Alexander von Humboldt

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Alexander von Humboldt

Ansichten der Natur

Quelle: Johannes Paul: ''Abenteuerliche Lebensreise - Sieben biographische Essays'' (Seite 141 - 205: Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur) - Wilhelm Köhler Verlag Minden 1954

Inhalt

Alexander von Humboldt

Kupferstich von Auguste Denoyers nach einer Zeichnung von Francois Gérard, 1805

Symbolische Landschaft

Handzeichnung von Goethe zu Humboldts Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“

Indianische Hängebrücke

Stich aus Humboldts „Vues des Cordilleres“

Der Chimborasso

Stich aus Humboldts Atlas de Voyage aux Regions Equioxiales“

Alexander von Humboldt

Gemälde von Karl Begas, 1848

"Ich ging nach Berlin," schrieb im Jahre 1856 der amerikanische Reisende Bayard Taylor, "nicht um seine Museen und Galerien, die schöne Lindenstraße, Opern und Theater zu sehen, noch um mich an dem munteren Leben seiner Strassen und Salons zu erfreuen, sondern um den größten jetzt lebenden Mann der Welt zu sprechen - Alexander von Humboldt.

Ich drückte die Hand, welche die Friedrichs des Großen, Forsters, des Gefährten Cooks, Klopstocks und Schillers, Pitts, Napoleons, Josephinens, der Marschälle des Kaiserreichs, Jeffersons, Hamiltons, Wielands, Herders, Goethes, Cuviers, Laplaces, Gay-Lussacs, Beethovens, Walter Scotts - kurz aller großen Männer, die Europa in drei Vierteln eines Jahrhunderts erzeugt hat, berührt hatte. Ich blickte in das Auge, welches nicht allein die gegenwärtige Geschichte der Welt, Szene nach Szene, hatte vorüberziehen sehen, bis die Handelnden einer nach dem anderen verschwanden, um nicht wiederzukehren, sondern das auch die Katarakte von Aturas und die Wälder von Cassiquiare, den Chimborasso, den Amazon und Popocatepetl, die Altaischen Alpen von Sibirien, die Tatarensteppen und das Kaspische Meer betrachtet hatte. Ich habe nie ein so erhabenes Beispiel bejahrten Alters, gekrönt mit unvergänglichen Erfolgen, voll des reichsten Wissens, belebt und erwärmt durch die reichsten Attribute des Herzens, gesehen. Eine Ruine, wirklich? Nein, ein menschlicher Tempel, vollendet wie der Parthenon."

Das Leben dieses Mannes umspannt einen für das Dasein eines einzelnen Menschen unvorstellbar langen Zeitraum. Er war siebzehn Jahre alt, als Friedrich der Große starb. Als er selbst zu Grabe getragen wurde, war Wilhelm II. schon geboren. In gefahrvollen Situationen traf Humboldt wohl gelegentlich Bestimmungen für den Fall eines frühen gewaltsamen Todes. Im Grunde war er aber tief davon überzeugt, dass ihm ein langes Leben beschieden sein werde, um das vollenden zu können, was er als Mission in sich fühlte. Sein Leben ist geradezu darauf angelegt, nahezu ein Jahrhundert zu währen.

Humboldt war kein Träumer. Die Welt der Romantik blieb ihm fremd. Nie verlor er sich in ganz uferlose Wünsche und Pläne. Aber einen Traum hat er schon als Knabe geträumt und mit grenzenloser Zähigkeit verwirklicht: Die große Reise. Er verfolgte kein bestimmtes geographisches Ziel. Asien, Afrika, Amerika, die Südsee und der Südpol, sie alle werden in nüchternen Plänen erwogen. Der Zufall mehr als sein eigener Entschluss bringt schließlich die Entscheidung: Amerika. Die Reise machte Epoche, nicht nur im Leben Humboldts, sondern in der Geschichte der Wissenschaft. Die Reise des Kolumbus führte zur Entdeckung einer neuen Welt. Humboldts Reise, drei Jahrhunderte später, hatte zur Folge ein neues Weltbild.


Das erste Menschenalter

Alexander von Humboldt wurde am 14. September 1769 im gleichen Jahre wie Napoleon und Wellington - in Berlin in der Jägerstraße geboren. Sein Vater stammte aus einer erst nach 1700 geadelten märkischen Beamtenfamilie, die Mutter aus einem Hugenottengeschlecht. Im Winter lebte die Familie Humboldt in Berlin, im Sommer meist auf dem Schlösschen Tegel, das erst durch die Mutter in die Familie gekommen war. Schon als Zehnjähriger verlor Alexander den Vater; seitdem wurde seine und des zwei Jahre älteren Bruders Wilhelm Erziehung allein von der Mutter geleitet. Der Unterricht erfolgte nur durch Privatlehrer, die Naturkunde trat dabei ganz zurück. In fast allen Wissenschaften, denen Alexander später sein Leben widmete, war er Autodidakt. Eine öffentliche Schule hat er nie besucht, auch nie im Leben ein Examen abgelegt.

Wilhelm erwies sich in der Jugend als der weitaus Begabtere. Alexander war dauernd kränklich und konnte dem Unterricht nur mit Mühe folgen. Lange Zeit zweifelten seine Lehrer, ob sich jemals auch nur gewöhnliche Geisteskräfte bei ihm entwickeln würden. Das Studium des Griechischen hat er erst als Student begonnen. Wirkliche Begabung offenbarte er nur im Zeichnen. Schon als Siebzehnjähriger stellte er in der ersten Kunstausstellung der Berliner Akademie eine Kreidezeichnung aus. Im Radieren und Kupferstechen wurde Chodowiecki sein Lehrer. Für Musik hatten beide Brüder keinen Sinn. Wilhelm fand sie unerträglich, und Alexander empfand sie zeitlebens als eine "calamite sociale".

Mehr noch als andere Knaben interessierten ihn Erzählungen von Abenteuern und Reisen in fremden Ländern. Vor allem erregte ihn das Betrachten geographischer Karten, die Umrisse der Länder, die Formen der asiatischen Binnenseen, auch die Abbildungen von Palmen und Libanon-Zedern in einer alten Bilderbibel und ein großer Drachenbaum im botanischen Garten in Berlin. Die ganze Atmosphäre in Humboldts Elternhaus war kühl und korrekt, das Verhältnis zur Mutter ohne jede Wärme des Gefühls. Von frohen Jugendeindrücken weiß Alexander nicht viel zu berichten. Briefe aus Tegel datiert er häufig "Schloss Langweil".

Da Berlin keine Universität besaß, bezog Humboldt als Achtzehnjähriger mit dem Bruder die Universität Frankfurt an der Oder. Noch immer zeigte er keine deutliche Berufsneigung, sollte daher auf Wunsch der Mutter Kameralia studieren, um sich für den Staatsdienst vorzubereiten. Die Universität war klein und bot wenig Anregungen für Studium und studentisches Leben. Aber Humboldt war von zu Hause aus nicht verwöhnt. "Mit ein wenig Philosophie wird man bald gewahr, dass der Mensch für jeden Erdenstrich, also auch für die frostigen Ufer der Oder geboren ist." Wilhelm stürzte sich sogleich in ernste Studien. Von seinem Verhältnis zum Bruder sagt er: "Wir sind uns sehr gut, aber selten einig. Unser Charakter ist zu verschieden." Ihre Beziehungen sind schon jetzt so wie im ganzen späteren Leben: liebevoll, aber recht distanziert. Jeder spricht mit betonter Ächtung von den Leistungen des anderen, doch auf Seiten Wilhelms ist oft ein kleiner Vorbehalt, eine leise Kritik dabei, die aus der grundverschiedenen Veranlagung beider entspringen. Wilhelm ist der erste, der bei Alexander besondere Begabungen feststellt. Wenig später schreibt er: "überhaupt verkennen ihn die Leute, vorzüglich, wenn sie mich in Talent und Kenntnissen so weit über ihn setzen. Talent hat er weit mehr wie ich, und Kenntnisse - abgerechnet, dass er jünger ist - ebenso viel, nur in anderen Fächern."


Das universale Interesse

Bald zeigte es sich, dass die Universität Frankfurt beiden Brüdern für ihre Studienrichtung nicht genug bieten konnte. Schon nach dem ersten Semester verließen sie die Stadt. Wilhelm ging nach Göttingen, Alexander blieb zunächst in Berlin. Er vertiefte sich in das Studium des Griechischen, und vor allem wurde er hier mit dem jungen Botaniker Willdenow bekannt, der soeben eine Flora von Berlin veröffentlichte und Humboldt für seine Wissenschaft begeisterte.

Endlich hat er ein Interesse gefunden, dem er sich mit Leidenschaft zuwenden kann. In einem Brief an den Frankfurter Freund Wegener schildert er einen Spaziergang durch den Berliner Tiergarten. Gerade für den, der sich gern in die Einsamkeit vergräbt, schreibt er, hat die Beschäftigung mit der Natur etwas ungemein Anziehendes, sie versetzt ihn in eine süße Schwermut. Aber von ästhetischen Empfindungen kommt der junge Kameralist rasch auf den praktischen Wert der Naturerkenntnis. "Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen." Unübersehbar viele Kräfte sieht er ungenutzt in der Natur liegen, deren Entwicklung Tausenden von Menschen Nahrung und Beschäftigung geben kann. "Viele Produkte, die wir von fernen Weltteilen holen, treten wir in unserem Lande mit Füßen, bis nach vielen Jahrzehnten ein Zufall sie entdeckt. Welch ein schiefes Urteil zu meinen, dass die paar Pflanzen, welche wir bauen, (ich sage, ein paar gegen die zwanzigtausend, welche unsern Erdball bedecken,) alle Kräfte enthalten, die die gütige Natur zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in das Pflanzenreich legte." Es klingt wie ein Programm seiner künftigen Lebensarbeit. Kaum hat sich ihm dieses neue Interesse erschlossen, da denkt er schon an ein umfassendes Werk über die gesamte Pflanzenwelt, zu dem er wegen der Vielzahl der Gesichtspunkte, die sich ihm aufdrängen, gleich mehrere Spezialkenner als Mitarbeiter vereinigen will.

Im Frühjahr 1789 folgte Alexander dem Bruder an die Universität Göttingen, die damals auf der Höhe ihres Ruhmes stand. Nicht nur Philosophie, Weltgeschichte und klassische Philologie waren hier durch hervorragende Lehrer vertreten; Göttingen war auch die erste deutsche Universität, an der verschiedene Zweige der Naturkunde zum Range von Wissenschaften erhoben wurden. Für das erwachende universale Interesse Humboldts konnte kein Platz in Deutschland geeigneter sein. Auf einer Rheinreise sammelte er das Material für seine erste größere Arbeit, die "Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein." Er folgt darin noch der herrschenden Ansicht über den neptunistischen Ursprung des Basalts, zeigt aber schon die wesentlichen Züge seiner späteren wissenschaftlichen Arbeiten: hervorragendes Beobachtungstalent und kritische Beherrschung der Literatur.

Das entscheidende Erlebnis dieser Zeit war für Humboldt die Begegnung mit dem Weltreisenden Georg Forster. Er begleitete ihn auf der Reise nach England, die später durch Forsters "Ansichten vom Niederrhein" berühmt wurde. Der Umgang und die Reise mit Forster gaben Humboldts Interessen eine feste Richtung: Er beschloss, Naturforscher zu werden in dem umfassenden Sinn, den der universale Geist seiner Epoche ihm vorzeichnete. Eine große Reise in die Länder der Tropen sollten ihn zu diesem Ziel führen.

Noch aber war es nicht so weit, denn zunächst verfügte Humboldt noch nicht über eigenes Vermögen, und vor allem musste er sich erst noch viel tiefer in die Methoden der Forschung einarbeiten. Zehn Jahre dauerte diese Epoche der Vorbereitung. Er verbannt alles aus seinem Leben, was ihn ablenken kann. Nirgends wird er an einem Ort wirklich sesshaft, um nicht in Abhängigkeit zu geraten. Den gesellschaftlichen Verkehr, die Freundschaften beschränkt er allein auf das, was seinen Zielen dienen kann. Frauenliebe hat in seinem Leben jetzt wie auch später nie eine Rolle gespielt.

 

Die Mutter bestand weiterhin auf Fortsetzung der Studien zum Eintritt in den Staatsdienst. Auch das vermochte er seinen Zwecken nutzbar zu machen. Im Herbst 1790 ging er nach Hamburg an die Handelsakademie, doch schon ein halbes Jahr später siedelte er an die Bergakademie in Freiberg über, wo der hervorragende Geologe Werner tätig war, der Hauptvertreter der neptunistischen Schule. Mit Feuereifer warf er sich auf das Studium der Geologie und praktischer bergmännischer Fragen, immer geleitet von der glücklichen Gabe, an allem, was er anfasste, sogleich ein brennendes Interesse zu finden.

Mit dreiundzwanzig Jahren wird er von der preußischen Bergwerksverwaltung ohne jeden Studienabschluss zum Assessor ernannt. Er erhält den Auftrag, die Bergwerke in den beiden fränkischen Markgrafentümern geologisch und bergmännisch zu untersuchen. Der Minister war von seinem Bericht entzückt und übertrug ihm sogleich die gesamte Leitung der preußischen Bergämter in Franken.

Ein weites Arbeitsfeld tat sich auf, das seine wissenschaftlichen Neigungen und seinen Tätigkeitsdrang wohl einige Zeit hinreichend beschäftigen konnte. "Alle meine Wünsche", schrieb er an den Freund Freiesleben in Freiberg, "sind nun erfüllt. Ich werde nun ganz dem praktischen Bergbau und der Mineralogie leben. Die hiesigen Lagerstätten sind unendlich interessant. Ich taumele vor Freude. Vor einem Jahr fragte ich Sie, was ein Gesenk wäre, und jetzt bin ich Oberbergmeister." Weitere Dienstreisen zur Untersuchung von Steinsalzquellen und Siedevorrichtungen führten ihn nach Oberbayern, ins Salzkammergut, nach Oberschlesien und Galizien.

Trotzdem wollte er sich auch jetzt nicht allzu eng an den neuen Arbeitskreis binden, über aller emsigen Tätigkeit verlor er nie sein weiteres Ziel aus den Augen. Als ihm nach drei Jahren die Oberaufsicht über alle Bergwerks- und Hüttenbetriebe in Schlesien übertragen werden sollte, lehnte er entschieden ab. Nur die finanzielle Abhängigkeit von der damals schon kranken Mutter hielt ihn im Staatsdienst fest. Im Sommer 1796 nahm er sich fest vor, im folgenden Jahre seine Ämter aufzugeben und eine Studienreise nach Italien anzutreten, "meine Mutter mag tot oder lebendig sein."

Der Tod der Mutter, Ende 1796, brachte schließlich die entscheidende Wendung für seine Pläne. "Du weißt," schreibt er an Freiesleben, "dass mein Herz von der Seite nicht empfindlich getroffen werden konnte, wir waren uns von jeher fremd." Humboldt erbte ein ansehnliches Vermögen, rund hunderttausend Taler, und war endlich frei in allen seinen Entschlüssen.

 

Durch seinen Bruder, der schon seit Jahren mit Schiller befreundet war, wurde Alexander während seiner fränkischen Tätigkeit in Jena und Weimar eingeführt. Es ist bezeichnend für das Wesen der beiden Brüder, dass Wilhelm sich mehr zu Schiller, Alexander von Anfang an zu Goethe hingezogen fühlte.

Schiller konnte für den jungen Gelehrten, der die Natur mit Maß und Zahl erforschen wollte, wenig Verständnis aufbringen. In einem Brief an Körner spricht er 1797 seine Ansicht über Humboldt mit schonungsloser Offenheit aus: "über Alexander habe ich kein rechtes Urteil; ich fürchte aber, trotz aller seiner Talente und seiner rastlosen Tätigkeit wird er in seiner Wissenschaft nie etwas Großes leisten. Eine zu kleine, unruhige Eitelkeit beseelt noch sein ganzes Wirken. Ich kann ihm keinen Funken eines reinen, objektiven Interesses abmerken, und wie sonderbar es auch klingen mag, so finde ich in ihm, bei allem ungeheuren Reichtum des Stoffes, eine Dürftigkeit des Sinnes, die bei dem Gegenstande, den er behandelt, das schlimmste Übel ist. Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfasslich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Freiheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maßstabe macht. Kurz, mir scheint er für seinen Gegenstand ein viel zu grobes Organ, und dabei ein viel zu beschränkter Verstandesmensch zu sein. Er hat keine Einbildungskraft, und so fehlt ihm nach meinem Urteil das notwendigste Vermögen zu seiner Wissenschaft, denn die Natur muss angeschaut und empfunden werden in ihren einzelnsten Erscheinungen wie in ihren höchsten Gesetzen. Alexander imponiert sehr vielen und gewinnt im Vergleich mit seinem Bruder meistens, weil er ein Maul hat und sich geltend machen kann. Aber ich kann sie dem absoluten Werte nach gar nicht miteinander vergleichen, so viel achtungswürdiger ist mir Wilhelm."

Zu den vielen, denen Alexander dennoch imponierte, gehörte Goethe, dem er schon als Knabe einmal in Tegel begegnet war. Von 1794 an trafen beide oftmals in Jena oder Weimar zusammen. Goethe fühlte sich in seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen durch ihn mehr als durch andere belehrt und gefördert. "Alexander von Humboldt, längst erwartet, von Bayreuth ankommend, nötigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft," notiert er 1794 in den "Tages- und Jahresheften". Drei Jahre später schreibt er nach einem Besuch Humboldts: "Alles der Natur Angehörige kam philosophisch und wissenschaftlich zur Sprache." Der Sinn für das Ganze der Natur, das Streben, die Mannigfaltigkeit ihrer Ordnungen als lebendige Einheit zu erfassen, das war es, was den Dichter und den jungen Naturforscher zusammenführte. Nach der Rückkehr von seiner großen Reise bekannte Humboldt: "überall ward ich von dem Gefühl durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich eingewirkt, wie ich, durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet war!"

Nur in einem vermochte Goethe Humboldt nicht zu folgen, in dessen späteren Ansichten über die Natur der geologisch wirksamen Kräfte. Der Gedanke, dass die Erdrinde sich in urweltlichen Epochen langsam aus der "Lebensfeuchte" gebildet habe, sagte seiner ganzen Anschauung weit mehr zu als die neue Lehre von vulkanischen Katastrophen, die Humboldt auf Grund der Erfahrungen seiner Amerikareise entwickelte. Im zweiten Teil des "Faust" spottet Mephisto über die neue vulkanische Hebungstheorie, und 1828 eifert Goethe: "Wenn Alexander von Humboldt und die andern Plutonisten mir's zu toll machen, werde ich sie schändlich blamieren; schon zimmere ich Xenien genug im stillen gegen sie; die Nachwelt soll wissen, dass doch wenigstens ein gescheiter Mann in unserm Zeitalter gelebt hat, der jene Absurditäten durchschaute." Der Gedanke, mit Xenien gegen diese neue Anschauung zu Felde zu ziehen, schien ihn aber doch nicht ganz zu befriedigen. Noch bis an sein Ende lässt ihm die Sache keine Ruhe. Wenige Monate vor dem Tode schreibt er an Zelter: "Dass sich die Himalayagebirge auf fünfundzwanzigtausend Fuß aus dem Boden gehoben, und doch so starr und stolz, als wäre nichts geschehen, in den Himmel ragen, steht außer den Grenzen meines Kopfes, in den düsteren Regionen, wo die Transsubstantiation haust, und mein Cerebralsystem müsste ganz umorganisiert werden - was doch schade wäre - wenn sich Räume für diese Wunder finden sollten."

Die Differenz der Anschauungen in diesem einen Punkte konnte aber Goethes Achtung vor Humboldts Persönlichkeit und Leistungen nicht beeinträchtigen. Mit Spannung verfolgt er die Amerikaexpedition und später die Veröffentlichung der Reisewerke. Am 11. Dezember 1826, schreibt Eckermann, trat ihm Goethe freudig erregt mit den Worten entgegen: "Alexander von Humboldt ist diesen Morgen einige Stunden bei mir gewesen. Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange, und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hier bleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt."

Nach Regelung der Erbschaftsfragen konnte sich Humboldt endlich mit ganz konkreten Reiseplänen befassen. Die politische Weltlage war allerdings für überseeische Unternehmungen, wie sie ihm vorschwebten, denkbar ungünstig. Im Herbst 1797 machte ihm ein Engländer, Lord Bristol, den Vorschlag, ihn auf einer Reise nach Ägypten zu begleiten. Der schwerreiche Lord war trotz seiner hohen kirchlichen Würden - er war Bischof von Derby - als Freigeist und seltsames Original bekannt. Humboldt nennt ihn "halb toll, halb Genie." Es sollte eine Expedition in großem Stil werden mit eigenem Schiff und bewaffneten Leuten. Sogar zwei Damen wollten den Lord begleiten; die eine war die Gräfin Lichtenau, die ehemalige Geliebte Friedrich Wilhelms II. Aber alle großartigen Pläne waren vergeblich. Der Lord wurde in Mailand verhaftet, und Bonapartes Feldzug nach Ägypten machte die Reise schließlich ganz unmöglich.

Bald danach wurde Humboldt von der französischen Regierung aufgefordert, den Kapitän Baudin auf einer Forschungsreise um die Welt zu begleiten, die fünf Jahre dauern sollte. Schon waren die Vorbereitungen in vollem Gange, da wurden plötzlich wegen des Kriegsausbruchs die Geldmittel gestrichen und die Expedition auf unabsehbare Zeit vertagt. Humboldt, der schon in Paris war, um wissenschaftliche Instrumente zu kaufen, beschloss nun, mit einer eigenen Expedition der ägyptischen Armee zu folgen. Zusammen mit dem jungen französischen Botaniker Bonpland wollte er über Algier nach Tripolis reisen und von dort mit einer Mekkakarawane zu Bonaparte stoßen. Die Reisenden warteten bereits zwei Monate lang in Marseille mit gepackten Koffern auf die Gelegenheit zur überfahrt nach Afrika, da kam die Nachricht, dass das Schiff an der Küste von Portugal mitsamt der Mannschaft untergegangen war und der Bey von Algier die Karawane nach Mekka nicht abgehen lassen wollte, "damit sie nicht durch das von Christen verunreinigte Ägypten ziehe."

Alle diese Fehlschläge konnten Humboldt nicht entmutigen. Von Spanien aus, meinte er, würde es bei der politischen Lage leichter sein, ein überseeisches Ziel zu erreichen. So machte er sich Ende 1798 mit Bonpland von Marseille aus auf den Weg. Nach einer sechswöchigen Fußwanderung kamen sie in Madrid an. Durch den sächsischen Gesandten von Forell wurde Humboldt am Hof in Aranjuez eingeführt und konnte selbst dem König den Plan einer großen Forschungsreise durch die spanischen Besitzungen in Amerika vortragen. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Sein diplomatisches Geschick und die Hilfe eines freisinnigen Ministers beseitigten auch die letzten Schwierigkeiten. Schon nach wenigen Wochen war er im Besitz eines Passes, der es ihm und seinem Gehilfen gestattete, ungehindert alle spanischen Kolonien in Amerika zu bereisen.

Misstrauisch hatte Spanien bisher diese Länder von aller Welt abgeschlossen. Seit der Entdeckung durften sie nur mit dem Mutterland Handel treiben. Nichtspaniern war der Zutritt verwehrt. So gehörten diese Gebiete, die sich ihm jetzt öffneten, tatsächlich zu den wissenschaftlich am wenigsten bekannten Regionen der Erdoberfläche. Er eilte mit Bonpland nach La Coruña, wo die Amerikaschiffe in See gingen. "Welch ein Glück ist mir eröffnet!" schreibt er an Freiesleben. "Mir schwindelt der Kopf vor Freude. Welchen Schatz von Beobachtungen werde ich nun zu meinem Werk über die Konstruktion des Erdkörpers sammeln können! Der Mensch muss das Gute und das Große wollen! Das übrige hängt vom Schicksal ab."


Das zweite Menschenalter

Humboldt war dreißig Jahre alt, als er Europa verließ. Nie vor ihm ging ein wissenschaftlicher Reisender besser gerüstet an seine Aufgabe. Von seinem zwanzigsten Jahre an hatte er nur der Vorbereitung auf dieses Ziel gelebt. Die Probleme der Mineralogie und Geologie waren ihm durch Studium und praktische Bergtätigkeit wohl vertraut. Er hatte sich jahrelang in der Handhabung der Instrumente zur astronomischen Ortsbestimmung und zu meteorologischen Beobachtungen geübt und das kurz zuvor erst entdeckte Verfahren der barometrischen Höhenmessung zu großer Vollkommenheit entwickelt. Die Botanik war seine Lieblingswissenschaft vor allen anderen. Er freut sich unbändig auf die Fülle der neuen Beobachtungen, die ihm in Amerika bevorstehen. "Das alles ist aber nicht Hauptzweck meiner Reise", schreibt er in einem Abschiedsbrief aus La Coruña. "Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten Schöpfung auf die belebte Tier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein!"


Reise in die Äquinoktialgegenden

Am 5. Juni 1799 lichtete die Korvette "Pizarro" in La Coruña die Anker. Die Furcht des Hafenkommandanten vor englischen Kaperschiffen erwies sich als sehr berechtigt. Schon nach kurzer Zeit wurde von den Masten ein feindlicher Konvoi gesichtet, dem der "Pizarro" nur durch den Einbruch der Nacht entging. Bei günstigem Wind segelte das Schiff zehn Knoten in der Stunde. Am zwölften Tage sichtete man die Kanarischen Inseln. Kaum waren sie in Santa Cruz eingelaufen, da erschienen sechs englische Fregatten vor dem Hafen.

Der Kapitän hatte Befehl, so lange auf Teneriffa zu bleiben, bis Humboldt den Pik bestiegen hatte, aber wegen der feindlichen Blockade drängte er zur Eile. So blieb keine Zeit zu näherer Untersuchung des riesigen Vulkans. Humboldt ist berauscht von der Schönheit der südlichen Landschaff. "Fast mit Tränen reise ich ab," heißt es im ersten Brief an den Bruder. "Ich möchte mich hier ansiedeln und bin doch kaum vom europäischen Boden weg. Könntest Du diese Fluren sehen, diese tausendjährigen Wälder von Lorbeerbäumen, diese Trauben, diese Rosen! Mit Aprikosen mästet man hier die Schweine. Alle Straßen wimmeln von Kamelen." Sein für alle Reize der Natur empfänglicher Sinn lässt ihn viele Orte, die er auf seinen Reisen sieht, zu den schönsten der Erde zählen. Schon hier auf Teneriffa hat er dies Empfinden. "Kein Ort der Welt scheint mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem schmerzlich ergriffenen Gemüt den Frieden wiederzugeben."

Der Passat wehte so stetig, dass die Matrosen auf der weiteren Fahrt bis nach Amerika fast keine Hand an die Segel zu legen brauchten. "Man fährt in diesen Strichen, als ginge es auf einem Fluss hinunter, und es ist zu glauben, dass es kein gewagtes Unternehmen wäre, die Fahrt mit einer Schaluppe ohne Verdeck zu machen." Humboldt wird nicht müde, in jeder Nacht die Schönheit des südlichen Himmels zu bewundern. "Ein sonderbares, bis jetzt ganz unbekanntes Gefühl wird in einem rege, wenn man dem Äquator zu und namentlich beim Übergang aus der einen Halbkugel in die andere die Sterne, die man von Kindheit auf kennt, immer tiefer herabrücken und endlich verschwinden sieht. Nichts mahnt den Reisenden so auffallend an die ungeheure Entfernung seiner Heimat als der Anblick eines neuen Himmels."

Nach zwanzig Tagen erreichte das Schiff die ersten Vorbeten des südamerikanischen Festlandes, die Inseln Trinidad und Tobago. Der "Pizarro" hatte als Ziel Kuba und die mexikanische Küste; auch Humboldt wollte hier seine Arbeit beginnen. Schon mitten während der Reise war aber auf dem Schiff ein typhusartiges Fieber ausgebrochen. Alle Passagiere drängten darum, schon im ersten Hafen an Land zu gehen; das war Cumana in Terra Firma, dem heutigen Venezuela. Nach kurzem Zögern folgte ihnen Humboldt. In dem Bewusstsein, dass diese neue Welt, wo er sie auch anpackt, seinem Forschungsdrang eine Fülle von Objekten bieten wird, nimmt er diese Änderung seiner Pläne nicht tragisch. Nachträglich sieht er darin sogar eine freundliche Fügung des Schicksals. "Der Entschluss äußerte einen glücklichen Einfluss auf den Verfolg unserer Reisen. Statt einiger Wochen verweilten wir ein ganzes Jahr in Terra Firma; ohne die Seuche an Bord des "Pizarro" wären wir nie an den Orinoko, an den Cassiquiare und an die Grenzen der portugiesischen Besitzungen am Rio Negro gekommen."


Die Llanos von Venezuela

Venezuela ist tropisches Land. Durch Humboldts Schilderungen wurde es für die Europäer zum klassischen Tropenland überhaupt, das ihnen auf Jahrzehnte die bildhaften Vorstellungen, die Maßstäbe zur Beurteilung alles Lebens in diesen Breiten lieferte. Der erste Eindruck ist berauschend und verwirrend durch die Überfülle des Lichtes, die Symphonie der Farben, die Üppigkeit der Natur. "Welche Bäume! Kokospalmen, fünfzig bis sechzig Fuß hoch; Poinciana pulcherrima, mit fußhohem Strauße der prachtvollsten hochroten Blüten; Pisange und eine Schar von Bäumen mit Ungeheuern Blättern und handgroßen wohlriechenden Blüten, von denen wir nichts kennen. Und welche Farben der Vögel, der Fische, selbst der Krebse, himmelblau und gelb! Wie die Narren laufen wir jetzt umher; in den ersten drei Tagen können wir nichts bestimmen, da man immer einen Gegenstand wegwirft, um einen andern zu ergreifen. Bonpland versichert, dass er von Sinnen kommen werde, wenn die Wunder nicht bald aufhören. Aber schöner noch als diese Wunder im einzelnen ist der Eindruck, den das Ganze dieser kraftvollen, üppigen und doch dabei so leichten, erheiternden, milden Pflanzennatur macht. Ich fühle es, dass ich hier sehr glücklich sein werde."

Aber die Tropen sind nicht nur strotzende Üppigkeit der Natur. Jenseits des Küstengebirges kommt man in eine ganz andere Welt, die Llanos, ein riesiges Steppengebiet, eben wie der Spiegel des Meeres bei Windstille. Viele Tagereisen trifft man hier nicht einmal fußhohe Unebenheiten. Der einförmige Anblick dieser Steppen hat etwas Großartiges, sagt Humboldt, aber auch etwas Trauriges und Niederschlagendes. "Es ist, als ob die ganze Natur erstarrt wäre; kaum dass hin und wieder der Schatten einer kleinen Wolke, die durch den Zenit eilend die nahe Regenzeit verkündet, auf die Savanne fällt. Die Ebenen im Westen und Norden von Europa geben nur ein schwaches Bild von den unermesslichen Llanos in Südamerika. Sie sind in der Regenzeit schön begrünt, aber in der trockensten Jahreszeit bekommen sie das Ansehen von Wüsten. Das Kraut zerfällt zu Staub, der Boden berstet, das Krokodil und die großen Schlangen liegen begraben im ausgedörrten Schlamm, bis die großen Regengüsse im Frühjahr sie aus der langen Erstarrung wecken."

Trotz aller Kargheit der Natur bieten die Llanos dem Forscher viele Merkwürdigkeiten. Eine der seltsamsten sind die Gymnoten, Zitteraale, die elektrische Schläge austeilen können und von den Indianern mit Pferden gejagt werden. In einer Schilderung, die später in Europa berühmt wurde, gibt Humboldt ein Bild dieser aufregenden Jagd.

Dreißig ungezähmte Pferde und Maultiere werden auf der Savanne zusammengetrieben und in eines der schlammigen Wasserbecken gejagt, wo die Zitteraale sich mit Vorliebe aufhalten. "Der ungewohnte Lärm vom Stampfen der Rosse treibt die Fische aus dem Schlamm hervor und reizt sie zum Angriff. Die schwärzlich und gelb gefärbten, großen Wasserschlangen gleichenden Aale schwimmen auf der Wasserfläche hin und drängen sich unter den Bauch der Pferde und Maultiere. Der Kampf zwischen so ganz verschieden organisierten Tieren gibt das malerischste Bild. Die Indianer mit Harpunen und langen dünnen Rohrstäben stellen sich in dichter Reihe um den Teich. Die Aale, betäubt vom Lärm, verteidigen sich durch wiederholte Schläge ihrer elektrischen Batterien. Lange scheint es, als solle ihnen der Sieg verbleiben. Mehrere Pferde erliegen den unsichtbaren Streichen, von denen die wesentlichsten Organe allerwärts getroffen werden; betäubt von den starken, unaufhörlichen Schlägen sinken sie unter. Andere, schnaubend, mit gesträubter Mähne, wilde Angst im starren Auge, raffen sich wieder auf und suchen dem um sie tobenden Ungewitter zu entkommen. Ehe fünf Minuten vergingen, waren zwei Pferde ertrunken."

Auch die Gymnoten sind von dem ungleichen Kampf erschöpft und können nun leicht mit kleinen Harpunen gefangen werden.

Für Humboldt, der schon in Deutschland den physiologischen Wirkungen des Galvanismus nachgegangen war, bot das Studium dieser Zitteraale eine Quelle reinsten Forscherglücks. Er experimentierte tagelang mit den gefangenen Tieren und stellte fest, dass sie auch dem Menschen gefährlich werden können. "Den ersten Schlägen eines sehr großen, stark gereizten Gymnotus würde man sich nicht ohne Gefahr aussetzen. Ich erinnere mich nicht, je durch die Entladung einer großen Leidner Flasche eine so furchtbare Erschütterung erlitten zu haben wie die, als ich unvorsichtigerweise beide Füße auf einen Gymnotus setzte, der eben aus dem Wasser gezogen war."

Wie Tiere und Pflanzenwelt, so musste sich auch der Mensch den harten Lebensbedingungen der Llanos anpassen. Die Steppe kann nur ganz extensiv genutzt werden. Riesige Viehherden schweifen frei umher, nirgends gibt es Umzäunungen. Männer, bis zum Gürtel nackt und mit einer Lanze bewaffnet, streifen zu Pferde über die Savanne, um die Herden im Auge zu behalten. Wochenlang zieht Humboldt mit seinem Begleiter durch diese eigenartige Landschaft. Seine Stützpunkte sind die wenigen verstreuten Stationen der katholischen Missionen, denn in weiten Gebieten sind sie fast die einzigen Vertreter des spanischen Kolonialeinflusses.


Orinoko

Wieder eine andere Welt sind die Riesenströme des südamerikanischen Urwaldes, die Humboldts nächstes Ziel waren. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, den Oberlauf des Orinoko zu erforschen und die vielumstrittene Frage zu lösen, ob tatsächlich zwischen dem Orinokosystem und dem Amazonas eine Flußverbindung besteht. Zu diesem Zweck fuhr er den Orinoko und dessen Nebenfluß Atabapo aufwärts bis zur Wasserscheide zum Amazonasgebiet. Er benutzte dazu eines der landesüblichen Fahrzeuge, eine Pirogue, das ist ein mit Feuer und Axt ausgehöhlter Baumstamm, dreizehn Meter lang, aber nur etwa einen Meter breit. Dreiundzwanzig Indianer schleppten das Schiff über die Wasserscheide zum Rio Negro, einem Nebenfluss des Amazonas. In einer Flussgabelung zweigt von ihm der Cassiquiare ab, und tatsächlich führte dieser Strom Humboldts Pirogue wieder zurück zum Orinoko. Damit war die Verbindung der beiden Stromsysteme endgültig bewiesen und durch astronomische Ortsbestimmungen und Kompaßaufnahmen festgelegt.

Das primitive Fahrzeug, in dem nicht drei Mann nebeneinander sitzen konnten, erschien den Reisenden zunächst wie ein enges Gefängnis. "Das niedrige Blätterdach war für vier Personen bestimmt, die auf dem Verdecke oder dem Gitter aus Baumzweigen lagen; aber die Beine reichen weit über das Gitter hinaus, und wenn es regnet, wird man zum halben Leibe durchnässt. Dabei liegt man auf Ochsenhäuten oder Tigerfellen, und die Baumzweige darunter drücken einen durch die dünne Decke gewaltig." Die Menscheln müssen den knappen Raum auch noch mit zahlreichen Tieren teilen. Schon nach kurzer Zeit waren 14 Vögel und zwei Affen an Bord, und durch Humboldts Sammeleifer wurde diese schwimmende Menagerie fast mit jedem Tage vermehrt.

Weite Strecken des Urwaldes sind ganz menschenleer. Auf dem Orinoko begegnete man während einer Stromfahrt von achthundert Kilometer nur einem einzigen Fahrzeug. In der großartigen Waldlandschaft am Cassiquiare fühlt sich Humboldt in den Urzustand der Welt versetzt. "Die Üppigkeit des Pflanzenwuchses steigerte sich in einem Grade, von dem man sich keinen Begriff macht, selbst wenn man mit dem Anblick der tropischen Wälder vertraut ist. Ein Gelinde ist gar nicht mehr vorhanden; ein Pfahl werk aus dichtbelaubten Bäumen bildet das Flussufer. Man hat einen breiten Kanal vor sich, den zwei ungeheuere, mit Laub und Lianen bedeckte Wände einfassen."

Humboldts wissenschaftliche Arbeiten wurden unter den Bedingungen dieses Urwaldlebens aufs äußerste erschwert. Er musste unzählige neue Pflanzen sammeln, trocknen und beschreiben, astronomische und klimatische Messungen machen und sie mit allen sonstigen Beobachtungen in seine Tagebücher eintragen. Der schlimmste Feind waren die Moskitos. Stets müssen bei der Arbeit Kopf und Hände verdeckt sein; man kann die Hände nicht ruhig halten, so wütend schmerzen die Stiche dieser Insekten. "Alle unsere Arbeit musste daher beim Feuer in einer indianischen Hütte vorgenommen werden, wo kein Sonnenstrahl eindringt und in welche man auf dem Bauche kriechen muss. Hier aber erstickt man wieder vor Rauch, wenn man auch weniger von den Moskitos leidet. In Maypures retteten wir uns mit den Indianern mitten in den Wasserfall, wo der Strom rasend tobt, wo aber der Schaum die Insekten vertreibt. In Higuerote gräbt man sich nachts in den Sand, so dass bloß der Kopf hervorragt und der ganze Leib mit drei bis vier Zoll Erde bedeckt bleibt. Man hält es für eine Fabel, wenn man es nicht sieht."

Der Franzose Bonpland, den Humboldt eigentlich nur als bezahlten Gehilfen mit auf die Reise genommen hatte, wurde ihm auf diesen Urwaldfahrten zum treuen und opferbereiten Freund. "Nie werde ich seine großmütige Anhänglichkeit an mich vergessen, die er mir in einem Sturme, der uns am 6. April 1800 mitten auf dem Orinoko überfiel, gegeben hat. Unsere Pirogue war schon zwei Drittel mit Wasser angefüllt, die Indianer sprangen bereits ins Wasser, um schwimmend das Ufer zu erreichen; nur mein großmütiger Freund blieb treu an meiner Seite und bat mich, ihrem Beispiel zu folgen und mich auf seinem Rücken von ihm schwimmend durch die Fluten tragen zu lassen.

Das Schicksal wollte es nicht, dass wir in dieser Wüste umkommen sollten, wo zehn Meilen im Umkreise kein Mensch weder unsern Untergang noch die geringste Spur von uns würde entdeckt haben. Unsere Lage war wahrhaft schrecklich; das Ufer war über eine halbe Meile von uns entfernt, und eine Menge Krokodile ließen sich mit halbem Körper über dem Wasser sehen. Selbst wenn wir der Wut der Wellen und der Gefräßigkeit der Krokodile entgangen und an das Land gekommen wären, würden wir daselbst vom Hunger oder von den Tigern verzehrt worden sein. Denn die Wälder sind an diesen Ufern so dicht, so mit Lianen durchschlungen, dass es schlechterdings unmöglich ist, darin fortzukommen. Der robusteste Mensch würde mit dem Beil in der Hand in zwanzig Tagen kaum eine französische Meile zurücklegen. Der Fluss selbst ist so wenig befahren, dass kaum in zwei Monaten ein indianisches Canot hier vorbeikommt. In diesem allergefährlichsten und bedenklichsten Augenblicke schwellte ein Windstoß das Segel unseres Schiffchens und rettete uns auf eine unbegreifliche Weise. Wir verloren nur einige Bücher und einige Lebensmittel."

In der kleinen Reisebibliothek, die Humboldt auf seinen Fahrten mit sich führte, befand sich auch St. Pierres "Paul et Virginie", das Bild freundlich-heiterer Naturkinder inmitten einer üppigen Tropenwelt. Die Wirklichkeit, der Humboldt bei den Eingeborenen Amerikas begegnete, entsprach freilich wenig dem Bild, womit der Dichter in seinem berühmten Roman alle Welt entzückt hatte. "Die Menschennatur tritt uns hier nicht im Gewande liebenswürdiger Einfallt entgegen. Der Wilde am Orinoko schien uns so widrig, abstoßend, wie der Wilde am Mississippi."

Eine ziegelrote Körperbemalung ist nahezu die einzige Bekleidung der Indianer. Auch die Missionare haben diese Sitte nicht abschaffen können, ja mitunter handeln sie selbst mit dem kostbaren Farbstoff Chica, der bei den Eingeborenen besonders gesucht ist. "Um einen Begriff zu geben, welchen Luxus die nackten Indianer mit ihrem Putze treiben, bemerke ich hier, dass ein hochgewachsener Mann durch zweiwöchige Arbeit kaum genug verdient, um sich durch Tausch so viel Chica zu verschaffen, dass er sich rot bemalen kann. Wie man daher in gemäßigten Ländern von einem armen Menschen sagt, er habe nicht die Mittel, sich zu kleiden, so hört man die Indianer am Orinoko sagen: ,Der Mensch ist so elend, dass er sich den Leib nicht einmal halb malen kann'."

Überall im Urwald stieß Humboldt auf die Sitte des Kannibalismus. Die Eingeborenen sprachen davon wie von einer alltäglichen Sache. Einer der Ruderer bemerkte einmal ganz unbefangen, Affenfleisch sei zwar schwärzer als Menschenfleisch, er meine aber doch, dass es ebenso gut schmecke; seine Stammesbrüder äßen vom Bären wie vom Menschen die Handflächen am liebsten. Nach Humboldts Ansicht sind Nahrungsmangel oder religiöse Vorstellungen, wie man es von den Südseeinseln hört, in Guayana kaum die Ursache der Menschenfresserei, er meint vielmehr, sie beruhe hier meist auf Rachsucht des Siegers oder auf einer "Verirrung des Appetits."

Humboldt fand Beispiele von rührender Kindesliebe unter den Eingeborenen. Auch das Bewusstsein von Pflichten gegen Familie und Stammesverband ist ihnen nicht unbekannt, wohl aber jedes Gefühl für allgemeine Menschlichkeit. Keine Regung des Mitleids hält sie davon ab, auch Weiber und Kinder eines feindlichen Stammes abzuschlachten. "Denkt man über die Sitten dieser Indianer nach, so erschrickt man ordentlich über die Verschmelzung von Gefühlen, die sich auszuschließen scheinen, über die Unfähigkeit dieser Völker, sich anders als nur teilweise zu humanisieren, über diese Übermacht der Bräuche, Vorurteile und Überlieferungen über die natürlichen Regungen des Gemütes."

Schon gleich, bei der Ankunft in Venezuela hatte Humboldt lebhafte Eindrücke von der Sklaverei und dem Negerhandel bekommen. Im Vergleich zu anderen Kolonialgebieten war zwar in den spanischen Besitzungen die Sklavengesetzgebung verhältnismäßig milde. "Aber vereinzelt, auf kaum urbar gemachtem Boden, leben die Neger in Verhältnissen, dass die Gerechtigkeit, weit entfernt, sie im Leben schützen zu können, nicht einmal imstande ist, die Barbareien zu bestrafen, durch die sie ums Leben kommen." Vor allem der Haussklaverei gegenüber sind die Behörden völlig machtlos. Die Missionen, die an vielen Orten bürgerliche und geistige Obrigkeit in einer Person vereinen, haben an diesen Verhältnissen kaum etwas geändert, ja sie haben nach Humboldts Beobachtungen durch die Gewohnheit, mit Gewalt "Seelen zu erobern", unter den Indianern oft ähnliche Zustände geschaffen wie bei den Negersklaven. "Der Geist, der die Gesetze macht, und der, der sie vollzieht, haben nichts miteinander gemein."

Zwölf Monate nach der Landung in Cumana kam Humboldt wieder an die Küste. Alle Anstrengungen und Mühseligkeiten des Lebens fern der Zivilisation, alle Gefahren des Klimas hatte er auf sich genommen, um die "allverbreitete Fülle des Lebens" im Bergland zu Venezuela, in den Llanos und im Orinoko-Urwald zu erforschen. Obgleich er von Natur nie robust und bis in sein drittes Jahrzehnt in Europa immer kränklich war, fühlte er sich jetzt so wohl wie noch nie. "Meine Gesundheit und Fröhlichkeit hat trotz des ewigen Wechsels von Nässe, Hitze und Gebirgskälte, seitdem ich Spanien verließ, sichtbar zugenommen. Die Tropenwelt ist mein Element."


Anden

Der Zufall hat auf der großen Reise immer wieder entscheidend in Humboldts Pläne eingegriffen, aber immer waren es Zufälle, denen er schließlich doch eine glückliche Wendung geben konnte. Von Venezuela ging er nach Kuba und weiter nach Cartagena im heutigen Kolumbien, um von hier aus über den Isthmus von Panama nach Guayaquil an der Küste des Pazifischen Ozeans zu reisen, wo er die schließlich doch noch von Europa abgegangene Expedition des Kapitän Baudin zu treffen hoffte. In Cartagena erfuhr er jedoch, dass die Jahreszeit für eine rasche Seereise an der Westküste Südamerikas ungünstig sei. So entschloss er sich, den viel beschwerlicheren Landweg den Magdalenenstrom aufwärts und über die Kordilleren von Bogota und Quito zu nehmen.

In einem Brief an den Bruder schildert er die neue Flussreise: "Die Gewalt des angeschwollenen, mächtig strömenden Wassers hielt uns fünfundfünfzig Tage auf dem Magdalenenflusse, während welcher Zeit wir uns immer zwischen wenig bewohnten Wäldern befanden. Ich sage Dir nichts mehr von der Gefahr der Katarakte, von den Moskitos, von den Stürmen und Gewittern, die hier fast ununterbrochen fortdauern und alle Nächte das ganze Himmelsgewölbe in Flammen setzen. Ich habe dies alles umständlich in einer Menge anderer Briefe beschrieben."

Viele dieser Briefe haben ihr Ziel nie erreicht. Immer wieder klagt Humboldt über die traurigen Postverhältnisse. Von seinem Bruder erreichte ihn in zwei Jahren nur ein einziger Brief, von Willdenow gar in vier Jahren nur einer. Für einen Mann wie Humboldt war das ein ernster Kummer, eigentlich der einzige, unter dem er auf der Reise wirklich litt. Briefeschreiben war für ihn eine Leidenschaft, nicht nur um mit dem Bruder und den Freunden persönliche Nachrichten auszutauschen, sondern mehr noch um seine eigenen Ideen zu entwickeln, Anregungen zu empfangen und zu geben. Schon aus Venezuela schrieb er an Wilhelm: "Das Einzige, was man in dieser Einsamkeit bedauern könnte, ist, dass man mit den Fortschritten der Aufklärung und Wissenschaften in Europa unbekannt bleibt und der Vorteile beraubt ist, welche aus dem Ideenaustausch entspringen."

Von der Mündung des Rio Magdalena bis nach Bogota nahm Humboldt ein exaktes barometrisches Nivellement des Reiseweges auf und zeichnete eine große Karte des Stromlaufs in vier Blättern; eine Kopie davon übergab er später dem Vizekönig. Der Aufstieg aus dem Flusstal auf die Hochebene war höchst beschwerlich. Auf langen Strecken führte der Weg über ganz schmale, zwischen den Felsen eingehauene Treppen, auf denen die Maultiere sich nur mit Mühe durchzwängen konnten.

Die Empfehlungen, die Humboldt aus Madrid mitbekommen hatte, wirkten überall Wunder. "Meine Aufnahme in den spanischen Kolonien ist so schmeichelhaft, als der eitelste und aristokratischste Mensch sich nur wünschen kann. In Ländern, in denen kein Gemeinsinn herrscht und in denen alles nach Willkür gelenkt wird, entscheidet die Gunst des Hofes alles. Nie, nie hat ein Naturalist mit solcher Freiheit verfahren können." Seine Ankunft in Bogota wurde zu einem Triumphzug. Der Erzbischof hatte seinen Wagen entgegengeschickt, und die Vornehmsten der Stadt gaben ihm zwei Meilen vor dem Ort ein festliches Mahl. Der Vizekönig, der einer seltsamen Etikette zufolge in der Stadt mit Fremden nicht essen darf, lud ihn auf seinen Landsitz ein. Besonders interessierte Humboldt in Bogota der berühmte Botaniker Mutis, ein würdiger Geistlicher von 72 Jahren, der eine großartige Sammlung tropischer Pflanzen besaß und von Malern Tausende von botanischen Zeichnungen anfertigen ließ.

Da Bonpland an einem heftigen Fieber erkrankt war, verzögerte sich die Weiterreise nach Quito um zwei Monate. Humboldt selbst fühlte sich leistungsfähiger als je. "Ich bin äußerst glücklich; meine Gesundheit ist so gut, als sie vorher nie war, mein Mut ist unerschütterlich; meine Pläne gelingen mir."

Der Weg über die Schneefelder des dreitausendfünfhundert Meter hohen Passes von Quindiu war der schwierigste Teil der ganzen Andenreise. Auch in der besten Jahreszeit kann man die Strecke nicht schneller als in zehn oder zwölf Tagen zurücklegen. Es gibt keine Unterkunft, keine Lebensmittel, und die Reisenden müssen sich immer auf einen ganzen Monat mit Vorräten versehen, weil sie oft durch das plötzliche Anschwellen der Gebirgsbäche nach keiner Richtung vorwärts kommen können. Jenseits des Passes führte der Weg durch sumpfiges, mit Bambusschilf bedecktes Land. "Die Stacheln der Wurzeln dieser gigantischen Grasart hatten unsere Fußbekleidung so sehr zerrissen, dass wir barfüßig und mit blutrünstigen Füßen zu Cartago ankamen, weil wir uns nicht von Menschen (Cargueros) auf dem Rücken tragen lassen wollten. In diesen Klimaten sind die Weißen so träge, dass jeder Bergwerksdirektor einen oder zwei Indianer im Dienste hat, welche seine Pferde (Cavallitos) heißen, weil sie sich alle Morgen satteln lassen und, auf einen kleinen Stock gestützt und mit vorgeworfenem Körper, ihren Herrn umhertragen. Unter den Cavallitos und Cargueros unterscheidet und empfiehlt man den Reisenden diejenigen, die sichere Füße und einen sanften gleichen Schritt haben; und da tut es einem recht weh, von den Eigenschaften eines Menschen in Ausdrücken reden zu hören, mit denen man den Gang der Pferde und Maultiere bezeichnet."

Zu Anfang des Jahres 1802, acht Monate nach seiner Abreise von der Mündung des Magdalenenstromes, kam Humboldt in Quito an. Für die Dauer seines Aufenthaltes wurde ihm ein Haus zur Verfügung gestellt, "das nach so viel Beschwerden uns alle Gemütlichkeiten darbot, die man nur in Paris oder London verlangen könnte."

Die Stadt Quito findet Humboldt schön, aber der Himmel war stets traurig und neblig. Die benachbarten Berge zeigten kein Grün, und die Kälte war beträchtlich. Vor fünf Jahren hatte ein gewaltiges Erdbeben die ganze Provinz erschüttert und in wenigen Augenblicken vierzigtausend Menschen getötet. Das Studium der Riesenvulkane um Quito beschäftigte Humboldt fast acht Monate lang. Das ganze Gebiet erschien ihm wie ein einziger Vulkan. In Bergen wie dem Cotopaxi und dem Pichincha sah er nur einzelne Spitzen, deren Krater verschiedene Schornsteine eines gemeinsamen großen Herdes bilden. Obgleich seit der Katastrophe von 1797 die Erdbeben nie aufgehört haben, findet er die Einwohner von Quito fröhlich und lebenslustig. "Ihre Stadt atmet nur Wollust und Üppigkeit, und nirgends vielleicht gibt es einen entschiedeneren und allgemeineren Hang sich zu vergnügen. So kann sich der Mensch gewöhnen, ruhig am Rande eines jähen Verderbens zu schlafen."

Humboldt bestieg den Cotopaxi, Antisana, Pichincha und andere große Vulkane bis zum Gipfel. Die größte Berühmtheit unter allen seinen Bergbesteigungen erlangte sein Versuch, mit Bonpland den Chimborasso zu bezwingen, der damals noch als höchster Berg der Erde galt. In fünfzehntausendsechshundert Fuß Höhe versagten alle Eingeborenen bis auf einen; sie erklärten, unter der dünnen Luft mehr als die Europäer zu leiden. Humboldt empfindet den Reiz des alpinistischen Abenteuers, aber die wissenschaftlichen Beobachtungen sind ihm noch wichtiger. Laufend prüft er die Höhe, misst die Temperatur und macht elektrische Untersuchungen. In achtzehntausendeinhundert Fuß Höhe verhindert ein unbezwingbarer Abgrund den letzten Anstieg. Nur eintausendzweihundert Fuß - die dreifache Höhe der Peterskirche in Rom, wie Humboldt bemerkt - trennten ihn noch vom Gipfelt. Er sammelte einige Gesteinsproben, denn er sah voraus, dass man ihn in Europa oft um "ein kleines Stückchen vom Chimborasso" anbetteln würde, dann wandte er sich zum Abstieg.

Bei der Besteigung des Chimborasso hatte Humboldt eine Höhe erreicht, die vor ihm noch kein Mensch bezwungen hatte. Als fünfundzwanzig Jahre später englische Reisende im Himalaya noch höhere Berggipfel feststellten und erstiegen, tröstet er sich darüber in dem Gedanken, dass sein Vorbild die Anregung dazu gab. "Ich habe mir mein Lebelang etwas darauf eingebildet", schreibt er 1828 an den Berliner Geographen Berghaus, "unter den Sterblichen derjenige zu sein, der am höchsten in der Welt gestiegen ist - ich meine am Abhänge des Chimborasso - und bin stolz gewesen auf meine Ascension! Mit einem gewissen Gefühl von Neid habe ich darum auf die Enthüllungen geblickt, welche Webb und seine Consorten von den Bergen in Indien gegeben. Ich habe mich über die Reisen des Himalaya beruhigt, weil ich glaube annehmen zu dürfen, dass meine Arbeiten in Amerika den Engländern den ersten Impuls gegeben haben, sich etwas mehr um die Schneeberge zu bekümmern, als es von ihnen seit anderthalb Jahrhunderten geschehen."

Die weitere Reise von Quito nach Peru führte Humboldt auf dem Hochland zwischen den Andenketten zu zahlreichen Ruinenstätten der alten Inkaljultur. In dem Palast von Caxamara sah er das Zimmer, in dem der Inkaherrscher Atahualpa von den Spaniern vor seiner Hinrichtung gefangen gehalten wurde. Man zeigte den Reisenden noch die Mauer, an der er das Zeichen machte, bis zu welcher Höhe er den Raum mit Gold anfüllen wollte, wenn man ihn freiließe. Er bestaunt die Reste der großen Inkastraße; sie ist schnurgerade, ganz aus behauenen Steinen aufgeführt und gleicht den schönsten Straßen der alten Römer, überall sammelt er historische Dokumente und Mythen, die ihm beweisen, dass Amerika einst eine weit höhere Kultur besaß, als die Spanier bei der Entdeckung vorfanden. Besonders interessiert ihn alles, was er über die astronomischen Kenntnisse der Inka in Erfahrung bringen kann. In Peru und am Hofe des Königs von Bogota verstanden die Priester, den Augenblick der Sonnenwende zu beobachten und das Mondjahr durch Einschaltungen in ein Sonnenjahr zu verwandeln. Humboldt erwarb selbst einen siebeneckigen Stein, der zur Berechnung dieser Schalttage diente.

Auch die lebenden Indianersprachen sind ihm ein Beweis für die früher höhere Kultur; sie sind keineswegs so primitiv und arm, wie ältere Reisende angaben. In der karibischen Sprache zum Beispiel findet Humboldt Reichtum, Anmut, Kraft und Zartheit. Sie hat zahlreiche Ausdrücke für abstrakte Begriffe, kann von Zukunft, Ewigkeit, Existenz und ähnlichem reden und es fehlt ihr nicht an Zahlwörtern, um alle möglichen Kombinationen unserer Zahlzeichen wiederzugeben. "Vorzüglich lege ich mich auf die Inkasprache; sie ist die gewöhnliche hier in der Gesellschaft und ist so reich an feinen und mannigfachen Wendungen, dass die jungen Herren, um den Damen Süßigkeiten zu sagen, gemeiniglich Inka zu sprechen anfangen, wenn sie den ganzen Schatz des Castilischen erschöpft haben."

Nachdem Humboldt zum vierten Male die Andenkette überstiegen hatte, gelangte er bei Truxillo endlich an die Küste des Stillen Ozeans. Alte Erinnerungen an seinen Lehrer Georg Forster werden wach. "Der Anblick der Südsee hatte etwas Feierliches für den, welcher einen Teil seiner Bildung und viele Richtungen seiner Wünsche dem Umgange mit einem Gefährten des Kapitän Cook verdankte. Durch Forsters anmutige Schilderungen von Otaheiti war besonders im nördlichen Europa für die Inseln des Stillen Meeres ein allgemeines, ich könnte sagen sehnsuchtsvolles Interesse erwacht."


Mexiko

Schon in Quito hatte Humboldt erfahren, dass er auf ein Zusammentreffen mit Baudin nicht mehr rechnen konnte. Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, - sei es nun in Begleitung Baudins oder allein - auf der Rückreise nach Europa noch die Philippinen, das Rote Meer und Ägypten aufzusuchen und so sein Unternehmen mit einer wirklichen Weltumsegelung zu beschließen. In Peru entschloss er sich, diesen Plan aufzugeben. Auf der Andenreise hatte ein Teil seiner Instrumente Schaden erlitten, deren Ersatz in Amerika nicht möglich war. Entscheidend war schließlich wohl die schon erwähnte Befürchtung, durch zu lange Abwesenheit von Europa den Anschluss an die Fortschritte der Naturforschung zu verlieren, ein Gedanke, der ihn von Jahr zu Jahr immer mehr beunruhigte. So fasste er den Entschluss, jetzt nach Mexiko zu fahren und über Nordamerika die Heimreise anzutreten.

Trotz dieser Vorsätze dauerte der Aufenthalt in Mexiko noch ein volles Jahr. Niemals war Humboldt verlegen um Gründe, warum das Land, in dem er sich gerade befand, ganz besonderes Interesse und eingehendes Studium verdiente. Seine bisherigen Reisen hatten ihn den großen Wert des wissenschaftlichen Vergleichens verschiedenartiger Natur- und Kulturbereiche gelehrt; durch ihn wurde diese Methode des Vergleichens in der modernen Erdkunde zu einem der großen Gesichtspunkte für die Gewinnung vertiefter geographischer Anschauung. "Nichts war mir auffallender als der Kontrast zwischen der Zivilisation von Neuspanien und der geringen physischen und moralischen Kultur derjenigen Regionen, welche ich soeben durchstrichen hatte. Ich verglich sorgfältig, was ich an den Ufern des Orinoko und Rio Negro, in der Provinz Caracas in Neugranada, auf dem Gebirgsrücken von Quito und an den Küsten von Peru beobachtet hatte, mit der damaligen Lage des Königreichs Mexiko. Alles reizte mich an, den noch wenig entwickelten Ursachen nachzuforschen, welche in diesem die Fortschritte der Bevölkerung und der Nationalbetriebsamkeit so auffallend begünstigt haben."

Sein Standquartier wurde die Stadt Mexiko. Von hier aus besuchte er die berühmten Bergwerke von Moran und Real del Monte und eine große Bewässerungsanlage im Fluss Montezuma. Am Pik von Orizaba, Iztaccihuatel und Popocatepetl machte er trigonometrische Vermessungen und untersuchte die große Pyramide von Cholula, einen von den Tolteken aus ungebrannten Ziegeln errichteten Stufenbau. Unendliche Mühe verwandte er auf die Beschaffung verlässlicher statistischer Unterlagen zur Beurteilung der Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur, die zu einer umfassenden Landeskunde von Mexiko dienen sollten.

Die botanischen Gärten der Hauptstädte Europas, die seine Pläne gefördert hatten, versorgt er schon von unterwegs mit tropischen Pflanzensamen. Gleich nach der Ankunft in Mexiko schreibt er an Willdenow: "Wir haben schon über zehn- oder zwölfmal große Sendungen frischer Sämereien von hier abgeschickt: an den botanischen Garten in Madrid; an den Garten in Paris; und über Trinidad an Sir Josef Banks in London. Allein denke darum nicht, dass mein Reichtum erschöpft sei oder dass ich Berlin vergessen werde."

Immer wieder schiebt er den Zeitpunkt der endgültigen Abreise hinaus. Jetzt müssen sogar die möglichen Gefahren der letzten Reiseetappe herhalten, um sein Zögern zu begründen. "Ich wünschte, gegen Ende dieses Jahres in Europa zu sein. Allein das schwarze Erbrechen, welches schon in Veracruz und in Havana herrschte, und die Furcht vor der Übeln Schifffahrt im Oktober müssen mich zurückhalten. Ich will nicht mit einer Tragödie endigen."

Die Heimreise, zu der er sich schließlich doch bequemen musste, verlief ohne Zwischenfälle; zu allen Zeiten hat Humboldt ein erstaunliches Glück und Talent entwickelt, Katastrophen und tragischen Lebenssituationen aus dem Wege zu gehen. Er reiste zunächst noch einmal nach Kuba, um die dort vor vier Jahren zurückgelassenen Sammlungen zu holen. Nach sehr stürmischer Seefahrt durch den Bahama-Kanal ging er in Philadelphia an Land. Drei Wochen lang war er in Monticello Gast des Präsidenten der Vereinigten Staaten Jefferson. Die Fahrt über den Atlantik war so ruhig wie selten und dauerte siebenundzwanzig Tage. Am 3. August 1804, mehr als fünf Jahre nach der Abreise von La Coruña, landete er in Bordeaux.


Die Reisewerke

Humboldt war heimgekehrt, aber eine wirkliche Heimat, einen Ort, wo er sich zu Hause fühlte, besaß er nicht. Wohl hatte er zahlreiche Freunde, sie waren verstreut über viele Städte Europas, doch im Grunde waren das nur wissenschaftliche Freundschaften, keine starken persönlichen Bindungen. Auch das Verhältnis zu seinem Bruder blieb so, wie es schon in den Jugendjahren gewesen war, voll gegenseitiger brüderlicher Achtung, aber ohne Wärme. "Ich kann nicht sagen, dass ich eben glaube, in irgendeiner Art über ihm zu stehen", schreibt Wilhelm kurz nach Alexanders Rückkehr an seine Frau. "Aber seit unserer Kindheit sind wir wie zwei entgegengesetzte Pole auseinandergegangen, obgleich wir uns immer geliebt haben und sogar vertraut miteinander gewesen sind. Er hat von früh an nach außen gestrebt; und ich habe mir ganz früh schon nur ein inneres Leben erwählt."

Die Wahl des Ortes, wo er sich nun niederlassen wollte, wurde ihm darum nicht leicht. Am meisten lockte ihn Paris. Keine Stadt der Welt bot für seine Zwecke bessere Hilfsmittel. Eine Zeit lang dachte er auch an Genf, die beschauliche Ruhe des Sees und den Umgang mit dem Freunde Pictet, dem großen Schweizer Naturforscher. Für Berlin sprach die Gunst des Königs, die von jetzt an seine Arbeit begleitet. Die Preußische Akademie der Wissenschaften wählte ihn zum Mitglied; aus ihren Fonds erhielt er ein Jahresgehalt von 2.500 Talern. Der König ernannte ihn zum Kammerherrn.

Zunächst blieb er in Paris. Als Republik hatte er Frankreich verlassen, als Kaiserreich fand er es wieder. Der Trubel der Krönung wenige Wochen nach der Landung in Bordeaux übertönte zunächst noch etwas die Sensation seiner Rückkehr. Um bei den Festlichkeiten angemessen auftreten zu können, musste Humboldt sich von Grund aus neu ausstaffieren. Besorgt berichtet seine Schwägerin Karoline, die damals gerade in Paris war, an ihren Mann: "Er gibt sehr viel Geld für seine Garderobe aus. Kleider bis jetzt - nicht etwa Wäsche - für 1.200 Francs; und heute kauft er einen gestickten Samtrock, der wenigstens 800 Francs kosten muss. Zur Krönung ist es beinahe nicht zu evitieren." Aber der Empfang beim Kaiser war äußerst kühl. Bei der einzigen Begegnung richtete Napoleon an den ruhmreichen Weltfahrer die denkwürdigen Worte: "Sie beschäftigen sich mit Botanik? Das tut meine Frau auch."

Doch solch schnöder Nichtachtung begegnete Humboldt nur bei Napoleon. Die Öffentlichkeit und die gelehrte Welt, der er im Institut National die ersten Ergebnisse seiner Forschungen vortrug, feierte ihn mit Begeisterung als den erfolgreichsten Weltreisenden seiner Zeit. Humboldt sonnt sich in diesem Ruhm, der ihm sichtlich wohl tut, und er gibt das auch unumwunden zu. In einem Brief an Wilhelm schreibt er: "Alle Mitglieder des Instituts haben meine Manuskript-Zeichnungen und Sammlungen durchgesehen; und es ist eine Stimme darüber gewesen, dass jeder Teil so gründlich behandelt worden ist, als wenn ich mich mit diesem allein abgegeben hätte. Gerade Berthollet und Laplace, die sonst meine Gegner waren, sind jetzt die Enthusiastischsten. Berthollet rief neulich aus: ,Cet homme réunit toute une Académie en lui.' Das Bureau des Longitudes berechnet meine astronomischen Beobachtungen und findet sie sehr, sehr genau."

Man hat Humboldt oft starkes Geltungsbedürfnis vorgeworfen. Seine Briefe und die Zeugnisse von Zeitgenossen enthalten viele Züge kleiner persönlicher Eitelkeit, die bei einem Manne überraschen, der nie in seinem Leben um Anerkennung ringen musste, auf den die ganze Welt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in kaum mehr möglicher Steigerung alle erdenklichen Ehrungen gehäuft hat. Doch nie hat er auf Verdienste Anspruch gemacht, die ihm nicht zukamen, oder Würden angestrebt, die außerhalb seiner Sphäre lagen. Als man ihm die Entdeckung der kalten Meeresströmung an der Westküste Südamerikas zuschrieb, protestierte er laut und erklärte, dass dieser Strom schon im sechzehnten Jahrhundert jedem Schiffsjungen bekannt gewesen sei. So geschickt und gern er kleine diplomatische Aufträge ausführte, in die hohe Diplomatie hat er sich trotz mancher Angebote nie gedrängt, und als man ihm als eben erst Vierzigjährigen die Leitung des Preußischen Kultusministeriums antrug, lehnte er entschieden ab. Sein Geltungsbedürfnis, das sich durchaus mit hingebendem Dienst an anderen Menschen vertrug, ist begrenzt auf die Welt der Wissenschaft, und auch hier soll es nicht so sehr seine eigene Person als vielmehr die Bedeutung der Dinge ins rechte Licht setzen, deren Förderung er als die Aufgabe seines Lebens betrachtete.

Nach einem Aufenthalt in Italien, wo sein Bruder preußischer Ministerresident am Vatikan war, reiste Humboldt im Herbst 1805 nach Berlin. Er war nun doch entschlossen, hier zu bleiben, um seine Reisewerke auszuarbeiten. An der Akademie hielt er Vorlesungen, widmete sich aber auch schon wieder neuen experimentellen Arbeiten über den Erdmagnetismus. Im Garten des reichen Branntweinbrenners George, bei dem auch der Historiker Johannes von Müller wohnte, hatte er sich ein eisenfreies "magnetisches Häuschen" gebaut. Varnhagen berichtet, dass Humboldt einmal sieben Tage und Nächte lang, fast ohne zu schlafen, jede halbe Stunde die Instrumente abgelesen habe. Der alte George rühmte sich gern seiner Beziehungen zu den Größen der Wissenschaft: "Hier habe ich den berühmten Müller, hier den Humboldt, hier auch den Fichte, der aber nur ein Philosoph sein soll."

Das bedeutendste Ergebnis dieser Berliner Zeit war die Veröffentlichung der "Ansichten der Natur". Es ist eine Sammlung von Essays, die er in der zweiten Auflage noch erweiterte. Ihre Themen sind die großen Landschaftserlebnisse der amerikanischen Reise: über Steppen und Wüsten - über die Wasserfälle des Orinoko - Das nächtliche Tierlieben im Urwalde - Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse - über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane - Erster Anblick der Südsee. In der Vorrede zur ersten Auflage schreibt er: "Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoko, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexikanischer Gebirge entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe."

Während Humboldt seine großen wissenschaftlichen Reisewerke französisch schrieb, wählte er für die "Ansichten" die deutsche Sprache. Er nannte es später sein Lieblingswerk, "ein rein auf deutsche Gefühlsweise berechnetes Buch". Neben dem "Kosmos" wurden die "Ansichten der Natur" Humboldts berühmtestes Werk, das zusammen mit Forsters Landschaftsschilderungen im ganzen neunzehnten Jahrhundert das klassische Vorbild für eine ästhetisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise der Natur bildete.

 

Die Gunst des Hofes konnte Humboldt nicht mit dem Leben in Berlin aussöhnen. Seine Briefe sind voll von Klagen. "Ich lebe fremd und isoliert in diesem mir fremd gewordenen Lande", schreibt er im Frühjahr 1806 an einen Freund. "Diese menschenleere Wüste" nennt er bald danach Berlin in einem Brief an Karoline von Wolzogen. "Ich habe niemand hier, mit dem mir wohl wäre." Die politischen Ereignisse im Gefolge der Schlacht von Jena, die Flucht des Königs und der Einzug Napoleons in Berlin raubten ihm vollends die Stimmung zu ungestörter wissenschaftlicher Arbeit.

Im Jahre 1808 wurde Prinz Wilhelm von Preußen nach Paris gesandt in der Hoffnung, man könnte dadurch eine Milderung der Bedingungen des Tilsiter Friedens erreichen. Da Friedrich Wilhelm III. annahm, dass Humboldt durch seine Persönlichkeit und die Kenntnis der entscheidenden Männer dabei von Nutzen sein würde, bestimmte er ihn zur Hegleitung des Prinzen. Die Mission führte nicht zu dem gewünschten Erfolg. Als aber der Prinz im folgenden Jahre nach Berlin zurückkehrte, erbat Humboldt vom König die Erlaubnis, in Paris bleiben zu dürfen, da er zu der Überzeugung gelangt war, dass bei den jetzt in Deutschland herrschenden Zuständen eine Fortführung seiner Arbeiten dort nicht möglich sei. Auch während der Freiheitskriege hat er die französische Hauptstadt nicht verlassen. Dass ihn trotzdem die Ereignisse dieser Jahre nicht unberührt ließen, deutet er an in der Vorrede zu den "Ansichten der Natur", die kurz nach seiner Abreise von Berlin erschienen: "Bedrängten Gemütern sind diese Blätter vorzugsweise gewidmet. Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswille, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andenkette. Zu ihm spricht der weltrichtende Chor:

Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual."


Paris

Was Paris damals im Gegensatz zu dem Leben in Deutschland zu bieten hatte, hat Goethe etwas später - im Mai 1827 - in einer Bemerkung zu Eckermann ausgesprochen: "Wir führen doch im Grunde alle ein isoliertes armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenig Kultur entgegen, und unsere sämtlichen Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, alle durch fünfzig bis hundert Meilen voneinander getrennt, so dass persönliche Bemühungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber wäre, empfinde ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen und mich in dem, was ich suche und mir zu wissen nötig, in einem einzigen Tage weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.

Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reichs auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und steigern, wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert, und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat! Und zu diesem allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen, geistlosen Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Moliere, Voltaire, Diderot und ihresgleichen eine solche Fülle von Geist in Kurs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweiten Male findet."

In diesem Paris fand Humboldt die geistige Atmosphäre, die er in Berlin so sehr entbehrt hatte; hier allein glaubte er, sein großes Werk vollenden zu können. Er fand eine Menge von Mitarbeitern und Gelehrten, die er bei allen Spezialfragen zu Rate ziehen konnte: die Astronomen und Physiker Laplace, Lalande, Delambre und Arago, die Chemiker Gay-Lussac und Berthollet, den Zoologen Lamarck, ferner Botaniker, Mineralogen und die Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften. Hier konnte er sich seiner immer stärker hervortretenden Neigung, die Forschung durch Gemeinschaftsarbeit gleichstrebender Gelehrter zu fördern, nach Herzenslust hingeben.

Sein Leben in Paris ist zunächst ganz auf die wissenschaftliche Arbeit eingestellt. Um ungestört zu sein, hat er lange Zeit zwei Wohnungen, eine zum Schlafen und für offizielle Besuche, die andere als Arbeitsstätte. Er meidet aber keineswegs die Geselligkeit, doch wünscht er sich seinen Umgang selbst auszusuchen. Ein Besucher, Karl Vogt, .schildert Humboldts Lebensgewohnheiten in den späteren Pariser Jahren folgendermaßen: "Morgens von 8-11 Uhr sind seine Dachstubenstunden, da kriecht er in allen Winkeln von Paris herum, klettert in alle Dachstuben des Quartier Latin, wo etwa ein junger Forscher oder einer jener verkommenen Gelehrten haust, die sich mit einer Spezialität beschäftigen. Morgens um 11 Uhr frühstückt er im Cafe Procope in der Nähe des Odeon, links in der Ecke am Fenster, es drängt sich da immer ein Schwärm von Menschen um ihn herum. Des Nachmittags ist er im Cabinet von Miguet in der Bibliotheque Richelieu. Er speist täglich wo anders, immer bei Freunden, niemals in einem Hotel oder Restaurant. Unter uns gesagt, er plaudert gern. Da er geistreich, witzig und schön erzählt, so hört man ihm gern zu. Kein Franzose hat mehr Esprit als er. Er besucht jeden Abend wenigstens fünf Salons und erzählt dieselbe Geschichte mit Varianten. Hat er eine halbe Stunde gesprochen, so steht er auf, macht eine Verbeugung, zieht allenfalls noch einen oder den andern in eine Fensterbrüstung, um ihm etwas ins Ohr zu plauschen, und huscht dann geräuschlos aus der Tür. Unten erwartet ihn sein Wagen. Nach Mitternacht fährt er nach Hause."

Sein Ruhm als erfolgreicher Weltreisender und seine Beziehungen zu vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens brachten ihn öfter in Versuchung, zu politischen Fragen Stellung zu nehmen. Alle Ansinnen solcher Art lehnte er ab. Er wollte in Paris nur ein wohlgelittener Gast sein. Selbst den nach seiner Ansicht exponierten Posten eines Vizepräsidenten der Pariser Geographischen Gesellschaft, den man ihm als besondere Ehrung zugedacht hatte, schlug er aus. Durch diese Zurückhaltung gewann er in den schwierigen Jahren nach dem Kriege seine einzigartige Stellung als der entscheidende Vertreter des geistigen Deutschland in Frankreich. Diese private, allein auf seiner Person beruhende zwischenstaatliche Funktion war ihm wichtiger als das Amt des offiziellen preußischen Gesandten, das man ihm nach dem zweiten Pariser Frieden anbot.

Bei der Rückkehr aus Amerika hatte Humboldt gedacht, sein Reisewerk in zwei bis drei Jahren vollenden zu können. Aber die Arbeit wuchs ihm unter den Händen, und schließlich war er auch nach zwanzig Jahren noch nicht damit fertig. Allein die botanischen Teile beschäftigten ihn jahrelang. Seine Sammlung amerikanischer Pflanzen enthielt 6.000 Arten, davon waren mehr als die Hälfte damals noch unbekannt. Die Bereicherung für die Wissenschaft kann man daran ermessen, dass um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt erst etwa 8.000 Arten bekannt waren. So nützlich sich Bonpland beim Sammeln der Pflanzen erwiesen hatte, der wissenschaftlichen Bearbeitung war er nicht gewachsen, so dass sich Humboldt nach anderen Mitarbeitern umsehen musste.

Das Riesenwerk, das unter dem Gesamttitel "Voyage aux Regions Equinoxiales du Nouveau Continent" in Paris herauskam, wurde schließlich in seinen spezielleren Teilen eine internationale Gemeinschaftsarbeit, an der neben Humboldt noch fünf Deutsche, sechs Franzosen und ein Engländer beteiligt waren. In Paris beschäftigte er ein ganzes Verlegerkonsortium, in Deutschland meist Cotta. Die französische Originalausgabe in Folio und Quart umfasst 30 Bände mit über 1.400 gestochenen, zum größten Teil farbigen Abbildungen.

Auch die technische Seite der Drucklegung machte enorme Schwierigkeiten. Humboldt war als Autor sehr schwer zufrieden zu stellen. Er verlangte die besten Zeichner, Kupferstecher und Drucker. Immer wieder verwarf er bereits fertig gestellte Teile, nicht nur einzelne Tafeln und Testbogen, sondern sogar zwei schon fast ausgedruckte Bände. Um das große Werk in vollkommener Weise herauszubringen, zögerte er nicht, sich an den hohen Kosten auch mit seinen eigenen Mitteln zu beteiligen. Die Expedition selbst hatte ihn ungefähr 40.000 Taler gekostet, für das Reisewerk opferte er den ganzen Rest seines Vermögens.

Als Preis für ein vollständiges Exemplar der französischen Ausgabe ergab sich schließlich der Betrag von 2.753 Talern oder rund 10.000 Francs. Selbst große Bibliotheken waren kaum imstande, das ganze Werk zu erwerben. Der preußische Finanzminister, der Humboldt bei einem Aufenthalt in Paris einen Vorschuss von 24.000 Francs gegeben hatte, erklärte sich später damit einverstanden, dass der Betrag durch Lieferung von vier Prachtexemplaren an die Universitäten Berlin, Breslau, Halle und Bonn als ausgeglichen gelten sollte. Zu spät erst erkannte Humboldt, dass er selbst durch seine Anforderungen an kostbare Ausstattung die Verbreitung des Werkes aufs schwerste behindert hatte. Im Jahre 1830 schreibt er: "Leider, leider! meine Bücher stiften nicht den Nutzen, der mir vorgeschwebt hat, als ich an ihre Bearbeitung und Herausgabe ging: sie sind zu teuer! Außer dem einzigen Exemplar, welches ich zu meinem Handgebrauch besitze, gibt es in Berlin nur noch zwei Exemplare von meinem amerikanischen Reisewerke. Eins davon ist in der königlichen Bibliothek, das zweite hat der König in seiner Privatbibliothek, aber unvollständig, weil auch dem Könige die Fortsetzungen zu hoch gekommen sind." Erst für Friedrich Wilhelm IV. wurde später ein vollständiges Exemplar besorgt.

Berechtigt waren diese beweglichen Klagen Humboldts nur bei der Pariser Originalausgabe, besonders den kostbaren Tafelbänden. Von allen wichtigeren Textteilen erschienen zahlreiche Sonderausgaben und Übersetzungen, die weite Verbreitung fanden. Allerdings zog sich deren Erscheinen fast über ein halbes Jahrhundert hin. Von der deutschen Ausgabe kamen als erstes Werk im Jahre 1807 die "Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer" heraus, die Goethe gewidmet waren. Der "Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien" erschien 1809-14 in 5 Bänden. Der langatmige Untertitel enthält von der physischen Beschaffenheit bis zum Gedanken einer Kanalverbindung zwischen atlantischem und pazifischem Ozean das ganze Programm einer modernen politisch-geographischen Landeskunde, wie Humboldt sie aufgefasst wissen wollte. Am Beispiel Mexikos entwickelt er hier eine ganz neue Methode, aus den natürlichen Bedingungen eines Landes alle Lebensäußerungen abzuleiten.

Den eigentlichen Reisebericht bringt die "Reise in die Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents", 1815-32. Obgleich sechs Bände umfassend, enthält er ebenso wie das entsprechende französische Werk nur etwa ein Drittel des Gesamtverlaufs der Reise. In Erinnerung an seinen Lehrer Forster hatte Humboldt die Übersetzung dessen ehemaliger Frau Therese Huber geb. Heyne anvertrauen lassen, war aber von deren Leistung sehr wenig befriedigt, so dass später im gleichen Verlag eine neue Bearbeitung herauskam. Die "Kritischen Untersuchungen über die historische Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt", 3 Bände 1835-51, enthalten ein besonderes Lieblingsgebiet Humboldtscher Forschung, die Erweiterung des allgemeinen Weltbildes durch das Zeitalter der Entdeckungen.

Über dieses Werk schrieb Humboldts Freund Arago: "Humboldt, tu ne sais pas comment se compose un livre; tu écris sans fln; mais ce n'est pas là un livre, c'est un portrait sans cadre." Nicht nur für französisches Formgefühl sind die meisten Werke Humboldts weitschweifig und ohne rechte Gliederung. Die kurzen Essays in den "Ansichten der Natur" fesselten den Leser auch durch ihre literarische Gestaltung. Aber schon hier kämpft er mit den Schwierigkeiten der Darstellung, die sich ihm aus der Verbindung künstlerischer und wissenschaftlicher Anschauung ergeben. "Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition. Reichtum der Natur veranlasst Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus." In den wissenschaftlichen Werken tritt dieses Streben nach poetischer Darstellung zurück. Der berühmte Aufsatz "über einen Versuch, den Gipfel des Chimborasso zu ersteigen" schließt mit den Worten: "Wo die Natur so mächtig und groß und unser Bestreben rein wissenschaftlich ist, kann die Darstellung jedes Schmuckes der Rede entbehren." Aber im Verfolgen zahlloser Gedankenverbindungen wird der Satzbau unbeholfen, unendlich verschachtelt und muss mühsam mit Partizipien wieder eingerenkt werden. Auch auf seine Briefe färbt dieser Stil ab, am Rande verspottet er sich einmal selbst mit der Bemerkung: "Eine Phrase wie ein Warschauer Schlafrock mit 40 Taschen als Parenthesen." Aber trotz dieser Mängel der sprachlichen Form, die in einer übersprudelnden Menge von Einfällen begründet sind, wirkt seine Darstellung nicht langweilig. Nie häuft er totes Wissen auf, und niemals erstickt er in der Überfülle des Materials, über das gleiche Werk, von dem Arago gesagt hatte, es sei überhaupt kein Buch, urteilt Schelling: "Nachdem ich die ersten Seiten von Band drei gelesen, konnte ich nicht wieder aufhören und war so gefesselt, dass ich die nächsten zwei Tage alles beiseite legte, um der unwiderstehlichen Untersuchung zu folgen." Alles, was Humboldt anpackt, auch die entlegenste Einzelheit, wird irgendwie interessant und bekommt eine Beziehung zum Ganzen. Am stärksten freilich offenbarte sich das bei der mündlichen Unterhaltung, in der Humboldt von Einfallen, Witzen und Anspielungen sprühte. Niemand, der ihm im Leben begegnete, konnte sich dem Reiz dieses virtuosen Feuerwerks entziehen. "Humboldt ist der Einzige", sagt Dove, "der mir davon eine Ahnung gegeben, dass causer auch im Deutschen möglich sei." In den "Wahlverwandtschaften" schreibt Goethe in Ottiliens Tagebuch: "Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft, jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören." Die amerikanische Reise hatte Humboldt die allverbreitete Fülle des Lebens im ganzen Bereich der Natur offenbart; die Ausdeutung ihrer Ergebnisse lehrte ihn "die Kunst, die größte Menge von Tatsachen zu sammeln, zu ordnen und sich auf dem Wege der Induktion zu allgemeinen Ideen zu erheben." Alle seine wesentlichen Erkenntnisse gehen zurück auf das Zusammenwirken von sinnlicher Anschauung und wissenschaftlicher Abstraktion. "Die Natur muss gefühlt werden", schreibt er 1810 an Goethe; "wer nur sieht und abstrahiert, kann ein Menschenalter im Lebensgedränge der glühenden Tropenwelt Pflanzen und Tiere zergliedern, er wird die Natur zu beschreiben glauben, ihr selbst aber ewig fremd bleiben." Wenn Schiller ihm vorgeworfen hatte, er wolle die Natur "schamlos ausmessen", so stellte er damit freilich die Grundlage jeder wissenschaftlichen Naturerkenntnis in Frage. Humboldt will nur messen, was messenswürdig ist. Seine Begeisterung für statistische Methoden von der kritischen Berechnung der Mittelwerte des Klimaverlaufs bis zu der Bevölkerungsstatistik Mexikos und den Untersuchungen über die Gold- und Silberausfuhr der Kolonialländer dient nur dem Zweck, Dinge, Vorgänge und Zustände in ihrer Größenordnung zu erkennen und damit vergleichbar zu machen. Nie geht es ihm um abstrakte Zahlen, sondern um die Erfassung der lebendigen Gestalt der Natur.

Die Ergebnisse wurden von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der modernen Erdkunde. Erst durch Humboldt gewinnt sie den Rang einer wirklichen Wissenschaft. Er entwickelte einen neuen Stil des wissenschaftlichen Reisens, an die Stelle der Entdeckungsfahrt trat die Forschungsreise, die dem Studium im voraus gesehener oder auch nur geahnter Probleme dient. Die exakte Beobachtung wird zur Grundvoraussetzung aller geographischen Arbeit. Humboldt hat als erster zahllose barometrische Höhenmessungen vorgenommen und die Resultate in Höhenschnitten ganzer Länder zeichnerisch dargestellt. Das führte ihn auf grundlegende geographische Probleme, die vor ihm noch kein Reisender mit solcher Klarheit gesehen hatte. Erst seine Unterscheidung von Kamm-, Gipfel- und Passhöhe führte zu einer deutlichen Vorstellung vom Bau der Gebirge. Er erkannte die Bedeutung der Schneegrenze, überhaupt aller Höhengrenzen, der Höhenschichtung des organischen Lebens, der Zusammenhänge zwischen Klima und Verbreitung von Pflanzen, Tieren und menschlichen Siedlungen. Der geographische Raum, in den Anschauungen seiner Zeit im Grunde nur ein zweidimensionales Gebilde, gewinnt damit eine neue Dimension. Goethe erkannte sofort den Wert dieser neuen Betrachtungsweise und entwarf selbst nach Humboldts "Ideen zu einer Geographie der Pflanzen" eine symbolische Landschaft, eine vergleichende Zeichnung der europäischen und amerikanischen Gebirge mit Schneegrenzen und Vegetationshöhen.

Die Botanik weitete sich Humboldt durch diese Erkenntnisse zur Pflanzengeographie, deren eigentlicher Begründer er ist. Seine meteorologischen Beobachtungen führten ihn zur Klimakunde, die erst durch ihn ein geographisches Gesicht bekam. Er erkannte das Gesetzmäßige im Verlauf der tropischen Witterungserscheinungen und spürte den Ursachen der Passatwinde und den Abwandlungen der täglichen und jährlichen Wärmeschwankungen mit der Höhe nach. Er zeichnete die erste Isothermenkarte und erkannte, dass diese Linien gleicher Wärme nicht mit den Breitengraden der Erde zusammenfallen. Das führte ihn auf die Bedeutung der Meeresströmungen und weiter zur Charakterisierung des wichtigen Gegensatzes von maritimem und ozeanischem Klima. In der Geologie trug er entscheidend zum Umschwung der Anschauungen vom Neptunismus zum Vulkanismus bei. Er wies auf die Zusammenhänge von Erdbeben und vulkanischen Erscheinungen hin und zeigte, dass die Vulkane der Erde nicht regellos auftreten, sondern auf weitgespannten Linien angeordnet sind, die er als Spalten der Erdkruste deutete.

Alle diese Erkenntnisse sind nicht entlegene Spezialfragen der Forschung; es sind die Grundbegriffe geographischer Anschauung, die heute niemand entbehren kann, der eine klare Vorstellung vom Aufbau der Erde und der Vielfalt ihrer Erscheinungen gewinnen will.


Das dritte Menschenalter

Seit seiner Übersiedelung nach Paris war Humboldt fünfzehn Jahre lang nicht in Berlin gewesen. Seinen Dienst als Kammerherr am preußischen Hofe hatte er nie angetreten. Von Friedrich Wilhelm III. wurde er mehrmals zur Rückkehr gemahnt, aber stets wich er aus. Allmählich wurde der Körnig immer dringender, und 1822 musste ihn Humboldt zum Kongress nach Verona und über Rom und Neapel bis nach Berlin begleiten. Noch einmal gelang es ihm, einen Aufschub zu gewinnen, aber 1827 musste er sich endgültig damit abfinden, seinen Wohnsitz in Berlin zu nehmen. Es blieb ihm keine andere Wahl, denn nachdem er für die Herstellung der Reisewerke den Rest seines Vermögens verbraucht hatte, war er jetzt auf sein Einkommen aus Berlin angewiesen. Die äußeren Bedingungen seiner neuen Lage waren nicht schlecht. Der König bewilligte ihm ein Jahresgehalt von 5.000 Talern, allerdings unter Einschluss der Akademiebezüge, und gestand ihm in jedem Jahr vier Monate Paris zu.

Berlin war größer und betriebsamer geworden in den Jahren nach den Freiheitskriegen. Es hatte durch Schinkel die Anfänge einer großstädtischen Architektur bekommen und besaß seit siebzehn Jahren eine Universität mit vielen bedeutenden Gelehrten. Aber im Vergleich zu Paris erschien Humboldt das Leben hier auch jetzt noch eng und bedrückend. In Paris war er eine stadtbekannte Persönlichkeit gewesen, von dessen Ruhm selbst die Droschkenkutscher wussten. Wenn man ihnen nur seine Adresse nannte, erzählt Holtei, wussten sie gleich Bescheid und sagten anerkennend: "Ah, chez Monsieur de Humboldt." "In Berlin", bemerkt Holtei 1844, "ist mir kein Droschkenkutscher vorgekommen, dem Humboldts Wohnung bekannt gewesen wäre." Noch viele Jahre nach seiner Rückkehr nennt Humboldt Berlin eine "Sandwüste, geziert durch Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder." Allerdings darf man solche Äußerungen bei ihm nicht allzu tragisch nehmen. Wenn er ärgerlich war, liebte er dramatische Ausdrücke. Schon in Paris hatte Arago von ihm gesagt: "Mein Freund Humboldt ist das beste Herz auf der Welt, aber auch das größte Schandmaul, das ich kenne."

Humboldt wagte es aus Loyalität für den König nicht zu laut auszusprechen, aber aus zahlreichen Äußerungen wird es deutlich: der eigentliche Grund seines Missvergnügens an der Situation in Berlin sind die Pflichten am Hofe. Die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens wurde er für zwei preußische Könige, Friedrich Wilhelm III. und IV., zum Berater in allen wissenschaftlichen und überhaupt kulturellen Dingen, mehr noch Unterhalter, Vorleser und Zeitvertreiber. Alle Wanderungen des Hofes nach Charlottenburg, Sanssouci und Paretz musste er mitmachen. Der Bau der Eisenbahn von Berlin nach Potsdam brachte ihm keineswegs Erleichterung. Wie er im Jahre 1839 klagt, wurde dadurch die Unruhe seines "oft sehr unliterarischen, fledermausartigen Lebens noch vermehrt, die Pendelschwingungen zwischen beiden sogenannten Residenzen häufiger." Besonders Friedrich Wilhelm IV. plagte ihn unentwegt durch die absonderlichsten Fragen und betrachtete ihn als lebendiges Konversationslexikon. Wenn die beiden in Potsdam im Stadtschloss wohnten, besuchte der König meist noch spät in der Nacht Humboldt auf seinem Zimmer, und oft wurden die Gespräche auch auf der Wendeltreppe des Schlosses endlos fortgesponnen. Für die wissenschaftliche Arbeit blieben ihm nur die tiefen Nachtstunden. "Dass in der Zerstreutheit meiner Stellung ich meine literarischen Zwecke noch ernst verfolge, wird möglich dadurch, dass der periodische Schlaf in der Humboldtschen Familie für ein verjährtes Vorurteil gilt. Ich gehe um halb drei ins Bett und stehe um sieben Uhr auf, im Sommer um sechs Uhr."

Humboldt besaß nicht den Ehrgeiz, seinen Einfluss am Hofe politisch auszunutzen. Lange Zeit hatte er beinahe die Stellung eines inoffiziellen Kultusministers neben dem amtlichen. An dem Posten selbst, den er schon 1810 ausgeschlagen hatte, lag ihm nichts. Er warf aber bedenkenlos das Gewicht seines Namens in die Waagschale, wenn es galt, Mittel für allgemeine Zwecke der Wissenschaft bereitzustellen oder einzelnen Forschern zu helfen. Als 1846 der Berliner Astronom Galle nach den Berechnungen des Franzosen Leverrier den Planeten Neptun entdeckte, machte Humboldt daraus "den möglichsten Spektakel, um Königen und Ministern die Größe der Wissenschaft einzureden." Hunderte von jungen Gelehrten hat er auf diese Weise gefördert und neue Erholungsstätten geschaffen. So ist er der Begründer der Berliner Sternwarte und des Preußischen Meteorologischen Institutes. Auf seine Anregung entstand nicht nur in Europa, sondern in den Kolonien des Britischen Reiches und im asiatischen Russland ein Netz von Beobachtungsstationen für Erdmagnetismus und Meteorologie, das sich von Helsingfors bis Kapstadt und von Kanada bis Sibirien erstreckte.

In allen Fragen der großen Politik, auch bei den Ereignissen des Jahres 1848, war der Mann, "der die Ideen von 1789 im Herzen und den Kammerherrnschlüssel auf dem Rücken trug", zurückhaltend, fast uninteressiert. Die Welt der politischen Geschichte lag ihm fern. Als Naturforscher ist er der Überzeugung: "Jahrhunderte sind Sekunden in dem großen Entwicklungsprozess der Menschheit." Wohl sieht er in der Weltgeschichte eine aufsteigende Linie, kommt jedoch zu der Einsicht: "Die ansteigende Kurve hat aber kleine Einbiegungen, und es ist gar unbequem, sich in solchem Teile des Niederganges zu befinden."


Asiatische Reise

Kurz nach seiner Übersiedelung nach Berlin wurde Humboldt von dem russischen Finanzminister Graf Cancrin um ein Gutachten über die Frage gebeten, ob die Ausgabe von Münzen aus Platinmetall, von dem damals reiche Lager im Ural entdeckt worden waren, zweckmäßig sei. Humboldt rät ab, hauptsächlich aus währungstechnischen Gründen, wie er es in der gleichen Frage schon in Mexiko getan hatte. Cancrin hatte in seinem Schreiben bemerkt, "der Ural wäre wohl des Besuches eines großen Naturkundigen wert." Dadurch bekamen die alten Pläne Humboldts für eine große asiatische Reise neuen Auftrieb. Eigenhändig fügte er dem Gutachten in einer Nachschrift den Satz hinzu: "Der Ural und der nun bald russische Ararat, ja selbst der Baikalsee schweben mir als liebliche Bilder vor." Sogleich kam auf Veranlassung des Zaren eine offizielle Einladung, und im April 1829 fuhr er mit zwei Reisewagen nach Petersburg ab.

Humboldts asiatische Reise unterscheidet sich wesentlich von der Amerikaexpedition. Er war jetzt der Preußische Wirkliche Geheime Rat mit dem Titel Exzellenz, ein Mann von Weltruf, für den der ganze Staatsapparat aufgeboten wurde, um alle Reiseschwierigkeiten zu beheben. Humboldt freut sich dieser Fürsorge, aber bald wird ihm "die große und allzu gütige Sorgfalt der Regierung für unsere Sicherheit" lästig. Auch in Amerika hatte er Förderung durch die Behörden gefunden, konnte aber doch als Privatmann ganz nach eigenem Belieben und dem Fortgang seiner Forschungen frei umherreisen. Hier in Russland war das anders. "Ein ewiges Begrüßen, Vorreiten und Vorsorgen von Polizeileuten, Administratoren, Kosacken, Ehrenwachen. Leider aber auch fast kein Augenblick des Alleinseins; kein Schritt, ohne dass man wie Kranke unter der Achsel geführt wird." In Barnaul am Ob erscheint plötzlich der kommandierende General von Tomsk, um ihn 1.500 Werst längs der Grenzbefestigungslinie zu begleiten.

Der Geologe Helmersen, der im Dienst der russischen Regierung tätig war, gibt ein Bild von Humboldts äußerer Erscheinung während der Reise: "Humboldt ging damals noch ziemlich gerade einher, den Kopf ein wenig nach vorn geneigt. Wir haben ihn selbst auf der Reise, im Wagen, nie anders als in dunkelbraunem oder schwarzem Frack, mit weißer Halsbinde und rundem Hute gesehen, über den Frack zog er einen langen, ebenfalls dunkelfarbigen Überrock. Sein Gang war gemessen, langsam, vorsichtig, aber sicher. Er ritt auf Exkursionen nie; wo man im Fuhrwerk nicht weiter konnte, stieg er aus und ging zu Fuß weiter, ohne sichtbare Ermüdung hohe Berge ersteigend oder über Steinmeere kletternd. Man sah es diesen Bewegungen an, dass sie auf bösem Terrain erlernt worden waren."

Die Reise führte über Petersburg und Moskau zunächst zum Ural, dann durch das sibirische Tiefland zum Altaigebirge und zur Grenze der chinesischen Dsungarei. Auf dem Rückweg durchquerte Humboldt die asiatische Kirgisensteppe bis zur unteren Wolga, wo er auf den Spuren des jungen Forster den Eltonsee und die deutschen Kolonien bei Saratow besuchte. Das alles wird in unglaublich raschem Tempo erledigt. In Astrachan gönnt er sich eine kurze Ruhepause. "Wir haben nun unsere 12.000 Werste seit Petersburg vollendet; und die damit verknüpften achtundvierzigtausend Stöße (ich rechne bescheiden nur vier gewaltsame Brückenauffahrten auf eine Werst) haben meinem Unterleib sehr wohlgetan. Ich bilde mir ein, etwas weniger vom Magen zu leiden, ohnerachtet die langen sibirischen Saucen und die Fruchtinfusionen (Wein genannt) wohl als Gift angesprochen werden können. Fast in keinem Teile meines unruhigen Lebens habe ich in kurzer Zeit (sechs Monaten) - aber freilich auf einem ungeheuer ausgedehnten Räume - eine so große Masse von Beobachtungen und Ideen sammeln können."

Mit solchen Superlativen nahm es Humboldt nicht sehr genau, das Nächstliegende war ihm meist das Wichtigste. Wohl hatte er in kurzer Zeit unendlich viel gesehen, aber die Ergebnisse der asiatischen Reise kamen nicht entfernt an die der amerikanischen heran. Daran war nicht allein das Tempo schuld. Der Sechzigjährige hatte nicht mehr die Frische und Aufnahmefähigkeit wie der erlebnishungrige junge Forscher vor einem Menschenalter. Die Ansitze zu allen entscheidenden Ideen, die sein geographisches Weltbild geformt haben, gehen auf die fünf amerikanischen Jahre zurück. Doch gaben ihm die asiatischen Eindrücke die Möglichkeit zum Vergleichen und überprüfen früherer Anschauungen. In der Vorrede zum "Kosmos" sagt er: "Es ist mir ein Glück geworden, das wenige wissenschaftliche Reisende in gleichem Maße mit mir geteilt haben: das Glück, nicht bloß Küstenländer, wie auf den Erdumseglungen, sondern das Innere zweier Kontinente in weiten Räumen, und zwar da zu sehen, wo diese Räume die auffallendsten Kontraste der alpinischen Tropenlandschaft von Südamerika mit der öden Steppennatur des nördlichen Asiens darbieten."


Kosmos

Alle wissenschaftlichen Spezialforschungen waren für Humboldt nur Bausteine zur Erkenntnis des Ganzen der Natur. Sein Ziel war es, schließlich zu einer umfassenden Darstellung von Erde und Weltall zu gelangen. Schon als Siebenundzwanzigjähriger, im Jahre 1796, schrieb er an Pictet: "Je concus l'idée d'une physique du monde", fügt aber gleich hinzu, dass das Material für ein so umfassendes Gebäude noch allzu spärlich sei. "Man schadet der Erweiterung der Wissenschaft, wenn man sich zu allgemeinen Ideen erheben und doch die einzelnen Tatsachen nicht kennenlernen will." So mussten erst dreißig Jahre vergehen, die der Reise und der Verarbeitung ihrer Ergebnisse gewidmet waren, ehe er sich an diese Aufgabe machen konnte, die ihm als das eigentliche Werk seines Lebens vor Augen stand.

Nach einem skizzenhaften Entwurf in Paris geschah das zum ersten Male in einer Reihe von Vorlesungen, die er bald nach seiner Ankunft in Berlin hielt. Als Mitglied der Akademie war er berechtigt, an der Universität Vorgesungen zu halten. So kündigte er für das Wintersemester 1827 ein öffentliches Kolleg über das Gesamtgebiet der physischen Geographie an. Zweimal wöchentlich, gegen Semesterende fast täglich, breitete er vor den Hörern in einundsechzig Vorlesungen einen umfassenden Überblick über das Ganze des Erdkörpers, seinen geologischen Aufbau, die Klimazonen, die Verbreitung von Pflanzen, Tieren und Menschenrassen aus. Der Zudrang war so groß, dass er in der Neuen Singakademie, wo vor ihm August Wilhelm Schlegel über Theorie und Geschichte der bildenden Künste gesprochen hatte, einen zweiten, für einen breiteren Hörerkreis bestimmten Zyklus begann. Der Erfolg dieser Vorgesungen war gewaltig. Beide Kurse wurden zusammen von eintausenddreihundert bis eintausendvierhundert Hörnern besucht, einem "gemischten Publikum", das vom König bis zum Maurermeister alle Stände und Berufe umfasste.

Über den Eindruck der Vorlesungen in der Singakademie schrieb Holtei im Dezember 1827 an Goethe: "Alexander von Humboldt hat den allgemeinen Bitten nachgegeben und außer seinem Universitätskursus noch einen zweiten - ebenfalls über physikalische Geographie - im großen Saale der Singakademie eröffnet. Ein solches Publikum ist - glaube ich - in Deutschland noch nicht vor dem Katheder eines Gelehrten versammelt gewesen. Der König, der ganze Hof, die höchsten Staatsbeamten und Militärpersonen nebst ihren Damen, alle Gelehrte, Künstler pp von Bedeutung, die ganze schöne Welt - alle sind versammelt, um Belehrung und Freude in den Worten zu finden, die der große Mann aus dem Schatze seiner Erfahrungen und Kenntnisse spendet. Achthundert Menschen atmen kaum, um den Einen zu hören. Es gibt keinen großartigeren Eindruck, als die irdische Macht zu sehen, wie sie dem Geiste huldigt; und schon deshalb gehört Humboldts jetziges Wirken in Berlin zu den erhebendsten Erscheinungen der Zeit."

Es gab auch eine kleine Zahl von Missvergnügten. Zu ihnen gehörte Hegel, der sich bei Varnhagen bitter über einen Ausfall Humboldts gegen die Naturphilosophie beschwerte, ferner einige Konservative, die befürchteten, dass durch Humboldts Ansichten die Religion Schaden leiden könnte. Für die gelehrte Welt und die Gebildeten waren die Vorlesungen die Sensation des Winters. Selbst Damen nahmen lebhaften Anteil daran, wenn auch mit unterschiedlichem Verständnis. Zelter schreibt an Goethe: "Eine Dame, welche Humboldts Vorlesungen besucht, bestellt sich ein Kleid und verlangt, die Oberärmel zwei Siriusweiten geräumig zu machen."

Die Kunde von dem Erfolg der Vorlesungen drang rasch zu dem geschäftstüchtigen Freiherrn von Cotta, dem Stuttgarter Verleger, den Humboldt "ein sonderbares Gemisch edelmütiger Großartigkeit und engen Geizes, vielseitiger Tätigkeit und lästiger Geschäftsverwirrung" nennt. Er machte sogleich ein Verlagsangebot, worüber Humboldt berichtet: "Herr von Cotta hat mir den Vorschlag gemacht, das gesprochene Wort durch einen geübten Schnellschreiber ans Papier zu heften, dessen Aufzeichnungen ihm nach Stuttgart zu schicken, damit er es gleich in die Druckerei geben und bogenweise versenden könne. Er verspricht sich von dieser Manipulation mit ganz frischer Ware einen großartigen Erfolg und hat mir in dieser Hinsicht glänzende Propositionen gemacht."

Cotta schätzte den Umfang des Werkes auf fünfundvierzig Bogen und war bereit, dafür fünftausend Taler zu zahlen. Aber Humboldt lehnte ab. "Ich habe ihm geantwortet: Nicht alles, was man auf dem Katheder spreche, könne so ohne weiteres gedruckt werden; was für die Presse und durch diese für eine längere Zukunft bestimmt sei, müsse wohl und reiflich überlegt, dann niedergeschrieben, überarbeitet, geläutert und gesichtet und mit Beweisstücken der Schriftsteller in Noten und Zitaten beglaubigt werden, in dieser Richtung kenne er ja meine Manier zu schreiben; ich würde aber auf Grundlage der Notizen, welche ich für meine freien Vorträge benutze, ein Buch über physische Geographie abfassen."

In den nächsten Jahren kam er aber noch nicht dazu, sich ernsthaft mit dieser Arbeit zu befassen. Zunächst beschäftigte ihn die sibirische Reise, von der er nach der Bemerkung Zelters "voll wie ein siedender Topf" zurückkam. Die Ergebnisse dieser Reise veröffentlichte er in zwei Werken, den "Fragmenten einer Geologie und Klimatologie Asiens" 1832, und "Zentralasien. Untersuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie", zwei Bände 1843-44. Vor allem war er der Überzeugung, dass ein so umfassendes Werk, wie es ihm vorschwebte, nur in Jahrzehnten wachsen und ganz langsam ausreifen konnte. Wie die Arbeit am Faust Goethe durch alle Epochen seines Daseins begleitete, so ging es Humboldt mit diesem Werk, das die Summe seiner ganzen Lebensarbeit, ja aller bisherigen Naturforschung überhaupt ziehen sollte.

Im Jahre 1834 legte er Varnhagen mit einem ausführlichen Plan des Ganzen das Manuskript zu den einleitenden Betrachtungen vor und bat ihn um kritische Durchsicht. Den ersten Entwurf in Paris hatte er "Essai sur la Physique du Monde" genannt; später wollte er es "Buch von der Natur" nennen. Schließlich entschloss er sich, um schon im Namen des Werkes auf seine Auffassung der Natur als ein harmonisch geordnetes Ganzes hinzuweisen, zu dem endgültigen Titel: "Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung."

In dem Brief an Varnhagen skizziert er kurz den Inhalt: "Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen wissen, alles in einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüt ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufglimmt, muss neben den Tatsachen hier verzeichnet sein. Es muss eine Epoche der geistigen Entwicklung der Menschheit - in ihrem Wissen von der Natur - darstellen. Das Ganze ist nicht, was man gemeinhin "physikalische Erdbeschreibung" nennt: es begreift Himmel und Erde, alles Geschaffene."

Bis zur Vollendung war noch ein weiter Weg. Humboldts ursprüngliche Absicht, das gewaltige Thema in einem einzigen Bande zur Darstellung zu bringen, da es "in dieser Kürze den großartigsten Eindruck hinterlassen haben würde", erwies sich als undurchführbar. Während der Arbeit wuchs es ihm zu einem fünfbändigen Werk. Die ersten vier Bände erschienen in den Jahren 1845 bis 1858, der letzte blieb unvollendet und kam erst nach seinem Tode heraus. Allein das Register der fünf Bände umfasst mehr als tausend Seiten.

In der Einleitung "über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und die wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze" wendet sich Humboldt gegen das Vorurteil, "dass die Natur bei dem Forschen in das innere Wesen der Kräfte von ihrem geheimnisvollen Zauber verliert, dass der Naturgenuss durch das Naturwissen notwendig geschwächt werde." Die ersten beiden Bände sind universeller Natur; ihnen gehört Humboldts besondere Liebe, sie enthalten die eigentliche Kosmosidee. Der erste Band gibt in der Form eines "Naturgemäldes" ein allgemeines physisches Weltbild. Der zweite bringt zunächst eine Geschichte des Naturgefühls aller Zeiten und Völker, handelt von den Anregungsmitteln zum Naturstudium, - wozu Humboldt auch die dichterische Naturbeschreibung, die Landschaftsmalerei und die Kultur exotischer Gewächse rechnet, - und entwickelt in einer Geschichte der physischen Weltanschauung die Hauptmomente der allmählichen Entfaltung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos als einem Naturganzen. Auf diese allgemeinen Teile folgen die speziellen: Die "Gebiete kosmischer Erscheinungen", eine Physik des Weltalls, und die "Gebiete tellurischer Erscheinungen", eine physische Geographie im engeren Sinne.

Die Ausarbeitung des Werkes beschäftigte ihn fast ein Menschenalter lang. Immer neue Korrekturen und Nachprüfung einzelner Fragen verzögerten die Arbeit unendlich. Der erste Band erschien erst zehn Jahre nach dem etwas voreiligen Beginn des Druckes. Da das Werk "den Zustand des Wissens und der herrschenden oder besonderer Aufmerksamkeit würdigen Ansichten über Naturgegenstände in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ja numerische Angaben aller Art mit der größten bis dahin erlangten Genauigkeit darlegen sollte", wollte sich Humboldt nicht allein auf sein eigenes umfassendes Wissen und Gedächtnis verlassen, sondern bat die hervorragendsten Vertreter der verschiedenen Wissenschaften um ihre Ansicht zu einzelnen Punkten, ja selbst um Prüfung der fertigen Druckbogen. Der Mathematiker Gauß, die Astronomen Bessel und Encke, der Geologe Leopold von Buch, der Geograph Berghaus und viele andere wurden so zu Mitarbeitern. Wenn sie auch nur winzige Bausteine lieferten, so versäumte Humboldt doch nie, ihre Verdienste oft in überschwänglicher Weise herauszustellen. "Wissbegierde hat gemacht, dass wohl wenige Menschen, zweiundsechzig Jahre lang, so viel aus dem Umgange berühmter Zeitgenossen geschöpft haben als ich! Fleiß, Wahrhaftigkeit und freundlichste Anerkennung des Verdienstes derer, die mir gegeben, werden im Text und zahllosen Noten wohl nicht verkannt werden."

 

"Ich übergebe am späten Abend eines vielbewegten Lebens dem deutschen Publikum ein Werk, dessen Bild in unbestimmten Umrissen mir fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele schwebte. In manchen Stimmungen habe ich dieses Werk für unausführbar gehalten: und bin, wenn ich es aufgegeben, wieder, vielleicht unvorsichtig, zu demselben zurückgekehrt." Als es endlich zu erscheinen begann, war alle Welt darüber einig, dass nur Humboldt unter allen Lebenden eine solche Aufgabe lösen konnte. Bessel erklärte: "Die Gedanken und die Schönheit ihres Ausdrucks machten den "Kosmos" klassisch." Friedrich Wilhelm IV., dem das Werk gewidmet war und der durch seine grenzenlosen Ansprüche an Humboldts Zeit so viel zur Verzögerung beigetragen hatte, zitierte beim Empfang des ersten Bandes aus Goethes Tasso: "So halt' ich's endlich denn in meinen Händen und nenn' es in gewissem Sinne mein."

Der buchhändlerische Erfolg war enorm. Der erste Band war in zwei Monaten vergriffen, beim Erscheinen des zweiten wurde die Nachfrage noch größer. Die Spekulation des inzwischen verstorbenen Freiherrn von Cotta erwies sich als richtig. In einem Brief an Humboldt schrieb dessen Sohn Georg, dass der "Kosmos" "in der Geschichte des Buchhandels wirklich Epoche macht." Seit den besten Erscheinungen von Schiller und Goethe sei ein solcher Erfolg nicht mehr dagewesen. "Der Commissionär der J. G. Cottaschen Buchhandlung kann nicht Worte finden, den Sturm zu schildern, den sein Haus zu bestehen hatte, als dieser zweite Band bei ihm ankam. Er musste sich recht eigentlich gegen das Andrängen der Nachfragenden und Abholenden in Verteidigungszustand setzen, um nicht beraubt zu werden und die Abgabe der Pakete in Ordnung zu vollbringen; und so geschah es, dass Pakete, die nach Petersburg bestimmt waren, geradezu geplündert wurden (ohne dass man es hindern konnte), um sie nach Wien oder Hamburg zu schicken - oder umgekehrt." Schon 1851 gab Humboldt die Zahl der bis dahin erschienenen Kosmosbände mit achtzigtausend an. Noch zu seinen Lebzeiten erschienen Übersetzungen in zehn europäischen Sprachen. Im Vorwort zu der Jubiläumsausgabe von 1869 meinte Cotta sogar, der "Kosmos" sei nach der Bibel das verbreiteste Buch.

Humboldt war sich klar darüber, dass der "Kosmos", in dem er das gesamte Wissen seiner Zeit von der Natur zusammenfassend dargestellt hatte, in manchen Teilen rasch veralten musste. Als wahrer Forscher ließ er sich dadurch nicht schrecken. "Wer von der echten Liebe zum Naturstudium und von der erhabenen Würde desselben beseelt ist, kann durch nichts entmutigt werden, was an eine künftige Vervollkommnung des menschlichen Wissens erinnert. Viele und wichtige Teile dieses Wissens, in den Erscheinungen der Himmelsräume wie in den tellurischen Verhältnissen, haben bereits eine feste, schwer zu erschütternde Grundlage erlangt. In anderen Teilen werden allgemeine Gesetze an die Stelle der particulären treten, neue Kräfte ergründet, für einfach gehaltene Stoffe vermehrt oder zergliedert werden. Ein Versuch, die Natur lebendig und in ihrer erhabenen Größe zu schildern, in dem wellenartigen wiederkehrenden Wechsel physischer Veränderlichkeit das Beharrliche aufzuspüren, wird daher auch in späteren Zeiten nicht ganz unbeachtet bleiben."

 

Humboldt war sechzig Jahre alt zur Zeit der sibirischen. Reise, sechsundsiebzig beim Erscheinen des ersten Kosmosbandes. Auch neben diesem Werk entwickelte er in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens eine emsige literarische Tätigkeit. Es erschienen die beiden Untersuchungen über Gebirgsbau und Klima von Asien, die letzten Teile des großen Amerika-Werkes und viele Sonderarbeiten als Nachlese früherer Forschungen. Allein schon die schriftstellerische Leistung dieses Lebenswerkes ist imponierend. Die Gesamtbibliographie seiner Veröffentlichungen umfasst über sechshundert Titel, darunter zahlreiche mehrbändige Werke.

Auch jetzt kann er nur durch systematische Nachtarbeit, "wenn die störenden Potenzen der Feinde schlummerten", diese enorme Arbeitslast bewältigen. Wohl klagt er immer wieder über die Bürde des Hoflebens, aber er tut nichts, um diesen Zustand zu ändern. In einem Brief an Gauß schreibt er: "Mein Leben ist ein mühselig zerrissenes, arbeitsames Leben, in dem fast nur nächtliche Stunden zu literarischen Arbeiten übrig bleiben. Sie werden fragen, warum ich aber - sechsundsiebzig Jahre alt - mir nicht eine andere Lage verschaffe? Das Problem des menschlichen Lebens ist ein verwickeltes Problem. Man wird durch Gemütlichkeit, ältere Pflichten, törichte Hoffnungen gehindert." Schließlich hat er sich so sehr an dieses Doppelgesicht seines Lebens gewöhnt, dass er es selbst nicht mehr entbehren kann. Im hohen Greisenalter war er nicht mehr wie früher aktiver Führer der Forschung, sondern ihr Repräsentant und Förderer, und die Stellung am Hofe gibt ihm die Plattform, von der aus er wirken kann.

über den "gekrönten Monarchen der Wissenschaft" ergießt sich eine Flut von Ehrungen. Viele davon sind nur äußere Embleme des Ruhms: der Exzellenztitel, die Mitgliedschaft im Staatsrat und die Würde als lebenslänglicher Kanzler des Ordens "Pour le Merite", dazu zahllose Orden der verschiedensten Länder, die Ehrenmitgliedschaft in nahezu allen Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften. Sein Name ging ein in die Landkarten mehrerer Erdteile: Der Westküstenstrom Südamerikas, Meeresbuchten in Neuguinea, Bergketten in Kalifornien und Zentralasien, dazu noch ein Fluss in Nordamerika und eine Stadt in Argentinien wurden nach ihm genannt. Seine Empfehlungsschreiben für andere Forschungsreisende waren die wirkungsvollsten Geleitbriefe, "dergleichen kein Papst und kein Kaiser auszustellen vermochte" (Dove).

Mit der wachsenden Berühmtheit schwoll seine Korrespondenz ins Ungemessene an. Um sie bewältigen zu können, antwortete er möglichst noch in der laufenden Nacht, immer eigenhändig. Seine Handschrift war schlecht, in den letzten Jahren oft schwer zu entziffern. Schließlich häuften sich die Zuschriften auch von völlig Unbekannten so, dass er nicht mehr damit fertig werden konnte. Seine Ausgaben für Postgeld betrugen fünf- bis sechshundert Taler im Jahr. Wenige Wochen vor seinem Tode ließ er einen Notschrei in die "Vossische Zeitung" einrücken: "Leidend unter dem Drucke einer immer noch zunehmenden Korrespondenz, fast im Jahresmittel sechzehnhundert bis zweitausend Nummern (Briefe, Druckschriften über mir ganz fremde Gegenstände, Manuskripte, deren Beurteilung gefordert wird, Auswanderungs- und Kolonialprojekte, Einsendung von Modellen, Maschinen und Naturalien, Anfragen über Luftschifffahrt, Vermehrung autographischer Sammlungen, Anerbietungen, mich häuslich zu pflegen, zu zerstreuen und zu erheitern u.s.w.), versuche ich einmal wieder die Personen, welche mir ihr Wohlwollen schenken, öffentlich aufzufordern, dahin zu wirken, dass man sich weniger mit meiner Person in beiden Kontinenten beschäftige und mein Haus nicht als ein Adreß-Comptoir benutze, damit bei ohnedies abnehmenden physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Muße zu eigener Arbeit verbleibe. Möge dieser Ruf um Hilfe, zu dem ich mich ungern und spät entschlossen habe, nicht lieblos gemissdeutet werden!"

Seit dem Tode seines Bruders im Jahre 1835 fühlte er sich als Greis, spricht von seiner "Versteinerung", nennt sich "antediluvianisch" oder den "Urmenschen". Von 1842 an wohnte er im ersten Stock eines kleinen Hauses in der Oranienburger Straße, betreut von seinem Kammerdiener Seifert. Humboldt, der allezeit Frauen aus seinem Leben fernhielt, geriet am Ende in eine seltsame Abhängigkeit von diesem Bedienten, dem er schließlich sogar noch bei Lebzeiten seinen gesamten Besitz übereignete. In der Wohnung musste stets eine tropische Wärme von zwanzig Grad Reaumur herrschen. Seine Bücherei war nicht groß, sogar die eigenen Werke besaß er nicht vollständig. Ein Naturalienkabinett, ein Empfangssalon, die Bibliothek und ein kleines Arbeitszimmer waren die Welt, wo seine letzten Werke entstanden und wenige auserwählte Besucher in von Seifert wohlabgemessenen Audienzen empfangen wurden.

Bis zum Tode blieb seine Gesundheit unerschüttert. Ein leichter Schlaganfall im Jahre 1857 ging ohne ernsthafte Folgen vorüber. Im Frühjahr 1859 wurden seine Kräfte schwächer. Ende April konnte er das Bett nicht mehr verlassen. Am Nachmittag des 6. Mai fand sanft und schmerzlos mit 90 Jahren dies vielbewegte Leben sein Ende.

 

"Wir werden vielleicht mit noch Wenigen die Letzten sein einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt", hatte Goethe 1825 an Zelter geschrieben. Einer der Wenigen, der Letzte dieser Epoche, war Alexander von Humboldt.

Das Humanitätszeitalter hatte den Blick auf die Welt alles Menschlichen gerichtet; Humboldt lenkte ihn auf das Ganze der Natur. Alle seine Arbeiten dienten dem einen Zweck: zu zeigen, "dass ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlingt." Das Buch vom Kosmos, das Werk seines Lebens, hat eine mächtige Wirkung in die Breite gefunden. Eine eigentliche Nachfolge, die dem großen Vorbild gerecht geworden wäre, fand es nicht.

Die Naturwissenschaften waren zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch keineswegs ein Gegenstand der allgemeinen Bildung. Erst durch Humboldt wurden sie in glänzender Form dem breiteren Kreis der Gebildeten nahe gebracht. Der "Kosmos" blieb durch Jahrzehnte das meistgelesene naturkundliche Werk und gab den Anstoß für viele Bestrebungen zur Popularisierung der Naturwissenschaften. Dies Resultat war durchaus im Sinne Humboldts. "Mit dem Wissen", schreibt er einmal, "kommt das Denken, und mit dem Denken der Ernst und die Kraft in die Menge." Aber Humboldt wollte ja weit mehr geben als nur ein populärwissenschaftliches Weltbild. Der "Kosmos" sollte ein großer Versuch sein, die Vielfalt der Erscheinungsformen in der Natur als notwendige Einheit zu erfassen, "der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt."

Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat in seinem Buch "Der Aufstand der Massen" mit eindringlichen Worten den Verfall geschildert, in den der universale Charakter der wissenschaftlichen, vor allem der naturwissenschaftlichen Arbeit im Laufe der letzten 150 Jahre geraten ist. Von einer Generation zur anderen hat sich der Wissenschaftler auf ein immer engeres geistiges Betätigungsfeld festgelegt und damit die Fühlung mit den übrigen Gebieten, mit einer deutenden Durchdringung des ganzen Universums, verloren. Ortega nennt das die Barbarei des Spezialistentums. Die Spezialisten, das sind Leute, "die von allem, was man wissen muss, um ein verständiger Mensch zu sein, nur eine bestimmte Wissenschaft und auch von dieser nur den kleinen Teil gut kennen, in dem sie selbst gearbeitet haben. Sie proklamieren ihre Unberührtheit von allem, was außerhalb dieses schmalen, von ihnen speziell bestellten Feldes liegt, als Tugend und nennen das Interesse für die Gesamtheit des Wissens Dilettantismus." Dieses Spezialistentum, auf dem ein Jahrhundert lang der Fortschritt der Naturwissenschaften beruhte, hat zur Folge, dass es heute mehr "Gelehrte" gibt als je, aber weit weniger "Gebildete" als etwa um 1800.

Es liegt eine tragische Ironie der geistesgeschichtlichen Entwicklung in der Tatsache, dass gerade Humboldt es war, der unbewusst das Aufkommen dieses Spezialistentums wesentlich gefördert hat. Zahlreiche Sonderdisziplinen, die sich später zu selbständigen Bereichen der Wissenschaft ausgebildet haben, sehen in ihm mit Recht den Begründer oder haben entscheidende Anregungen von ihm empfangen. Als bald nach seinem Tode das Verlangen nach einer umfassenden Biographie Humboldts immer dringender wurde, fand man keinen Mann, der sich imstande glaubte, als einzelner Leben und Werk dieses umfassenden Geistes in seiner ganzen Spannweite darzustellen. Die Biographie wurde geschrieben, - sie erschien 1872 in drei Bänden, - aber als Gemeinschaftsarbeit von elf Fachgelehrten, die sich in die Aufgabe teilten. Im Hinblick auf diese Tragik des Spezialistentums ist der "Kosmos" tatsächlich das Ende einer Epoche.

Es hat von Humboldts Tod bis zur Gegenwart nicht an Versuchen gefehlt, die ungeheuer angewachsene Masse der Erkenntnisse von Erde und Weltall zu einem Gesamtbild zu vereinigen. Aber alle diese Unternehmungen blieben im Enzyklopädischen stecken; sie zogen wohl die Summe, doch das lebendige Ganze blieb ihnen verborgen. Den Rang von Humboldts großartigem Versuch, den Geist der Natur zu ergreifen, haben sie nicht erreicht. Trotzdem sind diese Bemühungen ein Beweis dafür, dass auch auf der gegenwärtigen Stufe der Welterkenntnis der Menschengeist nicht darauf verzichten kann, immer von neuem den Wurf nach dem großen Ziel zu versuchen, dem Humboldt in seinem Werk Gestalt gegeben hat.

 

Die Vergänglichkeit aller Werke des Menschen, die Vergänglichkeit auch aller geprägten Formen des menschlichen Geistes ist ein Gedanke, der Humboldt tief vertraut war. In den "Ansichten der Natur", bei der Betrachtung der Wasserfälle des Orinoko und im Nachsinnen über die Bildung von Steppen und Wüsten gibt er ihm Ausdruck: "So sterben dahin die Geschlechter der Menschen. Es verhallt die rühmliche Kunde der Völker. Doch wenn jede Blüte des Geistes welkt, wenn im Sturm der Zeiten die Werke schaffender Kunst zerstieben, so entsprießt ewig neues Leben aus dem Schöße der Erde. Rastlos entfaltet ihre Knospen die zeugende Natur: unbekümmert, ob der frevelnde Mensch - ein nie versöhntes Geschlecht - die reifende Frucht zertritt."

In den Stürmen des Schicksals, unter allen Wandlungen des Lebens bleibt dem Menschen nur Eines, was Bestand hat, die Natur. "Darum versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt, gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen und in der heiligen Naturkraft inneres Wirken; oder, hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahndungsvoll aufwärts zu den hohen Gestirnen, welche in ungestörtem Einklang die alte, ewige Bahn vollenden."

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