Von Groenland bis Lambarene 3

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Von Grönland bis Lambarene

Reisebeschreibungen christlicher Missionare aus drei Jahrhunderten

Herausgegeben von Johannes Paul

Kreuz Verlag Stuttgart 1958

Inhalt dieser Webseite

 Weitere Reisebeschreibungen


Johannes Warneck

Tief im Inneren von Nord-Sumatra liegt der Tobasee und in ihm die Insel Samosir. Mit den mächtigen Bergen, die ihn umranden, und mit den Dörfern und Reisfeldern an seinen Ufern bietet er eines der eindrucksvollsten tropischen Landschaftsbilder. Hier kam im Jahre 1893 der junge Missionar Johannes Warneck an, um auf Samosir als erster eine Missionsstation anzulegen.

Johannes Warneck stammte aus einem evangelischen Pfarrhaus. Er wurde in Dommitsch in der Provinz Sachsen geboren und verlebte in Rothenschirmbach seine Jugendzeit. Sein Vater, der später Professor an der Universität Halle wurde, ist der Begründer der evangelischen Missionswissenschaft, obgleich er selbst nie auf dem Missionsfeld tätig war. In dem von theologischen und humanistischen Traditionen erfüllten Elternhaus wurde der Knabe schon frühzeitig auf die Missionsarbeit hingewiesen. Nach Abschluss seiner Universitätsstudien trat er 1892 in Barmen in den Dienst der Rheinischen Mission und wurde noch im gleichen Jahre seinem Wunsch entsprechend nach Sumatra entsandt. Die Ausreise in das holländische Kolonialland brachte dem jungen, für alle Anregungen offenen Mann eine Fülle von Eindrücken, worüber er auf den folgenden Seiten berichtet.

Dreizehn Jahre lang hat Warneck zunächst als Missionar auf verschiedenen Stationen unter den Stämmen des Bataklandes gearbeitet; dann wurde er als Inspektor in das Heimathaus der Rheinischen Mission einberufen. Als aber der Gründer und jahrzehntelange Leiter der Batakmission, Nommensen, gestorben war, wurde er 1920 erneut nach Sumatra ausgesandt und hat weitere zwölf Jahre als dessen Nachfolger in seinem alten Arbeitsgebiet gewirkt. Schließlich wurde er 1932 zum Direktor der gesamten Rheinischen Mission in Barmen berufen und hat dieses Amt bis zu seinem 70. Lebensjahr im Jahre 1937 innegehabt.

Die Zeitspanne eines Menschenalters, die Warneck unter den Bataks gearbeitet hat, war für dieses Volk eine Epoche tiefgreifender Umwälzungen. Als er zum ersten Mal hinauskam, traf er hier noch die alten Stammesverhältnisse und weithin ungebrochenes Heidentum. Bei seinem zweiten Aufenthalt fand er in Sumatra die Missionsarbeit gefestigt, das Christentum war eine Macht im Lande geworden, stand freilich vielfach auch in lebhaftem Kampf mit dem Islam. Zugleich hatte sich aber auch die europäische Zivilisation in vorher nicht geahntem Maße ausgebreitet. In den Städten gab es elektrisches Licht und Autos ohne Zahl, dazu Zeitungen und politische Parteien. Die soziale Struktur des Volkes begann sich grundlegend zu wandeln. Die einzelnen Stämme, die sich früher überall feindlich gegenüberstanden, schlossen sich zusammen. Es ging ein starkes nationales Erwachen durch das ganze Volk, das sich mehr und mehr gegen die Vorherrschaft der Europäer richtete. So wurden Warnecks Lebenserinnerungen zu einer lebendigen Schilderung jenes gewaltigen Umbruches, in dem die Völker Hinterindiens sich noch heute befinden.

Ausreise ins Batakland

Johannes Warneck: Werfet eure Netze aus. Erinnerungen. Berlin, Verlag Martin Warneck 1938.

Feierlich wurden wir Reisenden in der Vorhalle des Missionshauses wie üblich abgesungen mit dem Liede: "Jesu, geh voran". Inspektor Schreiber begleitete uns nach Holland, wo wir in Amsterdam von lieben Freunden gastlich aufgenommen und in der lutherischen Kirche verabschiedet wurden. Wir schifften uns ein auf dem "Prinz Alexander", einem alten Schiff, das uns Landratten erst gewaltig imponierte, dann aber bald seine Schönheitsfehler Stück für Stück in Erscheinung treten ließ. Bei strömendem Regen unter Donner legten wir vom Lande ab. Unser Kasten stampfte in schwerem Sturme durch die Nordsee. Bei günstigem Winde wurden zur Hilfe für die wohl nicht ganz moderne Dampfmaschine Segel gesetzt. Wir waren eine stattliche Reisegesellschaft von zwölf Missionsleuten, die sich im Gegensatz zu den wenig sympathischen Passagieren der zweiten Klasse wie eine Familie zusammenschlossen. Ein Trupp Soldaten für die Kolonialarmee brachte Leben und Unruhe, mehr als uns lieb. Der Raum auf Deck war sehr beschränkt; die Kabinen lagen um den Speisesaal herum, in dem abends und nachts in rücksichtsloser Weise gelärmt wurde. Vor unsern Augen wurden Kühe und Schweine geschlachtet, um einige Stunden später auf der Tafel zu erscheinen. Beim Passieren des Äquators gab's die übliche Taufe des Neptun, wobei es nicht gerade fein herging. Wir sangen viel, und sonntags hielten wir an Deck für alle, die teilnehmen wollten, Gottesdienst. Wir sahen Southampton, Gibraltar, Genua, den Vulkan Stromboli, die imponierende Straße von Messina, den rauchenden Ätna und erinnerten uns der heiligen Männer, die dieses Weges gezogen sind. Mir war die Seereise ein Hochgenuß. Mit Seekrankheit habe ich nicht zu tun gehabt und konnte den leidenden Gefährten Handreichung tun.

Herrlich waren die Sonnenuntergänge im Indischen Ozean, nicht minder die Nächte, wenn der Mond sich silbern im Meer spiegelte. Auf hoher See erlebten wir eine totale Mondfinsternis. Einmal genossen wir Meerleuchten. Wir fuhren wie durch ein Meer von Feuer; die Wellenkämme und die Spur des Schiffes strahlten in brennenden Farben. Es war eine verzauberte Welt. Port Said brachte die erste Berührung mit dem Orient. Bei näherer Bekanntschaft zeigt es sich als einen Ort, wo die Gauner und Spitzbuben aus aller Welt und in allen Farben sich Stelldichein geben, um die unerfahrenen Reisenden zu schröpfen. Man kann sich nicht retten vor aufdringlichen Straßenhändlern, Schuhputzern, Bettlern. Betritt man einen Laden, dann gehen alle guten Vorsätze in die Brüche vor der Suade des gerissenen Händlers. Wer kann auch widerstehen, wenn ein malerischer Araber vor den Damen eine zierliche Stickerei ausbreitet und mit frommem Augenaufschlag treuherzig uns anvertraut: "Ik feiner Kerl!" Wer öfters den Boden von Port Said betritt, fühlt sich angewidert von dieser Gaunerei. Wir waren aber noch harmlos und dürsteten nach Erlebnissen, so dass wir Freude an allem hatten wie die Kinder am Kasperletheater. Es folgte die eintönige Fahrt durch den Suezkanal mit seinen unbeschreiblich öden Sandufern und dem Blick in eine trostlose Wüste. Hier zogen Maria und Joseph mit dem Jesuskindlein. Im Roten Meer fuhren wir entlang dem erinnerungsreichen Sinaigebirge, und die Gedanken wanderten zu den heiligen Bergen. Hier brütete eine erschlaffende Hitze. Im Indischen Ozean wurde es luftiger. Tagelang nur Wasser und Himmel sehen, das unruhige, geheimnisvolle Meer beobachten, an dem Spiel der Delphine und fliegenden Fische sich erfreuen, welcher Genuss. Die Fahrt von Amsterdam bis Sumatra dauerte sechsunddreißig Tage und wurde mit der Zeit doch eintönig. Endlich kamen kleine, mit Palmen umsäumte Inselgruppen in Sicht, und bald darauf fuhren wir in den zauberhaft schönen Hafen von Padang ein (15. November 1892), vor uns das Land der aufgehenden Sonne.

aus WikipediaDie ganze Pracht der Tropen umfing uns hier: ragende Palmenhaine am Strande, Gärten mit einer Fülle farbenfroher exotischer Gewächse, malerische Hütten der Eingeborenen inmitten von Bananengärten, das bunte, geräuschvolle Leben fremdartigen Charakters. Das alles nun wirklich zu sehen und zu riechen. Eine Frau, der wir später einmal von Sumatra erzählten, sagte staunend: "Das gibt es also wirklich? Ich dachte, das stünde nur so in den Büchern!" Padang war damals der Haupthafen von Sumatra mit lebhaftem Verkehr. Da lebten und lärmten durcheinander Malaien, Niasser, Chinesen, die Händler des Ostens, Hindu, Klingalesen, Araber. Das Auge konnte kaum alles Neuartige aufnehmen. Hier grüßt ein chinesischer Tempel mit geschweiftem Dach und Drachenornamenten, dort eine Moschee mit obligatem Badeplatz; am Fluss die primitiven, aber malerischen Hütten der Niasser. Auf dem geräumigen Marktplatz ein Heer von schreienden Händlern; da kommen Büffelkarren mit Reis, Bananen, Kaffee und Früchten, unter ihnen die übel riechende, dem Liebhaber aber köstlich schmeckende Durian, "die Königin der Früchte". In Padang ist es sehr heiß; gern nahm man ein erfrischendes Bad, indem man Wasser aus einem Bassin sich übergießt. Missionar Dornsaft bewirtete uns alle in seinem gastlichen Hause. Seine Arbeit galt in erster Linie den Niassern, aus denen er eine kleine Gemeinde gesammelt hatte. Außerdem nahm er sich der europäischen Soldaten an, für die holländische Freunde ein Soldatenheim gestiftet hatten. Man ist in den ersten Tagen wie berauscht von der Lichtfülle, der Farbensymphonie, der verschwenderischen Üppigkeit der tropischen Natur. Das kühlt sich aber bald ab; die Tropennatur spricht nicht zum Gemüt. Aber auch als ich längst kein Neuling mehr war, bin ich gern unter den Palmen Sumatras und Nias gewandelt und habe das Bild der heranrollenden Wogen genossen, die immer wieder zu den Palmen hinstreben, als verzehrten sie sich in Sehnsucht nach ihnen. An manchen Küsten steht eine gewaltige Brandung, deren Wellen haushoch heranrollen, um sich im letzten Augenblick zu überschlagen und am Strande zu verlaufen, ein Bild, in das man sich stundenlang verträumen kann.

Nach wenigen Tagen ging es mit einem kleinen Küstendampfer weiter nach Sibolga, dem Hafen der Bataklande. Die Einfahrt gehört zu den herrlichsten Bildern, die ein menschliches Auge sehen darf. In tiefem Blau die ruhige Bai, bestreut mit üppig grünen Inseln, umgeben von einem Kranz hoher Berge, die bis dicht ans Ufer herantreten. Man blickt auf endlose Wälder, hinter denen man ein Wunderland ahnt. Das Meer belebt von vielen kleinen Kanus und Prauen, die lärmend das Schiff umkreisen, Fracht und Menschen bringen und holen. Glückstrahlend erschienen zwei junge Missionare, die sich nach ihrer Meinung sehr festlich geschmückt hatten, um ihre Bräute abzuholen.

Nun betraten wir die erste bataksche Missionsstation, verwaltet von Missionar Schrey. Zweiundvierzig Jahre hat dieser wackere Mann im heißen Sibolga in harter Arbeit ausgehalten. Ein schmuckes Kirchlein bildet den Mittelpunkt des christlichen Dorfes. Die ungewohnte Hitze machte uns anfangs oft schwer müde. Nach wenigen Tagen brachen wir ins Innere auf, auf einem Saumpfade, der das Reiten ermöglichte. Heute führt ein wohl asphaltierter Autoweg nach Silindung, auf dem man Pea radja in zwei Stunden erreicht, während wir zwei stramme Tagestouren bewältigen mussten. Da gab's manche kritische Stelle für die ungeübten Reiter, an Abhängen entlang, über Holzbrücken, die nicht immer in Ordnung waren, bergauf, bergab. Der reichliche Regen hatte weite Strecken des Weges in Sumpf verwandelt. Ein größerer Fluss musste auf halsbrecherischer Hängebrücke überschritten werden, während die Pferde durchgeschwemmt wurden. Unmittelbar vor einem schweren Regenguss sprengten wir am Nachmittag vor das auf halbem Wege liegende Rasthaus in Pagaran Pisang. Das sind andere Regen, als wir sie daheim kennen. Da gießt und schüttet und rauscht es vom Himmel wie mit Kübeln, so dass man bald keinen trockenen Faden mehr am Leibe hat trotz der als wasserdicht gekauften Regenmäntel. Das Reiten ging erst herrlich: Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! Welch ein Hochgefühl, auf Rossesrücken die Schönheiten des Weges zu genießen. Die kleinen Pferde klettern unermüdlich und sind auch an schwierigen Stellen zuverlässig. Nach einigen Stunden aber taten alle Knochen weh, und mancher ritt sich durch. Für die Nacht suchte sich jeder eine Lagerstätte auf den Brettern, mit dem Sattel als Kopfkissen. Strahlend ging am Morgen die güldene Sonne über den dampfenden Wäldern auf. Weiter führte nun der Ritt bergauf, bergab durch schier endlose Wälder bis an das Ziel, die Missionsstation Pea radja. Am Rande des lieblichen Silindungtales tat sich eine überraschende Ansicht auf: da lag es vor uns, das weite Tal mit seinen frischgrünen Reisfeldern und Baumgruppen, zwischen denen die Dörfer mit den geschweiften Hausgiebeln sich versteckten. Gegenüber der Berg Atas barita, als Sitz der Ahnen Wächter des Tales, zur Seite der gewaltige Berg Martimbang, ein erloschener Vulkan. Was haben diese Berge alles gesehen! Wie ein Garten Gottes mutet einen das friedevolle Bild an. Muss da nicht Glück und Freude wohnen? Wir wissen aber wohl, wie es hier noch vor wenigen Jahren aussah, welcher Gräuel Zeuge die Berge waren. Heute ist das Tal weithin schon christianisiert, und das Auge erblickt mehrere Kirchlein und Kapellen. Im Vordergrund donnert ein rauschender Wasserfall zu Tal.

Von dem Posaunenchor der Gemeinde Pea radja bewillkommnet, hielten wir unsern Einzug, herzlich begrüßt von den lieben, uns hernach so eng verbundenen Geschwistern Metzler. Ihr Haus war das gastlichste, was man sich denken kann. Wie oft und wie gern bin ich in diesem Heim eingekehrt. Die erste Etappe der Reise war erreicht. Mein Herz war voll Lob und Dank dafür, dass ich gerade in dieser Mission unter so freundlichen und erfahrenen Mitarbeitern meinen Platz angewiesen bekam. Damals ahnte ich nicht, dass schließlich Silindung meine Heimat und Pea radja mein Standquartier werden sollte. Nun aber überstürzten sich die Eindrücke. Ich war jung, und alle Sinne standen offen für alles Große in Natur und Volksleben. Ich tat die Augen auf, betrachtete die reiche Pflanzen- und Tierwelt, studierte die Menschen, besuchte ihre Dörfer, freute mich an den kunstvollen Häusern mit ihren geschnitzten Wänden und geschweiften Dächern. Denn ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die staunen und sich verwundern können. Wie lieblich waren die gut besuchten Gottesdienste mit dem kräftigen und reinen Gesang; die blühenden Volksschulen mit den frischen braunen Burschen, die so gut lernten; die Bibel- und Gebetsstunden. Ich machte Bekanntschaft mit intelligenten Lehrern und Predigern, besuchte den aus der Missionsgeschichte bekannten Häuptling Radja Pontas, Nommensens Freund in den schweren Jahren der ersten Kämpfe.

Schüchtern machte ich die ersten Sprechversuche. Wenn ich auch stammelnd zur Not sagen konnte, was ich mir vorher sorgsam überlegt hatte, so fing das Ohr doch noch nicht die schnell hervorgesprudelten Antworten auf. Wir besuchten die Stätten, wo Nommensen sich zäh den Eingang erglaubt hatte, das erste Christendorf Huta dame = Friedensdorf, den Markt Sitahuru, wo die Heiden ihn den Ahnen hatten opfern wollen. Mit Ehrfurcht stand ich unter den großen Waringinbäumen mit ihren Luftwurzeln, die Zeugen jener Entscheidungsstunde gewesen waren. In Pansur na pitu besuchte ich Missionar Johannsen, Nommensens Kameraden in den schwersten Jahren, wo jetzt an der Stelle eines unheimlichen Geisterheiligtums das Seminar für bataksche Lehrer und Prediger der jungen Kirche die Arbeiter ausbildet. Viel musste uns Missionar Metzler erzählen von der selbst erlebten Geschichte der ersten Jahrzehnte, von Aufständen und Feindschaft der Heiden, vom Werden der Gemeinde Huta dame, die dann nach Pea radja übersiedelte und die führende Gemeinde der batakschen Christenheit wurde.

Auf den Rat von Inspektor Schreiber machten Bruder Bruch und ich eine Reise nach dem Süden, um vor Beginn der eigenen Tätigkeit möglichst viel von der Batakmission kennenzulernen. In dem südlichen Gebiet von Angkola standen die kleinen Christenhäuflein auf Vorposten im Kampf mit dem Mohammedanismus. Hier war der erste Grund der Mission gelegt, von hier aus erfolgte die Ausbreitung nach Norden. Bei dem anstrengenden Ritte ging uns das Herz auf über all dem Schönen, das sich vor uns ausbreitete. Es ging über hohe Gebirgszüge mit weiten Rundblicken, vorbei an rauschenden Flüssen, durch endlose Wälder. Der Weg war schlecht und voll Löcher. In ein solches versank plötzlich mein Begleiter mit seinem Gaul so tief, dass Ross und Mann nur mit Mühe sich wieder herauskrabbelten und am nächsten Bach sich von Kopf bis zum Fuß waschen mussten. Hernach hatten wir eine schwankende Hängebrücke zu passieren, die nur aus einigen Rotangseilen bestand, auf denen man, vorsichtig einen Fuß vor den andern setzend, sich anklammernd an einen Rotangstrick, nicht ohne Herzklopfen hinüberturnte. Wenn auch nicht hinter jedem Baum ein Tiger lauerte und auf jedem Stein eine Riesenschlange sich ringelte, so gab es doch des Fremden und Exotischen genug. Mit Vergnügen belauschten wir die Affen, die sich zahlreich in den Bäumen tummelten und gewaltig schrien, nachdem der Chorführer Text und Melodie angegeben hatte. Der Urwald hat etwas Unheimliches (später habe ich ihn noch urwüchsiger kennen gelernt): dunkel und muffig die allzeit feuchte Luft, alle Bäume mit Schlingpflanzen wie mit einem Schleier umkleidet, umgestürzte modernde Baumstämme, Legionen von kleinem Getier, Ameisen in allen Größen, Mücken, Blutegel, Tausendfüßler. Aber keine Vögel. Höchstens dass einmal ein Nashornvogel aufkreischt. Lautlose Stille, ein stummer Kampf, um ans Licht zu kommen, wie ein verhaltener Seufzer der Kreatur. Abends aber wird es laut: da stimmen die Zikaden und allerhand Käfer ihre schnarrenden und kreischenden Instrumente, und ein unheimliches verborgenes Leben regt sich überall. Dem Botaniker muss das Herz aufgehen beim Anblick der Riesenbäume, Kampfer, Weihrauch, Eisenholz, der wundersam gebildeten und gefärbten Orchideen, der Sträucher mit blutroten oder schwefelgelben mächtigen Blüten. Man atmet auf, wenn man wieder in die freie Luft kommt. "Und atmete lang und atmete tief und begrüßte das himmlische Licht."

In Bungabondar begrüßten wir den ehrwürdigen Veteranen der Mohammedanermission, Schütz, der sein ganzes Leben lang als tapferer Vorkämpfer seine kleine Christenschar geführt hat. Selbst von den feindlichen Moslem geachtet, waltete er wie ein Vater unter den Seinen, immer in der Zeit der kleinen Dinge, während im Norden das Evangelium Siege feierte. Wie trutzige Burgen standen die Gotteshäuser neben den viel größeren Moscheen. Da ist Geduld und Glaube der Heiligen. Wir erquickten uns an den schönen Gottesdiensten der kleinen Gemeinden und durften in manchem Haus Zeugen sein von dem guten christlichen Geiste, der in den Familien lebt. Auch sonst gab es viel zu sehen. Wir besuchten die Schwefelquellen, wo Missionar Hanstein als erster die armen Aussätzigen sammelte und pflegte. In der Nähe sind große Schwefelfelder mit heiß aus der Erde hervorquellendem Wasser. Steigt man den Berg hinauf, so kommt man zu einer ganz eigenartigen Naturerscheinung: Da liegt ein ewig brodelnder und kochender Teich mit schmutzig grauem Wasser. Alle fünf Minuten steigt eine Schlammsäule bis zu zwanzig Meter Höhe auf, steht einen Augenblick still und stürzt dann wieder in sich zusammen. Dabei rollt es dumpf in der Erde. Der Anblick ist so unheimlich, dass unsere braunen Begleiter das Hasenpanier ergriffen. Sumatra ist durch und durch vulkanischer Boden; die meisten Berge sind erloschene Vulkane, denen man nicht trauen darf. Zahlreich sind die kleinen und größeren Erdbeben. Kurz ehe ich ins Land kam, hatte ein Erdbeben stattgefunden, bei dem die Erde sich wie Meereswogen auf und ab bewegte, die Bäume sich neigten und manche Häuser einstürzten. Auch die Moschee in Sipirok war eingestürzt, während die nahe dabei stehende Kirche unversehrt blieb. Kommt das Erdbeben, dann ruft alles: Suhul, suhul, das heißt Schwertgriff, um den unter der Erde gefesselten Drachen, der sich umdreht, daran zu erinnern, dass er gefesselt ist und sich ruhig zu verhalten hat.

Und nun der erste Ritt nach Toba. Es ging über die hochgelegene Steppe mit spärlicher Bevölkerung. Immer gespannter wurden wir, ging es doch dem heiligen Tobasee entgegen, der viele Jahrhunderte von den Heiden als Heiligtum vor neugierigen Augen behütet wurde. Als es drei Missionaren gelang, auf einem kühnen Ritt den ersten Blick auf diesen See zu werfen, mussten sie das Abenteuer beinahe mit dem Leben bezahlen. Unvergesslicher Anblick, als wir, auf der Höhe des Randgebirges angekommen, die weite Fläche des wundervollen tiefblauen Sees überschauten, wie er, umrahmt von gewaltigen Bergen, umsäumt von unzähligen Dörfern, in den Buchten geschmückt mit leuchtenden grünen Reisfeldern, wie ein Juwel zu unsern Füßen lag. Man begreift, dass die Brüder, die als die ersten ihn schauen durften, von Verlangen brannten, in diese Hochburg des Heidentums die gute Botschaft zu tragen, dass sie bereit waren, dafür ihr Leben einzusetzen. Es ist etwas Besonderes um den jauchzenden Sonnenschein in Toba, wenn jeden Morgen eine Flut von goldenem Licht See und Land verklärt, oder wenn am Abend der Himmel seine glühenden Farben der Erde schenkt, dass man meinen könnte, sich in einem Zauberlande zu befinden. Da fühlt man etwas von dem Wort des Psalmisten: "Schon deine Vorhöfe sind lieblich, Herr Zebaoth." Toba, etwa neunhundertdreißig Meter über dem Meere gelegen, mit gemäßigtem Klima, ist wie ein Garten Gottes. Man sollte meinen, da wohnten nur glückliche Menschen. Aber wie sah es im schönen Toba aus! Die Missionare fanden bei diesen "glücklichen Naturmenschen" das wildeste, roheste Heidentum, Mord, Grausamkeit, endlose Fehden, sinnlose Furcht vor Geistern und Zauberern.

Reisfels am Tobasee aus WikipediaDie erste Missionsstation, wo wir einkehrten, war Baiige. Wir trafen es unglücklich, denn Missionar Pilgram war gerade dabei, sein Haus umzudecken. Bei aller Freundlichkeit des lieben Ehepaares konnten sie uns doch nicht behalten. Wir zogen weiter nach Laguboti zu Geschwister Steinsiek, deren Haus mir und hernach auch meiner Frau ein Heim geworden ist, wo wir jederzeit willkommen waren und unendlich viel Liebe und tatkräftige Hilfe gefunden haben. Dem gesamten Mitarbeiterkreis in Toba weiß ich mich zu innigem Dank verpflichtet. Es war wie eine große Familie, die in Leid und Freud zusammenhielt. Da erfüllte sich das Wort Jesu: "Wer verlässt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird's hundertfältig nehmen." Wie ein Patriarch waltete unter uns Nommensen, damals ein Sechziger. Er wurde mir ein väterlicher Freund. Ich durfte ihn beobachten in seinem Umgang mit den Bataks, wie er, immer geduldig und freundlich, immer beherrscht, stets für sie ein Ohr und einen Rat hatte; wie bei ihm kindlich einfältiger Glaube sich verband mit außergewöhnlicher Klugheit, ja mit diplomatischer Gewandtheit und mit zähem Willen, der sich stets durchsetzte, aber ohne Geräusch und Reibung. Nie pochte er uns Jungen gegenüber auf sein Alter und seine Erfahrung. Es ist wohl nie einer Mission so der Stempel eines Mannes aufgedrückt gewesen wie bei ihm. Es eignete ihm eine wundersame Gewalt über Menschen und auch über Tiere. Einst beobachtete er, wie mein lebhaftes Pferd, als ich es besteigen wollte, seine Tänze aufführte. Lachend meinte er, der Reiter müsse Herr über das Pferd sein, ging dann herzu, berührte den Gaul, und sofort stand das unruhige Tier still wie ein Lamm. Bei Krankheiten tat schon die Berührung seiner Hand, auf das kranke Glied gelegt, wohl. In allen Lagen wusste er Rat. Wie oft bin ich zu ihm gepilgert, wenn ich mich in Nainggolan oder Baiige festgefahren hatte, und nie vergeblich, wenn auch seine Ratschläge manchmal etwas wunderlich waren. Es war eine besonders freundliche Führung Gottes, dass ich neben diesem Mentor arbeiten durfte.

Einige Monate brachte ich bei den Geschwistern Pilgram in Baiige zu, um hier mit der Sprache vertrauter zu werden und die missionarische Arbeit kennenzulernen. Also ein zweites Lehrvikariat. Viel Liebe habe ich von diesem Philemon mit seiner herzensguten Baucis erfahren. Pilgram gehörte zu den Missionaren, die die Zukehrung der Massen zur christlichen Gemeinde für verhängnisvoll hielten und versuchten, in der Pflege einer kleineren Schar, die sie für gläubig hielten, ihre Hauptaufgabe zu finden. Aber er konnte es nicht verhindern, dass viele Heiden, die nicht mehr Heiden sein wollten, die Taufe begehrten, den Unterricht besuchten und schließlich aufgenommen wurden. Auswahlgemeinden sind noch nirgends gelungen. Gott wies die Missionare deutlich an, mit dem Netz zu arbeiten, wobei dann auch minderwertige Fische nicht ausbleiben konnten. In Baiige war damals eine Reihe eifriger Ältester, eine Frucht der Arbeit Pilgrams, die sich nicht genug tun konnten, das Heil, das sie erfahren, hinauszutragen in die näheren und ferneren Dörfer, bis über den See hinüber. Unter ihnen ragte hervor der treffliche Laban, der gefördertste bataksche Christ, der mir begegnet ist, ein Mann voll brennender Liebe und heiligem Eifer für das Reich Gottes.  Ich sollte ihm bald noch näher treten.

Der Vertreter der Britischen Bibelgesellschaft pflegte ab und zu die Bataklande von Singapore aus zu besuchen. Er kam auch gern nach Baiige. Leider verstand er kein Wort Deutsch oder Bataksch, während Bruder Pilgram kein Englisch konnte. Die beiden haben aber tiefgehende Gespräche geführt, zum Beispiel über die Taufe, wobei sie sich allerdings derart verwirrten, dass keiner den anderen verstand und am Ende Frau Pilgram mit ihrer Sprachkenntnis die Knoten entwirren musste. Herr Purdey (so hieß er) hatte unsern treuen Laban als Bibelkolporteur gewonnen. Die beiden konnten sich aber nicht verständigen. Einmal hörten wir, wie Purdey zu Laban sagte: "You are good boy." "Nein", antwortete Laban, "es heißt Laguboti." Nochmal: "You are good boy." "Nein, Laguboti." Dennoch haben die zwei einträchtig miteinander gereist und gearbeitet.

Jeder empfängliche junge Missionar in Sumatra ist zunächst überwältigt von dem, was sein Auge sieht: Ich staunte über die jungen Gemeinden, wo bis vor kurzem schwärzestes Heidentum und Unempfänglich-keit herrschte. Damals bahnte sich auch in Toba der Sieg des Christentums an. In Scharen kamen die Heiden zum Taufunterricht. Hin und her wurden Kirchen und Schulen gebaut, und, was für den ungehinderten Lauf des Evangeliums wichtig war, auch Wege. Die Motive des Übertritts waren gemischt. Bei vielen war es das dunkle Gefühl, dass eine neue bessere Zeit heraufkomme und das Heidentum nicht mehr genüge; oder die Hoffnung, durch die neue Religion vorwärts zu kommen; oder nur der Herdentrieb, den Genossen zu folgen. Aber es gab auch nicht wenige, die das Evangelium vom Befreier anzog, die sich sehnten, erlöst zu werden von der Knechtschaft der Furcht. Es gibt überall Gottsucher. Sie alle kamen unter den Schall des Wortes, und viele sind dann im Taufunterricht und in der Gemeinde in die christliche Wahrheit hineingewachsen. Andere haben enttäuscht und sind wieder abgefallen. Aber die Missionare hatten kein Recht, den Suchenden und Fragenden die Tür eng und den Zugang schwierig zu machen. "Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe!" Der junge Missionar sieht zuerst das Erfreuliche an dieser Bewegung. Hernach kommt die Zeit, wo er merkt, was da noch fehlt, und wie menschlich es auch bei geistlichen Bewegungen zugeht. Die Folge ist dann leicht eine Unterschätzung des Werdenden und Gewordenen, weil man nicht tief genug sieht, um die Gotteskräfte darin zu erkennen. So erging es mir, als ich zwei Jahre später die Gemeinde Baiige übernahm und zu meinem Erschrecken noch viel Heidentum und sittliche Mängel sichtbar wurden.

Von Baiige wurde nun mein Einzug in Samosir vorbereitet. Samosir ist eine Insel im Tobasee mit etwa hunderttausend Menschen, damals noch kaum bekannt, freies Gebiet, auf das die Kolonialregierung noch nicht die Hand gelegt hatte. Das Merkwürdige an dieser neuen Missionsarbeit war,  dass  die dortige heidnische Bevölkerung selbst um einen Missionar gebeten hatte, freilich ohne sich der vollen Bedeutung dieses Schrittes bewusst zu sein. Wahrlich ein Zeichen des Umschwungs in den Bataklanden. Hatten doch die ersten Missionare schwer darum ringen müssen, dass man sie nur duldete. Jetzt kamen die Fürsten und baten um Boten des Evangeliums. "Mohrenland wird seine Hände ausstrecken zu Gott" (Ps. 68,32). Die Regierung verlangte, dass sie sich für Leben und Sicherheit des Missionars verbürgen müssten, was sie willig taten. Eines schönen Tages erschienen die Häuptlinge in großen Kanus und holten außer mir noch einige Missionare ab, damit wir uns Land und Leute ansehen und erkunden sollten, wo der junge Missionar sein Zelt würde aufschlagen können. Das war eine romantische Exkursion. Das Herz voller Erwartung und Hoffnung, betrat ich nach mehrstündiger Fahrt das Land, dem ich das Evangelium bringen sollte. Geführt von den Machthabern, gefolgt von zahlreichen Neugierigen,  durchstreiften wir die Landschaften am Strande, wo die meisten Menschen wohnten. Man nahm uns sehr freundlich auf und legte das ganze Land zu unseren Füßen. Ein weißer Mann war hier noch nie gewesen; man verfolgte und beobachtete uns daher mit dem Interesse, das wir beim Anblick einer Negertruppe bei Hagenbeck empfinden. Wunderliche Menschen,  diese "Weißaugen", wie umständlich ihr Essen mit Messer, Gabel und Löffel, staunenswert ihre Feldbetten und Hängematten. Die mussten ja schwer reich sein. Voll Wissbegierde strich ich in den meist armseligen Dörfern herum und versuchte, Brücken zu schlagen zu meinen künftigen Pflegebefohlenen. Die Dörfer waren nach altem Brauch kleine Festungen mit hohem Erdwall und dornenreichen Bambushecken. Abends räumte man uns einen Sopo ein, ein bataksches Haus, das zu Versammlungszwecken und als Herberge dient. Köstlicher als der mangelhafte Schlaf in der Hängematte war am sonnigen Morgen das Bad im kühlen See. Nach wortreichen Verhandlungen mit den Platzgewaltigen entschieden wir uns für die Landschaft Nainggolan. Ein großes Stück Land wurde abgesteckt und damit in Besitz genommen. Der Vogel hatte ein Nest gefunden, dicht am Seeufer mit freiem Blick auf die gegenüberliegenden blauen Berge.

Die nächsten Wochen in Baiige galten den Vorbereitungen zum Umzug. Es wurde Holz gekauft und zurechtgemacht für ein bescheidenes Häuslein als erste Unterkunft. Es fiel aber derart winzig aus, dass Br. Bruch und ich nicht gleichzeitig zu Bett gehen durften, und war so niedrig, dass wir die zudringlichen Ratten auf dem Dachboden an den Schwänzen packen konnten. Bataksche Zimmerleute brachten das Material hinüber und setzten den Palast zusammen. Mit Kennermiene erstand ich beim chinesischen Händler Essgeschirr und Küchengeräte, treu beraten von Mutter Pilgram. Eigentlich war es von der Missionsleitung gewagt, zwei junge, völlig unerfahrene, draufgängerische, mit der Sprache noch schwer ringende Missionare wie Schafe unter die Wölfe in die Einsamkeit der weltabgeschiedenen Insel ziehen zu lassen. Aber das war Vater Nommensehs Grundsatz: ins Wasser geworfen, lernt man am besten schwimmen. Hatte er es doch selbst so gemacht.

Im April 1893 kam der große Tag, wo die Fürsten Samosirs uns in festlich geschmückten Kanus abholten. Die Donnerbüchsen knallten und die Menge brüllte, als wir uns Nainggolan näherten, wo einige tausend Neugierige sich versammelt hatten. Sie ahnten nicht, was dieser Tag für sie bedeutete, der Anbruch einer neuen Zeit, das Kommen des Reiches Gottes, angenehme Zeit. Missionar Pilgram begleitete uns, kehrte aber andern Tages wieder um. Nun sahen wir uns ganz auf uns selbst gestellt, oder richtiger: auf die gnädige Durchhilfe unseres Gottes, der uns nicht verlassen würde. Frei wie noch nie im Leben, kaum bewusst der eigenen Unerfahrenheit, stolz und froh und doch zugleich bange, nahm ich mein Herz in die Hand und sprang hinein in die dunkle Zukunft. Einige Monate teilte Missionar Bruch mit mir Freud und Leid, bis für ihn der Weg in die Landschaft Uluan frei wurde, für die er bestimmt war.


Martin Wilde

Wer lange Zeit fern von der Heimat in einem fremden Lande lebt, kommt leicht in Gefahr, seine Umgebung einseitig zu sehen. Er mag so ein ausgezeichneter Kenner der besonderen örtlichen Verhältnisse werden, aber er verliert die Möglichkeit des Vergleichens und damit oft die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen und zu schildern, dass die Daheimgebliebenen ein verständliches und anschauliches Bild bekommen. Die besten Reiseschilderungen verdanken wir darum meist Männern, die zum ersten Male in ein fremdes Land kamen, aber an Ort und Stelle kundige und erfahrene Führer zu ihrer Verfügung hatten. In dieser Lage befand sich der Inspektor der Berliner Mission Martin Wilde, als er im Jahre 1910 Südafrika besuchte.

Martin Wilde (geb. 1859, gest. 1945) war einer der ersten Studentenpfarrer in Deutschland. 1907 trat er in den Dienst der Berliner Mission. 1910/11 führte ihn eine Studien- und Inspektionsreise nach Süd- und Ostafrika, worüber er in dem Buch "Schwarz und Weiß in Südafrika" berichtet. Er schuf die Kirchenverfassung für die Kirche der Berliner Mission in Südafrika.

Wilde fand nicht mehr das Afrika, von dem uns die Schilderungen von Casalis und Livingstone, Posselt und Merensky berichteten. Die Zeit der großen geographischen Entdeckungen war abgeschlossen; auch die Pionierzeit der Missionsarbeit im alten Sinne ging ihrem Ende entgegen. Die große Wende in der südafrikanischen Geschichte, der Burenkrieg, war vorüber; es begann eine neue Epoche, der Aufbau eines geeinigten Südafrika. Das Kapland und Natal, der Oranje-Freistaat und Transvaal hatten sich zu der Union von Südafrika zusammengeschlossen. Die Entwicklung der Goldbergwerke und der Diamantminen brachte einen gewaltigen Aufschwung, die Städte wuchsen rasch, und ein immer dichteres Netz von Eisenbahnen überzog das Land.

Martin Wildes Reisebuch gibt eine anschauliche Schilderung dieser veränderten Verhältnisse. Die Zeit der romantischen Reiseabenteuer im alten Stil war vorüber. Wildes Aufgabe war es, eine entwickelte Missionsarbeit in einem fortgeschrittenen Kolonialland zu studieren und darzustellen. Mit sorgfältig abwägendem Urteil verfolgte er diese neue Entwicklung. Das Zusammenleben der Weißen und der Eingeborenen, seit dem Beginn der europäischen Kolonisation das große politische und soziale Grundproblem des Landes, war in ein neues Stadium getreten. In ständig wachsender Anzahl strömten jetzt eingeborene Arbeitskräfte in die Bergbaugebiete und die Industriezentren des Landes und wurden damit Industriearbeiter und Stadtbewohner. Hieraus ergaben sich in ganz Südafrika grundlegend neue Probleme, die auch die Missionsarbeit vor neue Aufgaben stellten.

Auf Reisen unter Schwarz und Weiß in Südafrika

Martin Wilde: Schwarz und Weiß in Südafrika. Bilder von einer Reise durch das Arbeitsgebiet der Berliner Mission. Berlin, Verlag der Berliner Mission 1913.

Wer ein Land so bereisen muss, dass er fast jeden Tag den Ort verändert - und das war mein Los in Südafrika -, ist zweifellos der Gefahr ausgesetzt, mit seiner Kenntnis von Land und Leuten stark an der Oberfläche zu bleiben. Wenn er dann noch die Gabe hat, jede Erfahrung fröhlich zu verallgemeinern, so wird seine spätere Berichterstattung gemeingefährlich. Andererseits hat diese Art des Reisens den Vorzug, dass sie in der Tat eine große Fülle von Einzelbeobachtungen gestattet, dass sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Gegenden und ihren Bewohnern eindringlich zum Bewusstsein bringt und dass sie den Reisenden in reiche Berührung mit dem ganzen Leben im Land setzt. Wenn man die Gegenwart eines Landes verstehen und überblicken will, muss man seine Geschichte befragen und das Material für eine Übersicht über den derzeitigen Stand zusammentragen. Aber der lebendige Hauch des Lebens schlägt einem nur bei persönlicher Berührung entgegen. Darum bitte ich den Leser, mich ein wenig auf meinen Reisen zu begleiten und sich den Eindrücken mit hinzugeben, die der Reisende auf seinen Wegen empfing.

Wer ältere Reisebeschreibungen aus Südafrika liest, hat mit dem berühmten Ochsenwagen anzufangen, der den Reisenden auf Wochen- und monatelangen Wegen im Wechsel von allerlei Fährlichkeiten und beschaulicher Ruhe zum Ziel bringt. Als ich mich nach zehneinhalbmonatiger Reise im Lande, von Lourenco Marques aus, mit dem "Admiral" auf den Heimweg gemacht hatte und Musse fand, auch überflüssige Studien vorzunehmen, stellte ich aus meinen Tagebüchern fest, dass ich im ganzen siebzehntausenddreihundert Kilometer auf afrikanischem Boden hinter mich gebracht hatte. Das hätte ich mit dem Ochsenwagen nicht gekonnt. Von den siebzehntausenddreihundert Kilometern hatte ich 11.587 mit der Eisenbahn, 4.506 auf Wagen mit Maultier- oder Pferdebespannung, zwölfhundert auf Pferderücken und sieben auf dem Ochsenwagen zurückgelegt. Gewiss gibt es den Ochsenwagen noch. Als ich kurz vor Weihnachten 1910 in Heidelberg (Transvaal) war, habe ich eine ganze Kolonne von Ochsenwagen nach der Stadt fahren sehen. Die Buren, die die Festtage in dem "Dorfe" verleben und an den Gottesdiensten teilnehmen wollten, brachten so nach väterlicher Weise ihre Familienhotels mit. Aber im ganzen nördlichen Transvaal und in Natal hat das Ostküstenfieber die Rindviehbestände fast vernichtet, und was noch vorhanden ist, darf die, meist eingedrahtete, Farm nicht verlassen. In der Kapprovinz, in Oranje und dem südlichen Transvaal macht die Eisenbahn dem Ochsenwagen Konkurrenz. Jedenfalls habe ich meine Reise mit der Eisenbahn begonnen und in ihrer zweiten Hälfte fast ausschließlich mit ihr bewerkstelligt.

Ich stieg in Kapstadt ein, um nach Johannesburg zu fahren. Die Spurweite der afrikanischen Eisenbahn ist schmaler als die unsrige. Man muss deshalb auch die Wagen etwas schmaler bauen, und dabei hat der Seitengang in den Durchgangswagen die Kosten zu tragen. Er ist so schmal, dass man sein Handgepäck vor sich her balancieren muss und jedermann ins Abteil zurücktritt, wenn ein Reisender den Gang passiert. Es ist mir immer wunderbar gewesen, dass ältere Burenfrauen ihn überhaupt passieren können, ohne gleich beim ersten Versuch festzusitzen. Ist der Gang unbequem, so ist das Innere des Abteils um so bequemer. Breite, ledergepolsterte Sofas in der ersten, etwas schmalere und etwas härtere, aber gleichfalls lederbezogene Sofas in der zweiten Klasse. Für die Nacht dürfen nicht mehr als vier Personen im Abteil erster und nicht mehr als sechs im Abteil zweiter Klasse untergebracht werden. Die dritte Klasse in den gewöhnlichen Zügen ist fast ausschließlich für Eingeborene bestimmt. Nur hier und da habe ich später einmal auch Abteile dritter Klasse mit der Überschrift "Europeans" gesehen. Die Farbigen sollen im Allgemeinen nicht in den ersten beiden Wagenklassen fahren. Die Eisenbahn bietet deshalb wenig Gelegenheit, mit ihnen in Berührung zu kommen. Doch habe ich einmal eine schwarze Dame unbehelligt in der ersten Klasse fahren sehen.

Der Zug arbeitete sich in die Berge hinein, deren Gipfel - es war Juli, also südafrikanischer Winter - mit Schnee bedeckt waren. Mühsam und langsam keuchte er den wunderschönen Hexriverpass hinauf. Die Steigungen auf den südafrikanischen Bahnen sind steiler, die Kurven schärfer als bei uns. So fährt man langsamer und hat Zeit, die mächtigen Berge oben, die steilen Senkungen unten und die schönen Farmen in den Tälern zu bewundern. Wir waren noch nicht auf der Höhe angekommen, als die Nacht hereinbrach. - Es gibt, wie ich zuverlässig weiß, in Deutschland Leute, die an die zweckmäßige Verwendung wollner Sachen in Afrika nicht glauben. Ich wünschte, sie erlebten einen Winterabend und eine Winternacht mit wie diese. Sie würden niemandem mehr erzählen, dass Wolle für Afrika völlig unangebracht sei. Man wird im Zuge zu Hause. Zur Hauptmahlzeit am Abend, zum Frühstück am Morgen, zum zweiten Frühstück am Mittag, zum Tee am Nachmittag wird gerufen; und wenn man es wünscht, wird einem schon morgens um sechs Uhr Tee oder Kaffee ins Abteil gebracht. Gegen neun Uhr abends erscheint ein Schwarzer und macht die bestellten Betten zurecht. Einige Griffe, und aus den Wänden entwickeln sich obere Bettböden. Wer nicht einen Pelzkaroß mit sich führt und für sich selbst die Lagerstätte bereitet, lässt sich von der Bahn ein Bett geben und zurechtmachen - es kostet, in angenehmem Gegensatz zu Deutschland, nur 2,50 Mark - und bald schläft, was im Abteil vorhanden ist. Ich habe trefflich geschlafen in den südafrikanischen Zügen.

Die erste Nacht war bald herum. Die afrikanische Sonne, die es auch am Wintertage gut meint, brannte warm durch die Fenster. Das Bild draußen hatte sich geändert. Wir waren in der Karroo. Ich habe neun Monate später das südliche Kapland mit seinen fruchtbaren Ebenen, schönen Bergzügen und herrlichen Bergpässen bereist und wieder, wie diesmal, den Gegensatz empfunden. Südafrika hat nicht ein Klima, sondern fünf oder, wenn man will, sechs. - Da liegt die weite Fläche. Dort in der Ferne ein Kopje, da ein Plattberg. Das spärlich bewachsene Land ist nicht ganz unfruchtbar. Von Zeit zu Zeit taucht eine Farm auf, ein Camp mit Straußen, in regelmäßiger Folge die Reste der Steinschanzen aus der Kriegszeit, und dann beginnt dieselbe Bilderreihe von neuem. Die Sonne steigt Stunde um Stunde; ein Kopje, ein Plattberg, eine Farm, Steinschanzen. Die Sonne geht an dem westlichen Himmel hinab, es ist merklich heiß geworden im Wagen: ein Camp, eine Farm, eine Steinschanze, Fläche, Fläche, Fläche usw. - Am späteren Nachmittag rollt der Zug schneller. Es geht bergab, dem Oranje zu. Die Karroo ist passiert.

Jenseits des Oranje dehnt sich im Westen die Ebene von Griqualand-West aus. Ich bin später eine Strecke in das Land hineingekommen. Es ist durchaus keine Wüste. Aber an diesem Abend, wo ich über die weite, weite Fläche mit ihrem wintergrauen Gras hinsah, schien es mir eine Wüste, eine trostlose Wüste zu sein. Die Sonne sank tiefer, da änderte sich das Bild. Indem sie sich dem Untergang zuneigte, goss sie Ströme roter Strahlen auf das graue, tote Land. Und es wurde lebendig und glänzte in wunderbarer Pracht und Schönheit. - "Gott ist doch der größte Künstler" sagte einmal ein Freund zu mir. Ich habe öfters in Afrika daran denken müssen. Es sind nicht so oft die intimen Wirkungen des kleinen Landschaftsbildes, als die großen Wirkungen des Gesamtbildes, hervorgebracht vor allem durch die Sonne, die Lichtfluten über Lichtfluten hinabschüttet auf das Land, die Einöde vergoldet oder, wie hier, in Purpur taucht, die grüne Flur lachend macht und um die Berge blaue Schleier legt. Ich kann es verstehen, dass die Südafrikaner in Deutschland Heimweh bekommen nach dem Sonnenlicht ihrer Heimat. Es gehört zu dem Lande, wie der Ruf der Turteltaube, der vom Limpopo bis ins Kapland erklingt.

Es war dunkel geworden draußen. Da flammten andere Lichter vor uns auf: die elektrische Beleuchtung der Bergwerksanlagen von Kimberley und Beaconsfield. Wir fuhren in die Diamantenstädte ein. Unsere Missionare besuchten mich während des längeren Aufenthaltes im Zuge, "grüßten" mich, wie der Afrikaner sagt. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung und fuhr in die Nacht hinein. Ich habe an diesem Abend lange am Fenster gestanden. Zum ersten Male sah ich Grasbrände, wie sie die Bauern entfachen, um entweder dem jungen Graswuchs oder dem Pfluge, der über das Land gehen soll, Raum zu verschaffen. Mächtige Flammenlinien walzten sich über die Ebene wie Heeresfronten, die dem Feind entgegenrücken. Auch ein Wahrzeichen Südafrikas! Ich habe es in der Folge oft und noch schöner und großartiger gesehen als an diesem Abend, aber es hat kaum wieder einen so starken Eindruck auf mich gemacht. - Wir hatten allgemach das Hochfeld erreicht, das sich mir bei Nacht schöner präsentierte als später bei Tage.

Die Hochfläche von Oranje und Südtransvaal - eigentlich nur in Transvaal Hoogeveld genannt - stellt den dritten Typus südafrikanischen Klimas und südafrikanischer Landschaftsbilder dar. Gesunde Luft, im Winter sehr starke Unterschiede in den Tag- und Nachttemperaturen, fruchtbare, unbewaldete Ebenen oder lange Geländewellen. Die afrikanischen Freunde in jener Gegend, die ihr Land lieben, mögen es mir verzeihen: das Hoogeveld mag sehr fruchtbar sein, reiche Weiden haben und keine Pferdekrankheit, aber die Landschaft ist verzweifelt langweilig. Wenn man, wie ich später getan habe, zu Wagen weite Strecken in ihr zurücklegt und man fragt nach dem Ziele, so bekommt man wohl zur Antwort: "Net achter die bultje" (gleich hinter dem Hügel da). Man fährt eine Stunde und hat den ersten unsäglich langsam ansteigenden und unsäglich langsam abfallenden Hügel genommen. Ein neues "Bultje". Wieder eine Stunde. Ein drittes, vielleicht ein viertes. Endlich liegt in der Ferne das Ziel vor einem: "Net achter die bultje." - Das ist schwer. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen kamen wir Johannesburg näher. Die ersten Städte am Witwatersrand, dann in schneller Folge ein Stadtbild nach dem anderen. Dazwischen der Blick auf die Bergwerksanlagen. Immer geschlossener wird die Stadt. Wir fahren in Park-Station ein, bekannt in ganz Südafrika unter dem kurzen Namen "Park".

Johannesburg ist in Ansehung des Lebens, das sich in ihm entwickelt, eigentlich keine afrikanische Stadt, sondern eine Weltstadt. Angehörige aller überseeischen Kulturvölker strömen in ihr zusammen, und Vertreter zahlloser Eingeborenenstämme Afrikas treffen sich in ihr zu gemeinsamer Arbeit. Wenn man nach Germiston hinausfährt, sieht man die mächtigen Leitungen der elektrischen Kraftzentrale. Sie sind gebaut und werden in Betrieb gehalten von Siemens-Schuckert. Wie die Arbeitskräfte international sind, so auch die Kapitalien, die hier zusammenströmen. Umgekehrt hat die Johannesburger Goldproduktion Bedeutung für die ganze Welt. Aber zunächst befruchtet sie Südafrika und greift mit ihren Wirkungen tief in die ganze Entwicklung des afrikanischen Lebens ein. Stadtanlage und Umgegend zeugen von der Schnelligkeit und darum Ungleichmäßigkeit, mit der alles entstanden ist, aber auch von dem Reichtum, der sich hier auswirken kann. Hier eine Prachtstraße mit modernsten Häusern, schönen Monumentalbauten, tadelloser Pflasterung. Die Parallelstraße mit bescheidenen Gebäuden und mit höchst primitiver, wenn überhaupt irgendeiner Pflasterung. Hier die Geschäftsstadt, in der sich Weiß und Schwarz vor den großen Schaufenstern und in den Läden zusammenfinden, die Restaurationen und die Vergnügungslokale, die sausenden Elektrischen; drüben auf der Höhe von Kensington die vornehme Ruhe des zum Teil mit fürstlicher Pracht gebauten Villenviertels, in das das Automobil in schnellster Fahrt den Geschäftsmann nach getaner Arbeit trägt. Von hier aus ruht der Blick auf dem herrlichen "Sachsenwald", den der Reichtum am Fuße der Villenstadt aus dem afrikanischen Boden hervorgezaubert hat. - Reichlicher Vorortbahnverkehr verbindet die Reihe der Vorstädte mit Johannesburg, auf dessen verhältnismäßig kleinem Gleiskörper außerdem die Fernzüge von allen Himmelsrichtungen einlaufen. Wer Bahnfahrten in dem Kohlenrevier Bochum-Dortmund-Essen-Gelsenkirchen usw. kennt, der hat etwa ein Bild des Johannesburger Bahnverkehrs, nur dass hier die gewaltigen künstlichen Berge, die die Bergwerksindustrie erzeugt, nicht schwarz, sondern silbergrau sind. Es ist das zu Staub gemahlene Gestein, dem auf chemischem Wege sein Goldgehalt entzogen worden ist. Der Windhauch, der über diese Berge streicht, wirbelt silberne Wolken in die Luft. - Ich bin das erste Mal nicht lange in Johannesburg gewesen. Bei meinem späteren ausführlichen Besuch hatte ich Gelegenheit, auch eine Minenanlage zu besichtigen. Diesmal nahm ich nur an einer Konferenz teil, machte einen mehrtägigen Ausflug in das Rustenburger Gebiet der Hermannsburger Mission und, eilte dann dem Norden zu, um meine eigentliche Visitationsarbeit zu beginnen.

Mich führte eine Nachtfahrt von Johannesburg nach Pietersburg. Dann war ich für einige Monate im eisenbahnfreien Gebiet. Am zweiten Tage stand der mit sechs Maultieren bespannte Wagen bereit zur Fahrt ins Land.

Wie gut habe ich es doch gehabt, dass ich auf Missionswegen reisen durfte. Immer wieder nach dem Umgang mit Engländern und Buren und nach dem Verkehr mit den Farbigen eine deutsche Heimat im Missionarshause! Ohne dass ich mich selbst darum hätte bekümmern müssen, stand am Morgen der Wagen bereit oder standen die gesattelten Pferde vor der Tür. Auf dem Wege fand sich, dass alles bis ins Kleinste vorbedacht war, und für mich wurde - manchmal mehr als nötig, aber wohltuend - gesorgt. Wurde in den Häusern christlicher Eingeborener oder in Kraalen, im Freien, zur Nacht logiert, so haben mich die Missionare oft dadurch beschämt, dass sie für mich die denkbar mögliche Bequemlichkeit beschafft hatten und mich zwangen, sie anzunehmen, während sie mit hartem Lager vorlieb nahmen. Und welch ungeheurer Gewinn, dass ich mit Männern zusammen die Eingeborenengebiete bereisen durfte, die besser als irgendwelche anderen Weißen im Lande Leben und Denkart der Eingeborenen kennen! - Ich drücke ihnen allen dankbar die Hand. Ihre Liebe hat die Lasten fortgenommen, die das Äußere einer solchen Reise dem Wanderer auferlegt, und hat die Steine aus dem Wege geräumt, der zu dem Ziel der inneren Erfolge führen sollte.

Es ging ins Buschfeld der Hochebene, nördlich Pietersburg, hinein, in dem mich dreizehn Tage lang der Wagen durch das Gebiet mehrerer Stationen führen sollte. Der erste Tagesweg war nur kurz.

Es folgte auf unserer Station Kreuzburg die erste Nacht, die ich in Afrika auf dem Lande verlebte. Ich habe den Eindruck, dass das Schweigen der Nacht in der ländlichen Einsamkeit Afrikas noch mächtiger ist als bei uns, darum aber auch noch angreifender. Ich las später auf der Heimfahrt nach Deutschland das Buch von O. Schreiner "Peter Halket the trooper of Mashonaland". Peter Halket, ein Söldner, der im Dienst der Chartered Company einen Zug gegen die Eingeborenen in Maschonaland mitmacht, hat sich von der Truppe verirrt und eine Nacht auf einem Kopje zubringen müssen. Seitdem zeigt er ein verändertes Wesen und kämpft gegen manches üble Tun, das er früher ohne Besinnen mitgemacht hatte. Zwei Kameraden sprechen darüber, und dabei gibt der eine eine Schilderung der nächtlichen Einsamkeit im Buschfeld und ihrer Wirkung. Was er über die Wirkung sagt, lässt sich kurz zusammenfassen in den Worten: "Das kommt von jener Nacht. Sei eine Nacht unter diesem Himmel, in dieser Einsamkeit allein, und du wirst entweder verrückt oder fromm." Ich habe das Wort unmittelbar verstanden und habe bewundert, wie meisterhaft der Verfasser mit ihm die Empfindung charakterisiert, die die Nacht im Buschfeld in dem Neuankömmling auf afrikanischem Boden weckt.

Die Fahrt auf dem Maultierwagen ist lustig. Ich sehe sie noch vor mir sitzen: den Kutscher, der die Zügel des Sechserzuges handhabt, und neben ihm den Treiber, der die lange Peitsche in kurzen Pausen knallen lässt und die Tiere mit Namensanruf ermuntert. "Effie", "Muffle", - ein Peitschenknall, und die Tiere rennen unverzagt. Man kommt schnell mit ihnen "über den Weg", wie der Afrikaner sagt. Es wird scharf gefahren, aber nicht lange. Zwei bis drei Stunden, dann ist die Wasserstelle erreicht. Es wird ausgespannt. Die Tiere werden gekniehalftert, getränkt und können grasen. Einer der Farbigen bindet den Kessel unter der hinteren Wagenachse los und holt Wasser. Der andere sucht Feuerungsmaterial zusammen und zündet an, und es wird Kaffee gekocht, vielleicht auch den mitgebrachten Essvorräten zugesprochen, jedenfalls aber Kaffee getrunken. Die Freuden eines Luxusmahles sind nichts gegen das Behagen des Kaffeetrinkens auf dem "Uitspannplek" (Ausspannplatz). Eine Stunde, dann geht's weiter, wenn nicht die Maultiere anders beschlossen haben. Sie sind unsichere Kantonisten. Ich sah an einem Morgen, wie wir aufbrechen wollten, eine Reihe von Farbigen auf den "Klippen" stehen und interessiert in die Gegend lugen. Warum? Drei von unseren Maultieren hatten sich davongemacht. Sie sind nach drei Tagen friedlich in ihren heimatlichen Ställen wieder eingetroffen. Wir aber mussten mit den drei Getreuen weiter, und der Weg wurde sandig.

Es gibt viel zu sehen und zu beobachten: die Termitenhaufen, an denen wir vorüberfahren, die dichten Gebüsche von Kaktusfeigen, ja, und dann auch ein menschliches Wesen. Es begegnet uns ein Eingeborener und grüßt uns: "Morena!" Wir erwidern den Gruß. Ein Trupp Frauen zieht, die wassergefüllten großen Töpfe auf dem Kopf, von einer Wasserstelle kommend, an uns vorüber. Wir passieren eine kleine Eingeborenenniederlassung, hören die regelmäßigen Takte einer Trommel und gewahren beim näheren Zusehen, dass sich eine Reihe von Männern in gleichmäßigem Tanzschritt im Kreise bewegt. Da zeigt sich eine große "Stadt", angeklebt an den Fuß eines Steinhügels. Es gibt unablässig Veranlassung, die landeskundigen Begleiter zu fragen und sich von ihnen Auskünfte und Erklärungen geben zu lassen. Ein Trupp von Wanderern begegnet uns, das Bündelchen mit der Decke für die Nacht am Stock auf der Schulter tragend, ärmlich gekleidet. Sie gehen nach Johannesburg, um Geld zu verdienen. Oder es begegnet uns einsam ein phantastisch mit allerlei Plunder behängter Mann. Es ist ein Zauberdoktor, der sich auf dem Wege befindet. Einmal habe ich die Leute herumlaufen sehen, die im Auftrage des Königs das Feld medizinieren, d. h. den Fruchtbarkeitszauber für das zu bestellende Ackerland anwenden mussten. Als wir das Gebiet des nächsten Häuptlings passierten, lag ein Stab quer auf dem Wege. Er sollte bedeuten: "Der Regen möge sich von deinem Gebiet wenden und in mein Gebiet kommen!"

Soutpansberg aus WikipediaEs holt uns ein Bur zu Pferde ein. Er grüßt und sucht wissbegierig zu erkunden, mit wem er es zu tun hat und woher und wohin des Weges? Er reitet weiter, und unser Wagen fängt an, sich langsamer durch das Buschfeld zu bewegen. Es ist Sandboden, und die Sonne ist hoch gestiegen. Vor uns liegt das weite Feld, bedeckt mit zahllosen großen und kleinen Dornbüschen verschiedenster Art, vom kleinsten Gesträuch bis zu mächtigen Bäumen. Ein Trupp Perlhühner läuft durch das Gebüsch. Wilde Tauben flattern hier und da in den Kronen der Bäume auf. Es wird heißer und stiller. Ein Schakal schleicht über den Weg, bleibt in kurzer Entfernung vom Wege ruhig stehen und sieht uns vorüberfahren. "Da, da ein Sekretaris!" Der mächtige, Schlangen jagende Vogel, der vor der Flinte des Jägers durch Gesetz geschützt ist, stampft mit den Füßen auf den Boden, indem er sich mit kurzen, schnellen Flügelschlägen hebt und wieder fallen lässt. Wir steigen vom Wagen und gehen näher. Der Vogel fliegt auf. Da liegt die Puffotter im Sande, noch nicht ganz tot, aber tödlich zertreten. Wir kehren zurück und fahren weiter. Am Horizont heben sich Berge und Kopjes: im Westen der Rita, im Nordwesten die Blauberge, im Norden die Zoutpansberge in schönen Linien und wundervoller blauer Färbung. Langsam verschieben sich die großen Bergkulissen. Die Sonne brütet über dem schweigenden Buschmeer, aus dem ein eigener, aromatischer, aber stickiger Duft aufsteigt, und unter dem Dach des Wagens wird es heiß. Es wird Zeit, dass wir ausspannen und in Schatten kommen.

Das ist das Buschfeld. Ich habe immer den Eindruck gehabt: "Dies ist das eigentliche Afrika", und wo ich später auf meinen Reisen im östlichen Tiefland Nordtransvaals, in Sekukunisland, in dem mittleren, hügeligen Teil Natals Buschfeld wiederfand, war es mir afrikanisch heimatlich.

Einen ersten Einblick in den fünften Typus des südafrikanischen Landschaftsbildes (das Bergland) gewann ich, als ich zu kurzem Aufenthalt in die schönen Blauberge hineinkam. Fruchtbarer Boden, immer fließende, reiche Wasserläufe und hier - in den Tropen - eine paradiesische Vegetation: mächtige Apfelsinenbäume, hohe Bananenstauden, Bambusgruppen usw. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass sich die eigentlichen Bergländer Südafrikas nur durch den Himmelsstrich unterscheiden, unter dem sie liegen, ob in den Tropen, wie die Blauberge und die Zoutpansberge, im subtropischen Gebiet, wie das Medinger Bergland und die Holzbuschberge, ob im gemäßigten Klima, wie die Drakensberge in Südtransvaal und in Natal. Die Linien und Formen sind dieselben, Fruchtbarkeit und Wasserreichtum sind dieselben.

In Blauberg hatte ich zum ersten Male ein Zusammentreffen mit einem Häuptling, und zwar mit dem in ganz Südafrika bekannten Maloboch, den die Buren, nachdem sie ihn im Kriege überwunden hatten, sechs Jahre in Pretoria gefangen gehalten haben. Ich habe im weiteren Verlauf der Reise eine große Reihe solcher Unterredungen gehabt, die teils dem höfischen Zeremoniell gemäß, teils formloser verliefen. Fast immer war ich sonst der Besuchende und hatte mich vorher feierlich anmelden lassen. Diesmal war Maloboch mit dem Thronfolger und seinen Räten zusammengekommen, um mich in Blauberg zu besuchen. Die Unterhaltung verlief in den strengsten Formen. Zu Malobochs Rechten ich; rechts von mir mein "Mund", der Missionar; links vom Könige der Thronfolger - wir vier auf Stühlen sitzend; in einem Kreise, der bei dem Thronfolger ansetzt und bei dem Missionar schließt, auf der Erde hockend, die Räte, die "Münder" des Häuptlings. Ich spreche einige Worte der Begrüßung und erkläre den Zweck meines Kommens. Mein Mund wendet sich zu dem ihm zunächst sitzenden Mund des Königs. Der verneigt sich, leise mit den Händen klappend wendet er sich seinem rechten Nachbarn zu. Der nimmt mit denselben Höflichkeitsbezeugungen die Botschaft in Empfang. So geht es weiter von Mund zu Mund, bis die Worte dem König gesagt werden. Das ist eine ziemlich umständliche Prozedur, und eine Unterhaltung wie die unsrige, die in 15 Minuten hätte beendet sein können, dauert 1½ bis 2 Stunden. Aber für den Häuptling hat dies Verfahren, wenn es sich um wichtige Entscheidungen handelt, die er treffen soll, offensichtlich seine großen Vorteile. Er versteht nach dem ersten Dolmetschen und hat Zeit zu überlegen, was er antworten will, bis nach vielfacher Wiederholung der letzte ihm die Botschaft ausrichtet. Nun, unsere Unterhaltung behandelte nicht große Staatsgeheimnisse. Bei meiner zweiten Ansprache ermahnte ich ihn, der Predigt des Wortes Gottes freie Bahn in seinem Volk zu lassen. In der dritten und vierten antwortete ich auf seine Fragen nach Deutschland. Endlich war der offizielle Empfang erledigt, und ich durfte mich durch Vermittlung des Missionars noch ungezwungen mit der schwarzen Hoheit etwas unterhalten. Ähnlich verliefen später meine Audienzen bei dem Wandahäuptling Tschewasse und bei manchen anderen. Sie verloren an Förmlichkeit, sobald ich es mit Häuptlingen zu tun bekam, die von der europäischen Kultur schon etwas mehr beleckt waren, namentlich in Südtransvaal. Es fehlte gelegentlich nicht an belustigenden Szenen. - Ganz modern gesinnt äußerte sich die Königinmutter in Sekukunisland, die augenscheinlich eine Frauenbewegung gegen die geheiligten sozialen Ordnungen ihres Stammes hervorrufen wollte. Sie beklagte sich nachdrücklich über die Faulheit der Männer, die nicht hacken wollten und die dann noch unzufrieden wären, wenn die hackenden Frauen, die den ganzen Tag in den "Gärten" sein müssten, sie nicht genügend mit Essen versorgten. - Mit herzerfrischender Offenheit redete mich eine andere alte Dame an, die heidnische Mutter eines christlichen Häuptlings. Sie äußerte, als sie mich begrüßte, sehr vergnügten Gesichts einige Worte, die alle in Heiterkeit versetzten. "Was hat sie gesagt?" fragte ich den Missionar. "Du bist die Glatze", war die Antwort. Was sollte ich darauf erwidern? Der Wahrheitsbeweis für ihre Behauptung war vor jedermanns Augen.

Als ich nach Bowenda kam, hieß es zum ersten Male die Wagenfahrten aufgeben und zu Pferde steigen, um in dem Gebirge, das nur wenige wirklich gut ausgebaute Straßen hat, vorwärts zu kommen. Auch später bin ich nur im Gebirgsland - im Holzbusch und östlich davon in Sekukunisland - tagelang zu Pferde gewesen. Ich will keine Betrachtungen darüber anstellen, dass es nicht so einfach ist, mit 50 Jahren seine ersten kavalleristischen Übungen zu machen - ich bin aber meinem Reitlehrer in Berlin dankbar, dass er mir vor der Reise wenigstens die Elemente der Kunst noch beigebracht hat -, auch nicht über die Verschiedenartigkeit der Rosse, und dass es barmherziger ist, auch dem Anfänger in der Kunst ein frisches Pferd zu geben als ein sanftmütiges, das aber nur noch auf steifen Beinen durch die Gegend stapft. Aber zweierlei will ich doch aussprechen. Zunächst will ich meiner Bewunderung Ausdruck geben für die Pferde in Bowenda. Alle Pferde in Nordtransvaal, die als vollwertig gelten, unterscheiden sich von den unsrigen dadurch, dass sie "gesalzen" sind, d. h. die südafrikanische Pferdekrankheit überstanden haben. (Darum gibt es auch so wenig Pferde im Lande, und man benutzt sie meist nicht als Zug-, sondern nur als Reittiere.) Die Pferde in Bowenda aber unterscheiden sich außerdem auch von ihren afrikanischen Geschlechtsgenossen dadurch, dass sie zwei Naturen haben. Im Tal sind sie gewöhnlichen Pferden gleich und können sich brav strecken; wenn es aber Berge hinauf- und hinabgeht, offenbaren sie Katzen- und Ziegennaturen, wie man will; sie klettern wie diese Tiere. Als es das erste Mal einen Berg von einem ganz ungewöhnlichen Böschungswinkel hinuntergehen sollte, dachte ich: mich soll es wundern, wo und wie die Pferde hier den Abstieg bewerkstelligen werden und ob sie nicht einfach streiken werden. Aber siehe da, es ging. Vorsichtig Schritt für Schritt. Jetzt eine richtige Felsplatte. Das Pferd zieht die vier Füße auf dem kleinen Raum zusammen, sondiert ein wenig mit vorgestrecktem Hals und steht mit allen vier Füßen auf der nächsten Platte. Auf ein wenig Rutschen kommt es unter Umständen auch nicht an. Lass ihm seinen Willen, und es trägt dich mit völliger Ruhe Bergwege hinab und hinauf, die du für absolut gar keine Wege hältst. Ich habe nachher erklärt: "Gebt mir solch ein Pferd in Berlin, und ich will die drei Treppen zu meiner Wohnung hinauf- und hinabreiten, obwohl ich kein alter Reiter und erst recht kein Kunstreiter bin."

Es läge nahe, noch über einige Reisegebiete besonders zu sprechen. Namentlich das reizvolle Natal mit seiner alpinen Landschaft im Westen, seinem buschbestandenen Hügellande in der Mitte und dem östlichen Küstengürtel mit dem feucht-heißen Klima, in dem Zuckerrohrplantagen gedeihen und die Palmen im Freien wachsen wie im Inlande erst nördlich der Zoutpansberge wieder, könnte zu weiteren Landschaftsmalereien Anlass geben. Aber ich will den Leser nicht durch geographische Schilderungen ermüden. Ich will vom Reisen reden und nicht von Landschaften. Eins aber muss ich aus Natal erwähnen. Mit den gefürchteten vollen Flüssen habe ich glücklicherweise auf der Reise fast nie zu tun gehabt - es wäre auch schlimm für mich gewesen, denn überflüssige Zeit hatte ich nicht -, aber in Natal habe ich einmal einen vollen Fluß getroffen und mich amüsiert über die originelle Art, in der man sich zu helfen weiß, wenn "das Wasser abkommt". Ein Drahtseil war über den Buschmannsfluss gespannt. An einer darauf laufenden Rolle hing eine kleine Kiste, die gerade Raum für vier nebeneinandergelegte Menschenbeine bot. Während die nackten Schwarzen die Pferde durch den vollen Fluss ritten, setzten wir uns einzeln, jedes Mal mit einem Eingeborenen zusammen, in die Kiste, und er zog uns an dem Drahtseil hinüber.

Ein Kapitel vom Reisen will ich noch besonders behandeln, das für den Reisenden nicht ohne Wichtigkeit ist und in dem er die Leute im Lande auch kennen lernt. Das Kapitel trägt die Überschrift "Nachtquartiere". Ich gedenke der freundlichen Aufnahme bei Holländern und Engländern, der interessanten Abendstunden bei dem Eingeborenenkommissar Mr. Harries in Pokwane, der behaglichen deutschen Häuser der Herren Mülke und Salzmann im Oranjefreistaat, des Herrn Zunckel in Beaulieu in Natal und vieler anderer. Von dem Missionarhaus will ich hier nicht reden, das spare ich mir für später auf. Aber nicht immer habe ich in den Gastzimmern europäischer Häuser logiert. Es gab auch andere Nachtquartiere.

Als ich zur halben Nacht in Ennersdale ankam - unser Zug hatte starke Verspätung gehabt, da ein entgleister Zug, der die Strecke sperrte, aus dem Wege gebracht werden musste -, war der Wagen, der uns abholen sollte, weggefahren. Wir suchten in der Dunkelheit das einzige Hotel des Ortes auf, gingen hinein und suchten, bis wir endlich den Hausdiener fanden. Er hörte unser Begehr, zündete schweigend ein Licht an und führte uns den Korridor zurück, den wir gekommen waren. Als wir uns wieder draußen auf der Veranda befanden und erwarteten, dass er uns ein Zimmer zeigen würde, teilte er uns lakonisch mit, dass jeder Raum im Hause besetzt sei und - ließ uns im Freien. Diesmal ging es noch gut. Mein Begleiter kannte den Bahnhofsvorsteher und klagte ihm unser Leid. Der räumte uns, da der kleine Warteraum von einem jungen Burenehepaar besetzt war, sein Büro ein, gab uns Postsäcke als Matratzen und Kopfkissen, und in unsere Mäntel gehüllt schliefen wir prächtig. Gute Herberge habe ich im Hause manches schwarzen Gastfreundes gehabt. In der Regel waren es die Häuser unserer christlichen Helfer auf den Außenstationen. Es ist mir rührend gewesen, wie sie ihr Bestes taten, dem Gast von jenseits des Meeres jede Bequemlichkeit zu bieten. Schöne Abende habe ich in diesen Häusern verlebt. Wenn das Huhn verzehrt war, das der Wirt gebracht hatte, die farbigen Besucher sich zurückgezogen hatten und nur hier und da noch ein Gespräch oder ein Lied von draußen hereinklang, dann begann bei dem Lichte von ein paar Kerzen, die auf dem Tisch festgeklebt waren, die Unterhaltung mit dem Missionar über die Erlebnisse des Tages, über diesen und jenen, den wir am Tage gesehen hatten, über Altes und Neues in  der Gegend. Endlich wurde das Bett aufgesucht. Für mich war stets eine Bettstelle da. Decken und Kissenbezüge waren sauber. Ich habe in etwa 18 Helferhäusern geschlafen. Nicht einmal habe ich mit den wilden Tieren geringerer Größe zu tun gehabt, die man in Afrika mehr fürchtet als Löwen und Leoparden. Nur einmal schien meinen Begleitern die Sache bedenklich. Sie fragten unseren Wirt aufs Gewissen. Seine Antwort war: "Für die Betten garantiere ich, aber dafür, dass euch in der Nacht aus dem Strohdach nichts auf den Kopf fällt, kann ich keine Bürgschaft übernehmen." So nahmen wir unsere Decken und machten uns auf dem Fußboden der Kirche ein Lager zurecht, wie wir es sonst oft taten, wo kein Helferhaus vorhanden war. - Zweimal habe ich Nachtquartier in kleinen, von Schwarzen verwalteten Kaufläden  auf dem Lande gehabt.   Auch  da wurde  mir  eine Bettstelle besorgt,  die  mitreisenden Missionare  aber machten sich zu meiner Verwunderung ein Lager auf dem Ladentisch zurecht, und wirklich, es ging auch.

Nachtquartiere auf dem Wagen und Quartiere in kleinen ländlichen Hotels habe ich kennengelernt - ein Wirt war ein deutsch sprechender Jude, deren es als Kaufleute eine große Zahl in Südafrika gibt -, aber die schönsten Herbergen auf dem Lande waren die wenigen, die ich in Bowenda unter freiem Himmel beziehen durfte. Die Schwarzen schnitten trockenes Gras und polsterten damit das Lager auf der Erde. Auf diese primitiven  Matratzen  wurden  Decken  gebreitet,  ein mächtiges  Feuer wurde angezündet,  das bis auf den Morgen vorhielt, und nach dem Abendessen, der manchmal lange ausgedehnten Abendunterhaltung und der Abendandacht streckte man sich zur Ruhe unter den Bäumen. Zweimal haben wir unter einem riesigen Baobab (Affenbrotbaum) genächtigt. Das eine dieser beiden Quartiere ist mir in besonders erfreulicher Erinnerung. Wir hatten uns in der Länge des Weges etwas getäuscht. Die Sonne ging unter. Es war gegen sieben Uhr abends und stockdunkel, als wir die Pferde einen steilen Weg hinaufführten und endlich oben in dem Kraal des Tschanganhäuptlings in Tschifawowe anlangten. Trotz der späten Stunde wurden wir freundlich aufgenommen. Der Herr des Kraals geleitete die Tiere mit zur Tränke, die wegen der möglichen Begegnung mit Krokodilen und Leoparden mit geladenen Gewehren aufgesucht wurde. Er lieferte uns Holz, verkaufte uns Mais für die Pferde, und wir durften unseren Lagerplatz in dem Kraal unter dem Baobab zurechtmachen. Als ich ihm nach aller Hilfeleistung für die gastliche Aufnahme dankte, erwiderte er: "Meine Stadt ist deine Stadt." - Nun, seine "Stadt" war, wie ich am nächsten Morgen sehen konnte, zwar wundervoll auf einem hohen Felsen oberhalb des Lewuwu gelegen, zählte aber nur wenige Hütten. Seine Höflichkeit war anerzogene Höflichkeit, aber doch war sie nicht nur eine Höflichkeit des Wortes, sondern auch der Tat.

Ich habe mich der Gastfreundschaft in englischen, holländischen und deutschen Häusern dankbar erfreut. Gern denke ich zurück an den schönen Abend, den ich als Gast im deutschen Klub in Pretoria verlebte, an die "Reception" (Empfang), die mir in Kimberley die Geistlichen und Missionare der verschiedenen Kirchen und Missionsgesellschaften bereitet hatten, an die Stunden auf dem herrlichen Sitz des Herrn Schumacher in Johannesburg, von dem aus wir den schönen Sachsenwald und weit ins Land hinein bis zu den Machaliesbergen schauten, und an manche andere reiche Gastlichkeit. Aber besser und freundlicher konnte es keiner mit mir meinen, als es in den Worten des heidnischen Motonga zum Ausdruck kam: "Meine Stadt ist deine Stadt."


Bruno Gutmann

Im Jahre 1848 erblickten die Missionare Krapf, Rebmann und Erhardt als erste Europäer  den gewaltigen Schneegipfel des Kilimandscharo. Die Berichte, die sie darüber nach Hause schickten, wurden zunächst fast überall in Europa mit Zweifel, ja vielfach mit höhnischem Misstrauen aufgenommen. Dass in Afrika unmittelbar unter dem Äquator ein Berg dauernden Schnee und Gletscher tragen kann, erschien damals auch ernsthaften wissenschaftlichen Kreisen kaum glaubhaft. Selbst Alexander von Humboldt befand sich unter den Zweiflern, ließ sich jedoch nach einer persönlichen Aussprache mit Krapf von der Richtigkeit der Beobachtungen überzeugen. - In den folgenden Jahrzehnten wurde der Kilimandscharo das Ziel zahlreicher Forschungsreisen; doch erst 1889 gelang es dem Leipziger Geographen Hans Meyer, den 6.000 Meter hohen Gipfel zu bezwingen.

An den Hängen dieses mächtigen Berges wohnt  das Bantuvolk der Dschagga. Im Jahre 1893 hat die Leipziger Mission hier ihre Tätigkeit begonnen. Einer der ersten Missionare, die zu Anfang des neuen Jahrhunderts  auf dieses Arbeitsfeld geschickt wurden, war Bruno Gutmann.

Gutmann wurde im Jahre 1876 in Dresden geboren. Er erhielt seine Ausbildung im Leipziger Missionsseminar und wurde 1902 an den Kilimandscharo entsandt, wo er mehr als drei Jahrzehnte unter den Wadschagga gelebt und gearbeitet hat. Wie kein anderer Europäer erwarb er sich in tief eindringender Arbeit eine umfassende Kenntnis dieses Volkes, seines Stammeswesens, des Geistes- und Seelenlebens, der soziologischen Verhältnisse und seiner Rechtsanschauungen. In zahlreichen Werken legte er die Ergebnisse seiner Forschungen nieder, so u. a. im "Dichten und Denken der  Dschagganeger. Beiträge zur afrikanischen Volkskunde", im "Volksbuch der Wadschagga. Sagen, Märchen, Fabeln und Schwanke, den Dschagganegern nacherzählt" und in den beiden umfangreichen wissenschaftlichen Werken "Das Recht der Dschagga" und "Die Stammeslehren der Dschagga". Durch diese Arbeiten hat die Wissenschaft ein vielseitiges und eindrucksvolles Bild von dem Volkstum der Wadschagga bekommen.

Das Eindringen der europäischen Zivilisation hat die afrikanischen Eingeborenen vielfach aus ihren alten Familien- und Stammesbindungen gerissen, ohne ihnen einen entsprechenden Ersatz dafür geben zu können. Auch die Mission hat sich in früheren Jahrzehnten bei ihrer Arbeit von diesem Fehler nicht ganz frei gehalten und kam deshalb mitunter in den Ruf, im Grunde ein Pionier der europäischen Kolonialwirtschaft zu sein. Gutmann weist demgegenüber eindringlich darauf hin, wie notwendig es ist, von den ursprünglichen Lebenszusammenhängen der Eingeborenen soviel wie möglich zu bewahren und für den Aufbau eines volksorganischen Gemeindelebens nutzbar zu machen.

Durch den Bergwald des Kilimandscharo

Bruno Gutmann: Das Dschaggaland und seine Christen. Leipzig, Verlag der Evang.-luther. Mission 1925.

 Der Kilimandscharo ist ein zweigipfeliger Gebirgsstock, der in seinem höchsten Gipfel, dem gletscherumpanzerten Kibo, 6.000 Meter Höhe erreicht. Mit ihm durch den in Montblanc-Höhe laufenden Plateausattel verbunden, erhebt sich der kleinere Kimawensi oder Mavenge genannte Gipfel. Kibo bedeutet der Scheckige, weil aus seinen Eis- und Schneefeldern die grauen Felsenmauern hervorschauen, und Mavenge heißt: der Schartige, Schrundige, denn sein Gipfel ist ein nacktes Felsengerippe, das in unersteigbare Zinnen auseinanderklafft. Dieses gewaltige Gebirgsmassiv ist von einem breiten Aufschuttkegel rings umkleidet und bis weit hinauf durch Steppenvegetation und blütengeschmücktes Buschwerk bestanden, wo der Mensch nicht umgestaltend eingriff.

Jagga-Hütte aus WikipediaAuf seiner Südseite aber sitzt in einer Höhe von 1.100 – 1.800 Meter, das bedeutet also vom Steppenrande bis an den Saum des oberen Bergwaldes, das Volk der Wadschagga und hat durch seine betriebsame Ackerwirtschaft, durch die Bedürfnisse seiner Viehhaltung und seiner Gewerbe diesem Teil des Gebirges durchaus den Stempel einer Kulturzone aufgeprägt. Das Siedlungsgebiet der Wadschagga wird immer mehr ein einziger großer zusammenhängender Bananenhain, über den hinaus sich nur die Kronen jener Steppenbäume als Glieder und Zeugen ehemaliger Wildflora erheben, die auch schon im Kampfe mit den Buschgenossen geringere Eigenkraft gut durch größere Schmiegsamkeit, schwammige Schnellwüchsigkeit und reichere Vermehrungsmöglichkeiten ausglichen und so auch hier das Heer der Schmarotzer vermehren, das des Menschen herrische Willkür aus dem Tier- und Pflanzenreiche sich zu ungerufenem Gefolge gewinnt.

Nur die tiefsten Täler, welche zugleich Landschaftsscheiden waren, lassen noch jetzt Steppenflora und Hochgebirgspflanzen ungetrennt sich begegnen. Denn auch da, wo busch- und baumbestandene Gründe jetzt die Landschaften durchziehen, zeugen verkümmernde, verlorene Kulturbananen und verwilderte Drazänengehege davon, dass hier schon die Natur unter dem Joche des Menschen lag, den Krieg und Hunger - vor Jahrzehnten erst - dann wieder vertrieb.

Aber unter dem Schutze der Weißen erholen sich die Wadschagga schnell und gewinnen durch Neusiedlung und vermehrte und ausgedehntere Ackerbestellung jährlich mehr von dem verlorenen Boden zurück. Immer größere Bedeutung gewinnen darum auch wieder die offenen Lebensadern des Landes, seine von den Vorfahren angelegten großen Kanäle, die mit bewundernswerter Sicherheit und Geschicklichkeit vom Berglande her an den Talwänden entlanggeführt werden und sich dann in den Bananenhainen und Feldern verästeln.

Mit hellem Schwatzen kam uns auch eine solche Wasserader entgegengeflossen, als wir, von der Missionsstation Nkarungo in Ostmadschame ausgehend, die letzten höchsten Bananenhaine der Wadschagga verließen und nun in die Farnkrautzone eintraten, die einige hundert Meter hoch ist und in oft stundenlanger Breite den eigentlichen Berghochwald von der Kulturzone trennt.

Noch gehen wir auf den Eingeborenenpfaden. Aus den flechtenbewimpelten Waldwänden vor uns steigen hier und da dünne, blaue Rauchsäulen auf. Dort sind Dschaggaköhler an der Arbeit, die für das Schmiedegewerbe nötigen Holzkohlen zu brennen. Wir selber aber wandern noch zwischen dem mannshohen Adlerfarn, der mit graugrünem Schimmer das ganze Vorwaldgelände überkleidet. Nur niedrige dunkle Strauchgruppen punktieren den Teppich. Aber zwischen den krautigen Farnstengeln, die der Sonne nicht wehren können, wächst lichtdurstiges Heidekraut und drängt sich als lieblicher Saum an den schmalen Weg. Wie ein trauter Gruß der Heimat sieht es mit seinen überaus zarten und kleinen Blütenrispen uns an. Die robustere weißblühende Erika aber hat sich ganze Plätze freigekämpft und gleicht mit ihrer geschlossenen Zypressenform im haltlosen Wedelmeere den Wacholdergruppen im Schmerlengrase der Kiefernwälder.

Männer und Frauen begegnen uns mit schweren Holzlasten auf dem Kopfe. Andere bündeln am Wege die Farnwedel in lange Traglasten zusammen, denn damit belegen sie den Boden ihrer Hütten und polstern sie ihre Schlafstätte.

Beim Aufwärtssteigen stößt unser Fuß unversehens an große Baumwurzeln, die noch unzerstört aus dem schwarzen Erdboden hervorschauen. Die starken Stümpfe bezeugen uns, dass auch hier einst der Hochwald ragte und dass die Menschen höher siedelten, die ihn niederschlugen. Die älteste Wohnstätte der Madschamehäuptlinge liegt über der gegenwärtig bewohnten Landschaft, und im Buschrande des Moschi-Urwaldes hat Missionar Raum die breiten, meterhohen Ringmauern von Höfen entdeckt, deren Erbauer kein Name mehr nennt. Furcht vor Feinden hat sie in diese kargere und kältere Gegend emporgetrieben. Als sie durch Verschmelzung mit tüchtigeren Volkselementen selbstbewusster wurden und in die wärmeren Striche niederstiegen, überließen sie Felder und Wiesen wieder der beraubten Natur. Und nun ersah das Farnkraut seinen Augenblick, denn die unmittelbare Entfaltung aller Kraft im günstigen Zeitpunkte und das geduldige Zuwarten darauf ist die Stärke des Schwachen. Jahrzehnte- und jahrhundertelang führt der Adlerfarn ein unbedeutendes und lichtbetrogenes Dasein, nur eigentlich in seinem Wurzelfilze lebend und wachsend, bis ihn Sturz und Vernichtung der Großen segnet und er alle aufgesparten Lebenskräfte mit einem Male in schmächtigen und strohigen Stengeln nach oben jagen kann, gierig sich die Alleinherrschaft auf dem freigewordenen Platze erwuchernd.

Aber der Wald würde sich vom Berge her und aus den Flusstälern empor wieder erneuert haben, auch auf dem durch Sonnenbrand und Regenwäsche verelendeten Boden, wenn nicht die Eingeborenen durch alljährlich erneuerte große Brände allen Waldanflug im Keime erstickten. Hoffentlich kann durch die nun auch am Kilimandscharo eingerichtete Forstverwaltung dieses sinnlose Treiben nachdrücklicher als bisher bekämpft werden. Vielleicht gibt sich ihr auch Gelegenheit, in diesem Farnmeere Parzellen aufzuforsten als Hilfspunkte für eine natürliche Wiederbewaldung. Denn Schaffung und Vergrößerung eines Waldbestandes ist eine Hauptnotwendigkeit für die Kolonie.

Die zum Teil außerordentlich gute Bewässerung des Kilimandscharogebirges ist nicht durch die Schmelzwässer der Schneehaube und der Gletscher des Kibogipfels allein bedingt. Die von dort oben her durchsickernden Quellen würden nicht ausreichen, den Kulturbestand einer einzigen Landschaft zu erhalten. Sondern der von 1.900 Meter hoch und stellenweise viel tiefer ansetzende dichte Urwald, der in seinen Baumheidebeständen bis weit über 3.000 Meter an den Bergwänden emporklettert, ist das gewaltige Wasserhaus und die nicht genug zu segnende Vorratskammer der edelsten Gottesgabe unter dem Äquator. Hier entstehen alle Bergbäche, die in den zahlreichen tiefen Schluchten zur Steppe hinunterstürzen und die Kanäle der Wadschagga füllen.

Das konnten wir unmittelbar spüren, als wir endlich den Waldrand erreichten und aus der schattenlosen Farnzone in seine kühle Dämmerung eintraten. Nicht nur Schatten erquickte uns, sondern der außerordentlich hohe Feuchtigkeitsgehalt der Pflanzendecke verbreitete ein fröstelndes Behagen. Schon vor dem geschlossenen Walde grüßten uns als vorgeschobene Posten flechtenbehartete, sturmzerzauste Bäume und belebten unser Waldverlangen. Aus den Talsenkungen hoben sich uns auf meterhohen schwarzbraun umschildeten Stämmen die riesigen und doch so zarten Wedel des Baumfarn entgegen, und eine gewaltige Kilimandscharo-Lobelie stand mit ihrem grüngenarbten Stamme und der hohen Kolbenspindel, die die Blüte enthält, auf einer Erhöhung vor dem Waldtore, so stramm, als sei sie die lammfellmützengeschmückte Schildwache vor einem Königsschlosse. Unsern Dschaggabegleitern aber war sie das Bild der Faulheit, denn so gerade stehe unter den Menschen nur, wer sich der Arbeit entschlägt.

Aber im Walde selbst, in dieser hier unten noch so drängenden üppigen Lebensfülle, die doch zugleich in rastlos erbittertem Kampfe um Sonne und Atem alles so unentwirrbar durcheinander geschlungen und geschoben hat, bleibt das Auge erst am Kleinen und Lieblichen haften. Zwischen dem Heere der Kräuter und Gräser drängt sich eine Fülle lachender, sonderbar geformter Balsaminen an den Weg: purpurrot mit gelben Tupfen die einen, einfarbig karmesinrot die andern. An sumpfigen Stellen treffen wir Riesen ihres Geschlechtes, 1½ Meter hoch und im Bau unsern Gartenbalsaminen ähnlicher, aber ihre weißen Blüten haben einen eigentümlichen Geruch. Eine noch größere Überraschung wird uns, wenn wir den Spender des süßen Duftes festzustellen versuchen, der diesen ersten Wald erfüllt. Es sind die hellen Girlanden einer zierlichen Begonie, die sich überall an den moosumsponnenen Lianen und Stämmen emporrankt. Riechende Balsaminen und duftende Begonien, fast will es in Deutschland noch niemand glauben.

Baumfarnzone wird dieser erste, untere Teil des Bergwaldes genannt, denn der Baumfarn beherrscht zuerst eine Stunde tief das Waldbild. Von ½ Meter Höhe bis zu acht Metern empor stehen sie in allen Etagen neben- und übereinander. Ihre geraden, schuppigen Stämme sind von Luftwurzelnetzwerk umsponnen und bieten Moosen und grauen Flechten einen bequemen Siedlungsort. Die Riesenwedel aber Schilden sich übereinander und lassen den Himmel nur wie ein zartes blaues Gitterwerk hindurchfallen. Märchenhaft genug ist der Anblick besonders dort, wo sich unter dem Einfluss wildverworrener, moosumsponnener Lianen phantastische Grotten unter diesem duftigen Farnwedeldache gebildet haben. Eine unsagbar schöne Vollmondnacht habe ich einmal hier erlebt. Auf dem schmalen, wurzelüberzogenen Wege stand das Zelt mitten unter dem Gewirr der hohen Baumfarne und moosgepolsterten Schlingpflanzengrotten, über denen sich nur vereinzelte Bäume erhoben. Das magische Mondlicht verwandelte alles in einen Zaubergarten, und der Eindruck wurde noch gesteigert, als viele Zikaden auf den Büschen zu rufen begannen. Das klang wie ein lautes, warnendes "Pst, Pst!". Bald fingen auch die Baumschliefer an zu schnalzen, und von nahen und fernen Bäumen klang es "scheckdigex ex ex" die ganze Nacht hindurch.

Allmählich nahm dieses Märchenreich ein Ende, und wir betraten den eigentlichen Hochwald: prächtige Laubbäume von geradem, starkem Wuchse, das junge Holz überall in Familienverbänden beieinander und darunter. Dazwischen überall noch mannshohe Sträucher, Brombeerranken und Baumfarnfamilien. Noch einmal heften wir den Blick voll Teilnahme auf diese moosigen Farnbäume. Und da beseelt sich für uns auch ihre äußerliche Schönheit. Mitten im harten Daseinskampfe zeigen sie uns den Friedens- und Helferbund zweier schwacher Geschöpfe. Die nach oben sich abspreizenden Schuppen der braunen Stämme fangen das Wasser für die unzähligen Luftwurzeln der Pflanze auf, und Moose und Flechten nehmen gern den ihnen dabei so bereitwillig gebotenen Haltepunkt und Unterschlupf an, und mit ihrer Gabe, die Feuchtigkeit der Luft und ihre nährenden Elemente auch ohne Nebel- und Regenbildung zu assimilieren, dienen sie auch dem freundlichen Wirte und zahlen ihm mit Wasser und der Luft entrissenen Nahrungsstoffen den Bundeszins, ganz ungeachtet dessen, was nur äußerlich an mineralischen Bestandteilen an ihnen hängenbleibt und dem Farn zugute kommt.

Aber an den steiler werdenden Hängen zeigt sich uns nun überhaupt ein gesunderes, freigewordenes Pflanzenleben.

Der Weg führt steil auf einem Grate nach oben, - in mühseliger Arbeit durch Dr. Jäger gefunden, der zum Studium der Gletscher zum ersten Male einen Anstieg durch diesen Wald geschaffen hat, - rechts und links stürzen tiefe Täler ab, an deren Hängen sich allmählich auch der Cusobaum zeigt, mit eschenartig gefiederten Blättern geschmückt und einer glatten, platanenartig sich abblätternden Rinde am Stamm. Und von seiner Krone hängen in Hunderten die roten Blütentrauben herab, wie riesige Syringenbüschel geformt. Sie spielen in der Arzneikunde eine bedeutende Rolle und konnten bisher nur aus Abessinien bezogen werden. Hier sind sie bis jetzt nur ein lieblicher Schmuck zwischen Flechten-grau und dunklem Blattgrün der Wipfelflächen. Über gestürzte modernde Baumstämme und heimtückisch im Moose verborgene Wurzeln geht es auf schmalem Pfade immer steiler nach oben. Unsagbar still ist es. Nur manchmal hört man ein Wässerlein zu Tal plätschern.

Sträucher und Gräser verlassen uns mehr und mehr, und allmählich tritt das Moos immer üppiger die alleinige Herrschaft auf dem Boden an. Und die Baumfarne klettern nur noch in den geschützten Tälern an den Seiten des Aufstiegs mit.

Dafür kommen uns schon die Erikabäume entgegengestiegen: Riesen ihres Geschlechtes bis zu 30 Zentimeter Stammdurchmesser und einer Höhe bis zu zwölf Meter. Sie mischen sich mit den Laubbäumen und den Bergwaldkoniferen. Denn auch eine Konifere ist hier vertreten und macht uns den Wald noch anheimelnder. Es ist eine Podokarpusart mit weidenartigen schmalen Blättern. Ich sah herrliche Exemplare. Wie eine Tanne stieg der Stamm kerzengerade in die Höhe, ganz glatt bis zur obersten pyramidalen Krone, die ganz und gar von Bartflechten umsponnen war, die zierlich im Winde wehten. Bei etwa 2.600 Meter Höhe nehmen uns schon reine Erikabaumbestände auf, und Podokarpus und Cusobaum behaupten nur noch die Talgründe.

Und dieser mittlere Erikabaumwald ist nun wieder eine Welt für sich mit ganz eigenartiger und zauberhafter Schönheit. Die Baumfarnzone hatten wir Märchenwald genannt. Als ich später noch einmal bis hierher mit einer Missionsfamilie den Aufstieg machte, fand die kluge neunjährige Martha für diese schweigende, sonderbar heimliche Welt den Namen und nannte ihn den "verwunschenen Wald".

In dem Erikabaumwald steht Baum an Baum, von oben bis unten dick mit braungrünem Moose umhüllt, das sich an vielen Stellen in drei- bis vierfachen Ringen auswulstet, und der Boden ist mit schwellenden Moospolstern überdeckt, und aus dem Dämmer des Waldes grüßt hier und da eine leuchtende rote Gladiole. Zwischen den Stämmen sieht man sonderbare Moossessel, zu denen sich die Stümpfe umgebrochener Bäume verwandelt haben, weil sich auf ihnen eine breite überhängende Mooskolonie niederließ. Lässt man sich aber zum Sitzen einladen, dann geschieht es wohl, dass man überrücks mit dem Sessel ins Moos purzelt und sich erschrocken umschaut, ob nicht ein schadenfrohes Zwergengesicht zwischen den Stämmen hervorlacht. Bis an die Knöchel sanken wir nun in das Moos ein und gingen wie auf schwellenden Polstern. Stellenweise war es edelweißfarbenes Sternmoos, so dass wir uns schon der Illusion hingeben konnten, in weichem Schnee zu wandern.

Am späten Nachmittag erreichten wir endlich unser erstes Ziel, das von uns so genannte "Heidelager" - durch Dr. Jäger angelegt - in einer Höhe von 2.700 Meter. Es ist eine kleine, waldumschlossene Blöße.

Wir schlugen unser kleines Askarizelt auf, das, eigentlich nur von eingeborenen Soldaten benutzt, an der Eingangsseite keinen Schutz und Abschluss hatte und gerade für uns drei Europäer Raum zum Schlafen bot.

Die Träger bauten sich aus Erikabaumzweigen Schlafhütten, die sie mit dicken Moospolstern überdeckten, so dass es jedenfalls wärmer und behaglicher darin war als in unserm Zeltchen. Das Moos ließ sich in großen und dicken Lagen vom Boden ablösen, ohne zu zerreißen. Wir bauten uns auch Moosbänke aus ihnen, die, mit Decken überkleidet, einen herrlichen Sitz boten. Vor jeder Hütte wurde nun ein Feuer unterhalten, denn es begann empfindlich kühl zu werden. Ein dicker Nebel stieg uns nach, und bald umhüllte uns das tiefste Schweigen in diesem Walde. Da wurde das lustig flackernde Feuer der beste Tröster für schwarz und weiß. Und als wir uns so am Feuer wärmten und drehten, damit jede Körperseite zu ihrem Rechte komme, gab ein Dschagga ein Rätsel auf: "Was ist das Schönste im Urwalde?" Und die Lösung war: "das Feuer". Auch die andern bedauerten, dass sie dieses schöne Brennholz nicht unten im Lande hätten. Erikaholz ist so kienig und harzig wie das beste Föhrenwurzelholz. Wie Wasser floss das Harz aus den brennenden Scheiten und entwickelte große Blasen, an denen die Flammen gierig leckten.

Wir gaben am Abend alle Decken an die Leute aus, so dass jeder Mann drei Stück bekam, dazu auch Strümpfe an die Füße, so dass sie nicht erfrieren konnten. So haben sie ganz vergnügt die Nächte verbracht, ohne über Kälte zu klagen. Unsere offene Zeltseite schützten wir durch vorgelegte Erikaäste. Das mutete dann ganz weihnachtlich an, wenn man von seinem Mooslager aus sah, wie zierlich und klar sich das Blatt- und Astwerk vom Scheine des Feuers im Hintergrunde abhob. Das Laubwerk dieser Erikabäume ist genau so beschaffen wie unsere Strauchheide.

Es lohnt sich auch in dieser Höhe, auf die kleine Flora zu achten. Da fand ich zwischen Moos und Farnen ein herrliches Vergissmeinnicht, größer und schöner als heimisches Sumpf Vergissmeinnicht; weiße Glockenblumen nickten mir zu, und blaublühendes Immergrün stand zwischen dem langen, dünnen Waldgrase. Auf den Felsplatten im Bachbette leuchteten die Rosetten eines Steinbrech, die in ihrer Mitte eine gelbe Sternblüte tragen. Wir nannten ihn deshalb Goldstern. Ganz entzückend waren echte Veilchen, die sich über dem edelweißähnlichen Moose hinrankten. Schlangenmoos bäumte sich aus dem Kreise seiner niedrigen Genossen empor, und Bärlapp kroch über sie hin.

Kräftige Stauden der Riesenengelwurz standen in Gruppen auf den höheren Waldblößen, und ihre Blütendolden dufteten süß und würzig. Das eigenartigste und schönste Gebilde aber sind die Riesenlobelien. Ich fand eine Blüte davon, und wir bewunderten das herrliche Meisterwerk der Schöpfung. Es ist ein Schaft von etwa 80 Zentimeter Höhe; aus ihm kommen die großen enzianblauen Lobelienblüten hervor, jede von einem halbmondförmig gebogenen Schutzblatte völlig überhelmt, so dass das Ganze aussah wie eine runde Pyramide von großen Zellen, die blau ausgeschlagen sind, ein reizender Anblick.

Verschiedene meiner Leute bewiesen den Pflanzen Teilnahme auf ihre Art. Sie gruben den hier oben in prachtvollen Exemplaren wachsenden Wurmfarn aus und nahmen seine Wurzelstrünke als hochbenötigte Arznei mit nach Hause.

Am andern Morgen brachen wir um sieben Uhr auf und marschierten wieder bergan. Es war ein herrlicher Gang durch den morgenfrischen Wald. Unhörbar glitt der Fuß über den Moosteppich. Nach kurzer Zeit kamen wir auf eine Waldblöße, die uns den ersten Blick auf das "Bergschloss" - eine Berggruppe der Schirakette - freigab. Da ist uns das Herz aufgegangen. Wir fühlten uns im heimischen Waldgebirge. Die grasige Blöße war umrahmt von kiefernartigen Erikabäumen, und dort, wo sie sich zu Tale senkte, sprang ein besonders hoch und schön geformter Erikabaum wie eine Tanne vor. Im Glänze der Morgensonne sahen wir hinter jenem Tale einen gewaltigen Bergrücken neben dem andern sich ins Dschaggaland niedersenken, alle dicht überzogen von Erikawald, und über ihnen die freien, seltsam geformten Felsenzinnen.

Kibo aus WikipwsiaWir mussten nun manchmal auf Händen und Füßen klimmen, und die Unermüdlichkeit unserer Leute, die mit ihren Lasten auf dem Kopfe hier die Dreitausendmetergrenze überschritten und ohne Klagen aufwärts strebten, war bewundernswert. Der Pfad kletterte wieder einen schmalen Grat zwischen tief und steil abfallenden Tälern hinan, aber so hoch wir auch kamen, immer begleitete uns noch der Erikawald mit seinem herrlichen Moosgrunde, doch wurden die Bäume nun niedriger und das Gelände offener, so dass wir manchen Blick in die schauerlich tiefen Waldtäler und die Berge tun konnten. Hier sahen wir auch manchen Berg dem Kibo vorgelagert, den man vom Dschaggalande aus gar nicht erkennen kann, weil sie tief unter dem Schneehaupte des Kibo nur wie ein dunkles Brusttuch hängen. Einen nannten wir nach seiner Form den Löwenkopf, den andern den Leopardenrücken. Wenn nicht gerade Wolken über dem Dschaggalande hängen, ist die Aussicht nach unten besonders prachtvoll. Sie erschließt sich in dem sogenannten Brandlager der Naturforscher, 3.200 Meter hoch, wo durch Unvorsichtigkeit landfremder Träger ein Waldbrand auskam. Wir sahen da die Stationen der Europäer im Westen des Gebietes auf einmal, soweit sie überhaupt Wohnstätten haben, die bis hier herauf Sonnenlicht reflektieren können. Die Steppengebirge liegen wie Erdhaufen auf der ungeheuren blanken Steppenfläche, und die Wolken über ihnen erschienen wie riesige Wundertiere, die darüber hinkrochen. Und am Horizonte tauchten immer neue Flächen und Berge auf, bis man zuletzt im Zweifel war, ob das des Himmels Blau oder der Erde Zacken wären.

Von diesem Brandlager aus entwickelte sich allmählich vor uns das eigenartigste Landschaftsbild, das ich je gesehen habe. Die Erikabäume wurden noch niedriger und neigten sich alle nach einer Seite, zur Erde geduckt wie die Legföhren im heimischen Gebirge. Ein steiles Klippengelände ragte in den tiefblauen Himmel hinauf, und zwischen den Blöcken und Felsmauern blühten in dicken Büscheln die weißen, silbergrau belaubten Strohblumen und standen wie geharnischte Ritter die seltsamen seneciones Johnstoni. Um den 2 Meter hohen hölzernen Schaft hängen die abgestorbenen Blätter wie ein dicker brauner Mantel, der nach oben immer dichter und breiter wird, und über ihm erhebt sich dann der schmale lebendige Blattkranz aus zähen, lederigen und mit grauem Haarfilz bedeckten Blättern. Das Ganze sieht wahrhaftig einem frostigen Sonderlinge nicht unähnlich, der sich vom Fuße bis zum Kopfe in dicke Tücher eingewickelt hat, und zwar um so dicker und umfangreicher, je näher es der Gurgel geht. Zwischen diesen Sonderlingsregimentern in aufgelöster Ordnung stehen Büsche der verkrüppelten Heidebäume und blüht noch ein seltsamer, ginsterartiger Strauch mit gelben Korbblüten. Statt der schwellenden Moose schimmert nun der graue Staubboden zwischen den flechtenbesiedelten Felsen, übersät von Steingeröll, unter dem ein glänzend schwarzes Gestein, vielleicht glasflussartiger Phonolith, besonders auffällt. Wenn nun noch, wie das bei unserm Aufstiege der Fall war, die Nebel an diesen Hängen emporjagen, so gibt dies ein so phantastisches und doch zugleich so streng stilisiertes Landschaftsbild, wie man es schwer wiederfinden wird.

Um elf Uhr hatten wir endlich den obersten Rand dieses Steilhanges und damit unser Tagesziel erreicht.

Eine neue Welt tat sich vor uns auf: das starre, eherne Hochgebirge. Im Osten stand greifbar nahe der Kibo mit all seinen Gletschern, Schneefeldern und den gelblich und rötlich schimmernden Felsenzinnen. Das war ein Anblick, der nicht zu beschreiben ist. Im Westen hob sich der Meru mit seiner Krone aus dem Wollenmeere, das sich über Steppe und Dschaggaland gelagert hatte, und ganz nahe bei uns standen die Zinnen der Schirakette. Zwischen sie und den Kibo aber schiebt sich eine Hochebene ein, mit Millionen von Steinblöcken und Felsen übersät, je dichter, je näher sie dem Kibo anliegt.

In unserer Steinburg, dem sogenannten Plateaulager, war auf einem Felsblocke noch das Steinmal zu sehen, das Dr. Jäger mit seinem Begleiter aufgerichtet hatte. Außerdem banden wir an meinen Bergstock noch ein weißes Tuch, um unser Lager weithin kenntlich zu machen. Hinter einem Felsüberhange, einigermaßen gegen den scharfen Wind geschützt, ließen wir unser Zeltchen aufschlagen. Dann trugen die Leute noch Brennholz aus den Klippenhängen herauf, denn hier oben gab es nur Flechten, Strohblumen und hier und da ein Grasbüschel. Dann schickten wir die Leute in das Brandlager zurück, denn hier oben hätten sie die Kälte nicht ausgehalten. Wir gaben ihnen noch die strengsten Anweisungen, mit dem Feuer vorsichtig zu sein und keinen Waldbrand zu entfesseln. Sie wären aber gar zu gerne bei uns geblieben, ja einige bettelten darum, am andern Tage mit nach dem Kibo hinaufsteigen zu dürfen.

Ununterbrochen stürmt es hier oben. Wenn von ferne wieder eine solche Windwelle herangebraust kommt, glaubt man Wasser in den Tälern rauschen zu hören, und freudig horchten wir das erste Mal auf diesen Klang. Aber es ist tatsächlich nur Wind, der so an den Felsblöcken wetzt und schleift.

Obwohl die große Regenzeit eben erst vorüber war, fand sich da oben nur trockener Staub. Wir hatten uns auch vorsichtigerweise aus dem Brandlager Wasser mitgenommen. Das einzige Wasser, das oberhalb des Bergwaldes seinen zutage liegenden Ursprung nimmt, ist der Weriweri, der durch ein Gletschertor unter den freien Himmel tritt.

Eine unschätzbare Bedeutung hat der Kibo aber freilich trotzdem für die Bewässerung des Landes. Er ist ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt für die flüchtenden Wolken. Hier oben war man versucht, an ein bewusstes Leben der Wolken zu glauben, wenn man sah, wie ein Wolkenheer um das andere auf den alten Herrn zueilte, um ihn her spielte, an seinen Felsen emporstiebte, zurückfloh und wiederkam. So zierlich war der Tanz oft, wie ein Elfenreigen.

An diesem Tage versuchten wir noch an das andere nördliche Ende der Steinwüste zu gelangen, aber das war nicht möglich, denn hinter jeder Schlucht tauchte eine neue auf, und immer größer wurde die Mühsal, so dass wir wieder umkehrten, um noch vor der Nacht im Lager zu sein. An diesem Tage sahen wir die ersten Schneegruben unter uns. Der Abend brachte uns noch einen außerordentlichen Genuss. Unter uns lagerte ein unabsehbares Heer von Kumuluswolken, wie eine Bergwelt für sich mit tiefen, gewundenen Tälern, schneeweiß und dann von der scheidenden Sonne mit lieblichen Farben überhaucht.

Die Nacht wurde kalt und beschwerlich, denn Zelt und Fels schützen nur schlecht gegen den schneidenden Nordwind, und das Atmen fiel schwer in dieser Höhe. Mit großer Freude wurde am andern Morgen die leichte Eisdecke auf dem Wasser im Eimer begrüßt und den Berggenossen jubelnd ein Stück davon ins Zelt hineingeworfen. Mit vieler Mühe wurde unter den verblassenden Sternen ein Feuer angezündet und ein frugales Frühstück hergerichtet. Um dreiviertel sechs Uhr brachen wir aus unserer Felsenburg auf. Über uns stand kalt und starr der tiefblaue noch nächtliche Himmel, aber die Welt unter uns war mit einem Wolkenmeere überdeckt. Wir gingen unmittelbar nach Osten, der Sonne entgegen, aber erst um sieben Uhr kam sie uns zu Gesicht. So lange gingen wir im Schatten des Kibogipfels, während seitwärts alles schon im Sonnenglanze strahlte.

Tot schien die Welt hier oben in 4.000 Meter Höhe. Aber während wir zwischen all den Felsblöcken emporstiegen, flog doch hier und da ein Vöglein auf, ohne Laut, als scheue sich's in dieser Einsamkeit vor der eigenen Stimme.

Antilopenspuren liefen über das Geröll, Spinngewebe und Erdlöcher zeugten von Leben in dieser Höhe. Nach einstündigem langsamem Steigen hatten wir den Höhenkamm erstiegen, der uns scheinbar nur noch vom Kibo trennte. Aber nun gähnte zwischen uns und dem Berge wieder ein tiefes Tal, und an seinem jenseitigen Rande starrte es von Felsenzinnen. Weiter oben sahen wir eine schmale Geröllhalde niedergehen, dort war der einzig mögliche Übergang. Dahin strebten wir nun, indem wir an dem Talhange zwischen riesigen Felsblöcken entlang kletterten, oft auch über schmutziges Eisgehänge, und als wir der Talsohle näher kamen, schimmerte es auch von dorther weiß empor: ein gefrorenes Rinnsal. Eisig kalt pfiff uns der Sturm entgegen, und Nase und Ohren schmerzten. Nach drei Viertelstunden erreichten wir die Halde, die ostwärts nach dem Berge emporführte. Hier schloss sich das Tal in steilen Felswänden mit tiefen Höhlen zusammen.

Überall kann auch hier der Laie erkennen, dass einst die Eismassen viel tiefer herabgereicht haben müssen. Die Höhlen sind von ihnen ausgelaugt, die Talsohlen glattgeschürft worden, und Geröllmassen haben sich an den Talkämmen abgesetzt. Da steht ein riesiger Felsblock wie ein Keil mit der Spitze nach unten auf einige kleinere Steine aufgebaut, wie es sich beim Abschmelzen und Niedersinken fügte, so dass es nun aussieht, als hätten Riesenkinder in spielerischer Laune das seltsame Werk getan. Auf der linken Talseite hebt sich eine lange Reihe Steingruppen in den blauen Himmel hinein, und mit einem Male hat man den Eindruck: das ist ja eine gewaltige Prozession. Kamele sieht man über dem langen Zuge, und Reiter zwischen ihnen, und um sie her das drängende Volk. Ja, ein Thronhimmel wird in der Mitte getragen, und Pilgerkapuzen und Jesuitenhütlein wandern vertraut nebeneinander, und verhutzelte Riesenmännlein schließen den stolzen Zug.

Aber wir dürfen nicht weiter phantasieren, denn nun überschreiten wir das Tal, und der Aufstieg beginnt. In der dünnen Luft arbeitet das Herz hörbar, der Kopf schmerzt, und bei jedem Schritte rutscht man in dem haltlosen Geschiebe zurück.

Endlich sind wir oben. Vor uns dehnt sich eine breite Mulde, aus deren Mitte sich eine prächtige Lavaburg erhebt, und hinter ihr steht der Kibo in unbeschreiblicher Pracht, nach Süden aber stürzt sie scheinbar in den Himmel hinein. Wir wanderten nun nach dem Nordwestgletscher empor, der uns am nächsten erreichbar schien und aus dessen Tore uns die Quelle des Weriweri mit milchfarbenem, seifigem Wasser entgegen floss.

Haushoch türmten sich am Ziele die Eiswände vor uns auf in schimmernder Pracht, grün, azurblau und blendend weiß, und darüber schob sich die dicke Schneehaube. An der einen Seite lief ein ordentlicher, völlig überdachter Gang, und die wunderlichsten Figuren standen auf den gläsernen Dielen; überall hingen schenkelstarke, meterlange Eiszapfen herunter, und das alles prangte im Glänze der Tropensonne. Über dem Gletscher aber stand ein Regenbogenkreis, der die Sonne umschloss, wie der Mond zuzeiten von einem Hofe umgeben ist.

An der zugänglichsten Stelle des Gletschers sahen wir die Spuren von Kuhantilopen, die dort emporgestiegen waren. Wir selber schritten ein Stück auf ihm empor, und plötzlich kam uns die Lust an, Schneebälle zu wechseln, für die wir den körnigen Schnee erst mit den Stiefeln losstossen mussten. Aber wir erlebten doch das in jahrelangem Bergaufenthalte angesichts der unerreichbaren Schneefelder manchmal Ersehnte, unter dem Äquator einmal Schnee zu ballen.

Wir durften aber nicht lange hier oben verweilen. Schon spielten leichte weiße Nebel an den Zinnen der Bismarckburg empor.

Als wir wieder auf der Geröllhalde standen und noch einen Blick zurücktaten in die schweigende Pracht, setzte eben eine Zwergantilope in zierlichen Sprüngen über den Gletscherbach hinweg: ein lebendiger Märchengruß, und das Auge hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich das Tor des Berges aufgesprungen und das Tier in Rosenhainen und lichten Bäumen verschwunden wäre.

Aber nein. Keine märchenfrohe Phantasie kann edlere Gebilde in diese reinen Höhen hineindenken, als sie Gott aus den glühenden Kräften der Erde und den Kristallen der äußersten Atmosphäre entstehen ließ.

Mit ehrfürchtiger Liebe nur dürfen wir auf diese großen Werke Gottes schauen, der hier in jahrtausendelanger Entwicklung immer höheres Leben auf dem nackten Gestein und den frostzermürbten Höhen sich gestalten lässt.


Gerhard Rosenkranz

Durch Marco Polos klassisches Reisewerk erhielt das Abendland gegen Ende des Mittelalters zum ersten Male ausführliche Kunde von dem fernen Osten Asiens, und seither ist das Interesse Europas für diese Gebiete stets wach geblieben. Die Länder Ostasiens, die zusammen rund ein Viertel der gesamten Menschheit umfassen und lange Zeit  dem Eindringen  der  Europäer  erfolgreich  Widerstand leisteten, konnten nicht wie manche anderen Länder in wenigen Jahrzehnten "entdeckt" werden. Zu mannigfaltig sind die Probleme, die sie auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft, der Kunst und der Religion den Forschern darbieten, und jede Generation hat sich von neuem bemüht, tiefer in diese den Europäern so fremde Welt einzudringen.

Eine der neueren Darstellungen in der langen Reihe der Reisebeschreibungen über Ostasien ist das Buch von Gerhard Rosenkranz "Fernost - wohin? Begegnungen mit den  Religionen Japans und Chinas im  Umbruch der Gegenwart". Es ist das Ergebnis einer Studienreise, die der Verfasser, damals Dozent für die Religionsgeschichte des Ostens an der Universität Heidelberg, im Jahre 1938 unternahm. Er war der Meinung, dass über jeder Beschäftigung mit den Fragen des Ostens für den Europäer das Wort des englischen Dichters Rudyard Kipling steht: "Ost ist Ost und West ist West, und niemals werden die beiden zueinander kommen." Auf seiner Reise stellte er sich die Aufgabe, in die Lebenskräfte einzudringen, die die Gegenwart der beiden großen Völker im Osten gestalten. Er wollte ferner die Möglichkeiten der Verkündigung des Christentums im Fernen Osten kennenlernen und mit den christlichen Vertretern dieser Länder Fühlung gewinnen.

Rosenkranz hat einen offenen Sinn für die Wirkung des Landschaftlichen und für das Volksleben. Eindrucksvoll fügen sich ihm die Bilder des Fuji-zan, des Biwasees, der Kirschblüte zur Melodie der japanischen Landschaft zusammen. Wie Sanftheit, Zartheit und Ebenmäßigkeit ihr das Gepräge geben, so beherrschen Form und Sitte das Leben der Menschen; und hinter allem steht, bis in die kleinsten Züge des Alltagslebens hinein wirksam, die Kraft der beiden Religionen Japans, des Buddhismus und des Shintoismus. - Von Japan führt ihn sein Weg über Korea und die Mandschurei nach China, wo er besonders in Peking die heiligen Stätten des Konfuzianismus, des Taoismus und des Buddhismus besucht. Eindringlich schildert er, was von diesen Religionen im Leben der Völker Ostasiens lebendig ist und wie sich daraus für die Mission und für die zahlenmäßig noch kleine, aber wirksame und wachsende Christenheit dieser Länder ihre Aufgabe in Gegenwart und Zukunft gestaltet.

Im Herzen Japans

Gerhard Rosenkranz: Fernost - wohin? Begegnungen mit den Religionen Japans und Chinas im Umbruch der Gegenwart. Heilbronn, Verlag Eugen Salzer 1940.

"Sie haben doch den Fuji gesehen?"

Hundertmal wird es der Heimkehrer aus Japan gefragt. Und hundertmal wird er mit immer dem gleichen freudigen Ja darauf antworten. In Japan gewesen zu sein und den Fuji nicht gesehen zu haben, das hieße... nun, das ist eben unmöglich. Man muss ihn sehen. Man kann ihm nicht ausweichen. Wenn das Wetter klar ist, zeigt er sich dem Ankömmling schon auf dem Schiff. Ich sah ihn zum ersten Mal von Yokohama aus. Von Tokio ist er sichtbar. Reist man von Tokio nach Kyoto, so geht die Fahrt sogar eine weite Strecke am Fuße des Massivs entlang, aus dem er herauswächst. Freilich: man darf ihn nicht gerade in jenen Wochen sehen wollen, in denen die Regenzeit ihre grauen Schleier über Japan hängt. Da bleibt er in Nebel gehüllt, auch wenn man ihm noch so nahe kommt. Dies aber bleibt sehnsüchtiges Verlangen, sobald man ihn einmal aus der Ferne sah: ihm so nahe wie möglich zu kommen. Er lockt wie mit Zaubergewalt. Ihn zu besteigen, ist wegen seines ewigen Schnees nur während weniger Wochen im Sommer möglich. Dann aber ergießt sich aus allen Teilen des Landes ein Strom von Pilgern auf seinen Gipfel. Es ist die höchste Sehnsucht jedes rechten Japaners, einmal in seinem Leben dort oben, wo der Schutzgöttin des Berges, der Konohana-Sakuya-Hime, ein Schrein errichtet ist, der Sonnengöttin seine Anbetung darbringen zu können. -

Wir sind auf einer Fahrt durch die Hakone-Berge, die dem Fuji vorgelagert sind. Hier und dort stehen niedrige, roh behauene Steinbilder des Jizo, des Schutzgottes der Reisenden; dankbare Wanderer haben Kieselsteine als Opfergaben auf ihre Sockel gelegt. Dann beginnen die Matten, überwuchert von welkem Bambusgras. Das Hakone-Gebirge war einst vulkanisch. Es bildet auf seiner Höhe einen einzigen großen Krater, aus dem die einzelnen Berggipfel aufragen. Mitten darin liegt, umgeben von mehreren Ortschaften, der Hakone-See. Einige der Ortschaften sind vielbesuchte Bäder. Auf ihren Matten dampfen die heißen Quellen; ein starker Schwefelgeruch entströmt ihnen. In Hakonemachi verlassen wir das Auto.

Schon haben wir den Fuji flüchtig gesehen. Aber etwas wie Scheu, ein Bild unvollkommen vorwegzunehmen, das sich uns gleich in seiner vollen Größe bieten muss, hat uns zurückgehalten, bei seinem Anblick zu verweilen. Jetzt beflügelt die Vorfreude den Schritt. Schnell erklimmen wir eine steile Anhöhe. Wir wenden uns, und im gleichen Augenblick überfällt uns jener Schauer eines unbeschreiblichen Erlebens, der noch jeden bis ins Innerste erschüttert hat, der sich offenen Herzens hineingibt in den Bann heiliger Stätten. Wahrlich, dieser Berg, keusch in der strahlenden Reinheit seines Schneemantels, herb in der sanft ansteigenden Ebenmäßigkeit seiner Gestalt, einsam in seiner ragenden Größe und wiederum auf das Land sich niederneigend in seinem Spiegelbild in all den Seen ringsum, ja selbst noch in den Fluten des Stillen Ozeans - dieser Berg ist heilig. So sah und malte ihn vor hundert Jahren Hiroshige, überwunden von seiner überirdischen Erscheinung. Er sah ihn anders als sein älterer Zeitgenosse Hokusai, der seine Fuji-Bilder im weltlichen Stil des Ukiyo-e (Stilperiode des japanischen Farbenholzschnittes) malte. Er sah ihn religiös, und das Erlebnis dieser Schau stellt uns auf seine Seite. Der Fuji ist nicht nur das Symbol Japans; er ist Gottheit, und eine Gottheit kann gewisslich ihres Volkes Freund sein, sie ist aber auch eine Warnerin. Wenn der Fuji auf seinem Gipfel einmal keinen Schnee trägt, so bedeutet das eine Warnung.

Schwer nur reißen wir uns von dem Anblick los. Auf schmalem, steinigem, glitschigem Pfade steigen wir höher. Dornengebüsch schlägt um unsere Beine, und das Bambusgras biegt sich über uns zusammen. Ein eisiger Wind pfeift über die Kuppen, die düster und tot um uns liegen wie die Lavakuppen der Eifel. Immer wieder geht unser Blick zum Fuji zurück. Zarter noch werden die Farben, die in stetem Wechsel sich wie hauchdünne Schleier über sein weißes Gewand legen. Märchenhafter noch wird seine Erscheinung über der trostlosen Einöde, die uns umgibt. Und als wir auf dem Jikkoku-Pass angekommen sind, der seinen Namen nach der Zahl der zehn Provinzen trägt, die von ihm zu sehen sind, liegt er in der Ferne nur noch wie ein Wölkchen, das jeden Augenblick in der Bläue des Himmels versinken kann.

Der Fuji ist hinter uns versunken. Vor uns leuchtet der Pazifik auf, in den die Halbinsel Izu weit hinausgreift. Ein alter Tempel liegt am Wege mit einem herrlichen bronzenen Weihrauchgefäß vor seiner Halle. Haufen von Götterbildern stehen in düsteren Bergnischen; ein jedes Bild ist mit Steinen beschenkt und mit verblichenen Lappen behängt. Steil fällt der Weg hinab nach Atami, der kleinen Stadt am Meer. Sie liegt in einem erloschenen Krater, dessen halber Bergrand in die Fluten gesunken ist.

Kumagaya ist eine Provinzstadt nordwestlich von Tokio. Ihre Kirschblüte ist in Japan berühmt. Europäer wohnen in Kumagaya nicht, auch keine Amerikaner. Es ist ein unberührtes japanisches Städtchen und mit seinem großen Kaufhaus der Sammelpunkt der vielen Bauern im Umkreis. Inhaber des Kaufhauses sind die beiden Brüder Yagihashi. Sie sind Christen. Der alte Vater, der das Geschäft begründete, lebt noch. Als nach den beiden Töchtern, die ihm geboren wurden, auch das dritte Kind wieder ein Mädchen war, adoptierte er einen Knaben als späteren Gatten für die Älteste und als seinen Nachfolger. Dann wurden ihm zwei Söhne geboren, die nun heute mit ihrem Schwager zusammen das Geschäft führen. Der eine der beiden Brüder ist kinderlos; der andere hat auch wieder nur drei kleine Mädchen. So ist wiederum die Sorge um den Nachfolger da. Wird er noch geboren werden? Jedenfalls hat man vorsichtshalber einen Adoptivsohn ins Haus genommen, der eben auf Kosten der Familie Jura studiert und später die eine der Töchter heiraten und das Geschäft übernehmen wird. Das sind japanische Familiensorgen.

Von den Brüdern Yagihashi kommt ein sehr freundlicher Brief. Er bittet um unseren ehrenwerten Besuch. Die Kirschen blühten jetzt. Zwar lohne es eigentlich nicht, die Kirschblüte in Kumagaya zu besuchen, aber sie sei doch sehr schön. Und vor allem werde es die über hundert Angestellten des Kaufhauses erfreuen, etwas über das Christentum im Abendlande zu erfahren. Das ist ein sehr höflicher Brief. Wir sagen zu.

An einem Sonntag, der in Japan nur Behörden- und Schulfeiertag ist, fahre ich nach Kumagaya. Professor Sakaeda, Nationalökonom an der Waseda-Universität in Tokio, und Dr. Hennig, der Missionar der Ostasien-Mission, fahren mit mir. Sakaeda wird mein Dolmetscher sein. Da er zwei Jahre in Deutschland studierte, spricht er vorzüglich deutsch. Überdies ist er mit den beiden Brüdern befreundet und wie sie ein sehr feiner und eifriger Christ.

Unsere Gastgeber empfangen uns am Bahnhof mit jener vollendeten japanischen Liebenswürdigkeit, die den Fremden immer wieder beschämt und fast hilflos macht. Wir gehen vor die Stadt hinaus auf den langen Damm, der Kumagaya gegen die Überschwemmungen des Arakawa-Flusses schützt. Er ist mit zwei Reihen alter Kirschbäume bestanden, die jetzt prächtig blühen. Wie breite rosafarbene Wattebäusche stehen sie da. Ich habe die japanische Kirschblüte an vielen Orten erlebt. Ich sah die wallenden Schleier, die sie im Ueno-Park wie ein Biedermeierkleid um die ragende Pagode legt. Ich sah auf dem Koya-zan alle die einzelnen Blütenbäume in den Tempelhöfen, die uralten, knorrigen und die jungen, im Winde sich biegenden, die vor den dunklen Hallen wie tanzfreudige Mädchen in Frühlingskleidern stehen. Und nun gehen wir auf dem Ara-kawa-Deich wie durch einen Blütentunnel. Ich weiß, dass dem Japaner das schnelle Aufblühen und Verwelken der Kirschblüte zum Sinnbild der Vergänglichkeit aller Dinge geworden ist. Sie ist ihm das Symbol des Yamato-damashii geworden, der "Seele Japans", die mit ritterlichem Mute das Schicksal vergänglichen Lebens auf sich nimmt. Ich habe es in vielen japanischen Gedichten gelesen, japanische Freunde haben es mir bezeugt. Ich habe mich ehrlich bemüht, über dieses Wissen hinauszukommen und die Kirschblüte zu erleben, wie der Japaner sie erlebt. Es ist mir nicht gelungen. Ich bin auch auf dem Arakawa-Deich ein Fremdling geblieben. Immer wieder sind meine Gedanken hinübergegangen zur Bergstraße am Odenwald, wo sich, wenn die Blätterknospen noch geschlossen sind, unsere deutsche Kirschblüte wie ein weißer Rausch über die Rheinebene legt und an den Bergen hinaufwogt. Vergänglichkeits-Stimmungen sind mir fern geblieben. Und fremd geblieben ist mir der Taumel, in dem das japanische Volk unter der Kirschblüte alle Bande der Sitte zerreißt und sich einer Freude am Leben hingibt, die den Augenblick, ehe er vergeht, auskostet bis zur Neige.

Wir gehen ein paar Mal auf dem Deich auf und ab. Die Buden, in denen Reiswein und Bier ausgeschenkt wird, sind umlagert. Betrunkene wälzen sich auf dem Boden herum. Angetrunkene kommen Arm in Arm in gröhlender Reihe daher. Einer von ihnen tanzt um uns herum und ahmt auf einem Besenstiel ein japanisches Instrument nach, ja er gibt uns sogar - wie unjapanisch! - die Hand.

Wir gehen wieder in die Stadt. Der Professor spricht sehr ernst von "Tiefen im japanischen Volkscharakter". Ich habe später oft daran denken müssen. In den Straßen geht das Leben wieder schweigend und gebunden an uns vorüber. Gelegentlich bleiben ein paar Kinder oder ein paar Bauernmädchen vor uns stehen, als hätte sie der Schreck festgebannt; Mund und Augen bleiben offen, und der erhobene Zeigefinger scheint vor Verwunderung nicht wieder herabfallen zu wollen. Es ist, als sähen sie zum ersten Male einen Europäer. Wie sind die Fremden groß und dick! Was haben sie für seltsame Augen und was für eine lange Nase! Die Mädchen werden daheim in ihren Dörfern viel zu erzählen haben.

Am Abend versammeln sich alle Angestellten in einem großen Raum des Kaufhauses. Dicht aneinandergedrängt hocken auf den Matten die Knaben und Mädchen, die Männer und Frauen. Die beiden Brüder Yagihashi und der Großvater mit den Enkeltöchtern sitzen vor der Versammlung; ihre Frauen gehen in den Hintergrund. Professor Sakaeda leitet den Abend ein. Dann spreche ich. Es ist heute Palmsonntag. So rede ich vom Einzug Jesu in Jerusalem und dann weiter von seinem Einzug in die Völker des Abendlandes, auch in unser deutsches Volk. Ich schildere, was wir als Volk diesem Einzug zu verdanken haben. Einst, vor bald vierhundert Jahren, zog Christus auch in Japan ein. Wieder ist er bereit, ihm zu begegnen, es zu Gott zu führen und so auch ihm das Beste zu geben, was er den Völkern des Westens gab. Ich schließe mit dem Kreuzesbild, das ich auf der Takarazuka-Bühne in Tokio sah.

Biwa-See aus WikipediaEs ist eine alte Überlieferung: der Biwa-See sei in der gleichen Nacht entstanden, in der sich, emporgetrieben von den Feuerkräften des Bodens, der Fuji erhoben habe. Wie dem auch sei, seine Schönheit ist keusch und zart wie die des heiligen Berges. Ebenmäßig ist seine Gestalt wie die Form der Biwa, auf deren Saiten die Mädchen Begleitung zupfen zu ihren Liedern. Und wie der Klang der Biwa im Herzen des Japaners Sehnsucht weckt und ihr Erfüllung gibt, so wird ihm auch das Erlebnis des Biwa-Sees zu einem Kranze klingender Lieder, deren acht schönsten er nach chinesischem Brauch Überschriften gab: Abendschnee am Hira-Berge, Flug der Wildgänse in Katata, Nachtregen in Karasaki, die Abendglocke im Mii-dera, Sonnenschein mit Brise in Awazu, Abendröte über Seta, der Herbstmond in Ishiyama, heimkehrende Boote in Yabase.

Durch ein liebliches Waldtal hat die Bahn uns von Kyoto nach Otsu an den See gebracht. Im Hafen liegt der kleine Dampfer zur Rundfahrt auf dem See bereit. Die Zahl der Fahrgäste ist klein. Einige sitzen drinnen mit untergeschlagenen Beinen auf den Polsterbänken, die Mehrzahl hat auf dem Deck Matten ausgebreitet und sich auf ihnen niedergelegt. Es ist kühl. Aber die Männer haben den Rock ausgezogen und die Weste geöffnet. Ich bin der einzige Ausländer. Nach der Abfahrt kommt der Kapitän zu mir. Wir werden einander vorgestellt. "Sie haben einen sehr schönen Namen", sagt er höflich. Ich verbeuge mich. Eben hat das Grammophon ein japanisches Soldatenlied gespielt; jetzt spielt es die "Mühle im Schwarzwald". Wir gleiten am Ufer entlang. Die hohen Berge treten zurück. Bewaldete Höhen bedecken den Strand. Dörfer tauchen auf inmitten dichter Kiefernwälder. Ein Schrein hat sein Tora weit hinaus in das Wasser gebaut. Ich frage den Kapitän, wann wir am Abend wieder in Otsu sein werden. Er nennt die Stunde. Aber da soll ich ja schon längst wieder in Kyoto sein, wo Freunde mich erwarten! Der Kapitän bemerkt meine Verlegenheit. Er erkundigt sich. Meine Frage, ob ich ein Telegramm aufgeben könne, verneint er mit Bedauern. Das sei erst in drei Stunden möglich, wenn wir zum ersten Male anlegen. Aber dann lächelt er. Sein Schiff sei auch für solche Fälle vorbereitet, sagt er stolz. Er habe Brieftauben an Bord! Schnell werden drei der Tiere aus dem Käfig genommen. Das Telegramm ist dreimal aufgeschrieben und wird den Vögeln in Hülsen unter den Schwanz gebunden. Und schon fliegen sie davon, ein paar Mal um das Schiff herum und dann geraden Fluges zurück zum Postamt in Otsu. Ich sage dem Kapitän meine bewundernde Anerkennung. Er lächelt und ist glücklich.

In immer gleicher Schönheit gleitet das Ufer vor unserem Blick vorüber. Der Koch bringt uns Reis und gebratenen Fisch. Dann taucht ein kleines Eiland steil vor uns aus dem See auf. Seine Wände sind bis hinunter auf das Wasser bewaldet. Es gleicht einer verwunschenen Insel. Das ist Chikubu-shima. Wir legen an und erklimmen in einer schmalen Felsspalte seinen Gipfel. Zwei Tempel stehen droben. Der eine ist der Kwannon geweiht, der andere der Göttin Benten, die aus Indien zugewandert und unter die sieben Glücksgötter aufgenommen ist. Und dann steht da noch ein Schrein, unter dessen wundervollen Wandschnitzereien sich ein Kreuz-Fries befindet. Vor ihm erhebt sich auf einem Felsen über dem See eine Halle. Viele Menschen beugen sich über ihre Brüstung und schleudern kleine runde Tonschalen, die sie in einer Bude gekauft haben, auf das Wasser hinaus. Sie werfen ihre Unreinheiten, die sie durch Berührung auf die Schälchen übertragen haben, von sich in den See. Aber man muss die Schalen weit hinauswerfen, und sie dürfen nicht im Bogen zurückkommen.

Bei der Abfahrt kommt eine Perlenfischerin aufs Schiff. Jede Muschel kostet einen Yen. Sie öffnet die Muschel, schneidet das Tier auf und holt die Perle heraus. Wir nehmen eine wunderschöne, gelbschimmernde Perle als Andenken mit. Weiter geht die Fahrt an kleinen Felseninseln vorüber. Wir fahren nun schon am anderen Ufer des Sees, das flach ist. Auf Okuno-shima haben wir Zeit, den Chimei-Tempel zu besuchen. Er ist um Sechshundert vom Prinzen Shotoku Taishi gegründet. Auf achthundertacht Stufen steigen die Pilger zu ihm empor. Kaum sichtbar stehen, fernen Visionen gleich, im Dunkel der Halle die Götterbilder.

Vor Otsu blicken wir den Seta-Fluss hinunter, in den der See ausströmt. Über ihm liegt auf den Bergen, mitten in Zedern und schwarzen Felsen, der Ishiyama-Tempel. Herrlich, wie auf der anderen Seite von Mii-dera, ist hier der Blick auf den See. Eine Hütte beim Tempel ist die Stätte, wo vor tausend Jahren eine Frau die berühmte "Geschichte vom Prinzen Genji" schrieb. Nicht weit davon steht eine kleine Pagode. Wer sie mit verbundenen Augen findet und berührt, dem soll Glück beschieden sein.

Als wir in Otsu wieder anlegen, liegen die ersten Schatten des Abends über der Stadt. Ober den See gleiten weiße Nebelschleier. Dies ist die Stunde, in der das Erlebnis des Biwa-Sees stärker das Herz des Japaners berührt als im hellen Sonnenschein. - Abendschnee im Hira-Berge, Abendglocke im Miidera, Abendröte über Seta, heimkehrende Boote ...

Noch liegen die Berge in violettem Schein gleich der Farbe der Glyzinien, die jetzt in den Gärten blühen, gleich dem Dunkelblau der Iris auf den Teichen. Dann versinken auch sie in den grauen Schatten.

In Kyoto ist das Telegramm pünktlich eingetroffen, das unsere Verspätung melden sollte.

Wieder stehen wir am Meer. Wieder stehen wir dort, wo Erde und Wasser ineinander verschwimmen, wo Japan in unzähligen Inseln seine Augen der Unendlichkeit geöffnet hält, in der Meer und Himmel ineinander versinken. Als hätte die Laune eines Riesen einen der grünen Waldberge in den Ozean hinausgetragen, dass beim Niedersetzen ein paar gewaltige Felsstücke absprangen und um eine Insel liegen blieben - so liegt Enoshima vor uns. Seidig wie das Meer um ihren Fuß flimmert der Sonnenglast um ihre Höhe. Gleich Nestern hängen an ihren Felsen und in ihren Rissen die Häuser.

Auf langem Steg gehen wir zur Insel hinüber. Es ist, als ließen wir mit jedem Schritt die Zeit weiter hinter uns zurück. Immer wesenloser wird das Leben, das uns eben noch auf der Straße zum Strande buntlockend umgab. Es ist Ebbe. Der Strand dehnt sich schmutzig unter uns. Boote liegen umher. Fischer ziehen in langen Reihen ihre schwerbeladenen Schleppnetze aus dem Wasser. Andere sitzen und flicken die Netze. Draußen am Horizont stehen die Segel der Boote.

Enoshima aus WikipediaNun tauchen wir ein in die grüngoldene Dämmerung der heiligen Insel. Mit vielen Pilgern steigen wir über breite Treppen in den Felsenspalten empor. Zwischen dunklen Kiefern leuchten weiße Kirschbäume auf. Vor den Hallen der Schreine auf der Höhe sammeln sich die Andächtigen. Anbetend klatschen sie in die Hände, tief sich verneigend vor dem Spiegel der Sonnengöttin. Zwischen den Hallen hindurch aber verliert sich der Blick immer wieder in der Weite des Meeres. Hier wird unser Herz bis zu jener Grenze getragen, die dem Denken ein Ende setzt. In der Ferne sehen wir wieder, wie von den Höhen über Atami, die Insel Oshima. Vor ein paar Jahren machte eine Klasse der deutschen Schule in Tokyo einen Ausflug dorthin. Sie bestieg den Vulkan Mihara. Ein junger Japaner, gleichfalls aus Tokyo, hatte sich unterwegs ihr angeschlossen. Als sie den Kraterrand erreicht hatten, stand er versunken da. Dann schrie er auf: "Sajonara" ("Lebe wohl") und warf sich in den Krater hinab. Er war nicht der erste, der hier sein Leben auslöschte, er ist nicht der letzte geblieben. Er war einer der achtzehnhundertfünf Selbstmörder, von denen der Polizeibericht in jenem Jahre 1934 allein für Tokyo berichtete. Dazu kamen über zweitausend Selbstmordversuche. Die Zahlen sind bisher nicht zurückgegangen. Die Zeitungen nennen als Gründe dafür die Großstadtnöte. Aber sie weisen auch darauf hin, dass das Seppuki (Selbstmord) in Japan als ehrenvolle Tat verherrlicht wird. Hier blicken wir in eine der Tiefen des japanischen Volkscharakters. Der Buddhismus bildet keine Hilfe dagegen. Sie wird dem Christentum zur großen Aufgabe.

Auf Stufen und über Galerien, die an die steilen Inselwände gesetzt sind, steigen wir hinab zu der Höhle, die der Göttin Benten geweiht ist. Felsen liegen um uns, auf die die Brandung ihre Schaumflocken wirft. Tempelmädchen in roten Röcken und weißen Blusen geben uns Kerzen mit. Mühsam schützen wir ihr Licht vor dem kühlen Lufthauch in der Höhle. Behutsam tasten wir uns durch die Dunkelheit. Göttergestalten stehen in Nischen, Altäre mit Opfergaben dämmern auf im fahlen Schein ihrer Kerzen. Benten selbst aber bleibt unserem Blick verborgen. Kaum sind wir der unheimlichen Finsternis entwichen, ihre Feuchte noch verspürend, wirft sich das Sonnenlicht, abprallend vom Wasser und Sand und Gestein, wieder wie ein Taumel auf unsere Sinne.

Meer und Gebirge, Wasser und Fels - sie sind der Grundakkord, aus dem die Melodie der japanischen Landschaft erklingt. In unzähligen Variationen wandelt der Akkord sich ab. Hier tritt das Gebirge unmittelbar an das Meer heran, es wächst auf Hunderten von kleinen Inseln aus dem Meer heraus; dort greifen die Fluten tief in das Bergland hinein, in Seen und Fällen und Flüssen umgibt das Wasser die Gipfel. Und zwischen Meer und Gebirge liegt, von beiden gestaltet, die gewellte Ebene.

Die Melodie der japanischen Landschaft ist, außer im Hochgebirge, keine heroische Musik. Da ist nur wenig, was "großartig" zu nennen wäre. Sie ist ein Lied in Moll. Sanftheit, Zartheit und Ebenmäßigkeit geben allem das Gepräge, den Küsten und den Bergketten. In solcher Ausgeglichenheit aber ist sie von bezwingender Eindringlichkeit. Ein japanisches Sprichwort warnt: "Erst sieh' Nikko, dann sag' ,kekko' (wunderbar)!" Auch Nikko, die Tempelstadt inmitten der zedernbewachsenen Höhen, ist Einklang, vollendete Harmonie wie der Fuji und der Biwa-See, wie die heiligen Berge Hiei und Koya, wie Nara und die Insel Kyushu.

Im Laufe der langen Geschichte seines Volkes hat der Mensch sich eingeordnet in diese Melodie. Er hat ihr die sanften Linien seiner Tempel und Schreine, seiner Dörfer und Städte eingefügt. Nirgends blieb das dichtbesiedelte Land von seinem Eingriff unberührt, aber nirgends wurde in Jahrhunderten sein Einklang zerrissen. Erst in neuester Zeit sind hier und dort jene Industriegebiete, sind überall im Land jene modernen Schul- und Amtsgebäude entstanden, die wie Missklänge die Melodie unterbrechen. Aber der Mensch weiß um ihre Fremdheit, und mehr denn je sucht er heute die Stätten auf, wo die Melodie des Landes rein in seinem Herzen erklingt.

Oder ist es nicht vielmehr so, dass auch er wie Berge und Meer ein Teil dieser Melodie ist? Form und Sitte beherrschen sein Leben, so wie Sanftheit und Ebenmäßigkeit die Landschaft beherrschen. Aber liegt nicht auf dem Grunde seines Lebens Leidenschaft, so wie im Boden des Landes grollende Kräfte liegen, die immer wieder aufbrechen und Katastrophen schaffen? Ist nicht das Leben des Japaners gebändigte Leidenschaft, so wie das Wesen japanischer Landschaft verhaltene Wildheit ist?


Albert Schweitzer

Die fortschreitende Komplizierung der modernen abendländischen Kultur, ihre ständig weiter getriebene Spezialisierung in zahllose Sondergebiete der "Wissenschaft, der Kunst und des tätigen Lebens machen es für den Menschen der Gegenwart immer schwerer, das Ganze zu überschauen und an mehreren dieser Gebiete schöpferischen Anteil zu nehmen. Einer der wenigen Menschen unserer Zeit, denen es gegeben war, auf scheinbar weit von einander getrennten Gebieten Großes zu leisten und doch den Blick für die Einheit alles Lebens nicht zu verlieren, ist Albert Schweitzer.

Albert Schweitzer aus WikipediaEr wurde als Sohn eines Pfarrers im Jahre 1875 im Oberelsass geboren und verlebte eine glückliche Jugendzeit in Günsbach in den Vogesen. Schon als achtjähriger Knabe begann er, Orgel zu spielen, und entwickelte seitdem eine Leidenschaft für Orgelspiel und Orgelbau, die ihn sein Leben lang nicht wieder verlassen hat. An den Universitäten Straßburg, Paris und Berlin studierte er Theologie und Philosophie. In Paris bildete er sich musikalisch bei dem Orgelmeister Widor weiter aus und schloss später Freundschaft mit Romain Rolland, Henri Lichtenberger und anderen bedeutenden Franzosen. In Berlin begeisterte ihn vor allem die Universität, die um die Jahrhundertwende ein organischer Mittelpunkt des geistigen Lebens war. Eine ungewöhnliche Arbeitskraft gestattete ihm, sich neben angespannter wissenschaftlicher Arbeit auch der Kunst, insbesondere der geliebten Orgelmusik, und Fragen des allgemeinen geistigen Lebens zu widmen.

Nach Abschluss seines Studiums trat er ein Predigtamt zu St. Nikolai in Straßburg an und wurde dort 1902 Privatdozent an der Universität. Die folgenden Jahre waren umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet. Damals entstanden die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, das zunächst französisch geschriebene grundlegende Werk über J. S. Bach und die Studie über deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst.

Schon als junger Student hatte Schweitzer den Entschluss gefasst, sich bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr der Wissenschaft und der Kunst zu widmen, dann aber sein Leben einem unmittelbaren Dienst an den Menschen zu weihen. So begann der bereits als Forscher und Künstler weit über Deutschland hinaus Anerkannte im Jahre 1905 nochmals zu studieren, und zwar Medizin, um im Dienst der Pariser Missionsgesellschaft als Arzt in der französischen Kolonie Gabun zu arbeiten. Über die Gründe, die ihn dazu trieben, und über die Ausreise nach Afrika im Jahre 1913 erzählt er selbst auf den nachfolgenden Seiten. Sie sind dem Buch "Zwischen Wasser und Urwald" entnommen, worin er über seine Tätigkeit als Urwaldarzt auf der Missionsstation Lambarene berichtet und eindringlich den Europäern die Notwendigkeit vor Augen stellt, mit ihrer fortgeschrittenen ärztlichen Kunst den leidenden Völkern Afrikas zu helfen, nicht als "gutes Werk", sondern als eine unabweisbare Pflicht.

Der erste Weltkrieg unterbrach diese Arbeit. Schweitzer wurde mit seiner Frau interniert und 1917 nach Europa zurückgebracht. Hier vollendete er die Werke, die er bereits im afrikanischen Urwald begonnen hatte: "Verfall und Wiederaufbau der Kultur", "Kultur und Ethik" und "Das Christentum und die Weltreligionen". - Seitdem verlief sein Leben im Wechsel des Arbeitsplatzes zwischen Europa und Afrika. Durch Vorträge und Konzertreisen warb er in Deutschland, Frankreich, England, Schweden, der Schweiz und anderen Ländern um die nötigen Mittel zur Weiterführung seiner Arbeit, aber immer wieder zog es ihn selbst hinaus zu unmittelbarem Dienst an den Menschen Afrikas.

Albert Schweitzers Wirken hat in der Welt einen Widerhall gefunden, wie er nur ganz wenigen Großen der Missionsgeschichte zuteil geworden ist. Seine Bücher wurden in zahlreiche Kultursprachen übersetzt. Als Forscher und Denker wie als Mann der Tat wurde er für zahllose Menschen in aller Welt ein Inbegriff wahrer Humanität und echter christlicher Nächstenliebe. Seine Lehre und sein Leben stehen unter dem Gesetz, das sich ihm auf einer nächtlichen Flussfahrt in Afrika als das zentrale Problem seiner Ethik offenbarte, der "Ehrfurcht vor dem Leben".

Von Straßburg nach Lambarene

Albert Schweitzer: Zwischen "Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwalde Äquatorialafrikas. München, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1926.

I. WIE ICH DAZU KAM, ARZT IM URWALD ZU WERDEN

Die Lehrtätigkeit an der Universität Straßburg, die Orgelkunst und die Schriftstellerei verließ ich, um als Arzt nach Äquatorialafrika zu gehen. Wie kam ich dazu?

Ich hatte von dem körperlichen Elende der Eingeborenen des Urwaldes gelesen und durch Missionare davon gehört. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unbegreiflicher kam es mir vor, dass wir Europäer uns um die große humanitäre Aufgabe, die sich uns in der Ferne stellt, so wenig bekümmern. Das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus schien mir auf uns geredet zu sein. Wir sind der reiche Mann, weil wir durch die Fortschritte der Medizin im Besitze vieler Kenntnisse und Mittel gegen Krankheit und Schmerz sind. Die unermesslichen Vorteile dieses Reichtums nehmen wir als etwas Selbstverständliches hin. Draußen in den Kolonien aber sitzt der arme Lazarus, das Volk der Farbigen, das der Krankheit und dem Schmerz ebenso wie wir, ja noch mehr als wir unterworfen ist und keine Mittel besitzt, um ihnen zu begegnen. Wie der Reiche sich aus Gedankenlosigkeit gegen den Armen vor seiner Türe versündigte, weil er sich nicht in seine Lage versetzte und sein Herz nicht reden ließ, also auch wir.

Die paar hundert Ärzte, die die europäischen Staaten als Regierungsärzte in der kolonialen Welt unterhalten, können, sagte ich mir, nur einen ganz geringen Teil der gewaltigen Aufgabe in Angriff nehmen, besonders da die meisten von ihnen in erster Linie für die weißen Kolonisten und für die Truppen bestimmt sind. Unsere Gesellschaft als solche muss die humanitäre Aufgabe als die ihre anerkennen. Es muss die Zeit kommen, wo freiwillige Ärzte, von ihr gesandt und unterstützt, in bedeutender Zahl in die Welt hinausgehen und unter den Eingeborenen Gutes tun. Erst dann haben wir die Verantwortung, die uns als Kulturmenschheit den farbigen Menschen gegenüber zufällt, zu erkennen und zu erfüllen begonnen.

Von diesen Gedanken bewegt, beschloss ich, bereits dreißig Jahre alt, Medizin zu studieren und draußen die Idee in der Wirklichkeit zu erproben. Anfang 1913 erwarb ich den medizinischen Doktorgrad. Im Frühling desselben Jahres fuhr ich mit meiner Frau, die die Krankenpflege erlernt hatte, an den Ogowe in Äquatorialafrika, um dort meine Wirksamkeit zu beginnen.

II. DIE FAHRT

Lambarene, Anfang Juli 1913

Die Glocken hatten soeben den Karfreitagnachmittagsgottesdienst in meinem Heimatdorfe Günsbach in den Vogesen ausgeläutet. Da erschien der Zug an der Biegung des Waldrandes. Die Reise nach Afrika begann. Es galt Abschied zu nehmen. Wir standen auf der Plattform des letzten Wagens. Ein letztes Mal tauchte die Kirchturmspitze zwischen den Bäumen auf. Wann werden wir sie wiedersehen?

Am Ostersonntag hörten wir noch einmal die liebe Orgel von St. Sulpice in Paris und das wundervolle Spiel von Freund Widor. Um zwei Uhr glitt der Zug nach Bordeaux aus dem unterirdischen Bahnhof des Quai d' Orsay heraus. Die Fahrt war herrlich. Überall feiertäglich gekleidete Menschen. Der Frühlingswind trug dem dahineilenden Zug den Glockenklang der aus der Ferne grüßenden Dorfkirchen nach. Dazu leuchtender Sonnenschein. Ein traumhaft schöner Ostersonntag.

Die Kongodampfer fahren nicht von Bourdeaux, sondern von Pauillac ab, das anderthalb Stunden Bahnfahrt meerwärts liegt. Ich sollte mein als Fracht vorausgeschicktes großes Gepäck aus dem Zoll in Bordeaux lösen. Dieser aber war am Ostermontag geschlossen. Am Dienstag morgen hätte die Zeit zur Erledigung der Sache nicht gereicht, wenn ein Beamter, den unsere Not rührte, uns nicht der vorgeschriebenen Formalitäten enthoben hätte. So wurde es mir ermöglicht, in den Besitz meiner Kisten zu kommen.

Da das Schiff noch viel Ladung einzunehmen hat, fahren wir erst am Nachmittage des folgenden Tages ab. Unter trübem Himmel zieht es langsam die Gironde hinunter. Während das Dunkel anbricht, stellen sich die langen Wogen ein, die anzeigen, dass wir auf dem Ozean angelangt sind. Um neun Uhr verschwinden die letzten Schimmer der Blinkfeuer.

Vom Golf von Biskaya erzählten sich die Passagiere viel Böses. Hätten wir ihn nur schon im Rücken, sagte man an allen Tischen. Wir sollten seine Tücke erfahren. Am zweiten Tage nach der Ausfahrt setzte der Sturm ein. Das Schiff bewegte sich wie ein großes Schaukelpferd über die Fluten dahin und wälzte sich mit Behagen nach beiden Seiten. Die Kongodampfer rollen bei hohem Seegang mehr als andere Ozeanschiffe. Um den Kongo bei jedem Wasserstande bis Matadi hinauffahren zu können, sind sie für ihre Größe verhältnismäßig sehr flach gebaut.

Drei Tage dauerte das Unwetter mit unverminderter Heftigkeit an. An Stehen oder Sitzen in den Kabinen oder in den Sälen war nicht zu denken. Man wurde in allen Ecken umhergeworfen, und mehrere Personen trugen ernstliche Verletzungen davon. Am Sonntag gab es nur kalte Speisen, weil die Köche die Herde nicht mehr bedienen konnten. Erst in der Nähe von Teneriffa kam der Sturm zur Ruhe.

Auf den ersten Anblick dieser Insel hatte ich mich sehr gefreut, da er als herrlich gerühmt wird. Ich verschlief ihn und erwachte erst, als das Schiff in den Hafen einfuhr. Kaum hatte es die Anker fallen lassen, als es auch schon von beiden Seiten von Kohlenbunkern umgeben war, aus denen die Säcke mit der Nahrung für die Maschine emporgehisst und durch große Luken in den Schiffsraum entleert wurden.

Teneriffa liegt auf einer Anhöhe, die ziemlich steil zum Meere abfällt. Es trägt ganz den Charakter einer spanischen Stadt. Die Insel ist vorzüglich bebaut und liefert die Kartoffeln für die ganze Westküste Afrikas und Frühlingskartoffeln, Frühgemüse und süße Bananen für Europa.

Gegen drei Uhr lichteten wir den Anker. Ich stand auf dem Vorderteil und beobachtete, wie er sich langsam losriss und durch das durchsichtige Wasser heraufkam. Dabei bewunderte ich einen bläulichen Vogel, der elegant über der Flut schwebte. Ein Matrose belehrte mich, dass es ein fliegender Fisch sei.

Als wir uns von der Küste nach Süden entfernten, stieg langsam der schneebedeckte Gipfel des höchsten Berges, den man im Hafen nicht sehen konnte, über der Insel empor und verschwamm in den Abendwolken, während wir auf mäßig bewegten Wellen dahinfuhren und das zauberhafte Blau des Wassers bewunderten.

In Dakar, dem großen Hafen der Senegalkolonie, betraten meine Frau und ich zum ersten Mal die afrikanische Erde, der wir unser Leben widmen wollen. Es war uns feierlich zumute.

Ich werde Dakar kein gutes Andenken bewahren, weil ich immer an die Tierquälerei denken muss, die dort geübt wird. Die Stadt liegt auf einem großen Abhang, und die Straßen sind zum Teil noch in sehr üblem Zustande. Das Los der armen, den Negern ausgelieferten Zugtiere ist schrecklich. Ich habe nirgends so abgetriebene Pferde und Maultiere gesehen wie hier. Als ich dazu kam, wie zwei Neger auf einem schwer mit Holz beladenen Wagen, der in der neubeschotterten Straße steckengeblieben war, mit Schreien auf ihr armes Tier einschlugen, brachte ich es nicht über mich weiterzugehen, sondern zwang sie abzusteigen und zu schieben, bis wir zu dritt den Wagen frei hatten. Sie waren sehr verdutzt, aber gehorchten, ohne zu widersprechen. "Wenn Sie keine Misshandlung der Tiere mit ansehen können, gehen Sie nicht nach Afrika", sagte mir der Leutnant auf dem Rückweg; "Sie werden hier in diesem Punkt viel Schreckliches schauen."

"Der Hai! Der Hai!" Ich stürze aus dem Schreibzimmer und bekomme ein schwarzes Dreieck gezeigt, das etwa fünfzig Meter vom Schiff aus dem Wasser hervorragt und sich in der Richtung des Schiffes bewegt. Es ist die Flosse des gefürchteten Ungeheuers. Wer sie einmal gesehen, vergisst sie nicht mehr und verwechselt sie mit nichts anderem. Die Häfen Westafrikas wimmeln von Haien. In Kotonou sah ich einen, von den Küchenabfällen gelockt, bis auf zehn Meter an das Schiff herankommen. Da die Beleuchtung gut und das Meer durchsichtig war, konnte ich den grau und gelb schimmernden Leib auf einige Augenblicke in seiner ganzen Länge erschauen und beobachten, wie sich das Tier halb auf den Rücken legte, um, was ihm zuträglich schien, in den bekanntlich unterwärts des Kopfes gelegenen Mund zu bekommen.

Trotz der Haie tauchen die Neger in allen diesen Häfen nach Geldstücken. Unglücksfälle kommen ziemlich selten vor, weil der Lärm, den sie dabei vollführen, sogar den Hyänen des Meeres auf die Nerven geht. In Tabou erstaunte ich, einen der tauchenden Neger schweigsam zu sehen, während die anderen nach weiteren Geldstücken schrien. Nachher merkte ich, dass es der Geschickteste unter ihnen war und stumm bleiben musste, weil er den Mund als Geldbeutel benutzte und ihn vor Sou- und Groschenstücken fast nicht mehr zubrachte.

Von Konakri an behält der Dampfer den Strand fast stets in Sicht, Pfefferküste, Elfenbeinküste, Goldküste, Sklavenküste -. Wenn der bewaldete Streif am Horizont von allen Greueln, die er mit angesehen, erzählen könnte! Hier landeten die Sklavenhändler und nahmen die lebendige Ware an Bord, um sie nach Amerika zu bringen. "Auch heute ist noch nicht alles in Ordnung", sagte mir der Angestellte eines großen Handelshauses, der sich zum dritten Male auf seinen Posten nach dem Kongo begibt. "Man bringt den Negern Schnaps und Krankheiten, die sie nicht kannten. Wiegt das, was wir ihnen an Gütern dafür geben, das

Übel auf?"

Mehr als einmal musste ich über dem Essen die Gäste an den verschiedenen Tischen betrachten. Alle haben schon in Afrika gewirkt. In welchem Sinne haben sie es getan? Welche Ideale hatten sie? Wie sind sie, die sich hier nett und freundlich geben, draußen auf ihrem Posten? Wie denken sie über ihre Verantwortlichkeit? ...

In wenigen Tagen sind wir, die dreihundert Menschen, die zusammen von Bordeaux abfuhren, allesamt am Lande, am Senegal, am Niger, am Ogowe, am Kongo und seinen Nebenflüssen bis hinauf zum Tschadsee, um unsere Posten einzunehmen und auf ihnen zwei bis drei Jahre zu weilen.

Was werden wir ausrichten? Wenn man aufzeichnete, was alle, die wir hier zusammen auf dem Schiff sind, in dieser Zeit tun, was gäbe es für ein Buch! Wären keine Seiten, die man rasch umblättern müsste? ...

Mit der Hitze habe ich mich nicht übel abgefunden und merke nichts von der Schlaflosigkeit, unter der die meisten anderen Passagiere, leider auch meine Frau, zu leiden beginnen.

Wunderbar ist abends das Leuchten des vom Schiffe gepflügten Meeres. Der Schaum ist phosphoreszent, und lichtgebende Quallen steigen in ihm wie glühende Kugeln auf.

Seit Konakri sieht man fast jede Nacht den Wetterschein der über das Land niedergehenden Gewitter. Das Schiff ging durch etliche heftige, von Wirbelsturm begleitete Regengüsse hindurch; sie brachten aber keine Abkühlung. An den Tagen, wo Wolken am Himmel sind, macht sich die Hitze viel stärker bemerkbar als an den andern. Auch die Sonne soll dann, obwohl sie nicht direkt strahlt, viel gefährlicher sein als sonst.

Am Morgen des dreizehnten April, einem Sonntag, kamen wir nach Libreville. Hier wurden wir von dem amerikanischen Missionar Ford begrüßt. Er brachte uns als erste Gabe Afrikas Blumen und Früchte aus dem Missionsgarten. Dankbar nahmen wir seine Einladung, die Missionsstation zu besuchen, an. Sie heißt Baraka und liegt auf einem Hügel, drei Kilometer von Libreville entfernt, am Strande.

Als wir durch die Reihen der schönen Bambushäuschen der Neger zum Hügel hinanstiegen, ging gerade die Kapelle aus. Wir wurden vorgestellt und hatten einige Dutzend schwarzer Hände zu schütteln. Welch ein Unterschied zwischen diesen sauber gekleideten und sittsamen Menschen und den Schwarzen, die wir bisher in den Hafenstädten gesehen hatten! Es sind überhaupt nicht mehr dieselben Gesichter. Sie haben etwas Freies und Bescheidenes zugleich, das mich von dem Frechen, Unterwürfigen und Gequälten, das mir bisher aus so vielen Negeraugen entgegengeschaut, geradezu erlöste.

Am Dienstag früh wurden wir auf das Flussboot "Alembe" verladen. Damit es den Fluss bei jedem Wasserstande befahren könne, ist es sehr flach und breit gebaut. Die beiden Räder stehen nicht seitwärts heraus, sondern liegen nebeneinander im hinteren Schiffskörper, um vor den treibenden Baumstämmen gesichert zu sein. Der "Alembe" nimmt nur die Passagiere und ihr Reisegepäck an Bord, da er schon Fracht geladen hat. Die Kisten sollen in vierzehn Tagen mit dem anderen Flussdampfer kommen.

Um neun Uhr morgens setzen wir uns in Bewegung, um bei höchster Flut sicher über die Sandbänke vor der Mündung des Ogowe zu kommen. Einige Passagiere, die sich am Lande verspätet haben, werden im Stich gelassen; sie holen uns abends in einem Motorboot ein.

Wasser und Urwald...! Wer vermöchte diese Eindrücke wiederzugeben? Es ist uns, als ob wir träumten. Vorsintflutliche Landschaften, die wir als Phantasiezeichnungen irgendwo gesehen, werden lebendig. Man kann nicht unterscheiden, wo der Strom aufhört und das Land anfängt. Ein gewaltiges Filzwerk von Wurzeln, von Lianen überkleidet, baut sich in den Fluss hinein. Palmstauden, Palmbäume, dazwischen Laubhölzer mit grünendem Gezweig und mächtigen Blättern, vereinzelte hochragende Bäume, weite Felder übermannshoher Papyrusstauden mit großen fächerartigen Blättern, in dem üppigen Grün erstorbene Bäume, vermodert zum Himmel emporragend... Aus jeder Lichtung blitzen Wasserspiegel entgegen; an jeder Biegung tun sich neue Flussarme auf. Ein Reiher fliegt schwerfällig auf und lässt sich auf einem erstorbenen Baume nieder; blaue Vögelchen schweben über dem Wasser; in der Höhe kreist ein Fischadlerpaar. Da, ein Irrtum ist unmöglich! Vom Palmbaum hängt's herunter und bewegt sich: zwei Affenschwänze! Nun werden auch die dazu gehörigen Besitzer sichtbar. Jetzt ist's wirklich Afrika.

So geht es fort, Stunde um Stunde. Jede Ecke, jede Biegung gleicht der anderen. Immer nur derselbe Wald, dasselbe gelbe Wasser. Die Monotonie steigert die Gewalt dieser Natur ins Ungemessene. Man schließt die Augen eine Stunde, und wenn man sie öffnet, erblickt man wieder genau, was vorher schon da war. Der Ogowe ist hier kein Fluss, sondern ein System von Strömen. Drei oder vier Arme schlingen sich durcheinander. Dazwischen fügen sich große und kleine Seen ein. Wie der schwarze Steuermann sich in diesem Wirrsal von Wasserläufen zurechtfindet, ist mir ein Rätsel. Die Speichen des großen Rades in den Händen, lenkt er das Schiff ohne Karte aus dem großen Strom in den engen Kanal, aus diesem in den See, von hier zurück in einen großen Lauf... und so fort. Er fährt die Strecke seit sechzehn Jahren und findet sich selbst bei Mondenschein zurecht.

Die Strömung ist im Unterlauf träge, nimmt aber nach oben bedeutend zu. Unsichtbare Sandbänke und unter dem Wasser treibende Baumstämme erheischen große Vorsicht bei der Fahrt.

Im Mondenschein geht es weiter. Bald sieht man den Urwald nur wie einen dunklen Saum am Ufer stehen, bald streift das Schiff an der dunklen, unerträgliche Hitze ausströmenden Wand entlang. Mild liegt das Licht des Nachtgestirns über dem Wasser. In der Ferne Wetterleuchten. Nach Mitternacht wird das Schiff in einer stillen Bucht verankert. Die Passagiere kriechen unter ihre Moskitonetze. Manche schlafen in den Kabinen, andere im Ess-Saal auf den Polstern, die sich an der Wand entlang ziehen und unter denen die Postsäcke liegen.

Gegen fünf fängt die Maschine wieder an zu arbeiten. Der Wald wird noch großartiger als im Unterlauf. Wir haben über zweihundert Kilometer zurückgelegt. In der Ferne erscheint ein Hügel, darauf einige rote Dächer: die Missionsstation N'Gômô. Da während zwei Stunden Holzscheite eingenommen werden, haben wir Zeit, die Station und ihre Sägerei zu besichtigen.

Nach etwa fünf Stunden Fahrt kommen in der Ferne die sanften Höhen von Lambarene in Sicht. Der Dampfer lässt die Sirene ertönen, obwohl wir erst in einer halben Stunde ankommen werden. Aber die Bewohner der weit auseinanderliegenden Faktoreien müssen beizeiten benachrichtigt werden, damit sie sich in ihren Kanus am Landungsplatz einfinden können, um die für sie bestimmten Frachtstücke in Empfang zu nehmen.

Von der Missionsstation Lambarene bis zur Haltestelle ist es mehr denn eine halbe Stunde Kahnfahrt. Als das Schiff anlegte, konnte daher niemand zur Stelle sein, um uns zu begrüßen. Aber während des Ausladens - die Sonne brannte heiß, es war gegen vier Uhr - sehe ich plötzlich ein langes, schmales Kanu, von lustig singenden Knaben gerudert, um das Schiff herumschiessen, und zwar so schnell, dass der darin sitzende Weiße nur gerade noch Zeit hat, sich nach hinten zu werfen, um nicht mit dem Kopf an das Haltetau des Dampfers zu schlagen. Es ist Missionar Christol mit der Unterstufe der Knabenschule; dahinter kommt ein Boot mit Missionar Ellenberger, von der Oberstufe gerudert. Die Knaben waren miteinander um die Wette gefahren, und die Kleinen hatten gesiegt, wohl weil ihnen das leichtere Boot zugestanden worden war. Sie dürfen die Doktorsleute fahren; die andern laden das Gepäck auf. Welch herrliche Kindergesichter! Gravitätisch spaziert ein Knirps mit meinem schweren Gewehr einher.

Vom Hauptstrom geht es nach einer halben Stunde, immer unter fröhlichem Gesang, in einen Nebenarm. Einige weiße Punkte auf der von der sinkenden Sonne umfluteten Anhöhe: die Häuser der Station. Je näher wir kommen, desto lauter wird der Gesang. Nun wird der von einem Gewitterwind bewegte Fluss überquert, das Boot gleitet in die kleine Bucht.

Zunächst heißt es, eine Reihe schwarzer Hände drücken. Dies sind wir nun schon gewohnt. Dann werden wir von Frau Missionar Christol, der Lehrerin Fräulein Humbert und dem Handwerkermissionar Herrn Kast den Hügel hinauf zu unserem Häuschen geleitet, das die Kinder in aller Eile mit Blumen und Palmzweigen geschmückt hatten. Ganz aus Holz gebaut, ruht es auf etwa vierzig eisernen Pfählen, die einen halben Meter aus dem Boden stehen. Eine Veranda läuft um die vier Zimmerchen herum. Die Aussicht ist entzückend: unten der Flussarm, der sich an einzelnen Stellen zu einem See ausdehnt; ringsum Wald; in der Ferne wird ein Streifen des Hauptstromes sichtbar; dahinter liegen blaue Berge.

Kaum dass wir Zeit haben, das Notwendigste auszupacken, ist die Nacht, die hier gleich nach sechs Uhr beginnt, hereingebrochen. Die Glocke ruft die Kinder zur Abendandacht in den Schulsaal. Ein Heer von Grillen fängt an zu zirpen und begleitet den Choral, der zu uns herüberdringt. Ich sitze auf einem Koffer und höre ergriffen zu. Da kriecht ein hässlicher Schatten an der Wand herunter. Ich schaue erschreckt auf und erblicke eine mächtige Spinne. Sie ist viel größer als die stattlichste, die ich je in Europa gesehen. Eine bewegte Jagd, und sie ist erschlagen.

Um sechs Uhr morgens läutet die Glocke. Der Choral der Kinder in der Schule ertönt. Nun beginnt die neue Tätigkeit in der neuen Heimat.

III. DIE BRÜDERSCHAFT DER VOM SCHMERZ GEZEICHNETEN

Was ist das Endergebnis der Erfahrungen dieser viereinhalb Jahre?

In allem hat sich mir bestätigt, dass die Überlegungen, die mich aus der Wissenschaft und aus der Kunst in den Urwald hinaustrieben, richtig waren. "Die Eingeborenen, die am Busen der Natur leben, sind nicht so viel krank wie wir und spüren den Schmerz nicht wie wir", hatten mir meine Freunde gesagt, um mich zurückzuhalten. Ich aber habe gesehen, dass dem nicht so ist. Draußen herrschen die meisten Krankheiten, die wir in Europa haben, und manche, die hässlichen, die wir dorthin getragen haben, schaffen dort womöglich noch mehr Elend als bei uns. Den Schmerz aber fühlt das Naturkind wie wir, denn Mensch sein heißt der Gewalt des furchtbaren Herrn, dessen Name Weh ist, unterworfen sein.

Die Völker, die Kolonien besitzen, müssen wissen, dass sie damit zugleich eine ungeheure humanitäre Verantwortung gegen die Bewohner derselben übernommen haben.

Selbstverständlich müssen die Staaten als solche an dem Sühnen mithelfen. Sie können es aber erst tun, wenn die Gesinnung dazu in der Gesellschaft vorhanden ist. Zudem vermag der Staat allein Humanitätsaufgaben niemals zu lösen, da sie ihrem Wesen nach Sache der Gesellschaft und der einzelnen sind.

Der Staat kann so viele Kolonialärzte aussenden, als er zur Verfügung hat und als das Budget der Kolonie es erlaubt. Dass es große Kolonialmächte gibt, die nicht einmal genug Ärzte haben, um die bereits vorgesehenen und bei weitem nicht ausreichenden Kolonialarztstellen zu besetzen, ist bekannt. Die Hauptsache an dem ärztlichen Humanitätswerke fällt also der Gesellschaft und den einzelnen zu. Wir müssen Ärzte haben, die freiwillig unter die Farbigen gehen und auf verlorenen Posten das schwere Leben unter dem gefährlichen Klima und alles, was mit dem Fernsein von Heimat und Zivilisation gegeben ist, auf sich nehmen. Aus Erfahrung kann ich ihnen sagen, dass sie für alles, was sie aufgegeben haben, reichen Lohn in dem Guten, was sie tun können, finden werden.

Unter den Armen draußen können sie aber die Kosten ihrer Tätigkeit und ihres Lebensunterhaltes gewöhnlich nicht oder nicht vollständig aufbringen. In der Heimat müssen also Menschen sein, die ihnen das Notwendigste geben. Uns allen fällt dies zu. Wer aber soll, ehe dies allgemein eingesehen und anerkannt wird, damit anfangen? Die Brüderschaft der vom Schmerz Gezeichneten. Wer sind diese?

Die, die an sich erfuhren, was Angst und körperliches Weh sind, gehören in der ganzen Welt zusammen. Ein geheimnisvolles Band verbindet sie. Miteinander kennen sie das Grausige, dem der Mensch unterworfen sein kann, und miteinander die Sehnsucht, vom Schmerze frei zu werden. Wer vom Schmerz erlöst wurde, darf nicht meinen, er sei nun wieder frei und könne unbefangen ins Leben zurücktreten, wie er vordem darin stand. Wissend geworden über Schmerz und Angst, muss er mithelfen, dem Schmerz und der Angst zu begegnen, soweit Menschenmacht etwas über sie vermag, und andern Erlösung zu bringen, wie ihm Erlösung ward.

Wer durch ärztliche Hilfe aus schwerer Krankheit gerettet wurde, muss mithelfen, dass die, die sonst keinen Arzt hätten, einen Helfer bekommen, wie er einen hatte.

Wer durch eine Operation vom Tode oder der Qual bewahrt wurde, muss mithelfen, dass da, wo jetzt Tod und Qual noch ungehemmt herrschen, der barmherzige Betäubungsstoff und das helfende Messer ihr Werk beginnen können.

Die Mutter, die es ärztlicher Hilfe verdankt, dass ihr Kind noch ihr und nicht der kalten Erde gehört, muss .helfen, dass der armen Mutter da, wo noch keine Ärzte sind, durch einen Arzt erspart bleiben kann, was ihr erspart blieb.

Wo das Todesleiden eines Menschen hätte furchtbar werden können, durch die Kunst eines Arztes aber sanft werden durfte, müssen die, die sein Lager umstanden, mithelfen, dass andern derselbe letzte Trost für ihre Lieben zuteil werden könne.

Dies ist die Brüderschaft der vom Schmerz Gezeichneten, der das ärztliche Humanitätswerk in den Kolonien obliegt. Aus ihren Dankbarkeitsgaben soll es entstehen. Als ihre Beauftragten sollten die Ärzte hinausgehen, um unter den Elenden in der Ferne zu vollbringen, was im Namen der Menschlichkeitskultur vollbracht werden muss.

Früher oder später wird sich die Idee, die ich hier ausspreche, die Welt erobern, weil sie in unerbittlicher Logik sowohl das Denken wie das Herz zwingt.

Ist es aber an der Zeit, sie jetzt in die Welt zu senden? Europa ist ruiniert und im Elende. So vieler Not haben wir in unserem nächsten Gesichtskreise zu wehren. Wie können wir noch der fernen gedenken?

Die Wahrheit hat keine Stunde. Ihre Zeit ist immer und gerade dann, wenn sie am unzeitgemäßesten scheint. Die Sorge um die nahe und um die fremde Not vertragen sich, wenn sie miteinander genug Menschen aus der Gedankenlosigkeit wecken und einen neuen Geist der Humanität ins Leben rufen.


Literaturverzeichnis

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Plinius Fisk, von Alvan Bond. Deutsche Ausgabe Erlangen, Verlag Carl Heyder 1835.

Reginald Hebers, Lordbischofs von Kalkutta, Leben und Nachrichten über Indien. Deutsche Ausgabe in 2 Bänden Berlin, Verlag Ferdinand Dümmler 1831,

Eugene Casalis: Meine Erinnerungen. Deutsche Ausgabe Berlin, Verlag der Deutschen Orient-Mission 1901.

Wilhelm Posselt, der Kaffernmissionar. Ein Lebensbild aus der Südafrikanischen Mission, heraugegeben von E. Pfitzner und D. Wangemann. Berlin, Verlag der Berliner Mission 1888.

David Livingstone: Missionsreisen und Forschungen in Südafrika. Deutsche Ausgabe in 2 Bänden Leipzig, Verlag Hermann Costenoble 1858.

John G. Paton: Missionar auf den Neuen Hebriden. Eine Selbstbiographie. Deutsche Ausgabe Leipzig, Verlag H. G. Wallmann 1891.

Jane Edkins: Ein Missionsleben in einer Reihe von Briefen. Deutsche Ausgabe Gütersloh, Verlag C. Bertelsmann 1871.

Alexander Merensky: Erinnerungen aus dem Missionsleben in Südostafrika (Transvaal) 1859 - 1882. Bielefeld und Leipzig, Verlag Velhagen und Klasing 1888.

Johannes Warneck: Werfet eure Netze aus. Erinnerungen. Berlin, Verlag Martin Warneck 1938.

Martin Wilde: Schwarz und Weiß in Südafrika. Bilder von einer Reise durch das Arbeitsgebiet der Berliner Mission. Berlin, Verlag der Berliner Mission 1913.

Bruno Gutmann: Das Dschaggaland und seine Christen. Leipzig, Verlag der Evang.-luther. Mission 1925.

Gerhard Rosenkranz: Fernost - wohin? Begegnungen mit den Religionen Japans und Chinas im Umbruch der Gegenwart. Heilbronn, Verlag Eugen Salzer 1940.

Albert Schweitzer: Zwischen "Wasser und Urwald. Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwalde Äquatorialafrikas. München, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1926.

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