturelle und inhaltliche Reform von
Schule und Hochschule auf der Tagesordnung. Es besteht kein Zweifel an der
Unterfinanzierung, der mangelhaften Effektivität und der sozialen
Ungerechtigkeit des Erziehungssystems. Der Steuerstaat ist nicht zuletzt aus
ökonomischen Gründen in Zugzwang. Die nun ins Werk gesetzten Maßnahmen aber der
politisch administrativen Be-vormundung, der technokratischen Steuerung und
Kontrolle und der einseitigen ökonomischen Indienstnahme von Erziehung, Studium
und Forschung sind ungeeignete Mittel, den Mängeln in Schule und Hochschule
abzuhelfen.
Reformen im Bildungswesen werden gegenwärtig mechanisch,
gegen den Sachverstand der Lehrer und Hochschullehrer unter unerhörtem Zeitdruck
verordnet. Man gewinnt den Eindruck, all das geschehe, damit das kritische
Nachdenken über Sinn, Zweck und Folgen dieser Anordnungen verhindert werde.
Sowohl die Ergebnisse der PISA-Studien als auch der so genannte Bologna-Prozess
werden politisch instrumentalisiert und sollen Steuerungs- und
Kontrollillusionen nähren, die bereits in den 70er Jahren enttäuscht wurden.
Dass kritisch historische Erfahrungen mit früheren Reformen ausgeblendet werden,
ist selbst ein Krisensymptom der Gegenwart.
Wir melden uns heute mit fünf Einsprüchen zu Wort, damit
nicht den Eindruck entsteht, die wissenschaftlichen Beobachter des
Bildungswesens hätten durchweg entweder selbst die gegenwärtig stattfindenden
Prozesse mit vorangetrieben oder aber ihr Einverständnis durch Schweigen
bekundet. Zugleich hoffen wir, Verantwortliche in Politik und Verwaltung,
Wissenschaft und Öffentlichkeit zum Nachdenken zu veranlassen, bevor die
jetzigen Entwicklungen unwiderruflich schädliche Konsequenzen haben.
Wir wenden uns gegen die Illusionen einer alle
politischen Parteien übergreifenden Bildungspolitik, die das Bildungssystem
nach betriebswirtschaftlichen Mustern in den Griff zu bekommen sucht.
Wir bezweifeln nicht, dass Schulen und Hochschulen sorgfältiger als bisher mit
ihren personalen und sachlichen Ressourcen umgehen müssen und dass dazu auch
betriebswirtschaftliche Planungsinstrumente nützlich sein können. Erziehungs-
und Wissenschaftsinstitutionen sind aber von ihrer Zielsetzung her keine
Wirtschaftsbetriebe. Sie stellen keine verkäuflichen Güter her.
Die verschiedenen Aufgaben von Schulen und Hochschulen, von Erziehung und
Bildung, Ausbildung und Forschung, drohen aus der Balance zu geraten, wenn man
Hochschulen bzw. Schulen gegeneinander konkurrieren lässt und sie nur noch
daran misst, ob sie mehr Sponsorengelder einwerben, mehr marketable skills
zu erzeugen und mehr employability zu vermitteln wissen. Wer
betriebswirtschaftliche Denk- und Handlungsmuster zu dominierenden Maßstäben
für die Arbeit in Schulen und Universitäten macht, drängt die Schulen dazu,
sich von weniger erfolgreichen Schülern zu entlasten, und Wissenschaftler
dazu, ihren Bildungsauftrag zu vernachlässigen, um kurzatmige
Auftragsforschung zu betreiben.
Wir widersprechen der völlig irreführenden Behauptung,
bei der gegenwärtigen Umorganisation der Bildungsinstitutionen gehe es um mehr
Autonomie von Schulen und Hochschulen.
Wir teilen die Auffassung, dass größere Autonomie und gleichzeitig mehr
Verantwortung eine Voraussetzung für die Reform von Schule und Hochschule
darstellen. Autonomie kann in diesem Zusammenhang aber nur bedeuten, dass
Mitglieder einer Institution selbst entscheiden, welche Mittel und Wege
geeignet sind, eigene oder vorgegebene Ziele zu erreichen. Selbstverantwortete
Praxis wird durch von außen vorgeschriebene und erzwungene Kontroll-,
Evaluierungs- und Akkreditierungsmaßnahmen erstickt. Die Fixierung von Lehre
und Forschung auf wenige Zielbereiche und den dort messbaren output
verändert die Tätigkeiten und die Beziehungen in diesen Einrichtungen. Sie
liefert die Lehr-Lernprozesse und das Studieren faktisch den formalen
Kriterien aus, welche die standardisierenden Mess- und Anrechnungsmethoden
vorschreiben. Sie bringt es mit sich, dass das Lehren und Studieren nach Güte-
und Erfolgskriterien gesteuert und bewertet wird, die weder mit Rücksicht auf
die spezifischen Qualitäten von Sachgebieten noch im Hinblick auf die
Entfaltung von Bildung entwickelt worden sind. Sie verengt den Sinn
wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens. Die angediente Autonomie erweist sich
real als verschärfte Fremdbestimmung.
Wir halten es für einen folgenschweren Irrtum, wenn
behauptet wird, Erziehungswissenschaft erfülle ihren öffentlichen Auftrag nur
dann, wenn sie unmittelbar verfügbare und kurzfristig nutzbare Ergebnisse für
Politik und Praxis zeitige.
Gewiss stehen gerade die Bildungswissenschaften in der Verantwortung, die
Praxis von allen im Bildungsbereich Tätigen forschend und reflexiv zu
durchdringen und so zu helfen, deren Handeln bewusster und effektiver zu
gestalten. Ebenso gewiss wurde die von der Politik erwartete Möglichkeit der
Gestaltung der Praxis durch die Wissenschaft in der Vergangenheit oft
folgenreich überschätzt.
Als Agentur des bloßen consultings und controllings verliert
Wissenschaft freilich ihre die jeweiligen Praxisbedürfnisse übersteigende
Kraft. Das heißt auf Bildung und Unterricht bezogen: Es muss in der
Gesellschaft einen Ort geben, an dem wissenschaftlich über die Grenzen und
Möglichkeiten von Erziehung und Bildung in der Moderne nachgedacht,
handlungsentlastet geforscht und diskutiert wird. Dies ist nur denkbar, wenn
man vielfältige theoretische und empirische Mittel nutzt. Eines der Medien
dieser Reflexion ist die Rückbeziehung der gegenwärtigen Probleme auf ihre
historischen Voraussetzungen und philosophischen Grundlagen. Ohne die Aufnahme
der reflektierenden Kritik verkommt Bildungspolitik und Bildungspraxis schnell
zu einer Hektik von Maßnahmen und zu blinder Anpassung an die jeweils als neue
Lösung propagierte Reformmode.
Wir protestieren gegen die weitere Aushöhlung von
universitären Studiengängen – insbesondere auch in der Lehrerausbildung –
durch ihre zunehmende Verschulung.
Niemand bestreitet, dass im Prozess der wissenschaftlichen Selbstbildung
Fähigkeiten und Kenntnisse lernend erworben werden müssen. Für sie sind
schulförmige Lehrgänge im herkömmlichen Sinn angemessen. Auch erscheint uns
als unzweifelhaft, dass künftige Lehrer im Studium auf die professionelle
Bewältigung von regelmäßig zu erwartenden Aufgaben vorbereitet werden sollen,
dies aber heute an den Hochschulen nicht zureichend geschieht. Die gegenwärtig
angelaufene Umstellung löst aber dieses Problem nicht, sondern sie geht einher
mit der Vernichtung der auf Selbstverantwortung der Studierenden setzenden
akademischen Bildungstradition. Sie ruiniert in der Folge auch die bildende
Funktion der Schulfächer. Universitäre Bildung im Medium der Wissenschaft ist
die Voraussetzung dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer in ihrem pädagogischen
Tun Bildung im Sinne wachsender Urteilsfähigkeit und gedanklicher
Selbständigkeit ermöglichen können. Wer die Studierenden um die ungegängelte
Begegnung mit offenen Forschungsfragen bringt und das Studium statt dessen auf
die Aneignung von Berufsfertigkeiten verkürzt, degradiert die künftigen
Lehrerinnen und Lehrer im vornhinein zu Instruktionsangestellten, die nur noch
Plänen und Anweisungen zu folgen gelernt haben, die höheren Orts für sie
entworfen wurden.
Wir widersprechen der vorherrschenden Meinung, die
Festlegung und Durchsetzung von Leistungsstandards zur Überprüfung von
Basiskompetenzen sei ein geeignetes Mittel, um der demokratischen Forderung
nach größtmöglicher Gleichheit der Bildungschancen Genüge zu tun.
Die Tatsache bedrückt, dass eine skandalös große Gruppe von Schülern nicht
einmal den bescheidenen Kern und Kanon bestimmter Basiskompetenzen im Lesen,
Schreiben, Rechnen, in Natur- und Gesellschaftskunde erreicht.
Bildungsstandards könnten bei der Lösung dieses Problems eine Hilfe sein,
sofern mit ihnen schulisches Lehren eine Orientierung erhielte und
Lernbedingungen optimal gestaltet würden. Werden sie aber lediglich für
punktuelle Leistungstests genutzt, auf die im Unterricht mit großem Zeitdruck
hingearbeitet wird, zerstören sie die pädagogische Lernkultur der Schule.
Wenn Regulierungen überborden, erstickt das Recht der Jugend auf eine offene
Zukunft, das ein Recht auf Zweifel, wirkliches Verstehen, auf umwegreiche
Annäherung, auf Langsamkeit und die Durchdringung individueller
Betroffenheiten und Schwierigkeiten ist. Das gilt für alle
Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalte, von der Grundschule bis zur
Universität.
Die gegenwärtige Bildungspolitik zeigt keine ernst zu nehmenden Anstrengungen,
die Ungleichheit der Bedingungen und Chancen für Bildung zu beseitigen. Statt
dessen setzt sie auf die permanente Bedrohung und Kontrolle durch Tests und
Prüfungen, welche die Leistung von Schülern und Lehrenden erhöhen sollen.
Standardisierung auf der gegebenen Basis von Ungleichheit der Bildungsangebote
wird die soziale Spaltung und Hierarchisierung der Gesellschaft, soweit sie
von Bildung abhängen, verschärfen. Das ist in einer freiheitlichen und
demokratischen Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht hinzunehmen.
Wer heute in Schulen und Hochschulen den laufenden
Umstellungsprozess beobachtet, gerät ins Staunen darüber, wie sich die
Innovationsinstrumente gegenüber den ursprünglichen Zwecken verselbständigt
haben. Es ist nicht die Zeit, gelassen zuzuschauen, bis die Hoffnungen des
technokratischen Umbaus des Bildungssystems wie Seifenblasen zerplatzen. Die
Umstellung ist bereits äußerst wirksam. Ihr universeller systemischer Charakter
verstellt auf lange Zeit den Raum für alternative Reformbemühungen. Sie
etabliert Lenkungsstrukturen, die Wissenschaft und Bildung einseitig an externen
Zwecken ausrichten und sie damit behindern, anstatt möglichst viele Menschen für
ein unverkürztes Weltverständnis und Wahrheitsstreben zu gewinnen.
Frankfurt am Main, im Juli
2005
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