Lorenzmarkt

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Aus der Blütezeit des Lorenzmarktes

Nach dem Volksgemälde von Albert Reinhold

Neu herausgegeben von Carl Grunewald, Verlag von Gerald Luch, Strehla 1909

140 KB

Inhalt


Der Jahrmarkt von Lorenzkirch, im Volksmund kurz der Lorenzmarkt genannt, darf heute noch als das größte ländliche Volksfest im mittleren Sachsen bezeichnet werden. Wenn man an einem vom Wetter begünstigten Markttage auf dem Kirchturm des Ortes steht, hat man ein lustiges Bild aus der Vogelschau. Zu Füßen breitet sich die leichtgebaute Zelt- und Budenstadt auf der großen Wiese vor dem Dorfe. Im Budenhaus, das zu anderen Zeiten fest verschlossen ist, herrscht ein geschäftiges Kommen und Gehen. Draußen aber strömen die Festgäste aus allen Himmelsrichtungen herzu. Die durch die Felder kommenden Fußgänger nehmen sich wie lange Reihen emsiger Ameisen aus. Auf den staubigen Straßen folgt ein flotter Wagen dem andern, überholt von zahlreichen Radfahrern, die aus noch größerer Ferne herbeieilen. Der Verkehr über die beiden Fähren ist mit den gewöhnlichen Fahrzeugen nicht zu bewältigen; sie müssen verdoppelt und verdreifacht werden. Die Dampfschiffe landen nicht nur, wie sonst, am Strehlaer Ufer. In diesen Tagen ist Lorenzkirch die verkehrreichste Station auf der ganzen Strecke. Ein Menschenstrom quillt aus den ankommenden Schiffen. Er verteilt sich aber bald im weiten Marktbereich.

Wenn man dieses bunte Leben und Treiben sieht, wundert man sich nicht mehr, dass der Lorenzmarkt eine alte Berühmtheit Sachsens ist, und dass er von der ländlichen Bevölkerung geradezu als Zeitmesser benutzt wird. "Es war gleich vor dem Markte" hört man oft sagen, und jedermann weiß dann, dass es um den 20. August gewesen sein muss. Bis weit ins Land hinaus geht die Rede: "Bei einem zur rechten Zeit gesäten Raps wird zum Lorenzmarkt der Wind mit drei Blättchen spielen." Ferner hat man in der Elbniederung die Regel, dass die Störche mit dem Lorenzkircher Markt fortziehen.

Der Jahrmarkt hat also noch immer seine große Bedeutung, und doch kann er jetzt nur noch als ein Schatten der früheren Märkte bezeichnet werden; namentlich was den soliden Handel und Geschäftsumsatz betrifft. Das Fest stammt aus dem früheren Mittelalter, wo es als Wallfahrt zum heiligen Laureutius entstand. An diesen kirchlichen Ursprung erinnert der immer noch bestehende Marktgottesdienst. Auf seinem Höhepunkt mag er vor 60 bis 75 Jahren gestanden haben. Damals bedeckte er eine drei- oder viermal so große Wiesenfläche wie heute. Ein altes Verzeichnis stellt fest, dass im Jahre 1835 folgende Verkäufer da waren: 300 Schuhmacher, 125 Tuchmacher, 13O Schnittwarenhändler, 80 Leinweber, 40 Leinwandfabrikanten, 25 Kurzwarenhändler, 24 Kleidermacher, 30 Beutler, 20 Bürstenbinder, 25 Mützenmacher, 25 Zwiebelwagen. Für die Verproviantierung der Besucher aber sorgten außer den Ortsbewohnern: 40 Händler mit Bäckerwaren, 20 Pfefferküchler, 50 Bierschänker, 25 Obsthändler und 4 Italiener, die Südfrüchte und dergl. feilboten. Daneben spielte die Garküche und das Weinzelt immer eine große Rolle. Der Viehmarkt war damals ebenfalls von sehr bedeutendem Umfange. Im Jahre 1844 wurden 3.206 Stück Vieh gezählt. 1859 betrug der Auftrieb 2.901 Stück Großvieh und 300 Schafe. Das waren die verkehrreichsten Jahre. Wie niedrig sind im Vergleich dazu die gegenwärtigen Ziffern! Im Jahre 1890 sank die Zahl zum ersten Male unter Tausend; sie ist jetzt bei 4 bis 500 angekommen.

In eben jener Glanzzeit waren hier Schaubuden und Menagerien von großartigem Umfang zu sehen. Der in der Artistenwelt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts berühmt gewordene Kunstreitername Carée steht auch im Lorenzkircher Taufbuch. Im Jahre 1833 ward dem Zirkusbesitzer Joseph Carée, gebürtig aus Beaumont in den Niederlanden, hier ein Sohn geboren. Eins der vielen Jahrmarktskinder, die im Wohnwagen auf der Festwiese das Licht der Welt erblickt haben.

Wie gute Geschäfte die Schaubudenbesitzer in jener Zeit gemacht haben müssen, kann man aus den von ihnen abgeschlossenen Mietverträgen schließen. Es sind noch viele Schriftstücke dieser Art vorhanden. So bezahlte z. B. ein gewisser Julet Caloumet für die von ihm während der Markttage benutzte Bude nicht weniger als 38 Taler. Cornelius Suhr aus Hamburg mietete 1835 eine noch größere für 63 Taler: ja eine Madame Frasa gab 1841 sogar für ein besonders großes und fein ausgestattetes Bretterhaus 80 Taler.

Großartige Geschäfte machten zu der Zeit auch die Schank- und Speisewirtschaften. Der jetzt mehr und mehr abkommende Brauch, dass jedes Haus von Lorenzkirch sich in eine Gastwirtschaft verwandelt, stand damals in voller Blüte. So findet sich z. B. im Gemeindearchiv ein Nachweis über den Verbrauch von Karpfen beim Jahrmarkt 1841. Darnach wurden während der Festtage 12 bis 13 Zentner dieses wohlschmeckenden Fisches verspeist. In einzelnen Bauergütern verbrauchte man mehr als zwei Zentner.

Wer möchte nicht gern ein vollständiges Bild vom Marktgetriebe aus jener Zeit haben? Wir sind glücklicherweise imstande, dem Leser ein solches vorzuführen. Albert Reinhold, ein sonst unbekannter Schriftsteller, hat im Jahre 1854 in Zwickau ein kleines Buch unter dem Titel: "Der Jahrmarkt zu Lorenzkirchen" veröffentlicht. Es war in unserer Zeit gänzlich in Vergessenheit geraten. Durch einen Zufall kam es dem Herausgeber dieser Blätter in die Hände. Da sich in weiteren Kreisen ein Interesse für diese alte Beschreibung des Lorenzmarktes voraussetzen lässt, sollen im Nachfolgenden einige Abschnitte aus dem Buche wieder abgedruckt werden. Den älteren Marktbesuchern werden dabei manche Jugenderinnerungen aufgefrischt werden. Die jüngeren Leser aber sollen, wenn sie den Lorenzmarkt kennen gelernt haben, merken, dass in diesem Punkte die Vergangenheit einmal großartiger war, als die Gegenwart; hier und da freilich auch etwas derber.

Inhaltsverzeichnis


1. Der erste Markttag bricht an 

Heiter und rosig entwindet sich der junge Morgen den schlummerfesselnden, traumumspinnenden Armen der Nacht und schallt sich mit klaren Augen um, ob auch alles wach sei und freudig gerüstet zum Tagewerke. Kosend berühren seine Lippen die Fluten des Elbstroms, der unwirsch und mürrisch, von der gestrigen Anstrengung vielleicht, noch schlaftrunken die nassen Glieder dehnt und eine weite graue Decke über sich gespannt hält, dass der Strahl der Morgenröte nicht sein Antlitz blende. Doch nicht lange widersteht der Grollende der freundlichen Liebesbitte. Linde Lüftchen küssen die Krystallaugen munter, dass sie bald hellglänzend strahlen: sie ziehen den feuchten Dunstüberwurf leise mit sich weg und führen ihn hoch hinauf in den blauen Äther. Die Uferschwalben, schon in Scharen zu der baldigen großen Reise vereinigt, schwärmen unter lustigem Gezwitscher den Fluss entlang oder über ihn hinweg und netzen zuweilen den zarten Federschmuck durch leichten Stoß auf die blinkende Welle. Hier und da reckt ein munteres Fischlein das schuppige Haupt neugierig aus der nassen Wohnung und schaut sich um im Licht. Da aber kann der schöne Strom nicht länger mehr zürnen. Er streicht die Falten von der Stirn. Die Fluten ebnen sich und bieten ihren glatten Rücken den Schiffen und Kähnen dar zur ruhigen, gefahrlosen Fahrt. Bald schaukeln denn auch diese, mit Kisten und Kasten beladen und mit fröhlichen rührigen Menschen bemannt, auf der spiegelhellen Fläche und steuern hinüber nach der großen Wiese bei Lorenzkirch. Stromauf- und abwärts tauchen dunkle Kiele auf mit weißen, luftgeschwellten Segeln und flatternden Wimpeln an den Masten, welche die Hauptstadt des Landes oder der große Nachbarstaat entsendet. Sie alle streben nach dem Endpunkt ihrer Reise, dem Jahrmarkt von Lorenzkirch. Je mehr nun der Schiffe nach und nach am Ufer landen, desto geräuschvoller regt sich das Leben, desto lauter bricht der Jubel los.

Doch auch die Bewohner des Dorfes und alle die, welche in den Zelten und Buden die nächtliche Ruhe gesucht, hat die Gewinnsucht oder die Neugier, der Pflichteifer oder das Getöse bereits wach gerüttelt, und tausend Hände rühren sich im geschäftigsten Treiben. Dicke Rauchwolken entquellen den Schornsteinen; der Wind treibt sie über den Platz hinweg nach dem Strome zu. Hungrige wilde Tiere brüllen in ihren Käfigen nach der blutigen Kost. Papageien kreischen ihr weitschallendes unmelodisches Morgenlied. Zolleinnehmer mit ihren bewaffneten Scharen, die verrosteten Hellebarden über den Schultern, durchziehen die Räume und fordern die Buden- oder Standgelder ein. Zornsprühende Weiber schleudern sich im geläufigsten Wortschwall ihre Verwünschungen zu. Gauner schleichen mit gekrümmten Fingern nach früher Beute umher. Leichtfertige Dirnen umhängen sich mit bunten Fetzen und übertünchen die schamentwöhnten Wangen mit grellem Rot. Packknechte und Lastträger rasseln mit schweren Karren durch das Getümmel und schleppen allerhand Bedürfnisse herbei, mit lautem Zuruf oder derben Püffen durch die Menge sich Bahn brechend. Krämer legen ihre Waren aus und harren der Käufer. So wird die Tätigkeit immer allgemeiner und immer größer.

Inhaltsverzeichnis


Auf dem Viehmarkt 

Es ist um die neunte Stunde des Morgens. Ein ungewöhnliches Leben wogt auf dem nördlichen Teile der Marktwiese. Das Gesumme vieler tausend Stimmen, vermischt mit dem Gewieher der Pferde und dem Gebrüll des Hornviehs, schallt weithin. Der große Tiermarkt ist im vollen Gange. Der von der Elbseite daherkommende Wanderer gewahrt zuerst das wiederkäuende Geschlecht. In langen, unabsehbaren, unregelmäßig sich dahinziehenden Reihen, bald rechts, bald links, bald geradeaus stehen die zum Verkauf aufgebotenen, der Schau preisgegebenen Tiere gleich einer undurchdringlichen Phalanx. Gewaltige Stiere mit mächtigen gekrümmten Hörnern dehnen die riesigen, fettstrotzenden Glieder im ungewohnten Aufenthalt oder liegen, von der weiten Reise ermüdet, am Boden. Daneben glotzen die kleinen, mageren Zugochsen, aus Sachsens und Preußens Sandwüsten herbeigetrieben, mit den dummgutmütigen Augen in das Gewühl und brummen in den verschiedenartigsten Modulationen dumpf vor sich hin oder erheben von Zeit zu Zeit ein weittönendes, markerschütterndes Gebrüll. Dicht dabei harrt die fromme, nützliche Kuh mit dem milchstrotzenden Euter in geduldiger Ergebung ihres Schicksals. Ärmlich gekleidete Männer und Frauen, jene in Leinwandkitteln mit großen, blanken Metallknöpfen, breitränderigen, verschossenen Hüten und langen, hochaufgestülpten Stiefeln mit zolldicken Sohlen, diese in Friesröcken und veralteten, plumpen Hauben, bieten im entsetzlich gemisshandelten Deutsch preisend und belobend ihre Ware feil. Dazwischen umher gehen Fleischer mit gewichtigen Geldkatzen um den Leib; sie mustern die aufgestellten Stücke mit Kennerblicken oder wenden sich verächtlich ab, wenn eine der sieben mageren Kühe Pharaonis in leibhaftiger Gestalt sich ihnen zeigt. Andere trauen dem Gefühl mehr als den trügerischen Augen; sie betasten die Weichen, diese für jeden Metzger so anziehenden Fleisch- und Fettpartien, kriechen unter den Leibern der geduldigen Tiere hinweg, um so genau und sicher als möglich zu verfahren, oder messen mit dem Zollstock ihre Höhe und Breite, Zuweilen zerreißt wohl auch ein munteres, mutiges Tier den morschen Strick und springt in lustigen Sätzen aus der Ulmfriedigung: der Eigentümer stürzt dann unter einem Halloruf fluchend hinterdrein, bis der Flüchtling eingeholt und in den Gewahrsam zurückgebracht ist. Die ganze Szene bietet aber ein so kräftiges, lebensfrisches Bild dar, gewiss niemand unbefriedigt den Platz wieder verlässt. Einige Dutzend Schritte weiter nach Norden zu betritt der Fuß des Wandelnden den Bereich des Rossmarktes. Ist das Treiben unter den Klauentieren wirr und bunt, so entfaltet sich hier ein noch großartigerer und wechselvollerer Anblick. Eine ungeheuere Menge von Pferden ist auf diesem Raume zusammengedrängt. Das Gewieher und Gebrause der Rosse, unter mischt mit Schelten, Flüchen und Geschrei, erfüllt die Luft. Der weiche, grüne Rasen ist von den Hufen zerstampft und gleicht eher einer Scheunentenne, so fest ist der Boden getreten. Hier findet man die feinsten Rassepferde; Abkömmlinge aus Mecklenburgs und Holsteins Stutereien, den flüchtigen Polen wie den geringen Karrengaul und die gemeine Mähre. Das "ho. ho!", jener Warnungsruf der abreitenden und ankommenden Rosshändler, erschallt von allen Seiten; Peitschen knallen, Sporen klirren, Trunkene taumeln durch das Gewühl, von rohem Spottgelächter und derben Witzworten verfolgt. Sämtliche zum Verkauf aufgestellte Pferde scheinen von einem wahrhaft bachantischen Taumel ergriffen zu sein, der sie zu den rasendsten und gewagtesten Sprüngen fortreißt. Dieses Wunder bewirkt aber die befeuernde Geisel und das aufstachelnde, scharfe Eisen. Fast immer wandelt ein Gehilfe des Rosshändlers hinter den Koppeln auf und ab und zählt im Vorbeigehen jedem Stück den herkömmlichen, marktüblichen, schwirrenden Tribut auf. Da schrickt denn das furchtzitternde, gereizte Tier zusammen, bäumt an der Umzäunung in die Höhe, schlägt aus oder drängt zur Seite nach den Nachbarn zu, die gleich darauf, von demselben Reizmittel getrieben, ähnliche Kraft oder Schmerzäußerungen von sich geben. Wüste, zerlumpte Gesellen baumeln hie und da auf mageren, abgetriebenen Gäulen, die blind, lahm, dumm oder heuschlechtig oder mit sonst welchen Gebrechen behaftet sind, und sprengen zuweilen aus dem Gewühl auf die Wiese hinaus, die in fast unabsehbarer Länge vor den Blicken sich ausbreitet. Dort ist der Tummel- und Probeplatz für alle Pferde, die Kaufliebbaber gefunden; auch bietet er zugleich dem Beschauer den schönsten Standpunkt dar, um einen Überblick über das Ganze zu gewinnen. Man ist daselbst vor den rohen Ausbrüchen der Volksmenge so ziemlich gesichert, die tiefer im Innern zu verkehren pflegt. An diesem Orte versammelt sich der männliche Adel, der von nah und fern herbeigeströmt ist; auch verschmähen es seine, zarte Damen nicht, von galanten, zierlichen Junkern geleitet an dem beweglichen, immer wechselnden Schauspiel sich zu ergötzen. Förster nnd Rittergutsbesitzer, Offiziere und Postmeister, Oekonomen und Pferdeliebhaber aus allen Ständen drängen sich im buntesten Gemisch durcheinander. Und immer neue, noch nicht vorgeführte Tiere scheinen, der Saat des Cadmus gleich, der Erde zu entsteigen.

Auch für die Bedürfnisse des Magens und der Kehle ist gesorgt. Da die großen Buden- und Zeltreihen weiter zurück auf der Südseile sich ausdehnen und bis aus diese Entfernung sich nicht erstrecken, haben erfinderische Köpfe fliegende Baracken errichtet, aus denen blinkende Fuselflaschen und terassenförmig aufgerichtete Wurstpyramiden zum Genusse einladen. Weiber und Mädchen, volle Körbe mit Kuchen an den Armen, durchstreichen die Wiese und preisen mit zudringlicher Redseligkeit ihre Herrlichkeiten an. Hier hockt ein schmutziger zerlumpter Kerl neben einem angezapften Fasse, aus welchem auf Verlangen der Loschwitzer Ausbruch in das einzige ihm zu Gebote stehende Glas rinnt, dessen Rand in schneller Reihenfolge nicht immer kussgerechte Lippen berühren. Dort steht ein Knabe und bietet seine Rettigsbirnen feil. Entweder gehört es zu einer der vielen Eigentümlichkeiten dieses merkwürdigen Marktes, oder ist diese Obstgattung in zu großer Menge vorhanden, genug, fast immer sieht man diese Frucht in großen Massen aus der Erde aufgeschichtet. Man kann behaupten, dass die Rettigsbirne ein un-entbehrliches Erfordernis auf dem Markt zu Lorenzkirch ist. Überall erblickt man kauende Buben mit der saftigen Gottesgabe in den Händen, die nicht selten einander mit dem Abraum werfen und einen Fehlschuss, der ein schuldloses Opfer traf, sich nicht eben zu Herzen nehmen. Endlich durchwürzen Herings- und Pöklingsgerüche stoßweise die Luft, je nachdem die Ausbieter der Fische nach dieser oder jener Seite sich wenden, sodass alle Sinne gleichzeitig im Überschwang Befriedigung finden.

Inhaltsverzeichnis


Ein toller Ritt

An der Stangenbrüstung, welche die aufgestellten Pferde rings umschließt, lehnt der Pferdehändler Grohmann. Ein Paar gewaltige, steife Reitstiefeln mit glänzenden Sporen nebst enganliegenden gelbledernen Beinkleidern umschließen die Füße und Schenkel des riesigen Mannes. Eine schwere Geldkatze schlingt sich gewichtig um seinen Leib; im Munde hängt der kurze, qualmende Pfeifenstummel, und die Rechte spielt nachlässig mit der langen Peitsche, dem Attribut seines Standes. Dabei schweifen seine Augen bald mit Blitzesschnelle über die Fläche dahin, wo einige seiner Knechte Reitpferde vorreiten oder Karrengäule zur Schau stellen, bald wenden sie sich zu den Koppeln zurück.

"Lass besser ausgraben, Fritz, und lege den Schenkel mehr ein!" ruft er nach der freien Wiese hinüber. "Wie sitzt denn der Esel, der Hans, wieder einmal so krumm und bucklig auf der Mähre! Du wirst nimmer reiten lernen." - "Den Laufzügel lang, Christoph, wenn du das Pferd vorführst! So ist's recht, nun lass ausgreifen. Hat das Tier einen Trab, es spielt nur so mit den Knochen." - "Haut doch die Bestien zusammen, wenn sie nicht stehen wollen!" schreit er zurück und führt selbst einen kräftigen Hieb über die Köpfe der nächsten. Vransend und schnaubend bäumen die Tiere sich hoch auf, doch des Rosshändlers mächtige Faust reißt sie mit gewaltigem Ruck wieder nieder, und seine streichelnde Hand nebst einigen begütigenden Worten wandelt sie gleich darauf in Lämmer um.

Lorenzkircher Viehmarkt um 1900
im Hintergrund Strehla
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Da tritt ein ältlicher Herr, begleitet von zwei jungen Männern auf Grohmann zu und spricht: "Ich wünsche ein Paar gut eingefahrene Wagenpferde zu kaufen." "Von welcher Farbe und Größe?" fragt der Händler und zieht die Mütze. "Ich führe Rappen, Füchse, Falben und Schimmel von elf bis dreizehn Viertel. Lauter Prachtexemplare, schöne, fromme, auserlesene Tiere. Ein Kind kann sie an einem Zwirnsfaden regieren. Ich werde Sie bestens bedienen, Sie sollen zufrieden mit mir sein. - Darf ich um Dero Namen bitten? Es ist wegen der Zukunft."

"Ich bin der Baron von Buchenfels." versetzt Jener, "habe Besitzungen nicht weit von hier in Preußen und werde vielleicht öfter in Beziehungen zu Ihnen treten, wenn Sie mich gut bedienen. Aber geduldig und sanft müssen die Pferde sein, sie sind zum Geschenk bestimmt für meine Gemahlin."

"Sorgen Sie nicht, gnädiger Herr", spricht Grohmann und befiehlt einem Knechte, ein Paar Füchse, die er ihm bezeichnet, vorzuführen. "Sehen Sie", wendet er sich wieder zum Freiherrn, "an diesen Mecklenburger Stuten ist kein falsches Haar. Auf einem Raum von zwanzig Schritten im Quadrat fahre ich eine Achte mit den Dingern, dass es nur so sein muss. Die gnädige Frau kann mutterseelenallein mit ihnen über Stock und Stein kutschieren, wohin es ihr beliebt."

Unterdessen sind die Pferde auf dem freien Platze angekommen. Die drei Herren erblicken zwei wunderschöne Tiere mit klugen, feurigen Augen, ganz gleicher Abzeichnung und frisch englisierten Schweifen, welche über Strohbüschel gezogen sind.

"Nun, was meinst Du, Herr Neffe, wie gefallen Dir die Füchse?" fragt Buchenfels seinen Nachbar zur Rechten. "Die Figuren stehen mir recht wohl an." "Schön, recht schön" entgegnet der Angeredete. Der Händler ist etwas vorgetreten und knallt mit der Peitsche den Takt zum immer schnelleren Kreislauf der schulgerechten Rosse. - "Halt!" ruft er nach einigen Minuten, "lass die lieben Tierchen jetzt verschnaufen!" - "Nun, wie gefallen Ihnen die Püppchen?" wendet er sich dann zum Baron. "Sind sie nicht ihre zweihundert Louisdor wert?"

"Der Preis ist etwas hoch", entgegnet Buchenfels. "Wir sprechen schon noch darüber. Besitzen Sie auch gute Reitpferde?"

"Und ob!" versetzt Grohmann mit triumphierenden Blicken, "Herr, mit dem schwarzen ungarischen Hengste dort neben dem großen Falben, können Sie die Hölle stürmen. Er ist ein wahrer Teufel, fromm wie eine alte Ziege und flüchtig wie ein Vogel. - Daniel führe einmal den Zriny heraus, ich halte indessen die Füchse."

Der Knecht gehorcht, und kurz darauf tanzt das aalglatte Ross vollständig gesattelt und gezäumt, aus der Umfriedigung. In demselben Augenblick entsteht ein Drängen und Schlagen unter den Koppeln im Innern, und Grohmann schreit: "Vermaledeite Bestien, so haltet doch Ruhe! Wo stecken denn die Schlingel, dass keiner zuspringt? - Haltet doch einmal die Pferde hier, guter Freund", spricht er zu einem langen Mann, der zufällig neben ihm steht. "Für ein Trinkgeld soll gesorgt werden." "Gern", versetzt der Mann und fasst die Zügel. Der Rosshändler aber springt schnell nach der Umzäunung zu. Während die tobenden Gäule durch Zuruf und Peitschenschlag besänftigt werden, spricht der zweite Begleiter des Barons, der bisher ein stummer Zuschauer gewesen, zu diesem: "Lassen Sie mich doch einmal den zierlichen Ungar besteigen. Sie sehen, er steht so geduldig da, und rührt sich nicht. Ich reite einige tausend Schritte auf die Wiese hinaus und kehre sogleich wieder zurück."

"Du verstehst das feine Pferd nicht gehörig zu führen, junger Freund, es fehlt Dir die Übung", wirft Buchenfels ein. Der andere Begleiter aber spottet: "Sie werden doch Ihre langen Sporen nicht bloss zur Schau tragen? Ein Student und nicht reiten können, das reimt sich schlecht."

"Wer sagt das?" ruft der junge Mann leidenschaftlich. "Jetzt wird der Einfall, der mir flüchtig durch den Kopf schoss, für mich zur Ehrensache. Es gilt, den Gegenbeweis zu liefern."

Im nächsten Augenblick sitzt er im Sattel. Der Knecht schiebt ihm dienstfertig den Bügel unter den Fuß, nimmt die Hand vom Zaume und tritt zur Seite. Keck drückt der Student dem herrlich zugerittenen Tiere die scharfen Eisen in die Seiten, um triumphierend im Galopp davonzusprengen. Doch das Ross, durch die harte, ungewohnte Behandlung empört, hebt sich zu einem gewaltigen Satze. Der Reiter wankt und zieht taumelnd die Zügelhand straff an. Der jähe Ruck verletzt schwer das feinfühlende, edle Tier. Stöhnend vor Schmerz, die Nüstern weit geöffnet, mit nach hinten zurückgeworfenem Kopfe springt es, auf den Hinterfüßen das Gleichgewicht haltend, zwei-, drei-, viermal in die Luft. Um nicht herab zu fallen, drückt der Reiter die bestählten Fersen tiefer in die Weichen des Ungarns und klammert sich mit den Händen am Sattelknopf fest.

"Die Absätze heraus, die Zügel gelüftet, den linken Schenkel etwas angezogen!" kommandiert der herbeieilende Rosshändler; doch der fassungslose Student hört seine Worte nicht.

"Haltet das Tier! Helft doch dem Reiter!" ruft Buchenfels den Zunächststehenden zu und rennt selbst nach dem unbändigen Gaule hin. Doch seine Aufforderung kommt zu spät, wie er selbst. Der schäumende Ungar hat den Kopf auf die Brust gesetzt, dass die blanke, gischtträufelnde Stange knirscht, und nimmt jetzt den Anlauf mit zwei gewaltigen Sätzen zum gestreckten Carriere. In der nächsten Sekunde befinden sich Ross und Reiter außer dem Bereich des Marktgewühls. Auf der freien Wiese stürmt das wütende, der Gewalt des Zügels spottende Tier mit Windesschnelle dahin. Der verzweifelnde Freiherr aber ruft: "Rettet mir den Menschen! Zehn Louisdor dem, der das Pferd auffängt!" "Stehen Sie für den Schaden, den das nachsetzende Tier etwa erleiden könnte?" fragt der lange Mann, der des Rosshändlers Füchse hält.

"Herrgott, ja, es gilt ein teures Leben!" schreit Buchenfels, und gleich darauf schwingt sich der Unbekannte mit Blitzesschnelle auf eines der ungesattelten Pferde, gibt Schenkeldruck und Zügelschlag zugleich und sprengt, die leichte Wassertrense mit sicherer Faust führend, vom Platze.
Dies alles ist das Werk von kaum mehr als einer Minute. In der nächstfolgenden fliegt Grohmann selbst auf seinem besten Renner über die Wiese. Andere, gelockt von der reichen Belohnung, folgen ihm nach. Die gespannteste Erwartung fesselt die Menge. Neugierige strömen von allen Seiten herbei. Ein dumpfes Gemurmel summt durch die Reihen. Dem Baron lässt die Angst keine Ruhe; er läuft ein Stück auf die Wiese hinaus, um besser sehen zu können. Der Anblick, der sich den Zuschauern darbietet, gleicht ganz einem Wettrennen. Vornan ist der durchgehende Ungar sichtbar. Mehr zurück strebt der fremde lange Mann auf Grohmanns Fuchse den Preis zu erringen. Dann zeigt sich dieser selbst hoch zu Ross. Seine herkulische Gestalt ist leicht zu erkennen. Nun folgt der niedere Tross, der den Vorsprung zu gewinnen vergebens sich müht. Und immer weiter rast die wilde Hetze über die grüne Fläche dahin.

"Ist alles vergebens und eitel, den holt keiner ein" rufen einige. Andere schreien: "Sie werden noch die Hälse brechen, schade doch auf den Sausewind! Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um." Alle aber erwarten mit gespanntester Aufmerksamkeit den Ausgang.

Plötzlich wendet das rasende Pferd sich um und rennt in der Richtung zurück, die es soeben durchlaufen. Ein Ausruf des Erstaunens entfährt den Gaffern. Äußerungen der Teilnahme lassen sich vernehmen. Buchenfels atmet leichter auf. Der fremde Mann aber draußen auf der Wiese reißt sein Pferd zur Seite und jagt dem des Studenten entgegen. Doch da eben beide Tiere sich zu begegnen im Begriffe sind, wendet sich der Ungar mit einem jähen Sprunge und stürmt dem nahen Elbstrom zu. Der schlanke Reiter taumelt im Sattel, doch die krampfhaft in die Weichen des Renners eingedrückten Füße schützen ihn vor dem Falle. "Der Unglückliche ist verloren, wenn Gott nicht Zeichen und Wunder tut!" jammert Buchenfels. Viele aus dem Haufen aber schreien nach Kähnen, bleiben indessen selbst ganz untätig stehen.

Der Unbekannte folgt auf seinem Fuchse den Hufen des Ungars. In allen seinen Bewegungen zeigt sich der vollendete Reiter. Er gibt jetzt dem Pferde alle Hülfen, um dessen Lauf zu beflügeln. Es gelingt ihm. Die trennende Kluft wird immer geringer. Doch näher und näher blinkt der brausende Strom. Das wütende, erhitzte Tier wird sich mit seinem willenlosen Reiter unfehlbar in die kühlen Fluten stürzen, wenn die Rettung nicht bald kommt. Doch sie naht. Nur noch auf Pferdeslänge ist der fremde Helfer entfernt. Noch zwei Sätze seines Renners, und er befindet sich an des Jünglings Seite. Die weit ausgestreckte Rechte reißt das Ross herum, das eben zum letzten Sprunge in die Wellen sich hebt. Gleich darauf steht es, wie durch einen Zauberschlag gebannt, unbeweglich still. Der Student gleitet vom Sattel in das weiche Gras nieder - er ist gerettet.

Inhaltsverzeichnis


In der Zeltreihe

Am Tage des Viehmarkts herrscht in der unweit gelegenen großen Weinbude von früh bis abends ein reges Leben. Kellner rennen geschäftig hin und her, rauschende Konzertmusik ertönt, und die auf dem Markte versammelte feine Welt findet sich zahlreich ein. Hier und da erblickt man die Uniform eines preußischen Offiziers. Junge, elegant gekleidete Herren stolzieren, die Lorgnette vor dem Auge, die Reihen der Tische entlang und mustern den reichen Damenflor. Die unermüdlichen Ausrufer preisen auch hier ihre Waren an, und Künstler verschiedener Art zeigen ihre Kunststücke.

Wir folgen aber dem Rosshändler Grohmann, der nach Abschluss seiner Geschäfte dem Teil des Jahrmarkts zustrebt, wo es am lustigsten zuzugehen pflegt, nach der Zeltreihe. Wohl eine Viertelstunde weit reiht sich ein lustiges Leinwandhaus an das andere. Hohe, mastbaumähnliche Stangen mit bunten Wimpeln und Flaggen ragen über den Eingang eines jeden in die Luft empor, während ein symbolisches Zeichen oder ein Spruch zum Eintritt in die innern gastlichen Räume einladet. Aus jedem dieser beweglichen Gebäude erschallt Musik oder Gesang, oft beides zugleich. Verkleidete Künstler mit ihren männlichen oder weiblichen Gehilfen, hier eine Schweizerfamilie darstellend, dort als Troubadour kostümiert, die meisten jedoch in selbstgewählte und oft lächerlich zusammengestellte Trachten gehüllt, lassen sich auf ihren Instrumenten für Geld hören. Bei der Nähe der Zelte zu einander erzeugt dies einen wahrhaft sinnbetäubenden Lärm, da man nicht selten vier oder fünf dieser Chöre zugleich hört. Draußen aber ziehen, ein lebendiges Wandelpanorama, die Vorübergehenden am offenen Zelteingang vorbei, stets wechselnd, bunt durcheinander geworfen. Immer neue Gestalten drängen sich den entschwundenen nach: fast niemals kehren die alten zurück. 

"Sieh", da tritt in das Zelt, das wir mit Grobmann aufgesucht, ein Mann in Schweizertracht, der auf einem besaiteten, viereckigen, tischbreiten Instrument mit zwei Holzklöppelchen die Saiten so fertig und sicher schlägt, dass man seinen Bewegungen unmöglich so geschwind mit den Augen zu folgen vermag. Silberrein rauschen die Klänge bis in die höchsten Töne sich verlierend und wieder abwärts zu den tieferen, volleren Akkorden fallend durch das geräumige Leinenhaus. Von Dur in Moll überspringend und umgekehrt, bald ein rasches, brausendes Allegro anstimmend, bald in schmelzende, das Innerste ergreifende Weisen übergehend, weiß der Künstler in der Brust der Zuhörer eine ganze Tonleiter von Gefühlen zu erregen. Endlich beginnt er im geregelten Tempo eine jener einfachen, schwermütigen Melodien anzustimmen, die als schmerzlich-süßes Echo im Busen jedes empfindenden Menschen wiederhallen, und kurz darauf begleitet er mit weicher, dem Inhalt des Ganzen entsprechender Tenorstimme das Spiel. In tiefem Schweigen lauschen alle Anwesenden den Tönen, die Kellner lehnen untätig an den Säulen, denn die Gläser der Gäste bleiben unberührt.

Plötzlich durchbricht des Rosshändlers raue Stimme die andächtige Stille. "Was ist denn das für ein Leben?", ruft er: "Es geht ja hier zu wie in einem Gotteshause! Will der Mann hier Sterbelieder winseln? Und das auf dem Lorenzmarkt, dem Markt aller Märkte? Alle Donnerwetter! So was ist unerhört. Spiele gleich einmal etwas Lustiges auf, alter Knasterbart, etwa "Lotte ist tot" oder "Wer niemals einen Rausch gehabt", oder was Dir sonst geläufig ist. 

Der Künstler hat aufgehört zu singen und die Klöppel vor sich niedergelegt. Aller Augen sind auf den Sprecher gerichtet, der das Tonstück so unzart unterbrochen hat. Ein leises Murmeln und Flüstern läuft durch die Reihen; einzelne Ausrufe des Unwillens werden vernehmbar. Grohmaun aber sieht sich herausfordernd in der Versammlung um. Alle schweigen, denn niemand wagt es, mit dem riesigen, vom Trinken erhitzten Manne anzubinden. Dieser wendet sich jetzt zum Spielmann, wirft einen blanken Taler auf das Instrument, dass die Saiten dröhnen und spricht: "Seht, guter Freund, auch ich weiß die Kunst zu schätzen und zu belohnen. Geht mit dem Notenblatt unter Euren Verehrern herum und sammelt die Gaben ein. Ihr werdet nur kleine Münze zwischen den schwarzen Klecksen gewahren, wovon ihr kaum ein warmes Mittagsessen bezahlen könnt und die paar Hände voll Stroh zum Kopfkissen für's Nachtlager. Aber nun spielt mir eins auf, wie es Sitte ist auf dem Jahrmarkt zu Lorenzkirch! Da fällt mir ein hübsches Stückchen ein", fährt er nach einer kurzen Pause fort; und dabei wirft er einen spöttischen Blick auf eine ihm bekannte, am Nebentisch sitzende alte Jungfer. "Singt doch das Liedchen von den verzauberten alten Jungfern, die in Unken verwandelt im Teiche tanzen. Ihr werdet es gewiss kennen."

Der Künstler nickt mit dem Kopfe und schraubt mit dem Stimmhammer an seinem Instrument herum. Dann ergreift er die Holzklöppel, schlägt damit einige Akkorde an und singt unter Begleitung des Hackebrets:

"Unk, unk, unk,
Vor Jahren war ich jung:
Hätt' ich mir 'nen Mann genommen,
Wär' ich nicht in den Teich gekommen."

Grohmann lacht ganz unbändig, sobald der Vers zu Ende ist, auch Andere stimmen mit ein. "Weiter, weiter!" schreien ein paar rohe Gesellen und drängen sich an den Spielmann heran. Der aber sagt trocken mit einem mitleidigen Seitenblick auf die, der das Lied gegolten: "Das Lied ist mit den vier Strophen zu Ende", und beginnt den Zigeunermarsch aus der Preziosa zu spielen.

Das Geräusch, welches die ankommenden und abgehenden Gäste, die Ausrufer und der Übermut der angetrunkenen Zecher im Zelt verursachen, wird plötzlich durch neue herzuströmende Massen und den von mehreren Seiten kommenden Ruf: "Der Doktor Eisenbart!" so beträchtlich erhöht, dass alle Blicke sich nach dem Zelteingang wenden. Dort erblickt man einen seltsam gekleideten und von einem Dutzend junger Leute umschwärmten Mann. Er erscheint in einem Kostüm, wie man es wohl vor hundert Jahren zu tragen pflegte: in rotem Rock mit riesigen Manschetten an den Ärmeln, großen Schnallenschuhen, langen weißen Strümpfen, dito kurzen Unaussprechlichen. Er ist mit einer ungeheuren Perücke versehen, die in einen bis auf die Hälfte des Rückens hinabreichenden Zopf ausläuft, und führt eine alte Geige in der Hand. Dieser Mann ist seit dreißig Jahren eine immer wiederkehrende Erscheinung auf dem Jahrmarkt zu Lorenzkirch und von männiglich gekannt. Er zieht in den Zelten und Buden umher und singt alte Schalkslieder, an die man nicht immer den Maßstab strenger Sittlichkeit legen darf, wobei er sich mit der Violine begleitet. Seine vorzüglichste Leistung besteht aber in dem Absingen des witzigen Liedes "Der Doktor Eisenbart", das er, durch entsprechende Mimik gewürzt, vorzutragen pflegt. Sie hat ihm selbst die Bezeichnung "Doktor Eisenbart" eingebracht.

Sobald Grohmann den Eingetretenen erblickt, springt er auf ihn zu und zerrt ihn an seinen Tisch, dass dem Ärmsten die Rippen im Leibe knacken. "Lebst Du denn immer noch, alter Seelöwe?" ruft der Rosshändler aus und glotzt ihm mit den kleinen grauen Augen ins Gesicht. "Du bist doch einer von der echten Lorenzkircher Rasse, die nie stirbt, wie die alte Garde Napoleons."

"Der Eisenbart! Der Eisenbart!" schreien jetzt wohl ein Dutzend Stimmen zugleich. Der kostümierte Fiedler stimmt denn auch sofort seine Geige, so gut es bei dem Tumult geht, räuspert sich gewaltig, steht feierlich auf, bittet um Ruhe und sagt: "Meine Herren und Damen, der Doktor Eisenbart wird jetzt gesungen, das Lied vom Doktor aller Doktoren. Ich bitte um Ruhe und geneigtes Gehör."

Augenblicklich wird es still und der Spielmann beginnt unter Begleitung seines Instruments:

"Ich bin der Doktor Eisenbart,
Kurier' die Leut' nach meiner Art.
Ich mache, dass die Blinden geh'n,
Und dass die Lahmen wieder seh'n."

"Weiter, Weiter!" ruft der Rosshändler ungeduldig, "am ersten Verse ist nichts, es wird gleich besser kommen." Der Geiger fährt fort:

"Der Schoßhund meiner Großmama
Litt einst sehr an Podagra.
Ich hätt' ihn sicher auch kuriert
Wär' er nicht vor der Zeit krepiert."

Ein schallendes Gelächter der Umstehenden begleitet die letzte Strophe. Manche stimmen schon in den jodelnden Refrain ein, der am Schluss jedes Verses gesungen wird. Da der Fiedler auch eine außerordentliche Übung im Gesichterschneiden besitzt und sich dieser Kunst fast unausgesetzt bedient, will der Jubel kein Ende nehmen.

Und der dritte Vers beginnt:

"Mein Mittel gegen Hundewut
Gar wunderbare Wirkung tut.
Das Beste, ich behaupt' es fest,
Ist dass man sich nicht beißen lässt."

Wieder bricht die Menge in ein mark- und beinerschütterndes Lachen aus. Der Rosshändler leert aufs das Wohl des Welt berühmten Medicus gleich ein Krügel Bairisches auf einen Zug. Auch dem Sänger wird von einem der Zuhörer ein frischer Trunk gereicht. Dieser wischt sich, nachdem er unter allerlei ergötzlichen Gebärden das Glas ausgetrunken, mit der Zunge die Augen aus, was ihm auf der Stelle aus Grohmanns Hand ein Achtgroschenstück einträgt, während die Menge vor Lachen bersten will.

Sobald sich der Tumult ein wenig legt, geht es weiter:

"In Wien grassierte Hungersnot
Und reiche Ernte hielt der Tod.
Ich riet den Leuten Semmeln an
Und nicht ein Einziger starb daran."

"Es war ein Mann in Altenhahn,
Den kam einmal die Maulspeer an,
Ich schlug ihm mit der Holzaxt drauf -
Und er tat's Maul nicht wieder auf."

So geht es unter dem steigenden Beifall der Menge noch eine Weile weiter. Wer nur ein bisschen musikalisch ist, hat längst die Melodie begriffen und singt den Kehrreim wacker mit, so dass man schließlich kaum noch weiß, wer hier eigentlich Schauspieler, und wer Zuhörer ist.

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Wie der Markt entstanden sein soll

"Meine hochverehrten Herrschaften! Sie verstatten mir vielleicht zu erzählen die ganz wundersame Geschichte von der Gründung unseres berühmten und hochangesehenen Jahrmarkts zu Lorenzkirch."

Mit diesen etwas gespreizt klingenden Worten führt sich bei dem Zeltpublikum ein Geschichtenerzähler ein, der sein Brot damit verdient, den ganzen Tag über in den besuchtesten Schankstätten umherzugehen, und die dem Leser vielleicht unter dem Titel: "Der Teufelsgraben" oder "Die Müllerstochter von Coselitz" schon bekannte Sage vorzutragen.

Da einige aus dem Publikum beifällig nicken, fährt er in seiner Einleitung fort: "Es ist sotane Historie von ganz besonderem Interesse, sintemal der böse Feind, der ja noch heute fortwährend tätig ist, Unheil zu bereiten, auch damals eine große Rolle gespielt hat in der Gegend."

Seine Geschichte lautet:

"Unter allen metzenden Müllern war der Coselitzer der ärmste, unter allen Müllerstöchtern sein Röschen die schönste, unter allen Freiern der schmucke Jägerbursche der Gorischhaide, Karl, ihr der liebste; aber da es beiden an dem leidigen Mammon fehlte, so blieb es bei den Wünschen und Karl zog in den Krieg. Der Müller sollte vom Herrn ausgepfändet, und die Mühle, die kein Wasser hatte, zur herrschaftlichen Scheune umgewandelt werden. Da rief der Müller, als die Schergen kamen, deren Herz härter war als Zabeltitzer Kiesel, den Tag der Auspfändung nach dreimal verflossenen 24 Stunden ankündigten und einen Span aus der Türe hieben: Nur demjenigen, der mir Wasser verschafft, dass die Mühle geht, gebe ich meine Tochter, und wenn's der Teufel wär!"

Sein Gelöbnis wurde bekannt. Die jungen Burschen der Umgegend meldeten sich zur Arbeit. Sie kamen mit Hacke und Spaten, arbeiteten. dass der Schweiß von der Stirne rann, gruben und gruben, aber in der Mitternachtsstunde verschüttete sich die Arbeit stets von selbst wieder. - So kam der verhängnisvolle Tag der Auspfändung, der den Müller zum Bettler und Leibeigenen machen musste, immer näher. Nur noch ein Tag, und alles war verloren, die Mühle blieb ohne Wasser, der Müller ohne Hilfe. - "Können Menschen nicht retten", rief er in Verzweiflung, "so rufe ich die mächtigen Geister an: was ich gelobte, gilt: Wer mir hilft, bekommt meine Tochter!"

Siehe, da stand plötzlich vor ihm ein wandernder Mühlknappe und sprach nach dem gewöhnlichen Handwerksgruße: "Versuche einmal des Fremden Knappenkunst!' Er stampfte mit dem Fuße auf die Erde, und ein starker Quell sprang hervor, floss auf das Rad und trieb die Mühle. Der Müller und seine Tochter bemerkten den Pferdefuß, entsetzten sich, und ihn zu versuchen, sprach der Müller: "Mein Wort gilt, so wahr mir und meinen Genossen eine doppelte Metze lieber ist, als eine einfache: aber zeige, dass du Meister bist in deiner Kunst und groß in deiner Macht. Führe von Fichtenberg her durch die dürre Gorischhaide bis zu dieser Stelle einen Wassergraben; beginne mit der Stunde der Mitternacht, aber vollende mit des Hahnes erstem Krähen." - "Es sei", sprach Satan, denn er war es, aber jetzt lasset uns essen und trinken. Du aber, Röschen, siehe, was für ein stattlicher Freier dir ward." Plötzlich stand er als ein schmucker Junker, im schimmernden Ritterkleide, das funkelnde Schwert an der Seite, vor ihr. Ein gellender Pfiff durch die Finger, und Knappen kamen und brachten Imbiss und köstliche Weine und ein Kleid für Röschen, dessen Steinschmuck weithin funkelte.

Röslein entsetzte sich, rührte Kleid, Imbiss und Trank nicht an, aber der Vater schwelgte und betrank sich. In der neunten Stunde, als der Mond aufging, entfernte sich der Freier. Der Müller schnarchte in des Rausches wüsten Träumen, aber in der höchsten Angst ihres Herzens floh Röschen, und ihr guter Genius führte sie über Feld und Heide zur Kapelle und zum Standbild des heiligen Laurentius, welche am rechten Elbufer, der festen Wendenburg Strehla gegenüber, sich befand, die schon damals ein altes slavisches Rittergeschlecht, die mit der Herzogin Libussa und ihrem Gemahl nahe verwandten Pflugk beherrschten und noch zur Ehre des Vetters, des Landmanns Przemisl, Pflug und Haselstandenblatt im freiherrlichen Wappen trugen. Die damaligen Besitzer waren schon Christen, hatten die Kapelle und ihre Kapellane wohl begabt und namentlich große Getreidezehenten an selbige dotiert. Zu dieser Kapelle kam Röslein atemlos gerannt, die schwarzen, seelenvollen Augen leuchteten, und die dürstende Lippe glühte. Vor dem Standbild des Heiligen wollte sie sich auf die Knie werfen und um Rettung flehen; aber die Kapelle war verschlossen. Da wandte sie plötzlich ihr Antlitz und erkannte beim Mondlicht Martin, einen alten Bettler, der im Vorhofe der Kapelle schlief und durch sie erweckt worden war.

"Wohin, schöne Jungfrau?" rief ihr der Alte zu, welcher von Zeit zu Zeit, wo sie noch spenden konnte, manche Wohltat von ihr erhalten hatte. "Zu dem Heiligen", sprach Röschen, und da die innere Kapelle verschlossen ist, in die Elbe. "Der Vater hat mich dem Teufel angelobt, wenn dieser zwischen Mitternacht und dem ersten Hahnenschrei einen Kanal von Fichtenberg bis nach Coselitz zieht, der die Mühle treibt. Aber ehe ich diesem anheimfalle, gehe ich lieber in den Tod. Dort, Oppitzsch gegenüber, dort ist der Fluss tief. tief, und seine Tiefe werde mein Grab!"

"Selbstmord führt ja erst recht in des Teufels Klauen!" entgegnete zürnend der Greis. "Höre! Listig ist der Satan, doch in seiner List fängt er sich. Bis zum ersten Hahnenschrei will er den Graben vollendet haben. Nimm diesen schneeweißen Hahn mit purpurrotem Kamm und hellfunkelnden Augen. Ich selbst schenkte ihn hierher, denn meine Tochter gab mir ihn zur Fürbitte für ihr krankes Kind bei dem Heiligen. In deinen Händen soll er Seelen retten und die Macht des bösen Feindes brechen. Hier, nimm dieses Brot, das ich ins Wasser tauche; es labe, es erquicke deinen Körper, und das Gemüt stärke ein frommes, gläubiges Gebet. Die elfte Stunde schlägt - eile!"

Indessen war der Müller in der Mühle erwacht. Mordgedanken regten sich im finstern Gemüt, Rache glühte in seinem Herzen gegen den Coselitzer Junker. Er nahm ein Beil in die rechte, einen Span in die linke Hand, steckte das Feuerzeug zu sich und wollte auf dem Coselitzer Hofe den roten Hahn aufs Dach setzen. Fort rannte er. Als er nahe bei Coselitz ist, stößt er sich an einen Pfahl; er sieht auf, kommt zur Besinnung, erblickt über sich das grause Rad. auf das ein Mörder geflochten, neben sich einen Brandpfahl, an welchem ein Mordbrenner verbrannt worden, und hinter sich den verhängnisvollen Dreifuß, den Galgen. Da ging er in sich: aber das Schnelllaufen hatte ihn erschöpft und er brach ohnmächtig zusammen. Indes schlug es auf dem Turm der Lichtenseer Kirche Zwölf. Der Versucher begann sein Werk. Dort, wo noch eine Waldparzelle den Namen des Teufelsnestes führt, dort entstieg er der wie im Erdbeben erzitternden Erde in der fürchterlichen Herrlichkeit seiner infernalischen Macht. Die Erde dröhnte, der Donner rollte, Blitze leuchteten, und auf einen Wink entwurzelten sich die Stämme des Hochwalds, einen Durchgang bildend, und tausend böse Geister entstiegen der Erde mit Hacken und Schaufeln und gruben einen Graben von Fichtenberg bis Coselitz. Dazwischen heulten Uhu und Käuzlein, Raben krächzten, Ottern zischten, und die Arbeiter bewachte der tückische Wehrwolf, der Räuber der Kinder. - So vergingen einige Stunden, schon dämmerte das Morgenrot.

In selbigen Augenblicken nahten von verschiedenen Seiten Vater und Tochter der Mühle. Er, nachdem er von der Ohnmacht erwacht war, mit zerknirschtem, sie seit ihrer Rückkehr von Lorenzkirch mit hoffnungsvollem Herzen. Beide blickten zugleich in die Höhe, - Schrecken erfüllten sie, denn über ihnen schwebte in dunklen Gewitterwolken der Fürst der Hölle. Ein Feuermantel, aus welchem Blitze zuckten, umgab ihn. Statt der Hauptbedeckung diente ihm ein feuerfarbener Uhu, der schallend seine Flügel schlug, und gellend schrie Satan herab: "Noch kräht der Hahn nicht! Sieh, schöne Braut, bald ist das Werk vollendet. Nur wenige Schritte, und das Wasser im Graben treibt die Mühle, und sie bleibt des Vaters Eigentum. Er wird angesehen und mächtig: du aber, Feinsliebchen, feierst mit mir die Hochzeit in meiner Reiche Herrlichkeit." Nach diesen Worten stiegen hohe bläuliche Flammen aus dem Grunde des Teufelsnestes auf, tausend feurige Zungen schienen aus den Zweigen des Coselitzer Waldes und der Hosche zu blitzen, und gellendes Geschrei schmetterte, wie das Toben der wilden Jagd, durch die zitternde Heide.

"Hilf heiliger Gott!" rief Röschen und sank auf die Knie. – "Nieder mit dem Haus der Sünde!" schrie der Müller, schlug Feuer an, entzündete an ihm den Span und warf ihn auf das Dach der Mühle. Bald stand es in Flammen. Die Glut leuchtete dem Hahn ins Antlitz. Mit heller Stimme fing er dreimal an zu krähen, und die Hähne der benachbarten Dörfer krähten mit. Da bebte die Erde. Gebrochen war Satans Macht, denn er hatte sein Gelöbnis nicht gehalten. Durch die sich teilenden Wolken sah man den schönen Sternenhimmel wieder und in der Glorie der Heiligen St. Laurentius. Er winkte, und der Fürst der Hölle und seine Knechte versanken in das Reich der Finsternis und der ewigen Qual. Ein schönes Morgenrot erleuchtete die Szene und - o Wunder, es war kein Traum, der Graben war bis an die Mühle vollendet.

Des anderen Tages zog Röschen nach St. Lorenzens Kapelle, den Hahn zurückbringend. Der alte Bettler kämpfte eben des Lebens letzten Kampf. segnete Röschen, und der Friede des Himmels umfloss sein Antlitz. Röschens Vater nahm dessen Stelle ein und wurde, fern von den eitlen Wünschen der Welt, und ihren Lüsten entsagend, Kapellhüter.

Ein günstiges Ungefähr wollte es. dass Karl mit seinem Herrn von einer glücklich beendigten Fehde am selbigen Tage zurückkehrte, und dieser, von dem Wunder ergriffen, denn der Graben von Fichtenberg bis Coselitz war wirklich vollendet, die Kapelle abermals reich begabte und zur Kirche erhob. Die Laurentiuskirche ward ein berühmter Wallfahrtsort, an deren Weihetage Karl der Auserwählten seines Herzens die Hand reichte, und es begründete sich hier der durch den regsten Warenverkehr berühmte Lorenzkircher Jahrmarkt.

Noch sieht man die Überreste des verfallenen Teufelsgrabens in der Gorischheide, die der Altertumsforscher für Trümmer eines alten Römerwalls zu halten versucht wird. Der Name aber, den ihm die Sage gab, ist geblieben, und Friede waltet jetzt in seiner Umgebung."

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Unter den Gästen der Garküche

Die große Fleischerbude bietet dem Eintretenden einen imposanten Anblick dar. Das aus Brettern in der Form eines ziemlich umfangreichen Hauses gezimmerte Gebäude, in welchem die Gerechtigkeit des Warmspeisens in der umfassendsten Weise ausgeübt wird, ist dicht mit Menschen angefüllt, die hier ihres Leibes pflegen. An langen Tafeln sitzen die Scharen der Hungrigen bunt durcheinander, meist Handwerker und Landleute mit Weib und Kind, den gefüllten Bierkrug oder ein Schnapsglas neben dem Teller. In der gewaltigen Küche aber, deren Bauart nach patriarchalischer Sitte die offene Einschau zulässt, brodelt und schmort es in riesigen Kasserollen. Da werden Fische in blanken Kupferkesseln gesotten, Gemüse und Saucen verschiedener Art zugerichtet, während dicht daneben die Fleischer ihr blutiges Gewerbe treiben.

An einem kleinen Tische, dicht an der Küche, sitzt ein Bauernsohn mit seinem Freunde. Beide harren sehnsüchtig der Bratwürste mit Sauerkraut, die just sich vergriffen haben. In einer großen Pfanne schmort bereits eine neue Auflage dieses Lieblingsgerichts der Landbewohner, und der süße Duft der braunen Butter erfüllt die Geruchsorgane der beiden jungen Männer dergestalt, dass sie, vor Sehnsucht mit den Zungen schnalzend, unruhig auf ihren Stühlen herumrutschen.

"Glaubst Du", fragt der eine, "dass ich imstande wäre, zwei der größten Bratwürste vom Feuer weg mir nichts dir nichts zu verschlingen? Die dazu gehörige heiße Brühe sollte sofort ihnen nachfolgen und mir gar herrlich schmecken."

"Das möchtest Du fein bleiben lassen", versetzt sein Gefährte lachend, "Solche siedende Dinger zu essen, hat etwas zu bedeuten, und Du bist nicht der Mann dazu."

"Es ist unmöglich, Sie würden ersticken oder inwendig verbrennen", meinen einige Anwesende, die das Gespräch mit angehört haben.

"Es wäre nicht möglich?" ruft der Prahlhans erhitzt. "Wohlan denn, hier sind fünf preußische Taler. Wer wagt es, ebensoviel dagegen zu setzen, wenn ich mich anheischig mache. in drei Minuten zwei große Bratwürste vom Feuer weg zu verzehren und eine halbe Tasse Brühe aus dem Tiegel oder der Pfanne als fetten Schluck daraus zu trinken? Hier ist das Geld, und die Uhr lege ich daneben."

Der junge Mann sieht sich herausfordernd um, aber niemand scheint die fünf Taler verdienen zu wollen.

"Nun, wenn keiner das Herz hat, die Wette anzunehmen", ruft er, "so ist's so gut, als hätte ich sie gewonnen. Gibt's denn hier lauter Hasenherzen?"

"Nein!" lässt sich da eine Stimme vernehmen, und ein blutjunges Bürschchen. dem Äußern nach eines reichen Landmanns Sohn, tritt an den Tisch und wirft einen Fünftalerschein hin. "Es gilt, ich halte den Aussatz. Aber in drei Minuten, keine Sekunde darf drüber sein!"

"Schön, das Geld ist so gut wie mein", prahlt der Übermütige. Sein Freund aber stößt ihn mit dem Ellenbogen an und flüstert: "Du wirst doch nicht?"

"Freilich werde ich, und zwar zur Stelle", versetzt jener laut. "Sind die Würste bald gut?" ruft er in die Küche hinaus.

"Soeben" lautet die Antwort.

"Nun so bringt zwei der größten Würste und eine halbe Tasse mit Brühe, und zwar aus der Pfanne, die über dem Feuer bleibt."

Der Widerpart geht hinaus, um sich zu überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Indessen entsteht an dem Tische, wo die Wette vor sich gehen soll, ein Gedränge von Neugierigen, die zusehen wollen; einige ältere Personen dagegen entfernen sich kopfschüttelnd und meinen, die Sache könne leicht schief ablaufen, und weit davon sei gut vorm Schuss. Der Freund ergibt sich mürrisch darein, nachdem ihm ein zweiter Versuch, die Wette rückgängig zu machen, gleichfalls missglückt ist.

Jetzt erscheint ein Mädchen und setzt einen Teller mit zwei gewaltig zischenden und dampfenden Bratwürsten nebst einer halben Tasse glühend heißer Brühe auf den Tisch.

"Eben ist's hier 6 an der Uhr", spricht der junge Bauer, auf diese deutend, "und in drei Minuten muss ich entweder die Wette gewonnen oder verloren haben."

"Recht", sagt sein Gegner. "jetzt muss es angehen!"

Der Herausforderer nimmt Messer und Gabel zur Hand, zerteilt die Würste und führt das erste Stück zum Munde. Es ist sofort verschlungen. Aber mit erstickter Stimme ruft er nach Wasser, während ein heißer Brodem zwischen seinen Lippen hervorbricht. Seinem Begehr wird sogleich entsprochen. Er trinkt rasch einige Schlucke, beginnt von neuem zu essen, trinkt wieder, und in einer Minute und zehn Sekunden ist die erste Wurst verschwunden. In ähnlicher Weise verzehrt oder verschlingt er vielmehr die zweite Wurst, ergreift dann die Tasse und schlürft in Absätzen, die er mit Wassertrinken ausfüllt, die kochendheiße Brühe hinunter. Dann tut er den letzten Zug aus dem Wasserglase, stampft es auf den Tisch nieder und ruft mit erstickter, kaum vernehmbarer Stimme: "Gewonnen!"

Ein donnerndes Bravo der Umstehenden lohnt den Sieger, denn die Uhr zeigt erst zwei Minuten und 14 Sekunden nach Sechs. -

Einige Zeit später geht zufällig ein den Markt besuchender Arzt die Dorfstraße entlang. Da hört er, wie einige Vorübergehende mit bedenklichen Mienen sagen: "Wenn wir nicht bald einen Arzt finden, muss er sterben. Ach dass sich Gott erbarme, s'ist ein grässliches Unglück."
"Was ist denn los?" fragt der Mediziner.

"Ein junger Mann hat sich zu Schanden gegessen und ringt mit dem Tode. Man hat ihn in das kleine Haus da drüben gebracht; er wird's wohl bald überstanden haben."

"Ich will schnell zu dem Kranken eilen, denn ich bin Arzt. Vielleicht gelingt es mir, ihn zu retten. Führt mich hin!"

Er bedarf eigentlich keines Führers, denn ein markerschütterndes Wehgeheul dringt aus dem Hause und leitet ihn zu dem Ort des Schreckens, der von Neugierigen umdrängt ist.

"Platz gemacht, es kommt ein Doktor!"

Die Leute weichen zurück, und der Arzt tritt in das Krankenzimmer ein, wo sich ihm ein entsetzlicher Anblick darbietet. 

Auf einem alten breiten Kanapee wälzt sich unter den furchtbarsten Zuckungen und grässlichem Geschrei, das sich zuweilen in Stöhnen und Ächzen verwandelt, der junge Mann aus der Garküche herum. Sein Gesicht ist blaurot, große Schweißtropfen stehen auf seiner Stirn, und die stieren Augen sind mit Blut unterlaufen. Der Odem strömt in kurzen Stößen glühend heiß über die vertrockneten Lippen.

Der Arzt fordert die Gaffer an der Türe auf, sich zu entfernen und fragt: "Was ist mit dem Menschen hier vorgegangen?"

Nun erzählt der Freund des Kranken, was sich in der großen Fleischerbude zugetragen hat, und dass er nur mit Mühe den Patienten bis hierher zu bringen vermocht habe, wo das Übel erst recht eigentlich ausgebrochen sei.

Ein an Wahnsinn grenzender Schmerz muss die Eingeweide des Unglücklichen durchwühlen. Er hat sich die Finger so wund gebissen, dass das helle Blut an denselben verabfliesst, und vermag seinen Leiden nur in unartikulierten tierischen Lauten Luft zu machen, während er sich wie ein Wurm windet und krümmt.

Nach einer kurzen Prüfung des körperlichen Zustandes sagt der junge Doktor: "Beruhigen Sie sich, lieber Freund, ich hoffe Sie zu retten und Sie dem Rande des Grabes zu entreißen, an den Ihr unsinniges Beginnen Sie gebracht hat."

Ein geheulartiges Stöhnen des Patienten ist die Antwort.

Der Arzt zieht sein Schreibzeug hervor und kritzelt rasch einige Worte auf das Papier.

"Man besorge einen schnellen Boten, der dieses Rezept in die Apotheke nach Strehla trägt!" spricht er und reicht dem Manne, der ihn hergeführt hat, den Zettel. Dieser übernimmt selbst den Auftrag und eilt davon.

Der Doktor rührt nun ein Pulver ein, das er aus seinem Taschenbuch genommen, und gibt es dem Kranken, dessen bisherige laute Schmerzensäusseruugen vielleicht aus Schwäche in ein leises Winseln überzugehen beginnen.

Nach zehn Minuten, während welcher Zeit der Nothelfer freundliche Trostworte spricht, muss der Kranke noch einmal einnehmen. Das Mittel bringt eine sichtliche Veränderung in dem Zustande des Leidenden hervor. Er erhält die Sprache wieder. Die Schmerzen vermindern sich, die krampfhaften Zuckungen des Körpers verschwinden, die Atemzüge werden ruhiger.

Der Patient erhebt sich jetzt ein wenig und spricht, des Arztes Hände erfassend, mit schwacher Stimme: "Mein Herr, wie soll Ihnen danken? Ich glaube, ich bin gerettet."

"Sie sind es", versetzt der Angeredete und entzieht ihm rasch seine Hände. "Die Arznei aus der Apotheke wird auch noch ihre Dienste tun und Diät Ihre Genesung vollenden. Es war bei Ihnen die höchste Zeit, der weit um sich gegriffenen Entzündung entgegenzuarbeiten. Vor Rückfällen haben Sie sich indessen zu hüten. Einen Denkzettel werden Sie jedenfalls Ihr Leben lang behalten.

Ohne weiteren Dank oder Bezahlung anzunehmen, verlässt der edle Menschenfreund das Haus und begibt sich in das Marktgewühl zurück.

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Der wilde Neuseeländer auf der Bühne

Das dichteste Menschengewühl findet man im Bereich der Schaubuden. Dort herrscht ein fast betäubender Lärm. Ausrufer in phantastischen Trachten preisen laut schreiend die Herrlichkeiten an, welche im Innern der Buden oder Zelte der Schaulust harren, und Possenreißer, auf hohen Gerüsten stehend, suchen durch allerlei Witze und oft nicht sehr gewählte Späße das Publikum, das häufig in wiehenders Gelächter ausbricht, herbeizulocken. In bunte Jacken gesteckte Affen springen auf den hölzernen Umfriedigungen der Buden herum, Zähne fletschend und gräuliche Gesichter schneidend, wenn ein mutwilliger Bube statt der gehofften Nuss oder des Zuckerbrots den Gefräßigen mit einem hingeworfenen Tütchen voll Pfeffer eine unwillkommene Überraschung bereitet hatte. Papageien in allen Farben wiegen sich mit unmelodischem Gekreisch auf ihren beweglichen Sitzen. Wachsfiguren in Lebensgröße, hier der gräuliche Räuberhauptmann Schinderhans, dort die Genoveva mit dem Kindlein im Arm und der Hirschkuh zu den Füßen starren mit toten Glasaugen auf die Menge oder bewegen als Automaten in rhythmischem Takt einzelne Teile ihrer Glieder. Schmetternde Trompetenstöße, vermischt mit Pauken- und Trommelwirbeln, erfüllen die Luft.

Den Mittelpunkt der Sehenswürdigkeiten bildet ein gewaltiges Bretterhaus, wie man es wohl noch nie au diesem Orte gesehen, dessen Giebel schwere, reich gestickte, seidene Fahnen schmücken, mit denen der Wind sein kosendes Spiel treibt. Die breiten Wände bedecken in Öl gemalte wilde Tiergestalten der mannigfachsten Art. Am prunkvollen Eingang fesselt das Auge des Kenners ein lebender Königsadler von seltener Größe und Schönheit, der aus seinem mit dem stärksten Golddraht übersponnenen Käfig mit den feurig glänzenden Augen bald in das Gewühl zu seinen Füßen hinabsieht, bald wie in sehnsüchtigem Verlangen nach dem blauen Himmel emporblickt und ungeduldig die breiten, schwarzen Flügel schlägt, oder die Kraft seines Schnabels an den Stäben seines Kerkers zu erproben scheint. Auf einer mastartigen Stange aber, hoch oben in der Luft, kann man das auf Leinwand gemalte Bild eines riesigen wilden Mannes im Kampfe mit Matrosen schauen, Unter dem Gemälde sind mit zolllangen Buchstaben die Worte angebracht: "Allhier ist zu sehen der wildeste Mann, der je unter den Wilden Neuseelands gelebt, ein Wunder der Natur, wie noch nie gezeigt worden ist in Europa." Am Eingang der Schaubude, den ein roter Sammetvorhang halb verdeckt, sitzt ein großes, schönes, blasses Weib mit rabenschwarzem Haar und dunkeln feurigen Augen in etwas phantastischer aber reicher Kleidung. Der kundige Blick erkennt ohne weiteres die Südländerin, vermutlich Italienerin. Wir treten ein und erblicken zunächst eine Menge zur Schau ausgestellten wilden Tieren in ihren Käfigen. Es sind sehr schöne, seltene Exemplare dabei: namentlich zieht ein großer afrikanischer Löwe die Aufmerksamkeit des zahlreich versammelten Publikums auf sich. Ein Wärter erklärt, dass an diesem Tiere alle Zähmungsversuche fruchtlos geblieben sind, und niemand in der nächsten Umgebung seiner Gitter ohne Gefahr verweilen dürfe. Plötzlich verstummt das Plaudern der schaulustigen Menge. Auf dem kleinen erhöhten Theater wird eben der Vorhang in die Höhe gerollt. Ein Mann in schwarzem Frack erscheint auf den Brettern, verneigt sich und spricht in der eintönigen Redeweise der öffentlichen Ausrufer:

"Meine hochgeehrtesten Herrschaften! Nachdem Sie die wilden Bestien aus fast allen Reichen der Welt, aus Süd und Nord, aus Ost und West hoffentlich zur Genüge beschaut und ihren diversen Fertigkeiten und Künsten wie ihrer Gezähmtheit Ihre Aufmerksamkeit zugewendet, wird sich Ihnen jetzt ein Schauspiel darbieten, das seinesgleichen sucht in Europa. Der berühmte wilde Mann wird jetzt auftreten und Ihnen seine Künste zeigen, Zuvor sollen aber die Herrschaften erfahren, welche Bewandtnis es hat mit selbigem wilden Mann, der da gehauset weit, weit von hier auf einer Insel im Stillen Ozean. Sind da vor zwei Jahren und der Monaten etlichen zehn Mann englische Matrosen wohlbewaffnet in einer Bucht Neuseelands gelandet, um Wasser einzunehmen und sonst auf Kundschaft auszugehen, während das große Seeschiff, dem sie angehörten, weit davon auf dem hohen Meere vor Anker lag. Indem sie nun den mächtigen Urwald, der sich unabsehbar vor ihren Blicken ausbreitet, vorsichtig durchspähen, gewahren sie plötzlich ein menschliches Ungetüm, das, mit einer ungeheuren Keule bewaffnet, aus einem Dickicht hervorstürzt und auf sie zustürmt. In den nächsten Augenblicken hat das Ungeheuer in Menschengestalt drei, vier Matrosen mit der furchtbaren Waffe zu Boden gestreckt, ehe die zum Tode erschrockenen Männer sich dessen nur versehen. Nun aber ermannen sie sich ihrerseits und dringen mit den Säbeln auf den zweibeinigen Satan ein, den sie gern haben lebendig fangen wollen. Da hat sich dann ein entsetzlicher Kampf entsponnen, der mehrere Stunden gewährt haben soll, bis der Wilde, aus unzähligen Wunden blutend, zu Boden geworfen und gleich einem reißenden Tiere geknebelt und gebunden wurde. Also haben ihn die Seeleute ins Boot am Ufer und später auf das große Schiff gebracht, wo es der ärztlichen Pflege gelungen, sein Leben zu retten. Er nahm keine andere Nahrung zu sich als rohes Fleisch, am liebsten aber lebende Vögel, die er sofort zerriss und verschlang, nach dem er sie mit der unbegreiflichsten Schnelligkeit gerupft. Seine Wunden konnten ihm nur im gefesselten Zustand verbunden werden. Dabei stieß er grässliche Töne ans. wie etwa der Eber, wenn ihn die Meute verfolgt im Forste, oder der Schakal in der Wüste. Eine Sprache hat er nicht gesprochen, weshalb man annimmt, dass er mit menschlichen Wesen vor seiner Gefangennehmung nie eine Gemeinschaft gehabt, und auch jetzt versteht er kaum mehr als die Gebärdensprache. Doch zeigt er viel Geschick in seinen Gliedern. Er hat namentlich im Pfeilschießen und Speerwerfen, womit er sich im gezähmten Zustand beschäftigt, eine erstaunliche Fertigkeit sich erworben. Als nun der englische Seefahrer in seiner Heimat wieder angelangt war, wurde der wilde Mann mit Genehmigung der Regierung zu London öffentlich versteigert und für einen enorm hohen Preis Eigentum des damaligen Besitzers dieser Menagerie, die sich gerade in der Weltstadt befand. Jetzt aber, meine hochverehrten Herrschaften, mögen Sie selbst beurteilen, ob man zuviel behauptet. Allons, spaziere heraus, du ehemaliger Beherrscher des Waldes und zeige dich einem geneigten Publikum!"

In diesem Augenblick ertönt hinter den Kulissen eine Glocke, dann wird es totenstill in der großen Schaubude. Die ganze Versammlung erwartet in höchster Spannung die Ankunft des Wilden. Noch einmal erklingt die Schelle; dann rauscht es hinter der Leinwand, die eine Waldgegend darstellt und den Hintergrund des Theaters bildet. Tritte werden vernehmbar, - der wilde Mann schreitet herein.

Ein Aufruf des Erstaunens läuft durch die Reihen der Zuschauer. Kinder schmiegen sich fester in den Schoß der Mutter oder an die Brust des Vaters, und selbst Frauen und Jungfrauen suchen die Hand des Gatten oder des Geliebten, um ihrer schützenden Nähe ganz versichert zu sein.

Ein großer, starker Mann zeigt sich den Blicken der Beschauer. Rabenschwarzes Haar hängt ihm wohl eine Elle lang wirr und kraus um den Kopf, das rotbraune Gesicht umschattet riesiges Barthaar. das bis auf den Gürtel herabfällt, und die dunkeln Augen stieren in dumpfer Gleichgültigkeit vor sich hin. Er ist bekleidet mit einer kurzen Jacke und weiten Beinkleidern. In seiner Rechten führt er eine gewaltige Keule.

Ein Gemurmel des Staunens läuft durch die dichtgedrängten Reihen der Zuschauer. Einige Kinder schreien vor Furcht laut auf. Der Löwe brüllt und rüttelt am Eisengitter seines Käfigs. Die Stimme des befrackten Mannes auf der Bühne aber dringt durch das Getöse, sodass dem größten Teil des Publikums folgende Worte vernehmbar werden:

"Sie sehen hier, meine Herrschaften, den wilden Neuseeländer, der jetzt so zahm und sanft ist, wie ein Lamm, und keinem Kinde etwas zu Leide tun würde. Seine Glieder stecken in einem Matrosenanzuge. Es hat freilich gewaltige Mühe gekostet, ihn an die menschliche Kleidung zu gewöhnen. Im Anfang hat er die festesten Stoffe, die man ihm mit Gewalt angezogen, sofort in Fetzen wieder vom Leibe gerissen. – "Allons!" fährt er mit noch stärkerer Stimme fort und schwingt das Stäbchen in seiner Hand, "mache den Herrschaften hier dein Kompliment und zeige, wie gebildet du geworden bist."

Und der Wilde macht mit seinem Oberkörper eine Bewegung nach vorn. Er nickt mehrere Male mit dem Kopfe ganz in der Weise, wie das wohldressierte Pferde zu tun pflegen. Dabei streifen die Augen des Neuseeländers so gleichgültig über die zahlreiche Versammlung zu seinen Füßen hin, als glotzte er die Riesenstämme des Urwaldes, seine frühere Heimat an.

"So ist's schön", sagt der Mann im Frack und lässt die Hand mit dem Stäbchen sinken, worauf der Wilde sofort regungslos dasteht.

"Nun zeige auch deine Künste, die du dir in der Gefangenschaft angeeignet hast."

Dabei reicht er ihm einen Bogen nebst Köcher und Pfeilen und hängt eine kleine handgroße Scheibe an eine Seitenkulisse, worauf er den Neuseeländer zur entgegengesetzten Seite des Schaugerüsts führt. "Nun siehe zu, mein Freund", spricht er, "wie du das Schwarze dort in der Scheibe triffst, und nimm dich tüchtig zusammen."

Auf einen Wink mit dem Stäbchen langt der wilde Mann einen Pfeil aus dem Köcher, legt ihn auf den Bogen, spannt den fast mannshohen Bügel mit der größten Leichtigkeit, zielt eine Sekunde, und schwirrend saust die befiederte Waffe des Indianers durch die Luft und bleibt mitten im schwarzen Pünktchen der Miniaturscheibe stecken.

"Schön, mein Sohn", spricht der Mann mit dem Stäbchen und zieht mit Anstrengung den tief ins Holz eingedrungenen Pfeil aus der Scheibe. "Doch damit die verehrten Herrschaften nicht etwa glauben, der Zufall habe dir Auge und Hand geleitet, magst du deine Kunst wiederholen." Er winkt, und der Wilde schießt und tut dies noch dreimal, und stets sitzt der spitze Pfeil im Schwarzen.

Während im Zuschauerraum bewundernde Ausrufungen vernehmbar werden und einige sogar die Schießkunst des Neuseeländers beklatschen, klopft und streichelt der Mann oben auf der Bühne dessen Schultern und Rücken, als wollte er einem Pferde oder Hunde seine Zufriedenheit bezeugen. Sodann lässt er den Wilden die schwere Keule schwingen und noch einige andere Kraftproben vornehmen, die dieser unter den lauten Beifallsäußerungen des Publikums glücklich besteht.

"Dem Verdienste soll der Lohn nicht ausbleiben", sagt jetzt der Mann im Frack und verschwindet hinter der Kulisse, um gleich darauf mit einer lebenden Taube in der Hand zurückzukehren. Sobald der Wilde sie erblickt, geht in seinem ganzen Wesen plötzlich eine Veränderung vor. Seine Gesichtszüge beleben sich; die starr auf das Tierchen gerichteten Augen funkeln. Die höchste Gier der gereizten Esslust malt sich in seinen Zügen, Mit einer hastigen Handbewegung reißt er die Taube aus der Rechten seines Wärters, beißt dem Vogel mit unglaublicher Schnelligkeit den Kopf ab und saugt mit sichtlichem Behagen das Blut aus dem Rumpfe. Hierauf rupft er mit der Gewandtheit des Geiers das Tierchen und beginnt es zu verzehren, während seine Augen mit stumpfsinniger Gleichgültigkeit umherstreifen.

Plötzlich aber heftet sich sein Blick auf einen Punkt unten im Zuschauerraume. Er hört auf zu essen. Seine Glieder scheint es wie Frost zu durchrieseln; sie beben. Die Taube entsinkt seiner Hand. Die Lippen bewegen sich und zucken wie im Krampf. Der riesige Mann beginnt zu taumeln. Unter den Zuschauern entsteht eine Bewegung. Ein weiblicher Aufschrei vom Eingang her tönt gellend durch die Bude. Der Mann im Frack aber umfasst unter den sichtlichen Zeichen der Bestürzung den Wilden. Es scheint, als ob er ihm einige Worte ins Ohr flüstere. Im nächsten Augenblick rauscht der Vorhang nieder und entzieht die Gestalt des Neuseeländers der Schaulust. Unter dem aufbrechenden Publikum entsteht eine bunte Verwirrung, die nur auf eine kurze Weile vom wiederaufgehenden Vorhang unterbrochen wird. Der Mann im Frack erscheint noch einmal und entschuldigt die Unterbrechnng der Vorstellung durch ein plötzliches Unwohlsein des Wilden mit dem Bemerken, dass für heute dessen ferneres Austreten unterbleiben müsse.

Was zu diesem jähen Abschluss der Schaustellung Anlass gegeben hat, soll der Leser im Schlusskapitel erfahren.

Inhaltsverzeichnis


Nachspiel hinter den Kulissen 

In den späten Abendstunden wird es still und öde bei den Schaubuden. Von den Anstrengungen des Tages erschöpft pflegt der ermattete Künstler der Ruhe. Auch das abgehetzte, gequälte Tier darf jetzt neue Kräfte sammeln zum morgigen Tagewerk. Die Affen und bunten Papageien sind verschwunden: die Aushängeschilder und sonstigen Bilder glotzen beim trüben Schein einer einsamen Laterne fast unheimlich auf den nächtlichen Wanderer herab. Nur der Tritt der mit Spießen bewaffneten Scharwächter, welche den Markt durchziehen, unterbricht zuweilen die Stille.

Im Innern des großen luftigen Hauses, in dem heute der wilde Neuseeländer zur Schau gestellt wurde, herrscht tiefe Ruhe. An der verschlossenen Tür liegt auf einem Strohsack eine in einen Pelz gehüllte männliche Gestalt im festen Schlafe. Eine von der Decke herabhängende Ampel beleuchtet mit mattem unsichern Schein die rings an den Wänden aufgestellten Käfige. Die wilden Tiere liegen meist hingestreckt am Boden und geben sich der Ruhe hin. Nur zuweilen rasselt eine Kette, wenn der große schwarze Bär die Glieder reckt; oder die kreischende Stimme eines Affen, den ein Traum neckt, lässt sich vernehmen, Dann ist es wieder still im weiten Raume, und nur ein geübtes Ohr kann es unterscheiden, wenn der gewaltige indische Königstiger mit der roten Zunge über sein glattes Fell streicht oder der gefleckte Panther aus Java leise gähnt. Darauf herrscht wieder tiefes Schweigen, und nur hier und da glühen hinter den Eisenstäben zwei blitzende Augeu gleich feurigen Kohlen.

Der Vorhang des Theaters, auf dem der "Wilde" sich produzierte, ist herabgelassen. Dieses selbst nimmt mit den Kulissen die ganze Breite der Bude ein und bildet sonach eine geschlossene Abteilung. Eine dieser Kulissen birgt ein nach morgenländischer Sitte eingerichtetes und mit dem Luxus des Orients ausgestattetes Gemach. Die Wände sind mit reichen bunten Geweben bedeckt und wölben sich als Kuppel an der Decke, von der eine Ampel herabhängt, die rings herum ihr wohltuendes Licht verbreitet, das sich im glitzernden Scheine eines hohen Stechspiegels tausendfach bricht. Den Fußboden bedecken kostbare Teppiche, und zwei prächtige Diwans laden zum Sitzen ans den schwellenden Polstern ein. Nach dem Theater zu schließt eine Gardine von schwerem Seidenstoff das reizende Gemach: sie wird durch eine Zugschnur in zwei Hälften gespalten und vertritt somit die Stelle der Tür. Ein die Sinne süß berauschender Wohlgeruch erfüllt noch überdies das feenartige Asyl. Wer sich in demselben befindet, kann vollständig vergessen, er sei auf dem Jahrmarkt zu Lorenzkirch, umgeben von den Bestien des Waldes und den Raubtieren der Wüste.

Auf die seidenen Pfühle hingestreckt, den Kopf auf den Arm gestützt, erblicken wir einen ungewöhnlich großen, schönen, jungen Mann, der in finstres Hinbrüten versunken scheint. Rabenschwarzes Lockenhaar wallt in ungeregelter Fülle auf sein blasses Antlitz herab, das den Stempel finstrer Wut, vielleicht auch innerer Zerknirschung trägt. Die großen dunkeln Augen erglänzen in unheimlichem Feuer. Die breite Brust hebt und senkt sich gewaltig, und die rechte Faust hat er geballt wie im Ingrimm. Er ist mit einer Art Kaftan bekleidet, der bis auf die Knöchel herabreicht: eine kostbare Binde hält ihn um die Hüften zusammen. An den Füßen trägt er bunte türkische Pantoffeln.

Der junge Mann hat eine geraume Zeit in der angegebenen Stellung verharrt, da teilt sich leise der seidene Vorhang, und die schöne Frau, die am Tage das Kassengeschäft beim Eingang der Bude verwaltete, tritt in das kleine Gemach. Ein etwas phantastisches Nachtgewand schmiegt sich nachlässig an die reizenden Körperformen. Das lange rabenschwarze Haar wallt, der Nadeln und Bänder ledig, weit über ihre Schultern herab und umfließt wie ein dunkler Überwurf die üppige Gestalt, die das wunderbare Ebenmaß der in Jugendfrische prangenden Glieder zeigt. Aber auch ihre weiße Stirn umwölken trübe Schatten; auch ihr Auge blickt finster und unstet umher, und ihre Stimme zittert leise, wie sie in italienischer Sprache die Worte sagt:

"Wie geht es Dir, mein Carlo, und willst Dun Dein Schweigen noch immer nicht brechen?

Der düstere Mann antwortet, ebenfalls auf Italienisch:

"Lass mich, ich bin den finstern Mächten verfallen und ziehe Dich mit hinab in den Abgrund, wenn Du Dich mir nahest."

"O, mein Carlo, sagt die schöne Frau, wie magst Du so klein von Deiner Rosina denken! Glaubst Du, ich könnte vor Gefahren zurückbeben, die Dir drohen, und feig die Flucht ergreifen? Sprich, was ist Dir heute so plötzlich begegnet, dass die Vorstellung enden musste, weil Dich jäh ein Zittern befiel, dass Du, der starke Mann, fast zusammenbrachst vor innerer Bewegung?"

"Was mir begegnet ist?" versetzt der Mann finster und ohne seine Stellung zu verändern. "Möchtest Du es wirklich erfahren?"

"Carlo!" sagt die Frau dringend und mit einem flehenden Ausdruck in der Stimme. "Ich beschwöre Dich, mich zur Mitwisserin dessen zu machen, was Dich plötzlich so bedrückt. Ich flehe Dich darum an um unsrer Liebe willen." – "Du hast keine Zeugen zu fürchten", sagt sie nach einer kleinen Pause weiter, da der junge Mann nichts erwidert. "Sämtliche Leute, mit Ausnahme des Deutschen, der vorn an der Tür schnarcht und überdies unsre Sprache nicht versteht, habe ich weggeschickt, sich nach Geschmack und Laune auf dem Markt zu vergnügen. Unter dem Vorwand, damit Du nicht gestört werdest, habe ich auch den Wärtern die Weisung erteilt, gleich dem übrigen Personal die Nacht im Dorfe zuzubringen. So sind wir denn vor jeder Störung und vor jedem Lauscher sicher."

"Nun denn, es sei!" ruft der Mann, wie von einem plötzlichen Entschluss bestimmt, und erhebt sich von der liegenden Stellung, "Komm, Rosina, ich will Dir eine Geschichte aus dem grünen Deutschland, meiner Heimat, erzählen. Vielleicht gefällt sie Dir."

Und ziemlich barsch erfasst er ihre Hand und zieht sie neben sich auf den Sitz nieder. Sie lässt es schweigend, wenn auch mit sichtlichem Befremden, geschehen. Der junge Mann bemerkt es und spricht:

"Schmerzt Dich der Druck meiner Hand? Immerhin! Brennt es mir selbst doch im Herzen wie höllisches Feuer, das nie verlöschen soll. Doch jetzt zur Geschichte! Im Westen meines schönen Vaterlandes, da, wo der herrliche Mainstrom flutet, lebte ein junges, wunderschönes Mädchen fromm und sittig. Sie hatte ihr Herz einem Manne geschenkt, der eben aus dem Jünglingsalter getreten war, und von dem die Welt sagte, er werde sein Glück machen. Die Mutter der Jungfrau wusste um das Verhältnis und legte selbst die Hände der beiden jungen Leute ineinander zum Verlöbnis. Der glückliche Bräutigam trat im Frühling vorigen Jahres, ein reiches Reisestipendium in der Tasche, eine Reise nach Italien an; denn er war Künstler von Beruf. Nach der Rückkehr wollte er sich in seiner schönen Vaterstadt am Rhein niederlassen und seine Verlobte als geliebte Gattin heimführen. Er durchreiste ganz Italien und kam endlich auch nach Neapel. Dort ging er eines Tages am Meer lustwandeln und besuchte die in der Nähe aufgestellte große Menagerie Blandinis, und von diesem Augenblick an verfiel er einem finstern Geschick, denn dort sah Carl Steinheim Dich!"

Der junge Mann schweigt, die finster drängenden Blicke auf die Italienerin geheftet, die bei seinen letzten Worten aufgesprungen ist. In ihren Mienen drückt sich Staunen und Unwillen aus.

"Was soll das, Carlo?" fragt sie mit unsicherer Stimme, die erkennen lässt, dass sie zwischen zwei verschiedenen Gefühlen schwankt und noch nicht weiß, welchem sie sich zuneigen soll.

"Was ich will?" gibt dieser zurück und erbebt sich gleichfalls. "Gericht will ich halten über Dich, die Du mich in den Pfuhl der Sünde hinabgezogen und der Entehrung und dem Laster in die Arme geworfen hast. Ich will Dir einen Spiegel vorhalten, in dem Du Dich zur scheußlichen Larve verzerrt wieder erkennen sollst, um dann auf immer aus Deiner Nähe zu fliehen und mein sündhaftes Leben in irgend einem Winkel der Erde zu beschließen. Das will ich, und mein erwachtes bessres Gefühl wird mir die Kraft dazu geben."

Während Carl diese Worte mit furchtbarem männlichen Ernst und all dem Nachdruck spricht, dessen er bei seiner imponierenden Erscheinung in hohem Grade fähig ist, geht das starre Entsetzen, das bis jetzt Rosinas Zunge gefesselt hat, in Wut über. Mit erstickter Stimme ruft sie:

"Elender! So lohnst Du also meine Liebe, so die Opfer, die ich für Dich gebracht habe! O ich Wahnsinnige, die ich wähnen konnte, die Liebe dieses Mannes gleiche der meinigen, und seine Schwüre seien so fest und ewig, wie meine Treue! Als ein erbärmlicher Gaukler stehst Du jetzt vor mir, und ich hasse Dich von diesem Augenblick an so tief, als ich Dich bisher glühend liebte, ja Dich anbetete. Wohlan, die Würfel sind gefallen, der Kampf beginnt! Ich, das schwache Weib, stelle mich Dir entgegen."

"Die Waffen sind zu ungleich, Törin, Du musst unterliegen", spricht Steinheim. "Jetzt aber will ich in die Vergangenheit mit Dir zurückkehren, Du darfst mir Deine Begleitung nicht versagen: ich zwinge Dich, wenn Du sie mir verweigerst."

"Wage es!" ruft die Italienerin und zieht blitzschnell einen Dolch hervor, den sie drohend in der Rechten schwingt.

"Doch!" spricht Carl, fällt ihr mit der Gewandtheit eines Indianerhäuptlings in den Arm, entwindet ihr die glänzende Waffe und wirft sie in einen Winkel des Gemachs. Dann drückt er das schöne, zornige Weib auf die Kissen des Diwans nieder und sagt: "Ich werde jetzt in meiner Erzählung fortfahren und Du wirst schweigend zuhören."

Rosina wirft einen Blick voll tiefsten Ingrimms auf den jungen Mann, legt den Kopf in die Kissen zurück und schließt die Augen. Der Odem in ihrer Brust fliegt wie das Keuchen eines gehetzten Wildes.

Steinheim stellt sich vor sie bin, verschränkt die Arme und spricht also weiter:

"Ich sah Dich, die Gattin Blandinis, und wie ein zündender Blitzstrahl durchzuckte es mein Herz, das Dir stürmisch entgegenschlug. Ich kam wieder und wieder. Mit dämonischer Gewalt zog es mich zu Dir hin. Das Bild der Geliebten in der Heimat erbleichte immer mehr und mehr vor dem strahlenden Glanze Deiner Schönheit. Eines Tages sank ich zu Deinen Füßen und flehte um Deine Liebe."

"Ha, mahnst Du mich an diese Zeit, Undankbarer! Du haltest auch noch einen Mitbewerber um meine Gunst, einen reichen jungen Mann. Schon war ich auf dem Punkte, ihn zu erhören, - da kamst Du, und ich opferte alle Vorteile, die der reiche Liebhaber mir verhieß, dem unvermögenden Künstler.

"O hättest Du es doch nimmer getan!" nimmt Carl wieder das Wort. "Doch weiter, weiter! Was geschehen, ist ja doch nimmer zu ändern. Die Pistole in der Hand, stand ich kurz darauf dem Nebenbuhler gegenüber. Er dürstete, in meinem Blute die Schmach der Zurücksetzung, die ihm durch Dich geworden, zu sühnen. Doch das Schicksal wollte es anders. Mit zerschossener Brust ließ ich ihn im Arme seines Sekundanten auf dem Kampfplatz zurück, während ich, dessen Leben nach neapolitanischen Gesetzen, wenn mein Gegner starb, dem Tode verfallen war, eiligst die Flucht ergriff. Das Duell musste verraten sein, Häscher verfolgten mich. Ich eilte, keine weitere Möglichkeit der Flucht vor mir sehend, dem nahen Meeresufer zu, stürzte mich in die Wellen und täuschte durch Untertauchen die Diener der Gerechtigkeit, die wähnten, ich sei ertrunken. Indessen gelang es mir, nach längerem Verbleiben unter dem Wasser im Schutze der eingetretenen Dunkelheit am Ufer fortzukriechen und Blandinis große Bude zu erreichen, der mich, leider zu selbstsüchtigem Zwecke, rettete. In meine Heimat aber gelangte die offizielle Kunde meines Todes. Ich war aus dem Buche der Lebenden gestrichen."

"Und von meiner Hingebung für Dich, von meinen Sorgen und Wagnissen, Deine Rettung für die Dauer zu begründen, sagst Du nichts, Undankbarer?" nimmt jetzt Rosina lebhaft das Wort. "Entsinnst Du Dich nicht, dass Blandini an dem verhängnisvollen Tage gerade die Nachricht erhalten hatte, dass der Irländer. welchen er zu der Rolle des Wilden für schweres Geld gedungen hatte, auf der Reise gestorben war? Wir steckten Dich in das bereit gehaltene Kostüm. Deine ungewöhnliche Größe und die Stärke Deines Gliederbaues taten zur Vollendung der Täuschung das Ihrige, und in wenigen Tagen warst Du wenigstens insoweit mit Deiner Rolle vertraut, dass man Dich dem Publikum als eben angelangte Rarität zeigen konnte; der weitren Maßnahmen, Bestechungen und Fälschung von Papieren nicht zu gedenken."

"Und die Tage meiner tiefen Schmach, meiner äußersten Erniedrigung begannen", spricht der junge Mann langsam und dumpf vor sich hin. Der Augenblick bleibt mir ewig unvergeßlich, als man mich, angetan mit den Kennzeichen eines vertierten menschlichen Wesens, hinausstiess auf das Schaugerüst, der staunenden Menge zur Augenweide zu dienen, die mich anglotzte wie die Bestie der Wüste. Man reichte mir einen kleinen lebenden Vogel, an dem ich zum ersten Male die Kraft meiner Zähne erproben und zeigen sollte, dass ich imstande sei, meine zivilisierte Natur und die Macht der Gewohnheit zu verleugnen. Ich brachte das Ungeheuerliche fertig, erwürgte das Tierchen, schlürfte dessen warmes Blut und verschlang das zuckende Fleisch unter den Beifallsbezeigungen des zahlreich versammelten rohen Pöbels. Von dieser Stunde an war ich ganz der Eure, die dumpfe Bretterbude ward meine Welt und das Raubtier ferner Zonen meine Genossenschaft."

Carl bedeckt sich mit beiden Händen das Gesicht, als könnte er dadurch auch sein inneres Auge von den Bildern abwenden, die die Erinnerung vor seine Seele zaubert. Er sinkt erschöpft auf den Diwan nieder.

So entsteht eine Pause. Rosina schaut mit düster glühenden Blicken vor sich hin, auch vor ihrem Geiste steht die Vergangenheit. Sie presst die Rechte krampfhaft auf das Herz, als wollte sie dessen pochende Schläge hemmen, und drückt die Perlenzähne fest auf die rosigen Lippen, einem unbewussten Drange folgend, durch äußeren Schmerz das Toben im Innern zu beschwichtigen.

"Und meine Liebe, sie war Dir nichts?" fragt sie endlich mit schüchterner Stimme.

"Weib, Du wagst es, mich in diesem Augenblick an die Bande zu mahnen, die mich an Dich ketten, und dir die Hölle geschmiedet hat?" tobt Carl auf, springt vom Sitz empor und misst mit großen Schritten das Zimmer. Plötzlich bleibt er vor Rosina stehen und spricht: "Lass doch mal sehen, mein Täubchen, wie diese Liebe beschaffen war, und welche Opfer Du mir brachtest."

Ein leiser Schauer durchzuckt die Glieder der schönen Frau. Sie heftet einen flehenden Blick auf Carl, der um Schonung zu bitten scheint, und schließt die Augen wieder.

"Es war eine schöne, eine selige Zeit, mein süßes Leben", fährt Steinheim fort, "noch erhöht durch den Reiz des Verstohlenen, Geheimnisvollen. Freilich wurden nachgerade zwei Augen lästig, die so unbescheiden waren, uns mit zudringlichen Blicken zu verfolgen; und dass sie just Deinen Gatten angehörten, war eine Zufälligkeit, die mindestens unbequem zu werden begann. Doch erfinderisch ist die Liebe, wenn es die Hinwegräumung von Hindernissen gilt, die sich ihr auf ihrem Wege entgegenstellen, der ja nur mit Blumen bestreut sein darf, die keine Natter bergen."

Und mit leiser Stimme, doch jedes Wort scharf betonend, fährt er, eindringlicher werdend, also fort:

"Es gibt ein kleines weißes Pulver, das dem, über dessen Zunge es glitt, Schlaf bringt, langen Schlaf, ewigen Schlaf. Eines Tages mischten zarte Rosenfinger dieses unschätzbare Geheimmittel, dieses untrügliche Beförderungsmittel zur Ewigkeit mit der Sorgfalt, wie sie nur die zärtliche Gattin kennt, dem Eheherrn in das Getränk, und ihre schönen Augen hingen fest am Antlitz des Trinkenden. Nun" –

"Halt ein, halt ein!" schreit Rosina auf und ringt verzweiflungsvoll die Hände.

"Nicht doch, mein Engel", versetzt Carl, "ich erzähle ja die Geschichte unser Liebe."

Er hält einen Augenblick inne und scheint sich am Anblick seines Opfers zu weiden. Rosnias ganzer Körper bebt, ihre Lippen zucken, Totenblässe überzieht ihre Wangen. Er fährt fort:

"Als kurz darauf der Gatte über Unwohlsein klagte, und heftige Schmerzen folgten, da war es die Liebe der Gattin, welche ihm Linderung zu bereiten suchte und auf jeden Seufzer aus der röchelnden Brust lauschte. Mit Beharrlichkeit bestand das zärtliche Weib darauf, dass niemand, selbst der Arzt nicht, zu dem Kranken gelassen werde; denn sie allein wollte den entzückenden Gedanken genießen, die Retterin des teuren Lebens sich zu nennen. Doch ihr Mühen war vergebens und nichtig ihre Kunst. Nach einer Stunde ertönte das Klagegeschrei der Witwe durch die weiten Räume, dass selbst der Tiger aus Indien und die afrikanische Hyäne wie im Mitleid auf die Weinende hinblickten, die im Jammer des ersten Schmerzes durch das Iuftige Haus raste. Doch sie war nun frei, und das Gefühl der Freiheit wirkte so wohltuend, so belebend auf sie, dass sie gar bald von ihrem Kummer genas."

"Dies, Elende, ist die Geschichte, ist Deine Geschichte." fügt Steinheim nach einer kurzen Pause hinzu. "Ist's nicht so, Giftmischerin?"

Da richtet Rosina sich empor, streicht mit der Hand über die Stirn und spricht, den Blick starr auf den Boden geheftet: "Wie ist mir denn? Steht hier nicht vor mir ein Mann, der es zufällig sah, wie ich einstmals ein winziges Pulver, dessen einschläfernde Wirkung er kannte, in den Trank Blaudins mischte?

Hörte er nicht den Kranken winseln, der am Boden sich wand? Und was tat er, der edle Mensch? Er ließ geschehen, was ich vollführte. - Nein, mein tugendhafter Herr", fährt sie mit erhobener Stimme fort, "so haben wir nicht gewettet. Du bist des Todes, wie ich, wenn ich hingehe vor das Gericht und eine Geschichte erzähle, wie man Witwe wird."

"Ich ahnte kaum das Verbrechen", entschuldigt sich Carl, "geschweige denn, dass ich an die so nahe Ausführung glaubte."

"Du hofftest wohl, ich sollte auf halbem Wege stehen bleiben", spricht die Italienerin, "und Blandini langsam dahinsterben lassen, um die tröstliche Beruhigung zu genießen, dass die Kunst der Natur nur ein klein wenig unter die Arme gegriffen habe? War es nicht so? - Wie kam es doch, dass Dein zartes Gewissen bisher so sanft schlummerte und so plötzlich erwachte?" fährt sie fort, da Carl trotzig schweigt, und heftet den lauernden Blick scharf auf ihn.

"Wie es kam?" entgegnet dieser. "Nun wohl, Du sollst es erfahren."

Er zieht sie vom Diwan empor, fasst ihre Hände, legt seinen Mund direkt an ihr Ohr und spricht mit halber Stimme: "So vernimm denn das Unerhörte, das Unglaubliche, und leugne dann noch, dass es eine Vorsehung gibt. Während ich heute Nachmittag in der Vorstellung die Taube verzehre, deren Genus mir ja jetzt zum Bedürfnis geworden ist, fällt mein Blick gleichgültig, wie immer, in den Zuschauerraum hinab. Da - aber nein, es war ja nicht möglich! - und doch - nein, nein, die Sinne mussten mich täuschen - aber wie, die Erscheinung verschwindet nicht, sie tritt aus dem Rahmen heraus und wird Fleisch und Blut. Ich schaue mit aller Anstrengung meines Sehvermögens nach ihr hin, mein ganzes Sein tritt in die Augen. Die Gestalt hat den Blick gleichfalls auf mich gerichtet. Er ist ruhig, teilnahmslos, während mir, dem starken Manne, die Sinne fast vergehen!, - denn", - er drückt hier die Hände der Frau so stark, dass sie fast hätte schreien mögen, - "ich erkenne Emma, meine einstige süße Braut, die das Glück meines Lebens war, bis Deine Nähe es mir vergiftete!"

Während der junge Mann spricht, stieren seine Augen in der höchsten Erregtheit vor sich hin; im Geiste steht er noch einmal vor dem Theater und schaut in das fromme, engelreine Gesicht der früheren Geliebten, die gleich einer Heiligen dasitzt, das Haupt umwallt von den blonden Locken. Er lässt jetzt Rosinas Hände los, tritt von ihr weg und spricht:

"Siehe nun, das ist der Grund, warum ich von hier gehe, denn ich "kann keine Gemeinschaft mehr mit Dir, der Sünderin, haben, seit mir das Engelantlitz erschienen. Ich muss fort von hier, bald, in dieser Nacht noch, sogleich! Die Erde wird doch noch einen Winkel haben, wo ich mein wüstes Haupt hinlegen und sterben kann, denn Reue und Verzweiflung haben mich erfasst, und ich kann nicht mehr ruhen in Deinen Armen."

"Doch, doch, Du musst!" ruft die junge Frau im Tone der höchsten Erregtheit. "Du bist mein Eigentum. Ich habe Dich erkauft mit der Ruhe meines Herzens. Für Deinen Besitz gab ich die ewige Seligkeit hin, daher gehört mir an Deiner Brust die irdische. Ich lasse Dich nicht, Carlo, und wenn Du mich töten wolltest, ich würde nicht von Dir weichen. Ich versuchte es vorhin, die Gefühle des Hasses gegen Dich in mir aufzustacheln, aber es gelang mir nicht auf die Dauer, denn ich liebe Dich mit der Kraft des Wahnsinns, und ohne Dich ist mir die Welt öde und leer, und das Leben ein elendes Possenspiel."

Ihre Stimme bricht jetzt, sie kann nicht weiter reden. Ein Tränenstrom erquillt ihren Augen, und mit der leidenschaftlichsten Heftigkeit stürmt sie auf den geliebten Mann zu und umklammert ihn mit ihren Armen, während sie überlaut schluchzt.

Carl bleibt einen Augenblick in finstres Sinnen versunken stehen, dann löst er mit einem Ruck die schönen Arme, drängt die Jammernde von sich weg und spricht: "Und dennoch, dennoch muss geschieden sein! Ich mag keine Gemeinschaft mehr mit Dir haben, und wenn Deinen Leib tausendmal mehr Reize schmückten, als er besitzt. Mit Gewalt will ich die Bande der Schmach zerreißen, die mich schon so lange an Dich und dieses fluchbeladene Treiben hier fesseln, und sollte morgen schon der Nachrichter mein Haupt auf den Block legen. Verfolge mich immerhin, zeige mich den Gerichten an als Mitwisser des Giftmordes und ende selbst Dein Dasein unter dem Beile des Henkers. Die Mitwissenschaft eines Dritten, Deines elenden befrackten Geschäftsführers, zu welcher der Zufall ihm verhalf, verlache ich, denn jetzt fürchte ich seine Drohungen nicht. Ich mag nicht mehr das entehrende, entsetzliche Handwerk treiben, das im Anfang der Drang der Selbsterhaltung mich ergreifen ließ, und in der scheußlichen Larve eines Pseudo-Wilden zur öffentlichen Schaulust dienen und die Würde des Menschen mit Füßen treten. Geht beide hin und überliefert mich dem Arm der strafenden Gerechtigkeit, es soll mir gleich gelten. Aber den Versuch der Flucht werde ich wagen. Noch bedarf ich einer Spanne Zeit zur Reue und Besserung, vielleicht gönnt mir das Geschick diese. - Du aber rührst Dich nicht von der Stelle; jeder Versuch, meine Flucht zu hindern, würde Dir teuer zu stehen kommen!"

Während Carl dies spricht, leuchten seine Augen, seine Wangen glühen, seine Gestalt hat sich erhoben, er steht riesen groß da. Aber auch Rosina erhebt sich von den Kissen, sie trocknet ihre Tränen und spricht mit gefasster Stimme: "Du willst also gehen und mich verlassen, und all meine Bitten und Flehen, Deinen Entschluss zu ändern, ist umsonst?"

"Er steht unwiderruflich fest", verssetzt der junge Mann.

"Nun, so geschehe denn der letzte Versuch", sagt Rosina in einem Ton, der ruhig erscheinen soll. Das leise Zittern aber und der hohle Klang der Stimme verraten die innere Qual. Sie lässt sich langsam auf die Knie nieder, hebt die gefalteten Hände flehend empor und spricht, den starren Blick auf Carl geheftet, der düster auf sie herabsieht: "Bleibe bei mir, mein Geliebter!''
"Ich kann nicht!" presst dieser dumpf heraus, geht an der Knienden vorbei und wirft sich, einen tiefen Seufzer ausstoßend, auf die Polster hin.

Einen Augenblick bleibt Rosina regungslos in ihrer Stellung, sodass man die blasse junge Frau für ein Marmorbild halten könnte.

Dann springt sie plötzlich empor, und ihr ganzes Wesen drückt die auf den Gipfelpunkt gestiegene Leidenschaftlichkeit der Südländerin aus. Ihr Hirn siedet, sie ist ihrer nicht mehr mächtig. So stürzt sie bis zum Eingang des Gemachs. Hier bleibt sie stehen, und mit bebenden Gliedern und mit zum Himmel hoch emporgehobenen Händen ruft sie: ,,Du Weltenrichter da droben, ich rufe Dich zum Zeugen an, dass ich kein Mittel unversucht gelassen habe, den Sinn dieses Mannes umzuwandeln. Es war umsonst! Du weißt aber auch, dass ich nicht leben kann ohne meinen Carlo. Darum ziehe ich es vor, mit dem Geliebten zu sterben, in seinen Armen, an seiner Brust. Du aber, großer Gott, sei gnädig ihm und mir!"

Mit einem Ruck ihrer Hand reißt sie an der Schnur, die neben ihr herabhängt. Der Türvorhang spaltet sich und lässt die Aussicht auf das Theater frei. In dessen Mitte steht ein großer schwarzer Eisenkäfig, die Wohnung des gewaltigen afrikanischen Löwen. Wenn dieser am Tage sich ungewöhnlich wild und ungebärdig zeigt, pflegt man ihm diese einsame Stelle anzuweisen, damit die nachbarliche Nähe der übrigen Bestien seinen Unmut nicht steigere. So hat man denn auch heute den unwirschen gefangenen König der Tiere zur einsamen Haft verurteilt.

Blitzschnell springt Rosina zum Käfig, stößt die schweren verrosteten Riegel an der Tür zurück und reißt diese weit auf. Dann stürzt sie wieder ins Zimmer, wirft sich neben Carl nieder und presst ihre Arme krampfhaft um seinen Nacken.

Dies alles ist das Werk weniger Sekunden, und der junge Mann ist so betäubt von der verzweiflungsvollen Tat der Italienerin, dass er regungslos daliegt, den starren Blick auf den Käfig gerichtet.

Der Löwe macht einige Gänge in seinem Kerker, dehnt die Glieder und gähnt geräuschvoll, während er mit dem einen Auge nach dem freien Ausgang blinzelt, als habe er es nur mit einer Täuschung zu tun. Dann steckt er vorsichtig die eine der gewaltigen Vordertatzen zur Öffnung hinaus, um von der Wahrheit des Geschehenen sich zu überzeugen. Ihr folgt der Kopf und die zweite Pranke nach. Im nächsten Augenblick steht der Käfig leer - das Ungetüm ist frei. Mit leuchtenden Augen schaut er sich um, schüttelt die Mähne, dehnt die riesigen Glieder und peitscht mit dem geringelten Schweife leise die Bretter.

Sowie er die beiden eng umschlungenen Menschen erblickt, erwacht seine Raub- und Mordlust. Wie feurige Kugeln leuchten seine Augen. Mit gekrümmtem Rücken, einer Katze gleich, nähert er sich dem Eingang des kleinen Zimmers, in welchem Carl und Rosina sich befinden. Man könnte sie für Bildsäulen halten, so starr und marmorbleich sind ihre Gesichter, so regungslos ihre Glieder. Die gewisse Aussicht des nahen Todes scheint auf Carl einen versöhnenden Einfluss ausgeübt zu haben, denn er hat es nicht verwehrt, dass Rosinas Kopf an seiner Brust ruht.

Jetzt rauschen die seidenen Gardinen. Der Löwe streicht an ihnen vorbei, sein Tritt ist auf dem weichen Teppich kaum hörbar. Bedächtig hebt er die Tatzen, während er mit der feinen Nase vor sich hinschnobert. In der Entfernung von etwa sechs Schritten bleibt er stehen: er reckt den Kopf empor nach den beiden seiner Blutgier verfallenen Opfern. Dann kauert er sich mit gekrümmtem Rückgrat zusammen, dem geöffneten Rachen entsteigen eigentümlich grunzende Töne, die Haare seines Felles borsten sich empor, und sein Schweif schlägt taktmäßig auf den Boden.

In diesem entsetzlichen Augenblick wendet Rosina den Kopf zur Seite: die einzige Bewegung, die sie bisher gemacht hat. Sie kann den grässlichen Anblick nicht mehr ertragen und schließt die Augen Carl aber hat den starren Blick fest auf den Löwen gerichtet. Keine Wimper zuckt, sein Auge scheint wie aus Stein gehauen. Eben misst das blutlechzende Tier mit den glühenden "Lichtern" den Raum zum Todessprunge, da begegnen sie dem Blicke des jungen Mannes und bleiben wie festgebannt an ihm haften. So verstreicht eine furchtbare Minute, lang wie die Ewigkeit.

Der König der Wüste wendet jetzt den Kopf ein wenig seitwärts der gekrümmte Rücken senkt sich wieder, langsam verschwinden die vorgestreckten Krallen unter den Klauen, und der Rachen schließt sich. Er erhebt sich vom Boden, wendet sich mit scheinbar phlegmatischer Würde um und schreitet wie in stolzer Ruhe aus dem kleinen Gemach. den Kopf mehrmals zurückwendend, damit man kein Zeichen der Furcht an ihm wahrnehme. Majestätischen Trittes nähert er sich seinem Käfig, um gleich darauf die gewohnte Behausung wieder zu betreten und in einem Winkel sich niederzukauern.

Rosina hat die Entfernung des Feindes bemerkt und öffnet in demselben Moment die Augen, wo die Glieder des Löwen den Boden seines Kerkers berühren. Mit einem jähen Satze springt sie vom Lager empor und stürzt mit der Schnelligkeit des Sturmwinds nach dem Käfig. In fieberhafter Hast ergreift sie die schwere Tür, schlägt sie dröhnend zu, die Eisenriegel schnappen klirrend vor, und mit dem Rufe: "Gerettet!" sinkt sie ohnmächtig zusammen.

So geht in dieser Nacht die strafende Gerechtigkeit noch einmal an dem verbrecherischen Paar vorüber. Aber das böse Gewissen zieht mit ihnen von einem Markt zum andern.

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Stifungs-Urkunde des Viehmarkts aus dem Jahre 1689

Von Gottes Gnaden, wir Johann Georg, der dritte, Herzog zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg, auch Engern und Westphalen, des heiligen Römischen Reichs Erz Marschall und Churfürst, Landgraf in Thüringen, Marggraf zu Meißen, auch Ober- und Nieder-Laußiz, Burggraf zu Magdeburg, Gefürsteter Graf zu Henneberg, Graf zu der Mark, Ravensberg und Barby, Herr zu Ravenstein, vor Uns, Unsre Erben und Nachkommen, thun kund und bekennen mit diesen unserm ofnen Briefe gegen männiglich, demnach Uns der Beste unser Trabanten Hauptmann und lieber getreuer, Hanß Siegmund Pflug, zu Kreynitz, unterth: angelanget, wir wollen dass in seinem zu ietztbesagten Guthe Kreynitz, gehörigen Dorff Lorenzkirch, bey dem daselbst Donnerstags nach Laurenty bißher jederzeit gewöhnlichen Jahr-marckt, iedesmahl Mittwochs vorher auch ein Vieh-marckt gehalten werden möchte, in gnaden verstatten, dass Wir diesem unterth: suchen gnädigst statt gegeben, und solchen öffentlichen Vieh Marckt bey besagten Dorffe Lorenzkirch bewilliget und bestetiget baben. Thun das auch aus Landesfürstl: Macht und von Obrigkeitwegen hiermit und in Kraft dieses, und wollen dass dieser hierdurch concedirte öffentliche Viehmarckt jedesmahl Mittwochs nach Laurenty, und also des Tages vor den gewöhnlichen Jahrmarckte, mit Kauffen und Verkauffen, selbiges Orts ohne männigliches Hinderung hinförder angestellet und gehalten werden solle, Und gebieten dahero Unsern iezigen uud künftigen Schössern und Beamten zu Mühlberg, wie auch allen unsern Unterthanen uud Verwanten, mehrermeltes Dorff Lorenzkirch bey dieser unsrer Begnadigung und confrmation solches Vieh-Marckts jederzeit biß an Uns behörigermaßen zuschutzen zu schirmen, und handzuhaben, auch dessenohne männiglichs ungebührlichen einhalt und Hinderung gebrauchen lassen. Jedoch Uns, Unsern Erben und Nachkommen an Unsern hohen Landesh: Regalien und Gerechtigkeiten, auch sonsten männiglich an seinen Rechten ohne Schaden. Treulich zu uhrkund haben Wir dieses Privilegium eigehändig unterschrieben, und Unser größer Insiegel hieran hangen lassen, geben zu Dresden, den 20.sten Decembris. Anno 1689.

Gez. Johann Georg, Churfürst.

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