Carl Paul 1857-1927

Carl Paul 1857 - 1927

Inhalt

Lebenslauf  
Von der Bayerischen Missionskonferenz 1953

Familie

Lebensbeschreibung
Amtskalender für evangelisch-lutherische Geistliche in Sachsen, um 1930 

Direktor der Leipziger Mission

Tagebuch
Von Juli 1881 bis Oktober 1883

Veröffentlichungen von Carl Paul

Zum 70. Geburtstag
Von August Cordes 1927

Nachruf
Von August Cordes, 1927

Heimgang und letzte Fahrt
Von Martin Weishaupt, 1927

Nachruf der Sächsischen Missionskonferenz
Michael & Gerber, 1928

Lutherischer Missions- und Kirchenmann
Von Albrecht Oepke, 1929

Pfarrer in Lorenzkirch
Vortrag von Gottfried Müller am 22.08.1998 in Lorenzkirch

Carl Paul - Leben und Werk
Vortrag  von Hans-Peter Große am 25.08.2001 in Lorenzkirch

 
Niemand kann zwei Herren dienen
Mission und Kolonialismus sind nicht zwei Seiten einer Medaille
Von Michael Hanfstängl, 2007


Christliche Mission - ein koloniales Abenteuer?
Kurzfassung eines Vortrags von Michael Hanfstängl  am 15.08.2009 in Lorenzkirch

Carl Paul
Von Thomas Markert, 2010

Erinnerung an den Lorenzkircher Pfarrer und Leipziger Missionsdirektor Dr. Carl Paul
Vortrag von Jobst Reller am 20.08.2011 in Lorenzkirch

I. Eine Einleitung geben,
II. an ihn erinnern in Form eines Lebensabrisses,
III. Carl Paul's Größe, aber auch Grenze zu beschreiben suchen,
IV. Carl Paul und die Mission unter Muslimen bedenken und
V. einen kurzen Schluss formulieren.

Carl Paul - Sächsische Biografie

Carl Paul - Wikipedia

Weitere Links


Kurzer Lebenslauf von Carl Paul

Die bayerische Missionsarbeit einst und jetzt. Herausgegeben von der Bayerischen Missionskonferenz von Walter Ruf. 1953, Seite 50 bis 51

Carl Paul 1927

Von 1911 - 1923 führte Carl Paul das Direktorat der Leipziger Mission. Er entstammte der Sächsischen Landeskirche. Als er in den Dienst der Leipziger Mission berufen wurde, galt er bereits als anerkannter Missionswissenschaftler. Geboren 1857 in Lorenzkirch, seit 1884 Pastor in Rotschönberg, seit 1887 in Lorenzkirch. Der Ausbruch des Krieges 1914 traf die deutsche Mission hart. Die Fäden zu den Missionsgebieten rissen ab. Die Verbindungen mit dem Hinterland wurden unterbrochen. Die Arbeit im Seminar ging bis 1916 weiter. Dann wurde das Seminar geschlossen. Am 7. Januar 1919 konnte es wieder eröffnet werden. Der Versailler Vertrag schien alle Türen für die Missionsarbeit zu verschließen. Die Inflation vernichtete die vorhandenen Mittel. Eine Fülle von Problemen galt es zu lösen. Missionsdirektor Paul konnte noch den Wiederaufbau der Arbeit vorbereiten. Die amerikanischen Lutheraner waren bereit, der deutschen Mission zu helfen. Sie wählten Leipzig als Ort für die ständige Zusammenarbeit. 1920 fand dort eine Lutherische Missionskonferenz statt. Weitere Zusammenkünfte der lutherischen Missionen wurden gewünscht, woraus 1923 der erste Lutherische Weltkonvent in Eisenach entstand. 1920 bildete sich der Internationale Missionsrat. Er forderte, dass den deutschen Missionen der Weg in die Mitarbeit auf den Missionsfeldern wieder geöffnet würde.


Lebensbeschreibung von Carl Paul

D. theol. Paul, Carl, Missionsdirektor i. R. in Leipzig, wurde am 4. Februar 1857 zu Lorenzkirch a. d. Elbe im Pfarrhause geboren. Später hat er selber ein Vierteljahrhundert als Pfarrer in der gleichen Gemeinde leben und arbeiten dürfen, in der er als Kind unter 6 Brüdern und 2 Schwestern aufgewachsen war, Bevor er als Nachfolger von Großvater und Vater dorthin kam, ist sein Weg in die Weite gegangen. 1870 trat er in das Alumnat der Thomasschule in Leipzig ein; hier fand er Freundschaften fürs Leben, und hier wurde er mit der Liebe zur musica sacra erfüllt, die ihm bis zuletzt eigen war. Nach den Studienjahren in Tübingen und Leipzig führte ihn sein Weg nach Bremen, wo er 2 Jahre Hauslehrer in einem Großkaufmannshause war. Der Geographieunterricht, den er als Kind in des Vaters Studierstube empfangen hatte, und der Verkehr mit den welloffenen, missionssfreudigen Männern in dieser Bremer Zeit sind die äußeren Anlässe zu seinem späteren Missionseifer gewesen. Nach einer stillen Arbeitszeit im Predigerkolleg in Leipzig unternahm er eine Studienreise, die ihn zu den bedeutendsten Stätten der Inneren Mission, auch nach Amsterdam und London führte. 1884 übernahm er sein erstes Pfarramt in Rothschönberg bei Meißen; 3 Jahre nur ist er dort gewesen. In sie fallt die Gründung seines Ehestandes mit der Pfarrerstochter Elisabeth Fritzsche aus Streumen, und in dieser Zeit beginnt seine großzügige Missionsarbeit. 1887 hat er gemeinsam mit einigen Freunden die sächsische Missionskonferenz gegründet. In all den folgenden Jahren im Lorenzkirchener Pfarramt hat er neben gründlicher und gesegneter Gemeindearbeit mit viel Energie missionswissenschaftliche Studien gemacht, in der Kolonialbewegung und in den deutschen Missionskreisen (Bremer Continent, Miss.-Konferenz, Beschickung der Tagespresse mit Missionsstoff) einen führenden Platz eingenommen und literarische Arbeiten, vor allem über die Mission in den Kolonien, herausgegeben. Besonders hat er am Jahrbuch der Sächs. Missionskonferenz mitgearbeitet. 1911 wurde er, nachdem er bereits vorher zum Ehrendoktor gemacht worden war, zum Missionsdirektor berufen. 12 entscheidende Jahre hat er dies Amt geführt. Was er auf seinen Reisen in Afrika und Indien und in den Freundeskreisen der Heimat geleistet hat, wie er die vertriebenen Missionare in den Kirchendienst übergeleitet und immer einen heiligen Optimismus bewahrt hat, wie er dem Luthertum der Welt durch die Einberufung der ersten lutherischen Weltmissionskonferenz 1920, durch seine Vorbereitung des Eisenacher Weltkonvents 1923, durch seine Dienste für das Liebeswerk des Luth. Nationalkonzils von Amerika Großes geleistet hat, wie er noch nach seinem Rücktritt vom Direktorat 1923 bis zu seinem Tod als Vorsitzender des Missionskollegiums von seinem Ruhesitze in Schweta aus unermüdlich für die Mission und die lutherische Kirche weitergearbeitet hat, kann hier nur angedeutet werden. Was er als Professor an der Universität für seine Studenten war, wissen viele der Amtsbrüder in unserer Kirche; was er als Missionsmann geleistet hat, zeigt das ihm zum 70. Geburtstag dargebrachte Februarheft der Neuen Allgem. Missionszeitschrift 1927 und die Arbeit von D. Oepke im Missionsjahrbuch 1929. Und was er als Persönlichkeit mit seinem feinen Humor, seiner reifen Erfahrung, seiner Heimat- und Naturliebe gewesen ist, das vergessen ungezählte deutsche und ausländische Männer und Frauen nie, mit denen er auf seinen weiten Fahrten zusammengekommen ist. Am 10. Oktober 1927 ist er nach kurzem Krankenlager heimgerufen worden, und im Schatten der alten Wallfahrtskirche in Lorenzkirch hat er seine letzte Ruhestatt gefunden. Er hinterlässt die Witwe, einen Sohn, Dr. phil. Geograph und 4 Töchter, von denen die jüngste, Frau Missionar Gäbler, in der indischen Missionsarbeit steht, während die 3 älteren als Lehrerinnen und Krankenschwester tätig sind. Sein ältester Sohn, Dr. phil. ist 1918 auf Frankreichs Schlachtfeldern gefallen.

Quelle: Amtskalender für evangelisch-lutherische Geistliche in Sachsen. Um 1930 Seite 134.


D. Carl Paul als lutherischer Missions- und Kirchenmann

Von Professor D. Albrecht Oepke, Leipzig.

Lutherisches Missionsjahrbuch für das Jahr 1929. Herausgegeben im Auftrage der Missionskonferenz in Sachsen durch Pfarrer W. Gerber. Verlag H. G. Wallmann in Leipzig.

Als das vorige Missionsjahrbuch seinen Weg antrat, hatte Prof. D. Paul kurz vorher seine Augen geschlossen. Der Nachruf der Sächsischen Missionskonferenz bezeichnete es als eine Zukunftsaufgabe, die Bedeutung des Verewigten für die Mission und Kirche eingehender zu würdigen. Soweit der knappe Raum des Jahrbuches es zulässt, soll dies nun hier geschehen.

Carl Paul war eine der glücklichen Naturen, die über ihr Lebensziel früh Klarheit gewinnen. Der Grund zu seiner Missionsliebe wurde in Bremen gelegt, wo er als Kandidat im Hause eines Großlaufmanns Hauslehrer war. Funkes Predigten und Vietors herzliches Familienleben machten ihm besonderen Eindruck. Er wurde mit Missionsinspektor Zahn bekannt und erlebte schöne Missionsfeste mit Aussendungen von Missionaren. Bald fing er an, Missionsgeschichte zu treiben und lernte zu diesem Zwecke auch Englisch. Schon als Mitglied des Predigerkollegs zu St. Pauli äußerte er wiederholt, dass er in seinem künftigen Pfarramt Spezialstudien über die Mission treiben wolle. Im Frühjahr 1884 machte er mit Hilfe eines Stipendiums eine Studienreise, die ihn nach Berlin, Hermannsburg, Bremen, Hannover, Bielefeld, Elberfeld, Barmen, Kaiserswerth, Antwerpen, London und Oxford führte und ihn mit den dortigen Anstalten für Innere und Äußere Mission bekannt machte. Schon im ersten Pfarramt in Rothschönberg bei Meißen wurde ein Pfarrermissionskränzchen gegründet, das die Wiege der Sächsischen Missionskonferenz werden sollte. Bald trat er auch mit den führenden Männern der deutschen Mission und der werdenden deutschen Missionswissenschaft in Verbindung. Der Einunddreißigjährige wurde, obwohl literarisch noch kaum hervorgetreten, neben Friedrich Fabri, Gustav Warneck, Johannes Hesse und Richard Grundemann als geladener Gast zur Kontinentalen Missionskonferenz zugezogen.

Er rechtfertigte diese hohe Auszeichnung vollkommen. Auf seinem Arbeitstische mehrten sich die Missionsblätter, auch die englischen, und immer neue literarische Gaben bewiesen, wie fleißig in dem blumenumsäumten Lorenzkirchener Dorfpfarr-Hause, das die Familie Paul nun in dritter Generation innehatte, gearbeitet wurde. Die im Sächsischen Missionsjahrbuch niedergelegten Studien sind bereits früher hier gewürdigt worden. Auch die damals unter des älteren Warneck gefürchteter Leitung stehende Allgemeine Missionszeltschrift brachte wiederholt Gelegenheitsartikel aus Pauls Feder. So zu den Jubiläen der Südamerikanischen und der Londoner Missionsgesellschaft (In den Fußstapfen Allen Gardiners; Aus dem Leben einer Jubilarin 1895). Zu erwähnen ist auch der Rückblick auf das Jahr 1900.

Mehr und mehr macht sich bei dem Autor eine Spezialisierung des Interesses geltend. Deutschland stand damals unter dem Zeichen der steigenden Kolonialära. Dadurch wurde die Frage nach der Mission in den deutschen Kolonien akut. Nicht nur in dem Sinn, dass deutsche Missionsgesellschaften zu Neugründungen in deutschen Kolonien schritten, die bald fröhlich aufblühten, sondern auch in dem anderen, dass längst anderweitig unternommene Missionsversuche erhöhte Aufmerksamkeit erforderten. Daraus gewann Carl Paul den Stoff für sein wissenschaftliches Lebenswerk. Einer kleinen Schrift über die Mission in Deutsch-Ostafrika (1892) folgte eine Arbeit über denselben Gegenstand in der A.M.Z. (1893). Verschiedene umfassende Übersichten und Spezialartikel aus späterer Zeit zeigen den Fachmann der Kolonialmission auf der Höhe seines Wissens (Die Mission in den deutschen Kolonien A.M.Z. 1902/03; Die Neuendettelsauer Mission in Kaiser-Wilhelmsland; Statistik der evangelischen Missionen in den deutschen Kolonien 1909). Doch das waren nur Nebenprodukte. Die eigentlichen tiefgründigen Studien sind niedergelegt in dem Sammelwerk "Die Mission in unseren Kolonien" (1. Togo und Kamerun 1898. 2. Deutsch-Ostafrika 1900. 3. Deutsch-Südwestafrika 1904. 4. Deutsche Südseeinseln 1908. Es fehlt nur Kiautschou). Der Vermerk auf dem Titelblatt "Neue Folge der Dietelschen Missionsstunden" kennzeichnet nur den Anlass zur Abfassung. Es handelt sich um völlig neue Arbeiten. Missionsstunden im üblichen Sinne des Wortes, wohl gar solche, die man wortgetreu der Gemeinde vorlesen könnte, sucht der Leser dieser Hefte im allgemeinen vergeblich. Mit bienenartigem Fleiß hat der Verfasser alles zusammengetragen, was dazu dienen konnte, ihm selbst zunächst ein klares, richtiges und vollständiges Bild der Verhältnisse draußen nach dem jeweilig neuesten Stande zu geben. Dies Bild hat er dann mit meisterhafter Kunst der Darstellung geformt. Er erzählt anschaulich und konkret, ohne sich ins Kleinliche zu verlieren. Man hat auf Schritt und Tritt das sichere Gefühl, einem durchaus sachkundigen, warmherzigen, aber nüchternen Führer zu folgen.

Der Spezialist der deutschen Kolonialmission blieb aber ein weitblickender Mann. Er behielt, auch ein Auge für Dinge, die nur in loserer Beziehung zu seinem Spezialgebiet standen oder gar nicht dazu gehörten. Durch seine Kolonialstudien wurde er auf den Islam und die Islammission geführt. Seine Kenntnis dieses Problems wurde später durch seine Reisen vertieft. Er lernte den indischen Islam kennen und besuchte in Kairo die mohammedanische Universität, die ihn besonders fesselte. Er verfügte auch auf diesem Gebiet über ein solides und allezeit präsentes Wissen. Es war ein Genuß, ihn in seiner feinsinnig beobachtenden Art darüber reden zu hören. Er beschäftigte sich ferner mit Diasporakunde (Was tut das evangelische Deutschland für seine Diaspora in überseeischen Ländern? 1903). Und als Abessinien eine Zeitlang im Brennpunkt des politischen Interesses stand, fand er Zeit zu einer Neubearbeitung des betreffenden Bandes der Dietelschen Missionsstunden (Abessinien und die evangelische Kirche 1905).

Immerhin lag der Schwerpunkt seiner Arbeit dauernd in der Kolonialmission. In der Festschrift zu Gustav Warnecks 70. Geburtstag behandelte er das Thema: Zwanzig Jahre deutscher Kolonialpolitik und ihre Bedeutung für die Christianisierung unserer überseeischen Gebiete (1904). Er wurde mehr und mehr als der kundigste Kolonialmissionskenner Deutschlands und als einer der tüchtigsten Kolonialkenner überhaupt anerkannt. Mehrfach trat er auf den Tagungen des Deutschen Kolonialkongresses als Referent und Diskussionsredner hervor (Die Leistungen der Mission für die Kolonien und ihre Gegenforderungen an die Kolonialpolitik 1902; Bestand und Arbeit der evangelischen Mission in unseren Kolonien 1905). Immer weitere Kreise wurden auf seine soliden Arbeiten aufmerksam. Die Arbeitsgemeinschaft mit der Deutschen Kolonialgesellschaft hat er noch in seinem späteren Amt als Missionsdirektor und während der Wirren des Weltkrieges erfolgreich gepflegt, ohne je aus opportunistischen Rücksichten von der ihm als Missionsmann vorgezeichneten Linie abzuweichen. Mit Professor Dr. Hans Meyer verband ihn ein geradezu freundschaftliches Verhältnis.

Seine ruhige und sachliche, im besten Sinne weltoffene Art, die Missionsgeschichte zu verstehen, war sicher zu einem guten Teile eine Folge seiner gründlichen wissenschaftlichen Schulung. Aber sie war auch eine Frucht seiner lutherisch kirchlichen Grundeinstellung zu den Missionsfragen. So sehr ihm daran lag, die heimische Gemeinde aus ihrer Lethargie der Mission gegenüber aufzurütteln, so verfiel er doch niemals ins Sensationelle oder Treiberische. Durch und durch nüchtern, ohne nationalistischen oder methodistischen Übereifer stand er auch dem Missionsobjekt gegenüber. Er wollte keine Vergewaltigung fremden Volkstums, sondern seine Durchdringung mit den Segenskräften des Evangeliums. Er drang auf die Erziehung der eingeborenen Christen zur Kirche. Das sind Grundsätze lutherischer Provenienz.

So war er in jeder Hinsicht vorzüglich gerüstet, als das Vertrauen des Leipziger Missionskollegiums den Vierundfünfzigjährigen auf den verantwortungsvollen Posten des Missionsdirektors berief. Vorher schon hatten seine Verdienste um die Missionswissenschaft durch seine Ernennung zum Ehrendoktor der Theologie öffentliche Anerkennung gefunden. Das bei der Feier des Universitätsjubiläums von dem damaligen Dekan der Leipziger Theologischen Fakultät D. Ihmels verkündete Elogium lautete: "Die Fakultät ist stolz darauf, dass unsere Landeskirche einen Mann zu den Ihrigen zählt, der weit über die Grenzen Sachsens hinaus als einer der bedeutendsten Kenner und Förderer des weltumspannenden Werkes der Mission bekannt ist." Damit war ihm zugleich der Weg zur akademischen Lehrtätigkeit geöffnet, die der Missionsdirektor als Honorarprofessor über ein Jahrzehnt lang ausgeübt hat. In der Ausarbeitung seiner Vorlesungen war er trotz seiner gründlichen Schulung und seiner sehr besetzten Zeit höchst gewissenhaft, vielleicht sogar übergewissenhaft, so dass die Frische unter Umständen darunter leiden konnte. Am anregendsten wirkte sein Wort, wenn er sich in freierer Vortragsform über ein ihm liegendes Thema verbreitete. Die Gaben einer gewinnenden Erscheinung und einer anmutig und klar dahinfliessenden Rede kamen ihm dabei zustatten. Darum waren vor allem auch seine wissenschaftlichen Seminarübungen bei den Studenten beliebt, in denen er nicht wenige junge Theologen zu kenntnisreicher Missionsliebe herangebildet hat. Er legte auch mit staatlicher Unterstützung den Grund zu der wertvollen Bücherei des missionswissenschaftlichen Seminars der Universität.

Die Arbeit D. Pauls am Steuer der Leipziger Mission kann hier im einzelnen nicht geschildert werden. In der zu seinem 70. Geburtstag erschienenen Festnummer der Neuen Allgemeinen Missionszeitschrift hat sein Nachfolger im Amt eine ausführliche Darstellung gegeben, auf die hier verwiesen werden muss. Eine eingehendere Würdigung dagegen fordert die Tätigkeit in den umfassenderen Missionsorganisationen. Auf der Kontinentalen Missionskonferenz war D. Paul ein beinahe regelmäßiger Gast, Über ein Jahrzehnt hat er unter dem Vorsitz von D. Oehler und D. Hennig dem Deutschen Evangelischen Missionsausschuss angehört. Sein unbestechliches, klares Urteil galt auch in diesem immerhin recht verschiedenartig zusammengesetzten Kreise viel. Er konnte gelegentlich ungeschminkte Kritik üben - z. B. an der Verwendung der Nationalspende des Jahres 1913 wurde aber nie verletzend. Während des Krieges und nach Kriegsschluss war es besonders das Verhalten gegenüber den Missionskreisen feindlicher Länder, speziell den Angelsachsen, was viel Weisheit erforderte. Es waren schwere, aber auch große Stunden, wenn D. Axenfeld mit verzehrender Liebe zum geknechteten deutschen Vaterlande den Wiederanschluss an eine internationale Missionsorganisation einstweilen verwarf oder D. Hennig um die rechte Komponente zwischen der Weltweite der Brüdergemeine und einem christlich abgeklärten ewigten Männern zu reden. D. Paul zeigte auch hier seine besondere Gabe, die Dinge ohne Leidenschaft klar und nüchtern in ihrer Tatsächlichkeit zu sehen. So tief er als Deutscher und Missionsmann die dem deutschen Namen und der deutschen Mission angetane Unbill empfand, er hütete sich, von irgendwelchen an sich vielleicht noch so berechtigten persönlichen oder patriotischen Empfindungen sich bestimmen zu lassen. Er wusste das Irdisch-Politische und die übernationale Sache des Reiches Gottes auseinanderzuhalten. Er war überzeugt, dass es einmal wieder zu einer Zusammenarbeit mit den Christen anderer Länder kommen werde und müsse. Aber mit der gleichen Bestimmtheit drang er darauf, dass die Wiederanknüpfung der organisatorischen Zusammenarbeit zu unterbleiben habe, bis die Gleichberechtigung der deutschen Mission wieder allgemein anerkannt sei. Man wird rückschauend urteilen dürfen, dass er auch hier die durch lutherische Frömmigkeit vorgezeichnete Linie innegehalten und dass die weitere Entwicklung seiner Auffassung in überraschendem Maße recht gegeben hat.

Ein weiteres besonders fruchtbares Feld seiner Tätigkeit eröffnete sich ihm in den Nachkriegsjahren ganz ungesucht in der Pflege der Beziehungen zu den Lutheranern anderer Länder und Erdteile. Wie es zu dieser Arbeit kam und wie sie wuchs hat er selber uns geschildert. Es war im August 1919. In Hermannsburg in der Lüneburger Heide wurde das rühmlichst bekannte große Missionsfest gefeiert. Am Nachmittag verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, aus Amerika seien Abgeordnete der lutherischen Kirchen zur Linderung der in Deutschland herrschenden Not herübergekommen. Der zufällig anwesende Leipziger Missionsdirektor traf mit ihnen zusammen und lud sie, da einer von ihnen auch einen Auftrag an das Leipziger Missionshaus hatte, ein, nach Leipzig zu kommen. Dieser erste Besuch wurde folgenschwer. Bei einer am 12. Oktober 1919 in der Leipziger Superintendentur gehaltenen Besprechung wurde D. Paul zusammen mit D. Cordes und Dr. Ahner gebeten, die Verteilung der aus Amerika zu sendenden Liebesgaben für ganz Deutschland zu übernehmen. Der amerikanische Träger des Liebeswerkes war das Nationale Lutherische Konzil, ein Zweckverband der meisten lutherischen Synoden in den Vereinigten Staaten. Zum Executive Director für Europa wurde Prof. D. Morehead ernannt, der dann sieben Jahre lang mit der Großzügigkeit eines Feldherrn oder Diplomaten und mit der Feinfühligkeit eines edlen Menschenfreundes und Glaubensbruders das weitverzweigte Werk geleitet hat. Die Aktion wurde als eine Angelegenheit der lutherischen Kirche durchgeführt. Es sind nicht etwa, wie man immer wieder gemeint hat, vorwiegend Deutschamerikaner gewesen, die das Liebeswerk trugen. Nationale Gesichtspunkte schieden bei der Sammlung und Verteilung der Liebesgaben vollständig aus. Was hier wirkte und zum Ausdruck kam, war einfach die enge Verbundenheit der lutherischen Kirchen untereinander.

Gegeben wurden in erster Linie Nahrungsmittel, meist in Form der sog. 10-Dollarpakete, dann auch Kleider und endlich bares Geld. Nach einer amerikanischen Zusammenstellung (Lutheran World Almanac 1926) hat das Nationale Lutherische Konzil vom 16. Februar 1919 bis zum 21. August 1925 für sein Liebeswerk in Europa 2.162.680 Dollar in der Form von Geld und Nahrungsmitteln gesammelt und in Notstandsgebiete gebracht. Davon gingen 357.000 nach Russland, 306.000 nach Polen, 115.000 nach Frankreich, nach Deutschland aber 870.000, das sind etwa 100.000 Dollar mehr als nach den genannten drei Ländern zusammen, weit über 2½ Millionen Goldmark! Der schwer zu berechnende Wert der Tausende von Kleiderballen und der Hunderte von Schuhkisten ist dazu noch hinzuzurechnen.

Die Empfänger waren zunächst vor allem die Diakonissenhäuser und andere große Anstalten der Inneren Mission, die die Gaben teils weiterleiteten, teils auch zur bitter nötigen Aufrechterhaltung ihres eigenen Betriebes verwendeten. Was damals in der schweren Zeit der Inflation aus der kirchlichen Arbeit, z.B. auch aus der kirchlichen Presse geworden wäre ohne die glaubensbrüderliche Hilfe ist nicht auszudenken. Später wurden mehr und mehr auch Einzelpersonen bedacht. Ganze Stände wurden zu Bittstellern: Pfarrer, Offiziere, Studenten. Es erwies sich als notwendig, der verborgenen Not besonders nachzugehen. Während der Besetzung von Rheinland und Westfalen wurde eine Ruhrhilfe eingerichtet. Wieder eine andere Kategorie von Bedürftigen bildeten die Flüchtlinge aus dem Baltikum, Wolhynien, der Ukraine und dem Wolgagebiet. In dem schweren Winter unmittelbar nach der Stabilisierung unserer Währung wurden in vielen Großstädten (Kiel, Altona, Hamburg, Hannover, Berlin, Breslau, Dresden, Chemnitz, Plauen, Leipzig, Nürnberg, Augsburg, München) öffentliche Speisungen eingerichtet, wobei ein Teil der Ausgaben aus erzieherischen Gründen von örtlichen Instanzen aufgebracht werden mußte. Die "Winterhilfe" ging dann meist in eine "Sommerhilfe" für erholungsbedürftige Frauen, Kinder und Rekonvaleszenten über. Obwohl das Hilfswerk als eine spezifisch lutherische Glaubens-Hilfe gedacht war, wurden die Grenzen nicht eng gezogen. Etwa ein Drittel der Gaben kam regelmäßig den Unionsgebieten zugute.

Natürlich war eine so umfassende Hilfsarbeit nur durchzuführen mit Hilfe eines großen Stabes von Vertrauensmännern, die zunächst von der Inneren Mission, später auch von den Kirchenregierungen gestellt wurden. Die Aufgabe dieser Mitarbeiter lag nicht nur in der Bearbeitung der tausend und aber tausend Gesuche, sondern auch in der Beschaffung des Werbematerials für die alljährlich vor Weihnachten drüben wieder einsetzende Sammeltätigkeit. Alle Fäden aus und für Deutschland aber liefen im Leipziger Missionshause zusammen. Ja, bald wurde Deutschland selbst wieder zum Hilfsgebiet für den noch schwerer geschlagenen Osten. Die russischen Hungersnöte gaben nicht nur Prof. Morehead Veranlassung zu wiederholten Reisen in die Sowjetrepublik, sondern auch in Deutschland wurden Sammlungen für die darbenden Glaubensbrüder veranstaltet. Und D. Paul war es, der unermüdlich und erstaunlich erfinderisch darin war, auf immer neuen Wegen Geldmittel und auch so manches tröstende und aufrichtende Wort über die Grenze zu bringen. Einen gelinden Schrecken bekam der Hilfsausschuss, als eines Tages das Kommen von etwa 600 jungen Männern aus der ehemaligen Wrangelarmee angekündigt wurde, die in Deutschland ihre Studien zu beenden wünschten. Ihr Kommen wurde zwar in der vorgesehenen Form vereitelt. Aber nach und nach meldeten sich einzelne dieser Studenten in Leipzig und wurden fürsorglich betreut.

Große Pläne tauchten damals auf. In Leipzig sollte in Verbindung mit dem Missionshause ein Predigerseminar erstehen, um für die lutherische Kirche Sowjetrusslands Theologen heranzubilden. D. Paul erwog bis ins einzelne die Frage der Unterbringung und Finanzierung. Er dachte daran, während seines demnächstigen Ruhestandes selbst noch den Osten zu bereisen, da an seinem Leben dann "ja nichts mehr zu verlieren" sei. Es ist alles anders gekommen. Für die Tatfreudigkeit ihres Urhebers aber legen auch diese unverwirklichten Pläne ein beredtes Zeugnis ab.

Eine Sorge hat ihn in dieser reichen Arbeit fort und fort bedrückt: ob er nicht durch diese immer mehr anschwellende Not-Hilfe seiner eigentlichen Berufsaufgabe als Missionsdirektor allzu sehr entzogen werde. Er pflegte sich dann wohl damit zu trösten, dass sein Dienst indirekt doch auch der Mission zugute kommen und für sie noch später Frucht tragen möge. Diese Hoffnung begann sich bereits zu erfüllen. Allerdings auf den Unterstützungsplan für die amerikanischen Liebesgaben wurden die heimischen Anstalten für Heidenmission mit einer einzigen Ausnahme in der schwersten Inflationszeit nicht gesetzt. Es sollte auch der Schein einer selbstsüchtigen Ausnutzung des mit der Geldverteilung verbundenen Einflusses vermieden werden. Aber die finanzielle und sonstige Not der deutschen Mission konnte den amerikanischen Brüdern doch nicht verborgen bleiben. Etwa 450.000 Dollar (fast zwei Millionen Goldmark) hat das Nationale Lutherische Konzil außer seiner sonstigen Liebesarbeit für die bedrängte deutsche Heidenmission aufgebracht. Und die diplomatische Hilfe, welche unsere Missionsgesellschaften durch Dr. Larsen und Professor Morehead erfuhren, war mindestens ebenso wertvoll. Erwähnt mag hier noch werden, dass das amerikanische Liebeswerk überhaupt nur ein, wenn auch der bedeutendste, Ausschnitt aus der Hilfeleistung der Gesamtlutheraner war, an der sich z. B. auch die nicht dem Nationalen Lutherischen Konzil angeschlossenen amerikanischen Synoden, ferner Australien und Südafrika in hervorragender Weise beteiligten. Auch hier liefen die Fäden vielfach durch D. Pauls Hände.

Eine besondere Freude war es für ihn, als im Anschluss an die internationale Missionszusammenkunft in Crans vom 13. bis 15. Juli 1920 im Leipziger Missionshause die erste internationale Konferenz der lutherischen Missionen tagte. Diese Konferenz trug trotz ihres geringen Umfanges ein geradezu ökumenisches Gepräge. Waren doch die meisten lutherischen Missionskörperschaften aus zwei Erdteilen vertreten, deren Gebiete eine fortlaufende Kette durch die drei übrigen (Gebiete) von West-, Süd- und Ostafrika über Indien und China nach Neuguinea hinüber bilden.

Die Konferenz verfolgte zunächst keinen anderen Zweck als den der zuverlässigen Orientierung und gegenseitigen Annäherung. Materielle Gesichtspunkte traten hier völlig zurück. Dass für D. Paul überhaupt bei aller Liebestätigkeit die darin erlebte Glaubensgemeinschaft höchster Gesichtspunkt und letztes Ziel war, hat er selbst gelegentlich mit schönen Worten bezeugt. "Die Bedeutung des geschilderten Liebeswerkes geht weit über die Stillung vorübergehender leiblicher Not hinaus. Was wir erlebten, hat unseren kirchlichen Horizont erweitert. Es hat uns geholfen, die Einheit des Luthertums zu sehen. Das Auge des Glaubens sieht in diesen sieben Jahren den zwischen uns hindurchgehen(den Christus), der einst zu der tieftraurigen Schwester in Bethanien sagte: 'Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du würdest die Herrlichkeit Gottes sehen?' Wir sahen seine Herrlichkeit".

Es ist darum auch kein Zufall, dass die angeknüpften Beziehungen dazu führten, mitten in schwerster Inflationszeit (August 1923) am Fuße der Wartburg in Eisenach den ersten Lutherischen Weltkonvent zu halten und dass die Geschäftsstelle dieses Konvents, in der alle Vorbereitungen mit gewohnter Sorgfalt getroffen wurden, wieder im Leipziger Missionshause lag. So fand die kirchliche Lebensarbeit D. Pauls kurz vor seinem Scheiden aus dem Missionsdirektorat eine herrliche, fast ist man versucht zu sagen festliche Krönung. Das war eine von den freundlichen Fügungen, an denen dies gesegnete Leben so reich gewesen ist, vielleicht die freundlichste von allen. Die Mitherausgabe der stattlichen illustrierten Festschrift "Luther und die Bibel" (Leipzig 1923, Verlag von Karl W. Hiersemann, 1. Die Illustration der Lutherbibel, von Albert Schramm, II. Die Bibel das Buch der Menschheit von Willy Gerber) war die letzte literarische Tat, mit der Prof. Paul vor eine größere Öffentlichkeit trat. Und sein Name steht nicht nur als Zierrat unter dem Vorwort, sondern als Zeuge der bedeutsamen Anregungen, die er zum Zustandekommen des Werkes beigesteuert hat.

Halb im Scherz hörten wir ihn einmal sagen, man werde wohl nirgends so sicher zum Lutheraner wie im Leipziger Missionshause. Etwas davon hat sich wohl auch an ihm selbst erfüllt. Bei seinem Amtsantritt als Missionsdirektor galt streng gerichteten Kreisen - darüber kann heute in aller Ruhe geredet werden - sein genuines Luthertum nicht als über allen Zweifel erhaben. Die Gefahren konfessioneller Enge sind an ihm jedenfalls nie hervorgetreten. Aber die kirchliche Bedeutung lutherischer Frömmigkeit hat er mit steigender Klarheit erkannt und gewürdigt. Und er ist in einem Maße wie wenige zum Vertrauensmann der ganzen lutherischen Kirche auf Erden geworden. In seinen letzten Lebensjahren zumal hat seine Name in allen lutherischen Kreisen nah und fern Klang gehabt, und er wird ihn behalten.

Carl Paul 1927

Am Ende seines Lebens kehrte er seinem lange gehegten Wunsche entsprechend aus dem Lärm der Großstadt in die Stille eines ländlichen Pfarrhauses zurück. Da hat er noch einmal ein Paradies von Blumen und Obstbäumen um sich geschaffen und hat in ruhiger Heiterkeit sich auf den Tod gerüstet. Vor einem völligen Feiernmüssen ist der tätige Mann bewahrt geblieben. Bis zuletzt hat er seiner geliebten Mission als Vorsitzender des Missionskollegiums sowie durch Vorträge und literarische Arbeiten gedient. Er durfte aber wie wenige beim Scheiden das Empfinden haben, mit seiner Arbeit fertig zu sein. Der Hilfsausschuss hatte sich vor etwa Jahresfrist aufgelöst. Die Leipziger Mission wusste er in guten Händen. Ihr von ihm in goldenem Glaubensoptimismus immer vorhergesagtes und zuletzt unerwartet schnelles Wiederaufblühen hat er noch sehen dürfen. Wir mochten ihn immer noch für unentbehrlich und unersetzlich halten, er selbst hat das nicht getan. Er fühlte sich als einer, dessen Tagewerk getan ist. Wie es immer sein Wunsch war, ohne langes Siechtum, aber längst gerüstet, ist er für uns unerwartet abgerufen worden. Im Schatten seiner lieben alten Heimatkirche (in Lorenzkirch) liegt er begraben.

Mit unauslöschlicher Dankbarkeit blicken wir auf das Lebenswerk dieses klugen, praktisch bewährten, selbstlosen, durch und durch guten Mannes zurück. Auch persönlich hat der Schreiber dieser Zeilen mit ihnen einen Dankesschuld abtragen wollen. Wenn irgendwo aber, so bedeutet an den Gräbern derer, die vor uns arbeiteten und vollendet wurden, der Dank Verpflichtung! "Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach."


Carl Paul - Leben und Werk

Vortrag am 25.08.2001 in Lorenzkirch von dem damaligen Missionsdirektor Hans-Peter Große, Leipzig

In meinem Vortrag über Carl Paul werde ich über seinen Lebensweg berichten und gleichzeitig versuchen, seine Bedeutung im Blick auf unser Werk, die "Leipziger Mission", und die Missionswissenschaft herauszuarbeiten.

Paul Fleisch, Geistlicher Vizepräsident im Landeskirchenamt Hannover, schreibt 1936 über Carl Pauls Amtsantritt als Missionsdirektor 1912 in "Hundert Jahre lutherischer Mission zu Leipzig":

  • "Zum Nachfolger des Missionsdirektors Karl von Schwartz der "Lutherischen Mission" zu Leipzig wurde am 21. August 1911 Pastor Carl Paul, 54 Jahre, ernannt.

    Er wurde am 4. Februar 1857 in Lorenzkirch geboren, wo sein Vater Pastor war, vorgebildet auf dem Gymnasium in Leipzig und den Universitäten Tübingen und Leipzig, seit 1884 Pastor in Rothschönberg, dann seit 1887 in Lorenzkirch, war er der erste Missionsdirektor aus der sächsischen Landeskirche und ein bereits anerkannter Missionswissenschaftler."(1)

Bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt 1911 wurde Carl Paul im Jahr 1912 zum ordentlichen Honorarprofessor für neuere Missionsgeschichte und Missionskunde an der Universität Leipzig ernannt. Seine Antrittsvorlesung hielt er am 27. April über den "Anteil der Heidenmission an der Lösung des Schulproblems in unseren Kolonien." Die Universität ehrte ihn mit der Verleihung der Würde eines Doktors der Theologie. Paul hat das akademische Amt bis zum Schluss des Sommersemesters 1926 fortgeführt", schreibt D. Cordes, Stellvertretender Direktor der "Leipziger Mission", in Pauls Vita. (2)

Fragt man nun danach, was Carl Paul dazu qualifizierte, das Amt eines Direktors und eines Professors angetragen zu bekommen, so sind zwei Aspekte für uns interessant:

  • seine Persönlichkeit und

  • seine wissenschaftlichen Qualifikationen und - in diesem Zusammenhang - sein hoher Bekanntheitsgrad über Sachsen hinaus.

Pauls Persönlichkeit wird von Cordes als "... ungewöhnlich ausgeglichen in seinem Wesen und Auftreten" (3) beschrieben (was man nicht über alle Vorgänger und Nachfolger sagen kann). "Schlichtheit, Besonnenheit, ruhiges, gerechtes Abwägen in seinem Urteil über Menschen und Dinge ..." Cordes berichtet aber auch: "Er liebt sehr die Gemütlichkeit und ist mit köstlichem Humor begabt. Die nüchtern abwägende, aber fesselnde Art seiner Darstellung gewannen ihm im Auditorium" (4) der Akademiker Anerkennung und Achtung. Zweifelsohne haben ihn seine Persönlichkeit wie auch seine Sachkunde zu diesen Ämtern qualifiziert. Letzteres aber erwarb er sich schon früh.

In den zwei Jahren als Studieninspektor des Predigerkollegs St. Pauli in Leipzig von 1882 bis 1884 entwickelte sich sein schon immer bestehendes Interesse an der Weltmission weiter. Seine Studienreisen nach Belgien, die Niederlande und Großbritannien dienten diesem Interesse und der Kontaktaufnahme zu anderen Missionsfreunden in Europa. Die neu geknüpften Kontakte kamen ihm später als Direktor der "Leipziger Mission" zugute.

Schon in seiner Rothschönberger Zeit von 1884 - 1887 beschäftigte ihn der Gedanke der Weltmission. Er war fasziniert von dem Gedanken einer weltumspannenden Christenheit. In Rothschönberg gründete Paul einen Missionskreis für den Kirchenbezirk Meißen, der wiederum die Grundlage für die 1887 entstandene "Sächsische Missionskonferenz" bildete. (5) Für die Chronik des Jahrbuchs dieser Konferenz war er bis 1911 verantwortlich. Bedeutsam in seiner Lorenzkircher Zeit war sein literarisches Schaffen. Seit 1887 gab Carl Paul die "Missionsstunden von Dietel" und die vier Schriften "Zur Mission in den deutschen Kolonien" heraus. Heute müssen allerdings manche seiner Beiträge im "Deutschen Kolonialblatt" kritisch gelesen werden, weil er als "Kind seiner Zeit" auch vom Zeitgeist nicht ganz verschont blieb.

Einerseits war er durchaus ein Verfechter deutscher Kolonialpolitik, andererseits sah er gerade im Erwerb deutscher Kolonien eine Chance für die deutschen Missionen. Einerseits trat er für die Rechte der kolonisierten Völker ein, und andererseits wandte er sich vehement gegen die Landnahme von Siedlern und Geschäftemachern, besonders in Deutsch Südwest Afrika sowie in Ostafrika. Er vertrat die Ansicht, dass sich Deutschland durchaus am Wettlauf der damaligen Großmächte zum Erwerb von Kolonien beteiligen solle. In "Die Mission in unseren Kolonien", Dresden 1905, schreibt Carl Paul im Zusammenhang der Auseinandersetzungen der "Rheinischen Mission" mit dem Reichskanzler v. Bülow wegen des Vorgehens der deutschen Kolonialtruppen während des Herero-Aufstandes:

"Dass den glücklicherweise nicht sehr zahlreichen Missionsgegnern im kolonialen Lager hier kein Kolonialgegner antwortet, sondern ein warmer Kolonialfreund, der eine der schönsten Aufgaben darin erblickt, die deutschen Kolonien auf christliche Grundsätze zu stellen ..."(6), macht den Zeitgeist ein wenig deutlich. Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass sich Paul gegen das besonders rücksichtslose Vorgehen der deutschen Kolonialtruppen gegen das Volk der Hereros wendet, denn er sagt im gleichen Vorwort zu diesem Buch: "Die brutalen Kolonialegoisten, denen die Eingeborenen, mögen sie nun Heiden oder Christen sein, bei ihrer Ausbeutungspolitik im Wege sind, drängen sich in den Vordergrund und führen das große Wort." (7) Als Karl von Schwartz, ein eher liberaler Theologe, 1912 aus dem Amt schied, gab es im Raume der sächsischen Landeskirche keinen anderen als Paul, den man hätte berufen können.

Es liegt in der Natur des Amtes als Direktor, dass Carl Paul in den ersten beiden Dienstjahren (1912 und 1913) die beiden "Missionsgebiete" - Ostafrika und Indien - visitierte. Ich würde dem Wirken Pauls nicht gerecht, wenn ich nicht auf diese beiden für ihn wichtigen Reisen eingehen würde.

Reise 1912 zu den Missionsgebieten in Ostafrika

Carl Paul 1911

Die Reise Pauls nach Ostafrika war in vielerlei Hinsicht leichter als seine Indienreise. Hatte sich doch Paul schon in seinen jungen Jahren mit Afrika auseinandergesetzt. Der Ertrag seiner Beschäftigungen mit Afrika schlug sich in seinen wichtigen Werken nieder (in Auswahl):

  • 1892 "Das Evangelium in Ostafrika", in dem er Mission als Aufgabe in Ostafrika beschreibt.
     

  •  In den "Missionswissenschaftlichen Studien / Festschrift von 1904 zum 70. Geburtstag von Warneck" erregte sein Aufsatz: "Zwanzig Jahre deutscher Kolonialpolitik in ihrer Bedeutung für die Christianisierung unserer überseeischen Gebiete" insofern Aufsehen, weil dort Paul zwei für die damalige Zeit kontroverse Themen diskutiert. Er fragt: "Was haben wir zu tun, damit die deutsche Kolonialpolitik nicht zur Schädigung, sondern zur Förderung der Mission ausschlage?" (Zitat Paul, Berlin 1904, S. 111) Dabei wendet sich Paul gegen diejenigen, "welche die Mission am liebsten ganz in den Organismus der Kolonialverwaltung eingefügt hätten." (Zitat Paul, ebd., S. 111)

    Zum Zweiten bekämpft er die Vorstellung, dass Mission etwa mit Akzeptanz bestehender Verhältnisse zu tun habe. Damit ist gemeint, dass das Ziel deutscher Kolonialpolitiker, die Mission in ihre Politik einzubinden, schlicht und ergreifend falsch und nicht zu akzeptieren ist.
     

  • 1905 erschien "Abessinien und die Evangelische Kirche", 1905 die 4-bändige Reihe "Die Mission in unseren Kolonien" (hauptsächlich zu Afrika und dem heutigen Ozeanien) und 1911 "Der Einzug des Christentums in Deutsch-Ostafrika", eine Bilanz zum Stand der Missionsarbeit.

Als Paul 1912 in Ostafrika ankam, fand er wohlgeordnete Verhältnisse vor. Die Verwaltung funktionierte dort, dank der entsandten Geschäftsführerin Else Parge, vorzüglich. Die Missionsfarmen warfen durch Kautschuk- und Kaffeeanbau gute Erträge für die dortige Arbeit ab.

Die Übersetzungen biblischer Textteile in einheimische Sprachen machten gute Fortschritte. Die Mitarbeiterschaft war homogen "leipziggeprägt". Der Gemeindeaufbau schritt ebenfalls zügig voran. Ungelöst war das Problem der Polygamie, das die heutige tansanische Kirche erst in jüngster Zeit lösen konnte. Das andere Problem, die Beschneidung, ist nach wie vor bis heute ein ungelöstes Problem in weiten Teilen Afrikas.

Pauls Missionskonzept hat sich leider nicht durchsetzen können, weil der Erste Weltkrieg dazwischen kam, aber es ist auch noch für uns heute interessant. Er war der Meinung: "Wir werden uns bald vor die Notwendigkeit gestellt sehen, jede unserer Hauptstationen mit zwei vollen Arbeitskräften zu besetzen, deren einer die Gemeindepflege, der anderen die Evangelisation zufällt ..."

Kurz sei noch kritisch vermerkt, dass Paul die Ausbildung afrikanischer Theologen nicht im Blick hatte.

Reise 1913 zu den Missionsgebieten in Indien

Pauls Reise nach Indien war mit vielen Problemen belastet, die zu lösen ihm aufgetragen wurde.

Zu viele Dinge waren unter seinen Vorgängern liegengeblieben. Das Verhältnis zwischen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Indien und dem Kollegium in Leipzig wurde von diesem immer wieder neu gestört, auch das sei kritisch vermerkt. Die meisten Auseinandersetzungen haben sich im Gegensatz zu heute nicht am Geld festgemacht, sondern an der Frage der Selbstständigwerdung des "Missionsgebietes" und der Mitbestimmung der Mitarbeiterschaft in wichtigen Entscheidungen Indien betreffend.

Ebenfalls war vor der Reise Pauls nach Indien vollkommen unklar, welche Rechte das "Missionsgebiet Indien", das aus der alten "Dänisch-Halleschen Mission" hervorgegangen war, hatte. Die Stellung des schwedischen Propstes und des deutschen Seniors waren gegenüber der Missionsleitung ungeklärt. In Indien hatte sich eine Art Semi-Selbständigkeit gegenüber der Missionsleitung herausgebildet. Im Rückblick lässt sich festhalten, dass die Missionsleitung der Dynamik des "Missionsfeldes" nicht gewachsen war. So stand Pauls Reise nach Indien 1913 unter keinem guten Stern. Er sollte möglichst alle Probleme lösen. Aber wo lagen die Ursachen?

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Missionsdirektor Carl Paul im Gespräch mit einheimischen Pastor 1913 in Indien
© LMW

Seit 1861 war die "Leipziger Mission" unbemerkt in eine Krise gerutscht, an deren Folgen wir teilweise heute noch tragen. Der nicht gelöste Kastenstreit, der sich kurz darstellen lässt und mit der Frage verbunden war: "Sollen Nichtchristen vor der Taufe aus ihrer Kaste ausscheiden oder nicht?", hatte nicht nur die Mitarbeiterschaft in Indien, sondern auch die Missionsfreunde und -freundinnen in Europa gespalten. Die "Leipziger Mission" verlor unmerklich ihre skandinavischen und baltischen Unterstützerkreise.

Dass die Missionsleitung aus Unkenntnis der Sachlage nicht zu einer klaren Entscheidung kam, hatte zuerst in Dänemark Folgen. Zwar hatte Direktor Hardeland, einer der Vorgänger Pauls, zwei Reisen nach Skandinavien unternommen, aber es gelang Hardeland nicht, die Dänen davon zu überzeugen, bei Leipzig zu bleiben.

Sie gründeten die "Dänische Missionsgesellschaft", schieden aus Leipzig aus und bildeten mit ihren Mitarbeitern, die bis dahin im Dienst der "Leipziger Mission" standen, eine selbständige Missionssynode in Indien, aus der die heutige "Lutherische Süd-Arcot Kirche" hervorgegangen ist. Diese Kirche macht es dem Täufling zur Pflicht, aus seiner Kaste auszuscheiden.

"Bedrohlicher stand es in Schweden. Die mit Leipzig arbeitenden Gesellschaften in Stockholm, Lund und Gothenburg (heute Göteborg) stagnierten ... Dagegen blühte die 1856 für Innere Mission gegründete Evangelische Vaterlandstiftung, 1861 auf die Äußere Mission erweitert." (8) Die mangelnde Voraussicht des Leipziger Kollegiums und die zögerliche Haltung im Blick auf eine schwedische Beteiligung in der Missionsleitung, ließ das Verhältnis zwischen Leipzig und den schwedischen Missionsfreunden und -freundinnen erkalten. Zwar blieb man bei Leipzig, aber man unterstützte gleichzeitig mit höheren Summen die Evangelische Vaterlandsstiftung. 1874 gründete man die Schwedische Kirchenmission (CSM) - mit dem Erzbischof von Schweden als Vorsitzendem. Die CSM trat als Mitglied der "Leipziger Mission" mit erweiterter Befugnis bei. Die schwedischen und baltischen Mitarbeiter blieben zwar im Dienst der "Leipziger Mission", aber bildeten einen eigenen Konvent in Indien. Man hatte in Leipzig nicht die Größe, den Erzbischof von Schweden ins Kollegium aufzunehmen.

Diese Lösung war in vielerlei Hinsicht unbefriedigend. Die Probleme, die sich durch die Mitgliedschaft der CSM ergaben, waren vorprogrammiert. Es war abzusehen (nicht nur aus unserer heutigen Sicht), dass eines Tages die CSM eigene Wege gehen würde. Schon 1900 forderte die CSM:

  •  Selbstständige Entsendung schwedischen Personals im Einvernehmen mit Leipzig.

  •  Eine eigene, von der "Leipziger Mission" getrennte Diözese in Indien.

  •  Das Besetzungsrecht für Missionsstationen im Benehmen mit dem Kollegium.

  •  Ein eigenes Besoldungssystem für die schwedische Mitarbeiterschaft.

An gemeinsamen Synoden und Konferenzen aller europäischen Mitarbeiter hielt man fest. 1901 kam es zu einem Vertrag zwischen der CSM und der "Leipziger Mission", der alle Forderungen der CSM erfüllte, aber im Prinzip ungünstig für die Leipziger ausfiel, weil die "Leipziger Mission" die finanzielle Hauptlast, wie Gehalts- und Pensionsansprüche der schwedischen Leipziger Mitarbeiter, tragen musste. Wichtige Missionsstationen wurden aus der Leipziger Missionssynode ausgegliedert und in ein schwedisches Gebiet integriert, weil die CSM auf einem geschlossenen Kirchengebiet beharrte, dagegen war nun das Leipziger Missionsgebiet in wesentlichen Teilen unverbunden.

Von 1901 bis 1914 stellte die CSM noch weitere Forderungen, die fast zum Bruch mit Leipzig führten. Als Paul indischen Boden betrat, war die Stimmung der Leipziger Mitarbeiterschaft aufgeheizt und aggressiv. Die Aufteilung der alten Leipziger Missionssynode in ein dänisches, schwedisches und deutsches Missionsgebiet hatte zu Missstimmungen untereinander, aber auch gegenüber der Missionsleitung in Deutschland geführt. Die widerstrebenden theologischen Haltungen innerhalb der Mitarbeiterschaft in Indien hatten für weitere Konflikte gesorgt.

So stand die Visitationssynode 1913 vor einer Fülle von Problemen. Carl Paul sollte diese möglichst alle lösen. Eine unmögliche Aufgabe.

Die endgültige Teilung des Missionsgebietes in ein schwedisches und in ein deutsches wurde besiegelt. Carl Paul hatte nachgegeben. Fortan gab es nun eine "Church of Sweden Mission, evangelical lutheran" in Indien. Dass man trotzdem beieinander bliebt, ist Carl Pauls diplomatischem Geschick zu verdanken.

Der Vertreter der neuen schwedischen Synode blieb gegenüber der gemeinsamen Missionsleitung in Indien berichtspflichtig. Auch musste der Bericht des schwedischen Vertreters dem Kollegium der "Leipziger Mission" vorgelegt werden.

Inwieweit im Zweifelsfalle das Kollegium in Leipzig noch Einflussmöglichkeiten hatte, bleibt auch bis heute unklar. Wahrscheinlich hatte es in Bezug auf das schwedische Gebiet keine mehr.

Der neue Kompromiss einer schwedischen Missionsdiözese, von Paul ausgehandelt, hat sich in beiden Kriegszeiten als segensreich erwiesen. "Die Leipziger Mission" verlor eben nicht wie andere deutsche Missionen in Indien ihren Grundbesitz, weil dieser bei Kriegsausbruch mühelos der schwedischen Missionssynode übertragen werden konnte. Die CSM gab ihn nach beiden Kriegen stets anstandslos zurück. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der "Leipziger Mission" aus dem Baltikum, der Slowakei, Polen und Russland wurden in beiden Weltkriegen nicht interniert oder repatriiert, sondern traten in den Dienst der CSM.

Paul ordnete auf der gemeinsamen Synode die Befugnisse dieser. Aber auch das Verhältnis zwischen der Missionssynode und dem Leipziger Kollegium wurde neu geregelt. Der Senior des "Leipziger Gebietes" bekam den Status eines Superintendenten. Die Synode bekam die Erlaubnis, einheimische Angelegenheiten weitgehend selbstständig zu regeln, aber sie musste sich mit ihren Beschlüssen mit dem Kollegium in Leipzig ins Benehmen setzen. "Als sehr bedrückend wurde die Bestimmung empfunden, dass alle Veröffentlichungen in der Heimat durch die Hand des Direktors gehen mussten." (9) Das sogenannte Zensurrecht des Direktors wurde auf der Synode diskutiert und abgeschafft.

Ein theologischer Streit entfachte sich im Blick auf die Inhalte und Ziele des Religionsunterrichts in Indien. Hatte sich doch Paul früher einen Namen durch seine Veröffentlichungen über den Religionsunterricht in den deutschen Kolonien gemacht, so fand er in Indien uneinheitliche Regelungen dafür vor. Missionar Wannske, zuständig für den Religionsunterricht, war der Meinung, dass dieser für christliche Kinder von der Taufe zur Konfirmation führen solle. Kinder von Nichtchristen sei nur der Taufbefehl auszulegen, damit sie mit Jesus bekannt werden.

Paul widersprach und war der Meinung, dass der Religionsunterricht zum "Ergriffenwerden von Christus" führen müsse. Die Synode setzte sich gegenüber Pauls Meinung durch und ging noch weiter als Wannske. Man beschloss, dass Kinder von Nichtchristen lediglich biblische Geschichten nahegebracht werden sollen. Dabei sollte man es belassen. Schwierig war es auch für Paul, die widerstrebenden theologischen Richtungen zu vereinen.

Ich würde Paul zu dieser Zeit als konservativen Lutheraner bezeichnen. Er hatte große Mühe, das liberale, zu dieser Zeit schon ökumenische Lager, zu dem ein großer Teil der Leipziger Mitarbeiterschaft gehörte, zu verstehen. 1905 war in Indien die "Nationale Missionsgesellschaft" entstanden. Ein Teil der Mitarbeiterschaft war vom Gedanken einer "Vereinigten Kirche Südindien" angetan, die die Anglikaner, Presbyterianer und Lutheraner in einer Kirche vereinigen sollte.

Diese Gruppe verlangte unter anderem eine gemeinsame Ausbildung, die alle protestantischen Konfessionen einschließt. Paul lehnte ab. Er hatte keine Vollmachten, dieses Vorhaben zu unterstützen. 1925, nach Pauls Pensionierung, wurde das "Vereinigte Theologische Seminar" in Bagalore gegründet. Der Wusch der indischen und europäischen Mitarbeiterschaft konnte realisiert werden. Eine gemeinsame Ausbildungsstätte war geschaffen.

In der Frage der Abendmahlsgemeinschaft mit den anderen lutherischen und protestantischen Missionen war man ebenfalls sehr unterschiedlicher Meinung. Die Vertreter der CSM setzten sich im Blick auf die Abendmahlsgemeinschaft durch. Sie beharrten auf dem Grundsatz, dass sie mit allen Kirchen, die auch mit der Kirche von Schweden in Abendmahlsgemeinschaft stünden, dieser auch für Indien verbindlich sei. Als die schwedischen Vertreter die schwedische Agende für das Gesamtkirchengebiet einführen wollten, konnte Paul nicht mehr mitgehen. Auch hier fehlten ihm die Vollmachten des Kollegiums, und man konnte sich nicht einigen.

Die Sitzungen der Visitationssynode bestätigten Pauls Urteil, dass er es bei den Schweden mit einem schwierigen Partner zu tun hatte. Der schwedische Liberalismus in Tauf-, Beicht- und Konfirmationsfragen irritierte ihn, da die theologischen Haltungen zu Taufe, Konfirmation, Beichte und vor allem im Blick auf das Amtsverständnis zu unterschiedlich waren.

Was den Status der indischen (tamilischen) Mitarbeiterschaft betraf, war Paul ebenfalls ratlos. Es fiel ihm schwer, sich daran zu gewöhnen, dass es ja schon seit fast 200 Jahren eine einheimische Pfarrerschaft gab, die mitbestimmen wollte.

Es gehört zur Tragik Carl Pauls, dass während und nach dem Ersten Weltkrieg sich die Schweden in allen theologischen Fragen in Indien durchsetzten konnten. Das heißt, die heutige "Evangelisch-Lutherische Tamil-Kirche" ist in fast allen Dingen eine von den Schweden geprägte Kirche.

Der Erste Weltkrieg und die Zeit danach

1913 erschien "Die Leipziger Mission daheim und draußen", angestoßen durch seine Reisen nach Indien und Ostafrika. Es ist sozusagen der literarische Ertrag beider Reisen. Paul Fleisch, Autor der Geschichte der "Leipziger Mission" bis 1936, ist der Meinung, dass es "zu einer praktischen Verwertung seiner (Pauls) Beobachtungen nicht mehr kam, ... da 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, so dass Paul bis zu seinem Abgang eigentlich nur anormale Zeiten durchlebt hat."

Carl Paul im Pfarrgarten in LorenzkirchSchon vor Ausbruch des Krieges aber schrieb Carl an seine Eltern im Oktober 1913: "Es kommt doch manchmal anders, als man es sich vorher dachte und ausmalte. Heute früh war ich voller Freuden ... und heute abend weiß ich nun gar nicht, ob etwas aus meiner Reise werden kann. "(das in Bezug auf seine Reise nach Indien) Cordes, Stellvertretender Direktor der Mission, schreibt im Nachruf: "Von D. Pauls Direktoratsjahren können nur die ersten drei als Normaljahre gelten. Die übrigen neun fielen in die Kriegs- und Nachkriegszeit, waren ausgefüllt von Heimsuchungen schwerster Art. Was D. Paul in jenen Jahren gelitten hat, lässt sich kaum ermessen. Aber er hat tapfer durchgehalten."(11)

Die Heimsuchungen, von denen Cordes spricht, lassen sich in Stichworten so fassen: Kriegsausbruch, Internierung der Missionare und Missionarinnen und deren Familien, Repatriierung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, teilweiser Verlust des überseeischen Grundbesitzes, Tod und Krankheit vieler Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Inflation und der damit verbundene Verlust von finanziellen Ressourcen, Zusammenbruch vieler Unterstützerkreise usw. usf.

Als der Erste Weltkrieg 1918 zu Ende war, hatte sich die "Missionslandschaft" radikal verändert, auch für die "Leipziger Mission". Die Hoffnung, sofort nach dem Kriegsende wieder die Missionsarbeit aufnehmen zu können, erfüllte sich nicht. Zwar hatten die deutschen Missionare in Indien das Land verlassen müssen, doch blieben die im Dienst der Leipziger Mission stehenden Ausländer, d.h. Schweden, Balten, Russen, Polen, in Indien. Die "Schwedische Kirchen-Mission" übernahm die Gesamtarbeit in Indien und damit das nichtdeutsche Personal. Segensreich war, dass es einen indischen Pfarrerstand gab, der im Leipziger Missionsgebiet die Arbeit fortsetzen konnte.

Nach Abreise der deutschen Missionare in Indien machte man sich unverzüglich daran, die Selbstständigkeit der Kirche vorzubereiten. Zwar gelang es, den Schriftverkehr mit Leipzig während der Kriegszeit aufrecht zu erhalten, aber von den wichtigen Entscheidungen blieb Leipzig nun ausgeschlossen.

1919 kam es zu einer vorläufigen selbstständigen Kirche. 1920 erklärte sich diese als "Evangelisch-Lutherische Tamil-Kirche" selbstständig. Pauls Bemühen, diese Selbstständigkeit wenigstens zu verzögern, schlug fehl. Sein Versuch, das Bischofsamt in der "Evangelisch-Lutherischen Tamil-Kirche" zu verhindern, weil er der Meinung war, dass das Bischofsamt den Indern zu fremd sei, war ein tragischer Fehlschluss. Seine Ansicht, dass indische Pfarrer nicht in die gleiche Verantwortung zu stellen seien wie europäische Missionare, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen.

In Ostafrika war die Zeit zwischen 1914 und 1920 verwirrend, und zwar dadurch, dass ein Teil der Mitarbeiterschaft interniert wurde. Ein anderer Teil blieb unbehelligt auf den Stationen. Wieder andere schlossen sich der deutschen Schutztruppe an, die in Ostafrika einen Guerillakampf gegen die Engländer führte. 1920 wurden alle deutschen Missionare, bis auf zwei tschechischer Herkunft, nach Deutschland repatriiert. Fast die Hälfte aller männlichen Mitarbeiter waren in den Wirren Ostafrikas an Entbehrungen und Krankheiten gestorben. Viele sind auch gefallen.

Pauls Bemühungen, die Arbeit in Ostafrika zu retten, hatten insofern Erfolg, dass Paul mit der amerikanischen Augustana-Synode 1921 einen Vertrag schloss, der besagte, dass diese Synode die Arbeit der "Leipziger Mission" übernehmen solle. Der Vertrag stellte auch fest, dass, falls die "Leipziger Mission" die Genehmigung erhalten würde, wieder in Ostafrika zu arbeiten, man dann über eine Gebietsteilung verhandeln müsse.

Paul hat es als Missionsdirektor nicht mehr erlebt, dass es bereits unmittelbar nach seiner Pensionierung dem jungen Missionsdirektor Ihmels in Zusammenarbeit mit der Augustana-Synode in Ostafrika und in Zusammenarbeit mit der "Schwedischen Kirchen-Mission" in Indien gelang, diese beiden Arbeitsfelder erneut für die Leipziger zu öffnen.

Ich möchte nun noch auf zwei Vorhaben Pauls hinweisen, die er nur teilweise verwirklichen konnte, die aber weitreichende Bedeutung für uns heute haben:

Die schon vor dem Ersten Weltkrieg bestehenden Verbindungen Pauls zu den amerikanischen Synoden, die finanziell der "Leipziger Mission" wohl gesonnen waren, haben 1919 zu einem Besuch einer amerikanischen Kirchendelegation in Leipzig geführt. Anlässlich dieses Besuchs wurde der Plan gefasst, 1920 eine lutherische Missionskonferenz nach Leipzig einzuberufen. Die Konferenz von 1920 wurde insofern ein Erfolg, als es gelang, alle deutschen Missionsdirektoren einzubeziehen, darüber hinaus nahmen amerikanische und finnische Vertreter teil.

"In dieser Konferenz tauchte der Gedanke auf, weitere Zusammenkünfte der lutherischen Missionen und der lutherischen Kirchen zu veranstalten, woraus 1923 der erste lutherische Weltkonvent in Eisenach entstand." (13) Leipzig übernahm die Federführung für weitere Konferenzen dieser Art.

Carl Paul ist zwar nicht der Begründer des heutigen "Lutherischen Weltbundes", aber durch seine Mitwirkung und Initiative ist es gelungen, den Grundstein für diese Weltvereinigung zu legen.

1920 wurde der internationale Missionsrat neu gegründet. Pauls Verbindungen zu den amerikanischen Synoden führten dazu, dass auch Vertreter deutscher Missionen in diesen aufgenommen wurden. Die Aufnahme deutscher Vertreter in dieses internationale Gremium hatte zur Folge, dass die Diskussion der Beteiligung von deutschen Missionen an der Aufgabe der Weltmission neu entfacht wurde. In den Verhandlungen, die der internationale Weltmissionsrat führte, wurde deutlich, dass besonders die amerikanischen Synoden zum Fürsprecher der Wiederaufnahme der Arbeit deutscher Missionen, besonders der "Leipziger Mission", in ihren ehemaligen Arbeitsgebieten wurden.

"So war, als Paul sein Direktorat niederlegte, wenigstens eine gewisse Aussicht auf Wiederbeginn der Arbeit eröffnet." (14)

Dass sein Nachfolger Ihmels, wie bereits gesagt, sehr bald wieder an die Planung und Durchführung eines neuen Arbeitsbeginns der Leipziger denken konnte, ist Paul zu verdanken, weil er die Grundlagen dafür geschaffen hatte.

"Am 30. September 1923 legte D. Paul sein Amt als Missionsdirektor nieder. Er vertrat den Standpunkt, dass die neue Zeit mit ihren so stark veränderten Verhältnissen in der Heimat wie auf den Missionsfeldern draußen einer jüngeren, elastischeren Kraft im Direktorat bedürfte." (15) Im Sommersemester 1926, im Alter von 69 Jahren, verabschiedete er sich auch von seinem Lehramt an der Universität Leipzig.

Schaut man in das Lebens Carl Pauls hinein, so kommt man zu dem Schluss, dass Paul wohl derjenige war, der die "Leipziger Mission" in den besonders schweren Zeiten des Ersten Weltkrieges in die neue Zeit hineingeführt hat. Das war sicherlich eine ganz andere Aufgabe als diejenige, die sich Paul zu Beginn seines Dienstes erträumt hatte.

Dass er die schweren Jahre des Zusammenbruchs der großen "Leipziger Mission" bewältigte, hat sicherlich auch mit seiner glücklichen Ehe zu tun. Seine Frau Elisabeth, geb. Fritzsche, hat ihm viel Kraft und Mut gegeben, das wird in seinen Briefen, die er an seine Frau während beider Reisen schrieb, deutlich. 2 Töchter und 2 Söhne haben ihm viel Freude bereitet, aber die Familie Paul hatte auch den Tod des ältesten Sohnes Martin, der im 1. Weltkrieg fiel, zu beklagen.

Carl Paul starb am 10. Oktober 1927 nach kurzer, schwerer Krankheit an einem Schlaganfall in seinem Ruhesitz in Schweta bei Oschatz und wurde, seinem Wunsch gemäß, auf dem Kirchhof in Lorenzkirch am 13. Oktober bestattet.

Die Gedächtnisrede hielt Pfarrer Kretzschmar aus Hosterwitz. Im Nachruf heißt es: "... das Geheimnis dieses bewegten, vielgestaltigen Lebens war doch schließlich das tiefe, sichere Gegründetsein in der Gnade Gottes und das Geborgensein in seiner Hand.

Das Wort, das einst D. Bezzel ihm schrieb: "Unter dem Schatten deiner Flügel finden wir Zuflucht ...", wurde ihm, je länger je mehr, zur Lebenslosung (16).

Der große Theologe und spätere Erzbischof von Schweden, Nathan Söderblom, schrieb zum Todes Pauls an das Kollegium: "Ihrem Werke hat der Heimgegangene große Dienste geleistet, und auch wir hier in Schweden werden nicht vergessen, was er als Ihr Repräsentant und wir in ernster, schwerer Zeit gemeinsam durchlebt haben." (17)

Hinterbliebene

Elisabeth Paul geb. Fritzschel, Ehefrau; Magdalena Paul, Grüningen; Maria Paul, Arnstadt; Dorothea Paul, Bautzen; Elisabeth Paul verh. Gäbler, Dr. Johannes Paul, Paul Gäbler, Madras; Fritz Großmann, Calbe, als Pflegesohn


Bibliografie

(1) Paul Fleisch, "Hundert Jahre lutherischer Mission", 1936, Verlag der Evangelisch-lutherischen Mission, S. 169
(2) D. Cordes, Ev.-Luth. Miss.-Bl., 82. Jg., Nr.2, 1927
(3) D. Cordes, ebd., S. 30
(4) D. Cordes, ebd., S. 30
(5) Aufzeichnungen Pfr.i.R. Gottfried Müller
(6) Carl Paul, Vorwort "Die Mission in unsern Kolonien", Dresden 1905
(7) Carl Paul, ebd.
(8) Paul Fleisch, ebd., S. 169
(9) D. Cordes, ebd., S 30
(10) Paul Fleisch, ebd., S. 307
(11) Paul Fleisch, ebd., S. 89
(12) Paul Fleisch, ebd., S. 188
(13) Paul Fleisch, ebd., S. 314
(14) Paul Fleisch, ebd., S. 315
(15) D. Cordes, ebd., S. 30
(16) Weishaupt, Ev.-Luth. Miss.-Bl., Nr. 11, S. 251/252
(17) N. Söderblom, Brief v. 20.10.1927


Zum 70. Geburtstag von Carl Paul

Von August Cordes

Evangelisch-lutherisches Missionsblatt der Ev.-luth. Mission Leipzig 1927, Seite 25 bis 30

Unter den Lesern des Blattes ist wohl niemand, der nicht den Mann kennt, den das Bild zeigt und dem diese Zeilen gelten. Der ehemalige Leipziger Missionsdirektor und derzeitige Vorsitzende unsers Kollegiums vollendet am 4. Februar das siebente Jahrzehnt seines Lebens. Aus diesem Anlass des ehrwürdigen Jubilars mitfeiernd zu gedenken und seiner hohen Bedeutung für das Missionswerk sich neu bewusst zu werden, ist Pflicht und Recht der Missionsgemeinde. Wenn mir der Auftrag geworden ist, ihm den Festartikel zu schreiben, so geschah das, weil ich mit ihm schon seit unsern Jugendjahren in Freundschaft verbunden bin und jetzt als stellvertretender Vorsitzender des Missionskollegiums ihm amtlich zur Seite stehe.

Werdegang

Carl Paul ist sächsischer Pfarrerssohn. Er wurde am 4. Februar 1857 in Lorenzkirch (Ephorie Oschatz) geboren, wo sein Vater im geistlichen Amte stand. Die Gymnasialzeit verlebte der Sohn als Thomaner in Leipzig. Das theologische Studium absolvierte er in Tübingen und Leipzig. Dann war er zwei Jahre Hauslehrer in der Familie eines Bremer Großkaufmanns. Von 1882 bis 1884 gehörte er dem Predigerkollegium zu St. Pauli in Leipzig an. Hier lernten wir uns kennen. Besonderen Eindruck machte mir, dass Paul schon damals bestimmt erklärte, dass sein Hauptinteresse fortan dem Studium der Heidenmission gewidmet sein würde. Dem galten dann auch in erster Linie die in jener Zeit unternommenen Studienreisen nach Belgien, Holland und England. 1884 wurde er Pfarrer in Rothschönberg bei Meißen, und 1887 übernahm er als Pfarrer in Lorenzkirch dieselbe Gemeinde, an der sein Vater gestanden hatte.

Bei aller Treue jedoch, die er dem Gemeindepfarramte widmete, trat sein Interesse an der Mission nicht zurück. Seine Mußestunden füllte er mit intensiven Missionsstudien. Als deren Ertrag veröffentlichte er mehrere Schriften, von denen die Neuherausgabe der Missionsstunden von Dietel und die vier Hefte unter dem Gesamttitel "Die Mission in unsern Kolonien" genannt seien. Für das Jahrbuch der Sächsischen Missionskonferenz lieferte er 1888 - 1911 regelmäßig die Jahreschronik und die Bibliographie. Ferner gab er im Deutschen Kolonialblatt, dem Organ des Kolonialamts, fortlaufende Berichterstattung über die evangelische Mission. Auch für die Allgemeine Missionszeitschrift und andere Blätter schrieb er Aufsätze. Sein Beitrag für die Festschrift zum 70. Geburtstage von D. G. Warneck behandelte "Zwanzig Jahre deutscher Kolonialpolilik in ihrer Bedeutung für die Christianisierung unserer überseeischen Gebiete."

So galt Paul schon in den 90er Jahren als namhafter Missionsfachmann, insbesondere als Autorität auf dem Gebiete der Kolonialmission und als Statistiker. Man zog ihn zu den Tagungen der Kontinentalen Missionskonferenz in Bremen als Gast zu, bei denen er sich wiederholt auch als Referent betätigte. Ebenso beteiligte er sich mit Beiträgen zu den Verhandlungen der Deutschen Kolonialkongresse.

Als im Leipziger Missionshause durch den Abgang des D. von Schwartz der Posten des Missionsdirektors frei wurde, übertrug die Generalversammlung in der Pfingstwoche 1911 unserm Paul das Direktorat. Dieses Amt übernahm er am 21. August des Jahres. - Mit dem Sommersemester 1912 begann seine Tätigkeit als ordentlicher Honorarprofessor für neuere Missionsgeschichte und Missionskunde in der theologischen Fakultät Leipzig. Die Antrittsvorlesung hielt er am 27. April über den "Anteil der Heidenmission an der Lösung des Schulproblcms in unsern Kolonien." Seine durch lange Vorstudien erworbene reiche Sachkunde und die nüchtern abwägende, aber fesselnde Art seiner Darstellung gewannen ihm ein Auditorium von Akademikern, die zu Kennern und tätigen Freunden der Mission heranzubilden ihm eine wichtige und freudig erfüllte Aufgabe war. Die Universität ehrte ihn mit der Verleihung der Würde eines Doktors der Theologie. Paul hat das akademische Amt bis zum Schlusse des Sommersemesters 1926 fortgeführt.

Vorkriegszeit

Dem neuen Missionsdirektor lag als eine der ersten und wichtigsten Pflichten ob, die beiden Arbeitsfelder der Leipziger Mission zu besuchen und so eine genaue persönliche Kenntnis von ihnen sich zu erwerben. Diese Visitationsreise trat D. Paul Ende Juli 1912 an. Er besuchte zunächst die Stationen in Deutsch-Ostafrika. Den Hauptteil aber der Reise beanspruchte der Aufenthalt in Ostindien. Außer den eignen Stationen sah sich der Direktor auch auf einigen Stationen anderer Missionsgesellschaften um. Ende März 1913 traf er wieder in der Heimat ein. Solche Visitationsreisen sind für den Unternehmer nichts weniger als Vergnügungsreisen. Schon das ungewohnte Tropenklima macht ihm zu schaffen, zumal wenn er bereits im reiferen Alter steht. Vor allem aber die monatelange Unrast, das ununterbrochne Reisen von Station zu Station, die zahlreichen, bisweilen schwierigen Verhandlungen mit den in Betracht kommenden Instanzen, die Notwendigkeit des Ordnens und Schlichtens da und dort, die Pflicht, bei einer Menge von Gelegenheiten öffentlich zu reden u. a. mehr fordern die Anspannung aller Körper-, Seelen- und Geisteskräfte. Aber der Gewinn, den der Visitator für seine verantwortliche Leitung des ganzen Organismus mitbringt, lässt ihn alle Strapazen freudig ertragen.

Bald nach seiner Heimkehr betrieb D. Paul die notwendig gewordene Erweiterung des Missionshauses. Auf seine Anregung wurde das Gartengebäude hinter dem Haupthause errichtet. Es enthält den Betsaal, den Speisesaal mit den Wirtschaftsräumen für die Hausgenossenschaft, das Hospiz für Missionare und andere Gäste und das Museum. Von der laufenden Arbeit, die der Direktor zu bewältigen hat, sei nur gesagt, dass sie die Kräfte eines leistungsfähigen und arbeitsfreudigen Mannes vollauf in Anspruch nimmt. Im inneren Betriebe war es D. Paul ein Anliegen, seiner Hausgemeinde, insonderheit den Missionsseminaristen ein treusorgender, gemütvoller Hausvater zu sein. Die Zeil zu schriftstellerischen Arbeiten wurde je länger, desto knapper, aber nach Möglichkeit sie fortzusetzen war ihm ebenso Pflicht wie Bedürfnis. Neben Schriften wie "Die Leipziger Mission daheim und draußen" und "Mission und Auslandsdeutschtum" erschienen von ihm nach wie vor Aufsätze im Sächsischen Missionsjahrbuch, im Leipziger Missionsblatt und andern Blättern und Zeitschriften. Das seit langem jährlich herausgegebene Konfirmandenblatt unsrer Mission ist seine Gründung.

So hat er fortgesetzt Fühlung nach außen gesucht, um nach Kräften Werbedienst für die Mission zu tun. Dem dienten auch seine zahlreichen Predigten, Ansprachen und Vorträge bei Missionsfesten und andern Gelegenheiten. Seine Art zu schreiben und zu sprechen kann man weder populär, noch begeisternd im üblichen Sinne nennen, dafür ist er zu sachlich und nüchtern. Ebenso frei von Plattheiten, wie von Überschwänglichkeiten fließt sein Stil in ruhigem, gediegenem Gleichmaße dahin. Aber der Leser oder Hörer merkt bald: Hier gibt sich ein Mann kund, der seinen Stoff völlig beherrscht, in seiner Darstellung streng wahrhaftig bleibt und doch seinem Gegenstände nichts weniger als kühl gegenübersteht, sondern von tiefer Liebe zu ihm erfüllt ist. So hat D. Paul sein Publikum immer gefesselt, wo er hervorgetreten ist, die einfachen Leute so gut, wie die Gebildeten und die Männer vom Fach, und so darf er doch als volkstümlich und wirksam im besten Sinne bezeichnet werden. - Wenn das Leipziger Missionshaus in früheren Zeiten von der Atmosphäre einer gewissen spröden, aristokratischen Zurückhaltung umgeben war, die auf die Entfaltung des Missionslebens im Leipziger Kirchenkreise erkältend wirkte, so hat sich das gottlob gründlich geändert. Der Ursachen dafür sind manche, aber nicht zuletzt ist es dem Einfluss D. Pauls zu danken, der in feiner schlichten, allem Zugeknöpften abholden Art Missionshaus und Leipziger Kirche in wesentlich engere, wärmere Fühlung miteinander hat bringen helfen.

Kriegs- und Nachkriegszeit

Von D. Pauls Direktoratsjahren können nur die ersten drei als Normaljahre gelten. Die übrigen neun fielen in die Kriegs- und erste Nachkriegszeit, waren also erfüllt von Heimsuchungen schwerster Art, an denen mit allen deutschen Missionen auch unsre Leipziger einen überreichen Anteil zu erleiden bekommen hat. An die einzelnen erschütternden Ereignisse brauche ich nicht zu erinnern, sie sind noch frisch in aller Gedächtnis. Aber so viel muss ich sagen: Unter Katastrophen, wie mir sie über uns ergehen lassen mussten, an verantwortlich leitender Stelle zu stehen, ist eine Aufgabe, die an die Nerven- und Seelenkraft eines Menschen fast untragbare Anforderungen stellt. Was D. Paul in jenen Jahren innerlich gelitten hat, lässt sich kaum ermessen. Aber er hat tapfer durchgehalten. Sein Glaubensmut blieb ungebrochen. Er stand auf seinem Posten wie ein erprobter Kapitän auf tobender See. Ruhig und stetig tat er seine Pflicht, ließ sich auch nicht erbittern durch die Niederträchtigkeiten der feindlichen Politik gegen das ihm so teure Werk, sondern blieb besonnen in seinem Urteile über sie. Für die heimgetriebenen Missionare und ihre Familien tat er in väterlicher Fürsorge alles, was in seinen Kräften stand, um ihnen Halt und Unterkunft zu schaffen. In der wirtschaftlichen Not, die stark auch an das Missionshaus klopfte, ging er mit seiner Familie den Anstaltsgenossen tapfer voran in der Anspruchslosigkeit gegen des Leibes Notdurft und Nahrung. Kurz, die ganze Prüfungszeit hat ihn auf der Höhe eines gläubigen Christen, eines edlen Charakters und eines echten Führers gezeigt.

Als in der Nachkriegszeit die helfende Liebe der Glaubensgenossen im Auslande sich regte, um die schweren Nöte der vom Weltkriege heimgesuchten Länder nach Möglichkeit zu lindern, und u. a. die im Nationalen Lutherischen Konzile verbundenen amerikanischen Synoden auch Deutschland in den Bereich ihrer unterstützenden Tätigkeit einbezogen, wurde von ihnen ein Hilfsausschuss berufen, der für Deutschland die aus ihren Gemeinden stammenden Liebesgaben zu vermitteln hatte. Dieser Ausschuss ist sieben Jahre in Tätigkeit gewesen (1919 bis 1926). D. Paul war in ihm zwar nicht Vorsitzender, wurde aber je länger, desto mehr die eigentliche Seele des Ausschusses. Er erwarb sich in steigendem Maße das Vertrauen der amerikanischen Instanzen, so dass er ihr Vertrauensmann auch bei Hilfswerken wurde, die sich kaum noch mit der Tätigkeit des Hilfsausschusses berührten, so bei der Unterstützung der Glaubensgenossen in Russland und der deutschen lutherischen Heidenmissionsgesellschaften auf deren Arbeitsfeldern. Bei der Mitwirkung an diesem letzteren Hilfswerke blieb er besonders darauf bedacht, selbst den Schein zu vermeiden, als ob seine eigne Gesellschaft sich eine möglichst große Erleichterung ihrer Kriegslasten zu sichern suchte.

Das außerordentliche Vertrauen, das D. Paul weithin in Deutschland wie im Auslande genoss, machte sich auch sonst geltend. Es half erheblich mit, dass unser Kollegium in den Verhandlungen einerseits mit der schwedischen Kirchenmission, andrerseits mit der amerikanischen Augustanasynode zur "Durchwinterung" unsrer Felder in Indien und Afrika so freundliches und wirksames Entgegenkommen fand. Er stand ferner in hohem Ansehen im Deutschen Evangelischen Missionsausschuss, in dem er insbesondere die lutherischen Missionsgesellschaften vertrat. Und als es sich um die Vorbereitungen zum ersten lutherischen Wellkonvent handelte, wurde er in den dazu eingesetzten Ausschuss gewählt und hat dort mit seiner Geschäftsgewandtheit, Umsicht und Arbeitstreue eine ersprießliche Tätigkeit entfaltet.

Am 30. September 1923 legte D. Paul sein Amt als Missionsdirektor nieder. Er vertrat den Standpunkt, dass die neue Zeit mit ihren so stark veränderten Verhältnissen in der Heimat wie auf den Missionsfeldern draußen einer jüngeren, elastischeren Kraft im Direktorat bedürfte. So musste das Kollegium, wenn auch sehr schweren Herzens, ihm die seither getragene Bürde abnehmen. Als aber bald darauf auch Landesbischof D. Ihmels den Vorsitz im Kollegium niederlegte, wählte das Kollegium einmütig D. Paul zu dessen Nachfolger, und die Generalversammlung bestätigte die Wahl ebenso einmütig. So ist der treubewährte Mann mit seiner reichen Erfahrung und seiner gereiften Weisheit unsrer Mission auf dem höchsten verantwortlichen Ehrenposten, den sie zu vergeben hat, erhalten geblieben, und es ist allen Mitarbeitern am Werk eine immer neue Freude, dass er in noch großer körperlicher und geistiger Frische an der Spitze des Ganzen steht.

Familie

Wenn D. Paul sich solche Frische bis ins Alter bewahrt hat, so hat ihm wesentlich dazu geholfen, dass ihm durch Gottes Gnade ein reiches, glückliches Familienleben geschenkt und bis heute erhalten wurde. Seit mehr als vier Jahrzehnten steht ihm Elisabeth geb. Fritzsche als Gattin zur Seite. Sie ist ihm eine echte Kameradin, Hausfrau und Kindesmutter geworden und hat ihm vier Töchter und zwei Söhne geboren. Freilich hat auch dies Elternpaar ein schweres Kriegsopfer bringen müssen. Der älteste Sohn, der es schon zum Dr. phil. gebracht hatte, erlitt den Heldentod. Aber die übrigen Kinder sind den Eltern erhalten geblieben und haben sich zu tüchtigen Menschen entwickelt.

Schließlich noch ein kurzes Wort zur persönlichen Charakteristik unsers verehrten Jubilars. Er ist ungewöhnlich ausgeglichen in seinem Wesen und Auftreten. Alles sprunghafte Auf und Nieder liegt ihm fern. Schlichtheit, Besonnenheit, ruhiges, gerechtes Abwägen in seinem Urteil über Menschen und Dinge sind charakteristische Merkmale an ihm. Er liebt sehr die Gemütlichkeit und ist mit köstlichem Humor begabt. Wer seiner Freundschaft gewürdigt wird, hat an ihm einen Freund von seltner Treue. Eine große Freude hat er immer am Landleben gehabt, deshalb hat er sich auch nach Niederlegung seines Direktoramtes wieder aufs Land zurückgezogen. Dort beschäftigt er sich, soviel immer möglich, mit Gartenarbeit, zumal mit Blumenpflege. Bei aller Freude aber an der Natur und dem, was sie Schönes bietet, ist sein inwendiger Mensch intensiv auf das Ewige gerichtet. Er denkt gern an den Tod, erwartet ihn auch in Bälde und freut sich darauf.

Uns aber soll er es nicht verdenken, wenn wir ihm noch ein langes Leben in unsrer Mitte wünschen. Ja, unser Geburtstagsgruß für den Siebenzigjährigen wird zu dem Gebet: Herr, wir danken dir, dass du uns diesen Mann geschenkt hast. Erhalte ihn uns noch lange in alter Frische, dir zur Ehre, uns zur Freude und Mitarbeit und deinem Missionswerke zur Förderung!


Nachruf für D. Paul

Evangelisch-lutherisches Missionsblatt der Ev.-luth. Mission Leipzig 1927, Seite 249

Dem Herrn über Leben und Tod hat es gefallen, den Vorsitzenden unsers Kollegiums und früheren Direktor unserer Missionsanstalt

Herrn Professor D. Carl Paul

nach kurzer, schwerer Krankheit im 71. Lebensjahre in sein himmlisches Reich zu rufen. Er ist am 10. Okt. Nachmittag 1½ Uhr in seinem Ruhesitz Schweta bei Oschatz entschlafen und am 13. Okt. seinem Wunsche gemäß auf dem Kirchhofe in Lorenzkirch inmitten seiner früheren Gemeinde, der er vor seiner Berufung nach Leipzig 24 Jahre lang gedient hatte, zur letzten irdischen Ruhe bestattet worden. Vor wenigen Monaten erst durften wir mit ihm den Freudentag begehen, an dem er in voller Rüstigkeit das siebente Jahrzehnt seines Lebens vollendete, und schon haben wir schmerzerfüllt an seinem Grabe stehen müssen.

Was D. PauI unserm Missionswerke, sowie der evangelischen Heidenmission überhaupt gewesen ist, wie er unter uns als führender Missionsmann, insbesondere während seines Direktorats und seiner akademischen Tätigkeit, als glaubensstarker lutherischer Christ, als Mensch von vorbildlichem Charakter, als treuer Gatte und Familienvater gewirkt hat, ist aus Anlass seines letzten Geburtstages im Missionsblatte zu würdigen versucht worden. Wir können uns dazu nur erneut in dankbarer Verehrung bekennen. Wir trauern mit dem luthe» tischen Missionsvolke daheim und draußen und mit seiner verwaisten Familie tief um seinen Verlust, aber wir sind gewiss: Er darf nun ruhen von seiner Arbeit im Frieden seines Gottes und Heilandes, und seine Werke folgen ihm nach; auch auf Erden wird die Segensspur seines Wirkens noch lange spürbar sein.

Nach menschlichem Ermessen wird er für uns, seine Mitarbeiter, und das uns befohlene Werk kaum voll zu ersetzen sein. Aber wir blicken in gläubigem Vertrauen auf zu dem Herrn der Mission. Er bleibt und wird sich auch weiter segnend zu dem Werke bekennen, das, wir ja nur in seinem Namen und Auftrag tun. Dem teuren Entschlafnen aber rufen wir unseren tiefen, unauslöschlichen Dank in die Ewigkeit nach.

Kollegium der Evangelisch-lutherischen Mission.
D. August Cordes, stellv. Vorsitzender.


D. Pauls Heimgang und letzte Fahrt

Von Martin Weishaupt

Evangelisch-lutherisches Missionsblatt der Ev.-luth. Mission Leipzig 1927, Seite 250 bis 253

In dem Begrüßungsartikel, den D. Cordes in der Februarnummer des Missionsblattes seinem Freunde Carl Paul zum 70. Geburtstage schrieb, steht auf einer der letzten Zeilen der lapidare Satz: "Er denkt gern an den Tod, erwartet ihn auch in Bälde und freut sich darauf." Diesen Satz hat gewiss mancher mit Verwunderung gelesen. Wer damals dem Siebzigjährigen begegnete, gewann nicht den Eindruck, dass er es mit einem Manne zu tun hatte, den die Last des Alters drückte. Er schien es an Elastizität des Körpers und Geistes noch mit viel Jüngeren aufnehmen zu können.

An seinem Geburtstage, dem 4. Februar, fuhren wir nach Schweta bei Mügeln, seinem unbeschreiblich lieblichen Ruhesitz, dessen Garten er durch liebevolle Pflege in einen Zaubergarten voll Duft und Farbe verwandelt halte, um ihm in dankbarer Verehrung persönlich unsere Segenswünsche zu bringen. Es war eine stattliche Zahl von Ansprachen, die da gehalten wurden. Und als er in längerer Rede antwortete, begann er mit einem Hinweis auf seinen bald bevorstehenden Tod und zeigte den Anwesenden im Bilde den Platz auf dem Friedhofe seines Geburtsortes und einstigen Pfarrsitzes Lorenzkirch, den er sich für sein Begräbnis ausgesucht hatte. Diese Worte kamen den meisten unerwartet. Nur seine Angehörigen und nächste» Freunde wussten etwas davon, dass er in steter Sterbensbereitschaft lebte und dass ihn der Gedanke an sein Ende nicht schreckte. Und doch kam der Tod zuletzt auch für ihn überraschend. Auf den 6. Oktober war eine Sitzung des Missionskollegiums anberaumt, die über wichtige Fragen eine Entscheidung herbeiführen sollte. Als ich ihm die Einladung sandle, hatte ich kurz vorher zufällig erfahren, er habe sich auf einer Reise erkältet. Um eine ernstere Erkrankung schien es sich jedoch nicht zu handeln. In seinem Antwortbrief, in dem er zu zwei Punkten der Tagesordnung sein Votum abgab, schrieb er mir: "Zu meinem großen Bedauern ist es mir sehr zweifelhaft geworden, ob ich der morgigen Kollegialsitzung beiwohnen kann. Seit meiner letzten Reise nach Mecklenburg plagt mich eine leichte Erkältung, die etwas von der Art der Influenza an sich hat. Gestern musste ich ihretwegen eine Aussprache bei der Collmberggruppe der Missionskonferenz in Oschatz noch in letzter Stunde absagen und eine Schwitzkur durchmachen. Ich hoffte, das Übel damit an der Wurzel gepackt zu haben, sehe aber heute, dass ich es noch nicht los bin. Nun setze ich alles daran, wenigstens am nächsten Montag, wo ich bei der 40. Jahresfeier der sächsischen Missionskonferenz in Meißen den Vortrag zugesagt habe, leistungsfähig zu sein. Unter diesen Umständen ist eine Fahrt nach Leipzig in dieser Woche etwas riskant. Ich schrieb daher gestern Abend an D. Cordes und bat ihn, den Vorsitz in dieser Sitzung zu übernehmen. Wenn ich morgen früh von ihm eine Zusage erhalte, bleibe ich daheim. Ist er verhindert, so komme ich selbst, wenn mein Befinden es irgend erlaubt."

Der Montag, an dem er in Meißen bei der Konferenz mitzuwirken hoffte, wurde nach Gottes Ratschluss sein Todestag. In der Nacht zum Sonnabend traf ihn ein anscheinend leichter Schlaganfall. Noch hofften seine Angehörigen, er werde sich davon erholen, als dann aber in der Nacht zum Montag eine Lungenentzündung hinzutrat, hatte ihn des Todes Hand bereits angerührt. Die letzten Stunden lag er bewusstlos, nur auf einzelne Fragen antwortete er noch mit einem kurzen Ja oder Nein. Und am Montag, den 10. Oktober, nachmittags 1 1/2 Uhr, ist er sanft entschlafen. Es war eine freundliche Fügung Gottes, dass seine Frau und seine sämtlichen Kinder in der Sterbestunde um ihn sein konnten, auch die jüngste Tochter, die Braut unseres Missionars Paul Gäbler in Madras, für die schon ein Schiffsplatz nach Indien bestellt war, und auch der Sohn, der sich auf eine Studienreise nach Südafrika rüstete. Und zwei Tage darauf begleiteten der Sohn und die Tochter den toten Vater auf seiner letzten Fahrt nach Lorenzkirch.

Am Donnerstag, den 13. Oktober, trafen wir auf dem Bahnhof des Städtchens Strehla ein. Von jenseits der Elbe grüßte aus herbstlich gefärbten Laubkronen der Turm des hochgelegenen Kirchleins von Lorenzkirch, einer ehemaligen Wallfahrtskirche, die in alten Tagen wohl große Scharen von Festpilgern am Laurentiustage in ihren Mauern sah. Ein unvergessliches Bild. Auch heute schien es eine Wallfahrt zu sein. Aber die Gesichter der Pilger waren ernst und die Haltung gedrückt. Die geräumige Elbfähre konnte die Menge der Leidtragenden nicht fassen, sie musste ihre Fahrt wiederholen. Wir betraten das Kirchlein. Das Auge fand sich in dem Zwielicht nicht sogleich zurecht. Nur die Umrisse des schlichten Sarges waren in dem Schein der flackernden Kerzen deutlicher erkennbar, und aus dem Dämmer des Altarraums grüßte die wundervolle, von Künstlerhand geschaffene Kreuzigungsgruppe, die der Heimgegangene so geliebt hatte. Leise präludierte die Orgel. Das Sterbelied erklang, in dem die Gemeinde ihre Todesbereitschaft ausspricht: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende. Dann sangen die Leipziger Thomaner das wehmütige und doch so tröstliche: "Welt, ade, ich bin dein müde" des alten Johann Rosenmüller. Die Gedächtnisrede hielt der Freund und langjährige Amtsnachbar und Beichtiger des Entschlafenen Pfarrer Kretzschmar aus Hosterwitz. Die Freunde hatten sich einst das Wort gegeben, dass der Überlebende dem anderen den letzten Dienst am Sarge erweisen wolle. Er legte den Teil 1. Mose 28, 15 zugrunde, der bei dem letzten Zusammensein ein Abschiedsgruß an die scheidende Tochter hatte sein sollen. "Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht lassen, bis dass ich tue alles, was ich dir geredet habe." Es war ein Gang durch eine wechselvolle und leichgesegnete Lebensführung, vom Pfarramt im stillen Dorf zum Direktorat im Leipziger Missionshaus und zur Professur an der Universität und dann bis in alle die weltweiten Beziehungen, die sich mehr und mehr ergaben. Aber das Geheimnis dieses bewegten, vielgestaltigen Lebens war doch schließlich das tiefe, sichere Gegründetsein in der Gnade Gottes und das Geborgensein in seiner Hand, Das Wort, das einst D. Bezzel ihm schrieb: "Unter dem Schatten deiner Flügel finden mir Zuflucht" wurde ihm je länger je mehr zur Lebenslosung. Mit einem Gebet schloss die Gedächtnisrede. Dann traten in langer Reihe die Vertreter der Körperschaften, denen D. Paul angehört halte, an den Sarg, um dem Entschlafenen den letzten Gruß zu entbieten. Zuerst der Landesbischof D. Ihmels, der vor ihm das Amt des Vorsitzenden im Missonskollegium innegehabt halte. In drei Worte kleidete er seinen Valetsegen: "Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen"; "Ich muss wirken, solange es Tag ist"; "Nehmet immer zu in dem Werke des Herrn, sintemal ihr wisset, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn". Gott begräbt seine Werkzeuge, aber die Werke bleiben. Es gibt eine Gemeinschaft, die der Tod nicht löst. Unser Leben ist der Herr Christus. Geheimrat D. Hempel vertrat das sächsische Landeskonsistorium zu Dresden. Er stellte den engen Zusammenhang zwischen Kirche und Mission ins Licht. Nur eine Missionskirche ist eine lebendige Kirche. Das war auch die tiefste Überzeugung des Heimgegangenen, in der sein reiches Wirken gründete. Professor D. Balla sprach im Namen der theologischen Fakultät Leipzig, deren Ehrendoktor Carl Paul war und deren Lehrkörper er 14 Jahre lang angehörte. Auch der Universitäts-Kirchenchor unter Professor Hofmanns Leitung grüßte durch ein Doppelquartett. Dann kam die Mission zu Worte. Zuerst sprach Oberkirchenrat D. Cordes als stellvertretender Vorsitzender den Dank des Kollegiums aus und legte eine Palme nieder mit den Worten: Gott gibt dir selbst die Palmen in deine rechte Hand, und du singst Freudenpsalmen dem, der dein Leid gewandt. Nach ihm grüßte Geheimrat D. Mirbt aus Göttingen,im Namen der Herrnhuter Missionswoche, von deren Tagung er nach Lorenzkirch geeilt war, zugleich auch im Namen des Deutschen Missionsbundes und der Missionswissenschaftlichen Gesellschaft. Missionsinspektor Weishaupt brachte den letzten Gruß des Missionshauses, dieser "officina spiritus sancti", Werkstätte des heiligen Geistes zum Zurichten seiner Werkzeuge, wie D. Besser es bei der Grundsteinlegung vor 72 Jahren genannt hatte, des Hauses, in dem der einstige Direktor 12 Jahre eine Heimat gehabt hatte und dessen äußerer und innerer Ausbau ihm ein starkes Herzensanliegen war. Im Namen der indischen und afrikanischen Missionare sprach Pfarrer Göttsching aus Schönberg, jahrzehntelang Missionar in Indien, Worte herzlichen Dankes. Was der Heimgegangene dem Sächsischen Hauptmissionsverein gewesen war, brachte Missionsinspektor Handmann zum Ausdruck. Die sächsische Missionskonferenz widmete ihrem Gründer ehrende Worte durch ihren Vorsitzenden, Oberkirchenrat Michael aus Dippoldiswalde. Frau v. Stieglitz vertrat die Frauenmission. Sie legte im Namen des Leipziger Frauenmissionsvereins und des Bundes sächsischer Frauenmissonsvereine einen Kranz nieder. Auch ein Vertreter des Leipziger Zweigmissionsvereins war anwesend. Die befreundete Missionsanstalt Neuendettelsau übermittele einen Gruß und eine Kranzspende durch Studienrat Köberle, den Leiter unseres Missionsseminars. Die übrigen Missionsgesellschaflen, -vereine und -konferenzen hatten ebenso wie die Kirchenbehörden der mit uns verbundenen lutherischen Gebiete ihre Teilnahme schriftlich kundgegeben. Die Abteilung Leipzig der Deutschen Kolonialgesellschaft, deren Ehrenmitglied D. Paul war, dankte ihm durch den Mund ihres Vorsitzenden, Studiendirektor Prof. Dr. Rößger in anerkennenden Worten für seine immer rege und anregende Mitarbeit. Auch der evang.-Iuth. Studentenverein Philadelphia zu Leipzig gedachte seines Ehrenmitgliedes und ließ durch Dr. Ernst Gäbler, den Bruder unseres Missionars, einen Kranz niederlegen. Den Schluss bildeten herzliche Nachrufe der Geistlichkeit der Ephorie Oschatz, in deren Gebiet der Verstorbene die letzten Jahre seines Lebens gewohnt hatte, und des Ortsgeistlichen. Noch einmal sangen die Thomaner, und die Gemeinde legte das Bekenntnis zu dem Grunde ihrer Hoffnung ab: Jesus, er mein Heiland, lebt, ich werd' auch das Leben schauen.

Vom Gotteshause bewegte sich der Trauerzug durch den feierlichernsten Gang dunkelgrüner Zypressen, die der einstige Pfarrer von Lorenzkirch selbst gepflanzt hatte, zum Grabe. An der Ostseite der Kirche, zwischen Apsis und Sakristei, ganz nahe der Stelle, wo auch die Eltern und Großeltern liegen, hat man ihm die letzte Ruhestätte bereitet. "Dem Leib ein Räumlein gönn' bei meiner Eltern Grab", so hatte er es sich gewünscht. Und in der Nähe steht der Gedenkstein für den im Kriege gefallenen ältesten Sohn. Welch eine Stätte des Friedens ist doch dieser Friedhof! Kein Laut der lärmenden Welt stört hier die Ruhe derer, die überwunden haben. Wenn der Wind durch die Kronen der Linden und Kastanien lauscht, dann meint man, das alte Lied der Vergänglichkeit und Lebensgewissheit zu vernehmen: Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!

Ja, die Menschen kommen und gehen. Die Blumen auf den Gräbern unserer Lieben blühen und welken. Alles, was stark und lebensvoll war, wird ein Raub des Todes. Nur Einer bleibt, und seine Jahre nehmen kein Ende. Mit ihm, in seiner Kraft, wollen wir in den neuen Arbeitstag gehen. Aber wir wollen unsere Toten nicht vergessen. Die Lücke, die sie zurücklassen, soll sich nie ganz schließen. Aber wir wollen nicht trauern wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Wenn etwas uns an dem Grabe in Lorenzkirch zur Gewissheit geworden ist, so ist es dies: Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.


D. Paul † In Memoriam

Lutherisches Missionsjahrbuch für das Jahr 1928. Herausgegeben im Auftrage der Missionskonferenz in Sachsen durch Pfarrer W. Gerber. Verlag H. G. Wallmann in Leipzig, Seite 4 bis 5.

Die Sächsische Missionskonferenz, die ihr Lutherisches Missionsjahrbuch hiermit zum 41. Male ausgehen lässt, ist von einem Verluste getroffen worden, der sich in seiner ganzen Schwere und Bedeutung von einem Außenstehenden kaum übersehen lässt. Der Gründer der Konferenz, der Nestor der Missionswissenschaft in Sachsen, einer der Führer deutschen Missionslebens, D. Paul, ist am 10. Oktober 1927 heimgerufen worden. Im Schatten der alten Wallfahrtskirche von Lorenzkirch, in der D. Paul vor der Zeit seines Direktorats der Leipziger Mission ein Vieteljahrhundert gewirkt hat, nachdem sein Vater und Großvater durch drei Viertel-jahrhunderte das Pfarramt dort vor ihm geführt hatten, ruht er von der tiefgesegneten und mit unendlicher Treue geleisteten Arbeit seines schaffensreichen Lebens aus.

Es kann hier nicht dargelegt werden, was D. Paul als kundigster Kolonialmissionsfachmann Deutschlands, als Direktor der Leipziger Mission, als Professor innerhalb der theologischen Fakultät der Universität Leipzig, als Glied der Deutschen Evangelischen Missionsbehörden, als einer der Führer weltweiten Luthertums und als ewigkeitsgereifte Persönlichkeit geleistet hat. Das wird der Geschichtsschreibung der Zukunft vorbehalten bleiben müssen. Nur was er der sächsischen Missionskonferenz, deren geistiger Vater und Führer er durch vier Jahrzehnte gewesen ist, und der er in langen Jahren als Schriftführer gedient hat, durch seine Mitarbeit an dem von ihr herausgegebenen Jahrbuch bedeutet hat, kann hier kurz ausgesprochen werden.

Fast zwei Jahrzehnte lang hat er die Chronik über das gesamte evangelische Missionsleben in den Jahrgängen 1893-1911 geliefert. Eine ganz« Reihe von Besprechungen verschiedenster Missionsbücher und -zeitschriften hat er beigesteuert. Vor allem aber hat seine Feder dem Jahrbuch eine Anzahl seiner wertvollsten Aufsätze geschenkt. Die Arbeitsfelder der Leipziger Mission in Indien und in Ostafrika hat er beschrieben (1888, 1903). Die grundlegende Frage: Wie erwirbt man sich eine gründliche Missionskenntnis, hat er der Pastorenschaft 1889 beantwortet. Aus seiner intimen Kenntnis der Kolonialmissionsprobleme hat er die Frage, was der deutsch-französische Kongovertrag für die Mission bedeutet, behandelt (1912). Zwei Beiträge zur Frage der Mohammedanermission hat er geliefert: Christentum und Islam im Wettbewerb um die afrikanischen Negervölker (1914) und Die Welt des Islam als Missionsproblem (1923). Und zuletzt hat er einen methodischen und einen zeitgeschichtlichen Aufsatz beigesteuert, deren jeder als eine Zusammenfassung seines Lebenswerkes angesehen werden kann: Zur Eigenart der lutherischen Missionsmethode (1925) und Die Kriegsvicariate für die deutschen Missionen und ihre Ablösung, die Arbeit, die als posthumes Werk im vorliegenden Jahrgang enthalten ist. Weit über diese Einzelarbeiten hinaus hat sein Rat und sein reiches Wissen Art und Gesamtinhalt aller bisher erschienenen Jahrbücher entscheidend mitbestimmt. Wie ein Stück verkörperter Missionsgeschichte des Luthertums ist er bis zuletzt bei den Vorbereitungen der Jahrbücher unter uns gewesen.

Und nun stehen wir an seinem Grabe. Übervoll ist unser Herz: Dank bis in die letzte Tiefe, liebende Verehrung, die unvergänglich bleibt, stille Trauer, die um den im 71. Lebensjahre nach langer Todesbereitschaft plötzlich von uns genommenen väterlichen Mann uns alle bewegt, und das Gelöbnis eines vollen Einsatzes unserer Kraft für die Arbeit, der sein Leben gehört hat, - das alles erfüllt unser Herz. Und durch unsere Seele zieht das Gebet, dass der Herr der Mission auch der kommenden Generation einen Mann schenken möchte, wie er uns und der vergangenen ihn in D. Paul gegeben hat.

Oberkirchenrat Superintendent Michael, als Vorsitzender der Sächs. Missions-Konferenz.
Missionsinspektor Pfarrer Gerber, als Schriftführer der Missions-Konferenz u. Herausgeber des Luth. Miss. Jahrbuches.


Carl Paul  1857 - 1927

Thomas Markert, Paul, Carl, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von Martina Schattkowsky, Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/ (31.12.2014)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt P. als der kundigste Fachmann für Kolonialmission in Deutschland. Er war 13 Jahre lang Direktor der Leipziger Mission und hatte gleichzeitig hervorragenden Anteil an den Einigungsbestrebungen des Weltluthertums. Seine gymnasiale und musische Bildung erhielt er ab 1870 am Thomasgymnasium in Leipzig und studierte im Anschluss daran 1877-1880 Theologie in Tübingen und Leipzig. Während einer darauffolgenden zweijährigen Hauslehrertätigkeit in einem Bremer Kaufmannshaus hatte er erste intensive Kontakte zu Missionskreisen, die seiner Zukunft die entscheidende Prägung gaben. Nach dem Besuch des Leipziger Predigerseminars St. Pauli (1882 - 1884) war er auf seiner ersten Pfarrstelle, ab 1884 in Rothschönburg bei Meißen, 1887 Mitbegründer der Sächsischen Missionskonferenz, deren Vorstand er als Schriftführer bis zu seinem Tod angehörte. 1887 wechselte er in das Pfarramt seines Heimatdorfes Lorenzkirch, wo er bis 1911 blieb. Bereits während dieser Zeit war er unermüdlich für die Anliegen der Mission tätig, vor allem durch Veröffentlichungen im "Jahrbuch der Sächsischen Missionskonferenz" (regelmäßige Aufsätze, weltweite Missionschroniken 1894 - 1912, ausführliche Missionsliteraturberichte 1888 - 1909), außerdem durch wichtige Veröffentlichungen u.a. im Evangelisch-Lutherischen Missionsblatt und der Allgemeinen Missionszeitschrift. Überdies war er ein gefragter Referent u.a. bei der Kontinentalen Missionskonferenz in Bremen und ab 1902 beim Deutschen Kolonialkongress und bekleidete eine führende Stelle im Deutschen Evangelischen Missionsausschuss. Im Sächsischen Missionshauptverein nahm er von 1888 - 1911 als Komiteemitglied Leitungsverantwortung war. Ab 1900 begründete P. verschiedene Presskorrespondenzen, die monatlich zahlreiche Tageszeitungen mit Missionsinformationen versorgten und so einen nachhaltigen Einfluss auf das zunehmende öffentliche Missionsinteresse ausübten. Als literarisches Hauptwerk P.s gilt sein vierbändiges Werk "Die Mission in unsern Kolonien" (1898-1908). Im August 1911 wurde P. aufgrund seiner ausgewiesenen Kompetenz zu Fragen der Äußeren Mission zum Direktor der "Leipziger Mission" ernannt. Außerdem übernahm er 1912 - nachdem ihm schon 1909 für seine missionsgeschichtlichen Arbeiten der Dr. theol. h.c. der Universität Leipzig verliehen worden war - die ordentliche Honorarprofessor für neuere Missionsgeschichte und Missionskunde an dieser Universität und hielt bis Sommer 1926 Vorlesungen. Nach seiner Wahl zum Leipziger Missionsdirektor visitierte P. von Juli 1912 bis März 1913 intensiv die Missionsgebiete in Ostafrika und Südostindien. Sein Missionsverständnis lief damals auf eine Symbiose zwischen Kolonialpolitik und Mission heraus, was einerseits harsche Kritik an den "brutalern Kolonialegoisten" (Die Mission in unsern Kolonien: Deutsch-Südwestafrika, 1905, S. III) einschloss, andererseits in einer religiös-ethischen Christianisierung der Kolonialbevölkerung das höchste Ziel dieser Symbiose erblickte.

Durch den I. Weltkrieg erfolgte der tiefste Einschnitt in P.s Lebenswerk wie auch in die gesamte Arbeit der Leipziger Mission. P.s Leistung bestand gerade während und nach dieser Zeit darin, durch klug ausgehandelte Pläne die Leipziger Missionsgebiete an ausländische Missionsgesellschaften zu übertragen (die Schwedische Kirchenmission CSM übernahm 1915 die indischen Missionsstationen, die amerikanische Augustanasynode 1921/1922 die Stationen in Ostafrika), um einen möglichst reibungslosen Fortgang der Mission zu gewährleisten, aber auch die Ansprüche der Leipziger Mission auf diese Arbeitsfelder nach dem Krieg wieder geltend machen zu können. Innerhalb Deutschlands wurde Paul zur wohl wichtigsten Person eines Hilfsausschusses, der - vom nordamerikanischen National Lutheran Council ins Leben gerufen - zwischen 1919 und 1926 Hilfeleistungen für die notleidende deutsche Bevölkerung sowie für die Lutheraner in Russland (bzw. Sowjetunion) koordinierte und verteilte.

P. stand als gemäßigt konservativer Lutheraner ökumenischen Bestrebungen verschiedener protestantischer Kirchen in den Missionsgebieten kritisch gegenüber und förderte stattdessen eine engere Verbindung der zahlreichen lutherischen Missionsgesellschaften. So kam es im Juli 1920 - entscheidend durch ihn angeregt - zur ersten Lutherischen Missionskonferenz in Leipzig. In Verbindung mit dem nordamerikanischen National Lutheran Council ist es wesentlich P.s Mitwirkung und Initiative zu verdanken, dass dieser Zusammenkunft der erste Lutherische Weltkonvent 1923 in Eisenach folgte, der eigentliche Vorläufer des 1947 gegr. Lutherischen Weltbundes. Kurz nach seinem Rücktritt vom Missionsdirektorat wurde P. zum Vorsitzenden des Leipziger Missionskollegiums gewählt und erlebte so noch die beginnende Nachkriegsrenaissance der Leipziger Mission mit.


Quellen

  • Archiv des Leipziger Missionswerkes (LMW), Akte: Missionsleitung - Direktoren II -Prof. D. Carl Paul; Akte: Konferenz der Luth.-Miss.- Direktoren, 1920.

Werke

  • Die Mission in unsern Kolonien. 4 Hefte: Togo und Kamerun, Leipzig, 1898;

  • Deutsch-Ostafrika, Leipzig, 1900;

  • Deutsch-Südwestafrika, Dresden, 1905;

  • Die deutschen Südsee-Inseln, Dresden, 1908;

  • Die Leipziger Mission daheim und draußen, Leipzig, 1914 (Hrsg.);

Literatur

  • Ihmels, Carl: Die Leipziger Mission unter dem Direktorat von D. Paul, in: Neue Allgemeine Missionszeitschrift 1927 (Heft 2/3), S. 35-48;

  • Oepke, Albrecht: D. Carl Paul als lutherischer Missions- und Kirchenmann. In: Lutherisches Missionsjahrbuch 1929, S. 50-60

  • (Bibliografie); Amtskalender für die Geistlichen der Sächsischen evang.-luth. Landeskirche 1929, S. 134;

  • Cordes, Karl August: D Paul, in: Evangelisch-Lutherisches Missionsblatt 1927, Nr. 2, S. 25-30; Lutherisches Missionsjahrbuch 1928, S, 1 u. S. 4-5 (P u. Bibliografie in Auswahl);

  • Fleisch, Paul, Hundert Jahre Lutherischer Mission, Leipzig, 1936.

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Niemand kann zwei Herren dienen

Von Michael Hanfstängl, Leipzig 2007

Mission und Kolonialismus sind nicht zwei Seiten einer Medaille 

War die christliche Mission der verlängerte Arm der Kolonialbehörden? Für die öffentliche Meinung scheint der Fall ziemlich klar: Mission und Kolonialismus sind zwei Seiten einer Medaille. Auch im innerkirchlichen Raum begegnen wir einer gewissen Verlegenheit, wenn es um dieses Thema geht.

Wie verhalten sich Mission und Kolonialismus zueinander? Hat sie die Seelen kolonisiert und die Einwohner in den Kolonien gelehrt, der neuen Obrigkeit Gehorsam zu leisten?

Je mehr ich mich mit Missionsgeschichte befasse, umso mehr überrascht mich, wie deutlich die Leipziger Mission kolonialkritisch gearbeitet hat. Carl Paul, Direktor von 1911 bis 1913, hat in aller Entschiedenheit gegen den Kolonialismus Stellung genommen. Seinen Vortrag im "Lehrkurs" vom September 1913 "Das Verhältnis unserer Mission in Deutsch-Ostafrika zur Kolonisation" hat er 1914 im Buch "Die Leipziger Mission daheim und draußen" veröffentlicht. Er schreibt: "Vielen Europäern ist es ein Dorn im Auge, dass der Missionar häufig als Verteidiger der Eingeborenen auftritt. Unsere Missionare haben das bei Behandlung der Arbeiterfrage getan und zuletzt bei der Sperrung des Dschaggalandes gegen den Zuzug weißer Kolonisten. Dass dieses Eintreten für die Interessen der Eingeborenen manchen Kolonisten lästig ist, kann man verstehen; denn es wird damit dem Herrenmenschentum und der rücksichtslosen Ausnutzung des Landes und Volkes eine Schranke gezogen. […] Ein solcher Verteidiger sieht sich um des Gewissens willen genötigt,  seine Stimme zu erheben, mag sie nun gern gehört werden oder nicht, solange nicht überall vertrauenswürdige Eingeborenen-Kommissare bestellt sind oder die Rechtslage der Farbigen auf andere Weise sichergestellt ist."

Hier wird das "Herrenmenschentum" klar beim Namen genannt, die rassistische Herabwürdigung und rücksichtslose Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung. Bemerkenswert ist, dass Direktor Paul eine Perspektive aufzeigt, die die Rolle der Missionare als "Verteidiger der Eingeborenen" mittelfristig überflüssig machen soll. Denn er traut den Einheimischen zu, dass sie selber in der Lage sind, für ihre Rechte einzutreten, sobald ihre Rechtslage sichergestellt ist und sie sich über "vertrauenswürdige Eingeborenen-Kommissare" Gehör verschaffen können. Heute würden wir zu einem solchen Ansatz sagen: "Hilfe zur Selbsthilfe", ja sogar Verwirklichung der Menschenrechte, deren Deklaration durch die Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 sich in diesem Jahr zum 60. Mal jährt.

Missdeutung, dass Schwert und Kreuz miteinander im Bunde stehen

Direktor Paul kritisiert die einseitige Berichterstattung der Medien: "Leider nehmen die in Deutsch-Ostafrika erscheinenden Zeitungen noch immer in einseitiger Weise Partei für die Ansiedler. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis in diesen Organen der öffentlichen Meinung auch die berechtigten Interessen der Eingeborenen ihre Vertretung finden." Damit reflektiert er die brisante Fragestellung des gleichberechtigten Zugangs der Benachteiligten zur öffentlichen Meinungsbildung. Bei der Neugründung von Missionsstationen ging die Leipziger Mission sehr bewusst vor: "Die evangelische Mission hat es nicht gern, zugleich mit der militärischen Besetzung des Landes sich irgendwo niederzulassen. Es liegt die Missdeutung seitens der Eingeborenen gar zu nahe, dass Schwert und Kreuz miteinander im Bunde stehen, das Land zu erobern." Durch die getrennte Lage sollte deutlich werden, "dass die Missionsstation und die Militärstation zwei verschiedenen Herren dienen." So zogen die ersten Leipziger Missionare beispielsweise nicht nach Moshi, sondern nach Madschame, weil in Moshi die Militärstation ausgebaut wurde.

Carl Paul sieht eine "grundsätzliche Verschiedenheit" von Mission und Kolonialismus, die zu offenen Konflikten führt. Auf dem Höhepunkt deutschen Nationalstolzes am Vorabend des Ersten Weltkrieges prangert er 1913 die koloniale Ausbeutung an: "Die Kolonialpolitik ist in ihrer Reinkultur eine ausgesprochene Egoistin. […] Das Mutterland will von den Kolonien zehren, sich auf deren Kosten bereichern. Die Mission stellt sich in einen ausgesprochenen Gegensatz zu solchen egoistischen Bestrebungen. Sie will aus den Kolonien für sich nichts holen; sie will etwas, und zwar ein hohes Gut, in die überseeischen Gebiete hinaustragen." Wenn Mission und Kolonialpolitik sich begegnen, "geraten sie leicht in eine gewisse Gegnerstellung, zumal wenn die Kolonisatoren jenen selbstsüchtigen Standpunkt mit aller Schärfe und Rücksichtslosigkeit geltend machen. Da sieht sich die Mission unversehens in die Rolle des Anwalts der Eingeborenen gedrängt, die sie nicht vergewaltigen lassen will. So kommt es zur Gegnerschaft zwischen beiden. Wir haben diesen Vorgang in den letzten Jahrzehnten wiederholt erlebt."

Dieser Vortrag Direktor Pauls und seine Veröffentlichung fanden fast zeitgleich mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig statt. Es ist nur drei Kilometer vom Missionshaus entfernt und erinnert an die Völkerschlacht vom Oktober 1813. Am Treppenaufgang des Monuments ist der Erzengel Michael als "Kriegsgott der Deutschen" dargestellt, der die kämpfenden Soldaten ermutigt mit der Zusage: "Gott mit uns." Unübersehbar war daran seit 1894 gebaut worden, während die Leipziger Mission seit 1893 Missionare nach Deutsch-Ostafrika entsandte und regelmäßig über das Wachstum der lutherischen Kirche am Kilimandscharo berichtete. Das Völkerschlachtdenkmal sollte nach den Worten des Schriftstellers Ernst Moritz Arndt ein "ächt germanisches und ächt christliches" Denkmal werden, "groß und herrlich" "wie ein Koloss, eine Pyramide, ein Dom in Köln". Im Inneren dieses Nationaldenkmals, in der sogenannten "Ruhmeshalle", zeigen vier Figuren die nun propagierten deutschen Tugenden: Volkskraft, Glaubensstärke, Tapferkeit, Opfermut. Zeitgenossen beschrieben die Wirkung dieses gewaltigen Raumes so: "Alles trägt den Stempel feierlicher innerlicher Sammlung und würdiger Hingabe an das große Ziel: Entfesselung des Vaterlandes aus den Banden der Knechtschaft durch Entfesselung der edelsten geistig-moralischen Kräfte des Volkes."

Wenn Direktor Paul das neue völkische "Herrenmenschentum" kritisierte, so hatte er mit dem gigantischen Völkerschlachtdenkmal ein unübersehbares Anschauungsobjekt vor Augen. Das Monument versucht eine Vereinnahmung Gottes, der Partei ergreifen soll im Kampf der Deutschen gegen ihre Feinde.

Die Menschen am Rande der Weltpolitik sind Christus bis unter das Kreuz gefolgt

Im Missionshaus wurde ebenfalls 1913 ein völlig anderes Bildprogramm verwirklicht, das in Erinnerung ruft, wo Gott wirklich zu finden ist: die Kreuzigungsgruppe in unserer Kapelle. Gott begegnet uns im Gekreuzigten. Er leidet mit uns und für uns. Er respektiert Menschen anderer Hautfarbe und Rasse. Unter seinem Kreuz hat der Künstler August Schreitmüller einen Krieger der Dschagga vom Kilimandscharo und eine indische Mutter mit ihrem Kind aus Tamil Nadu dargestellt. Die Menschen am Rande der Weltpolitik, die Ausgebeuteten in den Kolonien sind Christus bis unter das Kreuz gefolgt. Wer sich von ihm in die Nachfolge rufen lässt, wächst in die neue Gemeinschaft gelebter Versöhnung hinein, die er zwischen den Völkern stiftet.

"Denkt daran, dass ihr dem Reich Gottes und nicht dem Kaiserreich dient"

Waren Mission und Kolonialismus zwei Seiten einer Medaille? Der 2004 erschienene Kleine Evangelische Erwachsenen Katechismus der Vereinten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands nutzt ein Beispiel von 1893, um zu zeigen, dass das Vorurteil nicht stimmt: "Der Direktor der Leipziger Mission gab den ersten nach Ostafrika entsandten Missionaren die Weisung mit: ’Denkt daran, dass ihr dem Reich Gottes und nicht dem Kaiserreich dient.’"

Weitere Beiträge von Michael Hanfstängl


Die Konferenz der deutschen Missionsgesellschaften in Berlin am 11. und 12. September 1919

Allgemeine Missions-Zeitschrift, Berlin 1910, Seite 249 - 253

In ernster Zeit traten zum vierten Male seit dem Ausbruche des Weltkrieges die Vertreter der deutschen evangelischen Missionsgesellschaften zusammen, um die durch die schwere Lage gebotenen Schritte in gemeinsamer Beratung zu überlegen. Fast alle Gesellschaften, auch die, deren Sitz im besetzten Gebiet liegt, hatten Vertreter gesandt; und es war wohl die allgemeine Stimmung, dass eine gründliche Aussprache der schwebenden Missionsfragen dringend erwünscht sei.

Der Vorsitzende des Ausschusses, Missionsdirektor D. Hennig, begann die Verhandlungen mit einem Rückblick auf die Ereignisse seit der letzten Tagung, die im September 1918 wesentlich unter dem Eindruck der Rüste für den bevorstehenden Friedensschluss gestanden hatte; er wies hin auf den Dresdener Kirchentag, die Beteiligung der Missionsleute an ihm, und die einmütig gefasste Missionserklärung; auf die neuen großen Aufgaben zur religiösen Pflege des Auslandsdeutschtums im Zusammenhang mit der großen zu erwartenden Auswanderung; auf die immer dringender werdenden Evangelisationsaufgaben an dem heimischen Kirchenvolk als dem Lebensboden der Missionsarbeit auf die Heimkehr der erschöpften Missionsgeschwister, oft nach jahrelangem Schmachten hinter dem Stacheldraht in tropischem Klima; aus die allmähliche Wiederanknüpfung der Verbindung mit den Missionsfeldern seit der Wiederaufnahme des Postverkehrs und der Erleichterung der Zensur; auf das. Bedürfnis der vertriebenen Missionsgeschwister, die in jahrzehntelangem, mühsamen Fleiß auf ihren Arbeitsgebieten gesammelten Erfahrungen und sprachlichen Arbeiten trotz ihrer Verdrängung zum Nutzen der Weiterführung der Arbeit und der wissenschaftlichen Forschung zu Ende zu führen; auf den schon wiederholt geäußerten Wunsch, möglichst bald eine chronologische Überschau über das schwere Kriegserleben der deutschen Gesellschaften abzufassen u. a. m.

Die beiden Hauptverhandlunsgegenstände bildeten naturgemäß dle "Lage der deutschen Mission infolge des Friedensschlusses" und die Frage, "welche praktischen Folgerungen sich aus dieser Zwangslage ergeben"; zum ersten hielt D. Axenfeld, zum anderen D. Paul das einleitende Referat, D. Axenfeld führte in seiner bekannten großzügigen Weise ein in das ganze verworrene Gewebe der deutschen und der internationalen Politik; er wog sorgfältig die Tragweite des Missionsparagraphen 438 und die wahrscheinliche Differenzierung des Grades der Durchführung dieser brutalen, antideutschen Missionspolitik seitens der verschiedenen feindlichen Mächte ab; er skizzierte die Stellungnahme der christlichen und der Missions» kreise zu dieser Vergewaltigung der deutschen Missionen in den neutralen Ländern, in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten. Die Christen der neutralen Länder, zumal Schwedens und der Niederlande, haben immer tatkräftiger ihre Stimme dawider erhoben und haben sich nicht nur für eine Schonung der deutschen Missionen, sondern noch wirksamer für den Grundsatz der Übernationalität, der Wegfreiheit und der Lauterkeit der christlichen Mission überhaupt eingesetzt. In Großbritannien ist wohl eine kleine, tätige Richtung vorhanden, die mehr oder weniger gegen den brutalen Gewaltfrieden, wirksamer und einhelliger gegen die Verdrängung der deutschen Mission Widerspruch erhebt; die von uns bereits mitgeteilte Botschaft von 44 führenden Missionsleuten (S. 218 f.) ist eine sympathische Stimme aus diesem Lager. Aber weitaus die Mehrzahl der britischen Missionsführer - und vielfach die maßgebenden - teilen nicht nur die allgemeine englische Kriegsauffassung, wonach alles Deutsche, auch die deutschen Missionen, durch die willkürliche, von der Herrschsucht eingegebene Entfesselung des Weltkrieges und die allen Gesetzen des Völkerrechts und des christlichen Gewissens Hohn sprechende Art der Kriegführung den Anspruch auf Schonung verwirkt haben und auf Berücksichtigung erst rechnen können, wenn sie sich öffentlich davon losgesagt und Buße getan haben; sie sind auch überzeugt, dass die von der britischen Regierung eingeschlagene Missionspolitik, die zu einer weitgehenden Regierungskontrolle aller christlichen, vor allem aller nicht angelsächsischen Missionen führt, unter den gegebenen Verhältnissen richtig sei und von den beteiligten Missionen rückhaltlos anerkannt werden müsse. In den Vereinigten Staaten dagegen macht sich, vielleicht unter dem starken Eindruck, dass dank der Schwäche des Präsidenten Wilson der Ertrag des Krieges hinter den hochfliegenden Erwartungen kläglich zurückgeblieben ist, auch in den christlichen Kreisen eine starke Ernüchterung geltend. Erfreulich ist es, dass die Konferenz der amerikanischen Missionsgesellschaften eine Unterkommission eingesetzt hat für "die deutschen Missionen zu dem Zweck, angemessene Vorsorge für ihre gegenwärtigen und ihre sich in Zukunft entwickelnden Bedürfnisse zu treffen." Vorsitzender dieses Ausschusses ist der den deutschen Missionsführern bekannte und sympathische D. Arthur Brown. Der Ausschuss hat an die deutschen Missionsleiter eine kurze Botschaft gerichtet, in der es heißt: "Wir wünschen Ihnen vor allem zu versichern, dass unsere Absicht nicht ist, irgendwie die Jurisdiktion oder Aufsicht über die jetzt oder ehe» dem in der Pflege der deutschen Gesellschaften befindlichen Missionen in Anspruch zu nehmen. Unser einziger Wunsch ist, vom Standpunkt des brüderlichen Interesses Ihnen Arbeitsgemeinschaft zu leisten und, soweit es in unseren Kräften steht, das durch den Krieg in den letzten Jahren so schwer in Mitleidenschaft gezogene Werk wiederherzustellen und seine Sicherheit zu gewährleisten. Dafür erbitten wir Ihren Rat. Wir ersuchen Sie, uns mitzuteilen, in welcher Richtung und in welchem Umfange unser Ausschuss Ihnen und den anderen beteiligten Gesellschaften dienlich sein kann, zumal während dieses Zeitraums außerordentlicher Verhältnisse, die wie wir ernstlich hoffen, nur von kurzer Dauer sein werden."

Es war erfreulich, dass der Versammlung neuere briefliche Nachrichten vor» lagen, wonach D. Arthur Brown sich entschlossen hat, an der im Haag vom 30. September bis 3. Oktober stattfindenden Konferenz des "Weltbundes für internationale Freudschaftsarbeit der Kirchen" teilzunehmen und im Anschluss daran eine Zusammenkunft mit den deutschen Missionsleitern zu vereinbaren. Wir haben ihn dazu eingeladen. - Von der japanischen Regierung ist zwar zu hoffen, dass sie auf eine Anwendung' des § 438 in vollem Umfang verzichten wird; aber es ist nicht wahrscheinlich, dass sie sich zu einer öffentlichen Erklärung zugunsten der deutschen Missionen verstehen wird. Die japanische Politik ist von jeher vorsichtig gewesen, und sie weiß, dass Japan sich jetzt in einer schwierigen Lage. zu mal gegenüber den Vereinigten Staaten, befindet, und diese Spannung kommt auch im Zusammenhang mit der Zurückdrängung der amerikanischen Missionen in Korea zum Ausdruck. Übrigens sind Verhandlungen des Papstes mit Japan bereits im Gange. Die japanische Regierung hat zu diesem Zwecke einen besonderen Gesandten, einen frommen Katholiken, nach Rom geschickt. In China scheinen vorläufig keine weiteren Heimsendurgen der Missionare, auch keine Beschlagnahme des deutschen Missionseigentums zu erwarten zu sein. Aber es ist eine höchst unerfreuliche Aussicht, wenn sich der chinesische Gesandte in Kopenhagen dahin geäußert hat, die deutschen Missionen würden voraussichtlich unter der Oberaufsicht von Entente-Missionaren fortgesetzt werden. Bei dem großen Gewicht, welche das "Gesicht" (men) bei der chinesischen Bevölkerung hat, würde das eine verhängnisvolle Schwächung der deutschen Mission bedeuten. Be», sonders schlimm scheint sich die Wirkung der Lage nach dem Friedensschluss auf die Finanzwirtschaft der deutschen Missionen zu gestalten. Die beängstigende Entwertung der deutschen Valuta daheim wirkt mit der, Drohung der Beschlagnahme des Missionseigentums, draußen in geradezu verhängnisvoller Weise zusammen. Durch den jetzt wieder zugelassenen und allmählich wieder in Gang kommenden Briefverkehr erlangen die Missionsleitungen nach und nach Kenntnis von den während des Krieges draußen zur Fortführung der Arbeit aufgenommenen Schulden. Als Bürgschaft für 125.000 Dollar, die in Kanton aufgenommen sind, mussten in Deutschland 1.600.000 Mark Kriegsanleihe hinterlegt werden. In Südafrika erwartet eine Mission zwischen 60 und 75.000 Pfund Sterl. auf gelaufene Schulden zu haben. Müssten sie zum gegenwärtigen Kurswert sofort bezahlt werden, so würde das einen Betrag von 5 bis 6 Millionen Mark ausmachen. Das sind unerschwingliche Summen, unter denen die deutsche Missionsgemeinde zusammenbrechen würde. Darum wird es sich indes voraussichtlich nicht handeln. Es werden Mittel und Wege gesucht werden, um die sofortige Hinaussendung großer Geldsummen nach Afrika oder Asien zu vermeiden, entweder durch Hinterlegungen oder durch Kreditnahme, im neutralen oder feindlichen Auslande bis zur Wiederherstellung eines leidlich normalen Kurses der deutschen Mark der auf anderen Wegen, die Gott seinerzeit zeigen wird. Bekanntlich ist in dem zweiten Entwurf des Friedensvertrages das Zugeständnis gemacht, dass die Treuhänderräte, welche das eingezogene Missionsvermögen verwalten, derselben Konfession wie die betroffene Gesellschaft angehören müssen. Da entsteht die Frage, ob nur der Unterschied zwischen evangelisch und katholisch gemeint ist oder ob die verschiedenen Konfessionen des Protestantismus in gleicher Weise berücksichtigt werden. Es wäre für die deutschen Missionen von großer Wichtigkeit, wenn z. B. die lutherischen Missionen nur unter die Obhut von lutherischen Treuhänderräten gestellt würden.

Missionsdirektor D. Paul zog aus der von Axenfeld gezeichneten zusammenfassenden Lage der deutschen Missionen die praktischen Folgerungen inbezug auf die eigentümlichen Ausgaben der Pflege des heimatlichen Missionslebens in der gegenwärtigen Notzeit; inbezug auf die Haltung die wir gegenüber den Christen des neutralen und feindlichen Auslandes einzunehmen haben usw. Da durch den Raub des deutschen Kolonialreiches der koloniale Einschlag aus dem deutschen Missionsmotiv gänzlich wieder entfernt sei, seien wir wieder in der glücklichen Lage, den rein religiösen Missionsgedanken herauszuarbeiten. Die literarische Vertretung der Mission in der Tagespresse und in der Broschürenliteratur habe vor allem im Inlande, aber auch in der Bearbeitung des neutralen Auslandes empfindlich zu wünschen übrig gelassen. Sorgfältige Erwägung verlange die Verwendung der freigewordenen Missionskräfte im heimischen Kirchendienst, wobei die sächsische Regierung den aus dem Leipziger Missionshause hervorgegangenen Missionaren ein bemerkenswertes Entgegenkommen gezeigt hat. Ungeklärt sei die Frage, ob und wieweit die Missionen zu der drohenden allgemeinen Vermögensabgabe herangezogen werden, zumal da die etwa während des Krieges angesammelten Rücklagen in den meisten Fällen zur Aufrechnung gegenüber den während des Krieges auf den Missionsfeldern aufgelaufenen Schulden entfernt nicht ausreichen. Es sei erwünscht, dass eine Beratungsstelle für die Berechnung der wirtschaftlichen Kriegsschäden der Missionen in den deutschen Kolonien eingerichtet werde.

An diese beiden Hauptreferate, die im Mittelpunkt der Tagung standen, schloss sich eine ausgedehnte Besprechung, die zum überwiegenden Teil den vielen wertvollen Anregungen zustimmte und im Einzelnen die Linien stärker zeichnete oder gewisse Punkte kräftiger unterstrich.

Mehr theoretisch und informatorisch waren zwei weitere Vorträge von D. Johannes Warneck und D. Richter über neue Missionsfelder, die etwa für die deutschen Missionsgesellschaften inbetracht kommen würden, falls einige von den alten Missionsfeldern infolge des Friedensvertrags den deutschen Gesellschaften genommen werden sollten. Alle deutschen Gesellschaften sind entschlossen, ihre alten Felder so lange wie irgend möglich festzuhalten und eben nur der brutalen Gewalt zu weichen. Immerhin hat es etwas Tröstliches, zu wissen, dass eine Reihe von Missionsfeldern bereitstehen, um etwa frei werdende deutsche Missionskräfte in Anspruch zu nehmen. Es kommt dabei vielleicht in erster Linie die weite Inselflur des holländischen Indonesien in Betracht, die den Vorzug hat, dass sie in den Strudel des Weltkrieges nicht hineingezogen ist. In zweiter Reihe würden etwa neue Missionsfelder in China stehen, wo in den südlichen wie in den mittleren Provinzen bequeme Anknüpfungspunkte an ältere deutsche Arbeiten vorhanden sind. Auch in Japan, das von der deutschen Mission bisher allzu stiefmütterlich behandelt ist, wäre es erwünscht, wenn in den Tausenden von Ackerbauer- und Fischerdörfern, auf dem flachen Lande und längs den Küsten eine deutsche Mission mit größeren Mitteln einsetzen könnte. Begreiflicherweise suchten sich die Missionsleiter über derartige Missionsgelegenheiten auf diesen und anderen Missionsfeldern eingehend auch im engeren Kreise zu unterrichten, obgleich fast von allen Seiten betont wurde, daß die Zeit zu Entscheidungen dieser Art noch nicht gekommen sei.

Ein wertvoller Einschlag in den Verhandlungen war der Besuch von zwei Amerikanern, Mitgliedern einer Fünfer-Kommission, die das amerikanische Nationalkonzil der lutherischen Kirchen nach dem Kontinent gesandt hat, teils um die dringendsten Nöte der lutherischen Glaubens» genossen in den verschiedenen Ländern in Erfahrung zu bringen, die amerikanische Hilfe erheischen, teils mit den deutschen Missionsgesellschaften zu beraten, denen die amerikanischen Kirchen Hilfe zu leisten bereit sind. Die beiden Herren sprachen mit großer Herzlichkeit von der Not des Deutschen Reiches und der deutschen Kirche und von der Bereitwilligkeit der amerikanischen Glaubensgenossen, in einer den deutschen Missionsgesellschaften erwünschten Weise zu Hilfe zu kommen. Wie bisher schon die schwedische lutherische Kirche der Leipziger evangelisch-lutherischen Missionsgesellschaft wertvolle Dienste geleistet hat, ferner die frühere, amerikanische Generalsynode der Breklumer Mission in Jeypur, die Ohio-Synode der Hermannsburger Mission im Telugulande, so hören wir, dass jetzt auch mit anderen deutschen Missionen von amerikanischen Kirchen oder Synoden Verbindung en betreffs Übernahme des einen oder anderen deutschen Arbeitsfeldes angeknüpft werden. Die Konferenz begrüßte diese ersten Boten der nordamerikanischen Glaubensgenossen mit dankbarer Freude in ihrer Mitte und wünscht ihren Verhandlungen mit den einzelnen deutschen Missionsgesellschaften Gottes Segen.

Es waren zwei anstrengende, aber überaus anregende Tage, welche die Vertreter der deutschen Missionsgesellschaften in ernster Beratung vereinigten. Die Not des Vaterlandes, der Kirche, der Missionen ließ die Freunde sich enger aneinander schließen, die Einmütigkeit im Geist trat in den Verhandlungen wohltuend zutage, zugleich die getroste Hoffnung, dass der Herr der Mission sein Werk nicht preisgeben und seine willigen Diener zu neuer Arbeit in seinem Weinberg berufen werde.


Erinnerung an den Lorenzkircher Pfarrer und Leipziger Missionsdirektor Dr. Carl Paul

Vortrag in Lorenkirch am 20.08.2011 von Jobst Reller, Hermannsburg

Zunächst ein herzlicher Dank, dass Sie mich - einen gegenwärtigen Hermannsburger Lehrer am dortigen Missionsseminar aus dem niederen Sachsen zwischen Hamburg und Hannover - zu diesem Vortrag ins richtige Sachsen eingeladen haben! Ich habe durch die Beschäftigung mit Carl Paul viel gelernt. Zunächst vermutete ich, dass es keinerlei Beziehungen gäbe, zwischen Carl Paul und Hermannsburg, und entdeckte, dass es sogar recht entscheidende Begegnungen mit Hermannsburg gab, die etwas mit dem besonderen Charakter des Hermannsburger Missionsfestes und dann auch mit der Gründung des lutherischen Weltkonventes und damit letztlich des lutherischen Weltbundes zu tun haben. Und dann darf am Ende ein Dank an die "Feuerseele" des Lorenzmarktes und seines kirchlichen Teils nicht fehlen, an Herrn Conrad Weidner. Dank auch an Ihn!

Eine Erinnerung an Dr. Carl Paul an diesem Ort und zu diesem Anlass scheint dasselbe zu sein wie Eulen nach Athen zu tragen. Viele diesbezügliche Aufsätze finden sich im Internet auf der Homepage der Nachkommen des Indienmissionars Gäbler und seiner Frau, einer Tochter von Paul. Da scheint alles gesagt, durch die Missionsdirektoren Michael Hanfstängl und Hans Peter Große, durch Martin Weishaupt, durch August Cordes, durch den Neutestamentler Albrecht Oepke, durch Thomas Markert. Einem großen Lorenzkircher ist ein gebührendes digitales Denkmal bereits gesetzt. Auf diese Arbeiten stütze ich mich. Neues ist also nicht zu erwarten, vielleicht überrascht allerdings manchmal ein Hermannsburger Blickwinkel.

Was will ich tun:

I. Eine Einleitung geben,
II. an ihn erinnern in Form eines Lebensabrisses,
III. Carl Paul's Größe, aber auch Grenze zu beschreiben suchen,
IV. Carl Paul und die Mission unter Muslimen bedenken und
V. einen kurzen Schluss formulieren.

I. Eine Einleitung geben

Ich verstehe diesen Vortrag als Erinnerung, als Wiederholung dessen, was mit Carl Paul verbunden ist, der hier am 4. Februar 1857 geboren wurde, der hier von 1887 - 1911 24 Jahre lang Pfarrer war in der dritten Generation und der auf diesem Friedhof, wo er selbst einmal eine Zypressenallee angelegt haben soll, ja auch 1927 seinen Gedenkort gefunden hat. Die Lorenzkircher Pastorendynastie Paul ist interessant, weil es in Hermannsburg etwas Ähnliches gab: drei Angehörige der Familie Harms dienten dort von 1817 - 1878 als Pfarrer: Vater Christian, der Sohn und Missionsgründer Ludwig und dann schließlich sein Bruder Theodor. Und hierin Lorenzkirch hat es etwas Ähnliches gegeben, ein gewissermaßen in der Familie vererbtes Pfarrhaus, vererbte Leitung einer Gemeinde, eine Art lutherisches Kalifat. Das spricht dafür, dass doch auch Vertrauen geherrscht haben muss - zwischen Gemeinde und Pfarrfamilie, ohne dass ich zu sehr in's Schwärmen geraten will. Denn eine Kirche könnte auch zur Privatkirche eines Pfarrers und nicht mehr einer Gemeinde werden. Dann liefe es falsch – meiner Meinung nach.

II. Eine Erinnerung an Carl Paul in Form eines Lebensabrisses

Carl Paul wurde am 4.2.1857 als Pastorensohn in Lorenzkirch geboren, war während seiner Gymnasialzeit ab 1870 Thomaner in Leipzig - die Liebe zur Kirchenmusik soll ihm sein Leben über geblieben sein. Nach dem Studium der ev. Theologie in Tübingen und Leipzig wurde er von 1882-1884 Inspektor im Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig, schließlich 1884-7 Pfarrer in Rothschönberg und dann wieder an seinem Geburtsort. In Rothschönberg heiratete er die Pfarrerstochter Elisabeth Fritzsche. Beiden Eheleuten wurden vier Töchter und zwei Söhne geboren. Ein Sohn fiel noch am Ende des ersten Weltkriegs. Aus einem Missionskreis für den Kirchenbezirk Meißen entstand die Sächsische Missionskonferenz. Carl Paul veröffentlichte unzählige Artikel zu Missionsthemen, auch etliche Bücher. Ich nenne: "Zur Mission in den deutschen Kolonien" mit den Teilbänden "Togo" 1898, "Kamerun" (1898), "Deutsch-Südwestafrika" (1904), "Südseeinseln (1908) und "Die Leipziger Mission daheim und draußen" (1913) und "Das Verhältnis unserer deutsch-ostafrikanischen Mission zur Kolonisation" (1914) "Christentum und Islam im Wettbewerb um die afrikanischen Negervölker" (1914) "Die Welt des Islam als Missionsproblem" (1923).

1911 wurde Paul als erster Sachse zum Direktor der Leipziger Mission, und wenig später 1912 zum ordentlichen Honorarprofessor für Missionswissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Leipzig berufen. Zur gleichen Zeit berief die Fakultät als zweite in Deutschland erstmalig einen Religionsgeschichtler, den späteren Erzbischof Schwedens, Nathan Söderblom, der ebenfalls ab 1912 in Leipzig lehrte. Dass es in einer schwierigen Lage im Missionsgebiet in Indien zu Einigungen mit der dänischen und der schwedischen Mission gekommen war, ist Pauls Verdienst, Auswirkung seiner Gabe, verschiedene Interessen zu versöhnen. Nathan Söderblom schrieb am 20.10.1927 nach dem Tode Pauls an das Missionswerk in Leipzig: "Ihrem Werke hat der Heimgegangene große Dienste geleistet, und auch wir hier in Schweden werden nicht vergessen, was er als ihr Repräsentant und wir in ernster, schwerer Zeit gemeinsam durchlebt haben."

Die Gemeinde blieb Paul auch als Missionsdirektor ein Anliegen. Er begründete das Konfirmandenblatt der Leipziger Mission, auf seine Anregung hin wurden die Gebäude hinter dem Missionshaus im Garten errichtet, der Betsaal mit dem besonderen Kruzifix, unter dem ein Krieger der Dschagga vom Kilimandascharo und eine indische Mutter mit Kind aus Tamilnadu stehen, der Speisesaal mit den Wirtschaftsräumen, das Hospiz für Missionare und das Museum. Nimmt man das Kruzifix in Lorenzkirch vom selben Künstler hinzu, wo Frau und Mann zwei Lorenzkircher Gewerke repräsentieren - z. B. die Elbefischerei -, dann lässt sich ein zentrales Element von Pauls Kirchen- und Missionsverständnis leicht erschließen: Menschen vor Ort treten mitten aus ihren Alltagsgewerken dankbar und bittend am Altar Christi als Gemeinde zusammen, wo sie im Abendmahl Christi Erlösungstat am Kreuz für sich erfahren. August Cordes schreibt zum Missionshaus - und das fand ich einfach herrlich: U.a. habe die feine schlichte Art Pauls die aristokratisch erkältend und zurückhaltend wirkende Atmosphäre im Leipziger Missionshaus erwärmt!

III. Carl Paul's Größe, aber auch Grenze

Zunächst möchte ich sagen, was mir erinnernswert scheint, was nicht vergessen werden sollte:

  1. Carl Paul ist einer derjenigen, die das Leben als Pfarrer in einer Gemeinde mit einer übergemeindlichen Arbeit verbinden konnten. Es ist bewundernswert, wie er sich durch eigenes Studium von Missonsblättern in die Wirklichkeit der äußeren Mission hineingearbeitet hat neben, aber auch in aller Gemeindearbeit - die ja durch die Mission sicher dann auch geprägt wurde: die weite Welt kam nach Lorenzkirch -, wie er publiziert hat über dieses Thema. Wie er es nebenher geschafft hat, durch Blumen- und Obstgärten um das Pfarrhaus noch ein kleines Paradies zu schaffen, ist mir aus heutiger Sicht unerklärlich. Und auch seine geistliche Existenz - sein Beichtvater und Seelsorger beerdigte ihn damals, hat mich beeindruckt. Wie hat sich die Welt offenbar seitdem gewandelt. Es muss weniger schnell schnelllebig gewesen sein vor 100 Jahren, als Carl Paul Lorenzkirch verließ, um in Leipzig Missionsdirektor zu werden.
     

  2. An Carl Paul wird mir deutlich, wie falsch die auch von Helmut Schmidt, unserm Altbundeskanzler, neuerlich wieder vertretene These ist, dass Mission bedeutet hat, fremden Völkern einen fremden Glauben, eine fremde Kultur überzustülpen und ihnen ihre Freiheit zu nehmen. Solche Perversionen von christlicher Missionen hat es gegeben - ohne Frage, aber sie dürfen nicht verallgemeinert werden. An Carl Paul wird deutlich, wie jemand in der Phase des Kolonialismus - eine historische Phase, die wir glücklicherweise überwunden haben -, die Chance für die Verkündigung des Evangeliums ergreift in Gemeindeaufbau, in Evangelisation, in Bildungsarbeit in der Schule, wie zugleich aber sehr bewusst bleibt, dass das Kreuz Jesu Christi und das Schwert der Eroberungsmacht anders als im Mittelalter nicht zusammengehören, wie Missionare Einheimische gegen Kolonialegoisten und Siedler verteidigen. Man spricht heute von "Advocacy", einer Art Verteidigerrolle, die die Mission als wichtige Aufgabe für Randgruppen in den Gesellschaften der Partnerkirchen wahrnimmt.
     

  3. An Carl Paul wird mir deutlich, wie er im Rahmen seiner lutherischen Konfession vor und nach dem ersten Weltkrieg die Chancen internationaler Zusammenarbeit ergriffen hat, so dass aus einem amerikanischen Hilfswerk für das an den Lasten des verlorenen Krieges schwer tragenden Deutschland, einer lutherischen Missionskonferenz 1923 mit dem lutherischen Weltkonvent der Vorläufer des lutherischen Weltbundes entstehen konnte, der dann allerdings erst nach dem zweiten Weltkrieg 1948 gegründet wurde. Die Kunst, das Mögliche in einer Situation zu tun, die muss er beherrscht haben.
     

  4. An Carl Paul fasziniert mich, dass sein Weg zur Mission nicht eine Quelle hatte. Als Hauslehrer in Bremen bei einem frommen Großkaufmann über zwei Jahre lang - er hieß Vietor und war reformierter Konfession - packte ihn die Liebe zur Mission bei Missionsfesten der Gegend. Es ist eigentlich sehr wahrscheinlich, dass er schon damals das Hermannsburger Missionsfest kennen lernte. Auch ein Prediger Funke in Bremen faszinierte ihn. Begeisterung für die Mission gewann der lutherische Sachse in Bremen bei der norddeutschen Mission unter Missionsinspektor Michael Zahn. Die norddeutsche Missionsgesellschaft feierte übrigens in diesem Jahr wie die Leipziger und die Gossnermission 175 Jahre. Paul blieb später auch Mitglied der in Bremen ansässigen kontinentalen Missionskonferenz. Seine Studienreise nach dem Examen führte ihn nach Hermannsburg, nach Bremen, nach Barmen, aber eben auch zu den Missionsgesellschaften in Holland und England. Und der Kontakt zu den amerikanischen Lutheranern nach dem ersten Weltkrieg, der zum Hilfswerk führte, kam interessanterweise auch bei einem Missionsfest im August 1919 in Hermannsburg zu Stande. Das finde ich natürlich interessant, der ich selbst aus Hermannsburg komme.
     

  5. An Carl Paul werden mir auch Grenzen deutlich. Aber kann ich von Menschen, die zwei Generationen vor mir lebten, Einsichten verlangen, die sich heute nahe legen? Ich denke, nein:

Von seinem literarischen Zugang zur Mission her konnte er sich wohl Zeit seines Lebens keine einheimische Pfarrerschaft oder gar Partnerkirchen in Übersee auf gleicher Augenhöhe vorstellen. Hier liegt eine klare Grenze: Mission heute, christliches Zeugnis kann gar nicht anders als partnerschaftlich auf der Grundlage der einen Taufe erfolgen. Mission heute ist gemeinsame Teilhabe am einen Evangelium von der Nähe des Reiches Gottes in Jesus Christus auf Augenhöhe.
 

Von seinem konfessionellen Standpunkt her war Carl Paul eine ökumenische Gemeinschaft über die konfessionellen Grenzen hinweg etwa beim Abendmahl undenkbar - wie sie sich in den Gedanken der Missionare verschiedener Konfessionen zu einer vereinigten Kirche Südindiens schon vor dem ersten Weltkrieg andeutete und dann nach dem zweiten Weltkrieg Wirklichkeit wurde. Dass die eine weltweite Kirche Jesu Christi schon in dieser Zeit sichtbar werden könnte, dass gemeinsame Feier des Abendmahls trotz bestehender Lehrunterschiede geboten sein könnte, wie es seit der Konferenz von Canberra 1992 formuliert ist, das hatte man auf der Weltmissionskonferenz von Edinburgh zum ersten Mal so gedacht. Aber das war lange Zeit nicht durchsetzungsfähig. Mission, Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus in der technisierten und säkularen Welt, ist heute nicht anders denkbar als als versöhnte Verschiedenheit von Christen, die in Taufe, Predigt und Abendmahl auch über Lehrgrenzen hinweg in Wort und Tat miteinander leben und Zeugnis ablegen.

IV. Carl Paul und die Mission unter Muslimen

Ein letztes Feld möchte ich noch erwähnen. Es zeigt, dass Paul seiner Zeit voraus war: seine Auseinandersetzung mit dem Islam. Eine Veröffentlichung unmittelbar vor und eine unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg liegen vor. Gern wäre ich an dieser Stelle ein bisschen tiefer eingedrungen, hatte gehofft, dass unsere Missionsbibliothek in Hermannsburg diese Bücher hätte. Aber ausgerechnet die fehlen, obwohl das Gegenüber, an manchen Stellen auch Miteinander mit Muslimen ein bis heute drängendes Problem der Mission war und ist. Man kann sagen, dass die im 19. Jh. im Zuge der Entstehung des europäischen Kolonialismus und Imperialismus in Afrika aufblühende christliche Mission im Gegenzug auch Muslime sich ihrer selbst neu hat bewusst werden lassen. Das gestärkte muslimische Bewusstsein, was uns heute noch entgegenschlägt, ist u. a. eine Folge der christlichen Mission. Man musste muslimischerseits eine Kränkung verarbeiten; nachder militärischen und zeitweise auch kulturellen Überlegenheit des Islam über Europa im frühen und hohen Mittelalter schien nun das christliche Abendland die ganze Welt zu erobern, so dass man auf der sog. Kongokonferenz in Berlin 1884/5 Afrika aufteilen konnte. Die Erfahrung von Widerspruch pflegt ja in der Regel auch den Effekt zu haben, dass man sich seiner selbst vergewissert. Die weltweiten Organisationsformen des Islam, ja selbst der Islamismus, sind zu weiten Teilen eine Reaktion auf die christliche ökumenische Missionsbewegung.

Nun muss man wissen, dass sich der Islam über lange Zeit in Afrika und Asien im Wesentlichen friedlich ausgebreitet hat. Muslimische Kaufleute, in Afrika auch Sklavenhändler, gründeten zunächst im Innern Afrikas und bis nach Malaysia Handelsstützpunkte. Zunächst waren allein sie selbst Muslime, dann entdeckten ihre Angestellten, dass es vorteilhafter war, Muslim zu werden.

So wurden Zug um Zug mehr Einheimische Muslime. Der strenge monotheistische Islam befreite auch von Polytheismus und Dämonenängsten. Der Islam hat eine Tendenz, die Welt zu entzaubern. So konnten sich im Lauf von mehr als 1000 Jahren muslimische Bevölkerungsgruppen bilden, die mancherorts auch in der Mehrheit waren, oft jedenfalls die wirtschaftliche und politische Oberschicht. Durch die christliche Mission im 19. Jh. wurden sie radikalisiert, so dass sie sich wie die christliche Mission auch anfingen auszubreiten, bis her nicht entschiedene Stämme zu Muslimen gemacht wurden. Dazu kam, daß das englische Imperium gerne die sog. "indirect rule" anwendete, d. h. man arbeitete nach Möglichkeit mit lokalen oft muslimischen Herrschern zusammen und übte die englische Oberherrschaft indirekt aus, behinderte sogar die christliche Mission. Muslime wurden so zu Wahrern der einheimischen Identität gegenüber den so übermächtigen europäischen christlichen Eroberern. Aus diesem Grund gibt es einen christlichen Küstengürtel und einen muslimischen Inlandsgürtel im Norden Westafrikas. Aus diesem Grund gibt es immer wieder blutige Konflikte zwischen Süd- und Nordnigeria. In Togo und in Kamerun, aber auch im späteren Tansania standen deutsche Missionare genau vor dieser Herausforderung, auch wenn an der Ostküste Afrikas das Verhältnis umgekehrt war: Ein muslimischer Küstengürtel und christliche Mission im Inland. Der Leipziger Neutestamentler Albrecht Oepke (1881-1955), gebürtiger Ostfriese, zuerst am Missionsseminar und dann an der Universität, übrigens ein aus Ostfriesland gebürtiger Sohn eines Hermannsburger Missionsleiters, ist einer der wenigen, die diesen Aspekt der Mission unter Muslimen zur Kenntnis genommen haben. Man höre nur einmal den Titel von Pauls erster Schrift: "Christentum und Islam im Wettbewerb um die afrikanischen Negervölker" (1914). Schwert und Kreuz sind nach Paul auseinander zuhalten, politisch-wirtschaftlich-militärische Eroberung und Mission sind ungleiche Schwestern, auch wenn das in der Geschichte oft anders war und seit den Befreiungskriegen 1813 bis hin zur heutigen Bundeswehr immer noch ein Kreuz das Zeichen deutscher Soldaten ist. Aber hören Sie einmal auf den Titel: "Christentum und Islam im Wettbewerb". Mit diesem Zentralbegriff seines Kollegen Söderblom, des friedlichen Wettbewerbs als Ziel christlichen missionarischen Zeugnisses durch Wort und Tat im Gegenüber und Miteinander mit anderen Religionen, qualifiziert Paul die Mission im Gegenüber, aber auch unter Muslimen und er ist sich voll bewusst, dass die christliche Mission einer muslimischen Mission gegenübersteht, die die gleichen Rechte hat, für ihre Überzeugung zu werben wie die christliche. Die Entscheidung über die Religion liegt bei den Afrikanern selbst! Die zweite Schrift "Die Welt des Islam als Missionsproblem" (1923), fast zehn Jahre später, kann auf Studien und Begegnungen zurückblicken. Auf der Visitationsreise in Indien 1913 lernte Paul eine Spielart des asiatischen Islam kennen, war von Begegnungen und Gesprächen an der muslimischen Universität in Kairo Zeit seines Lebens gefesselt. Oepke urteilt: "Er verfügte auch auf diesem Gebiet über ein solides und allzeit präsentes Wissen. Es war ein Genuss, ihn in seiner feinsinnig beobachtenden Art darüber reden zu hören." Wer Menschen ernst nimmt und sie religiös überzeugen möchte, der muss sie sehr genau zu verstehen versuchen, um zu einem werbenden Gespräch in der Lage zu sein.

V. Schluss

Bedenkt man das Leben und Wirken Dr. Carl Pauls, so beeindruckt mich vor allem eins, die Gabe der feinen und sensiblen Beobachtung, die Fähigkeit zur rechten Zeit die meisten Chancen zu ergreifen, auch Kompromisse zu schließen um der Sache willen. Ich denke, dergleichen Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, Scheuklappen abzulegen und zu zu packen, können wir heute auch gut gebrauchen!


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