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| Sadhu Sundar SinghVon Paul GäblerInhaltsverzeichnis dieser Webseite Fünftes KapitelAnfänge der Sadhu-Tätigkeit 1905 bis 1912 Anfänge der Sadhu-Tätigkeit 1905 bis 1912Der vorliegende Zeitabschnitt, der den ersten Teil von Sundar Singh's öffentlicher Wirksamkeit umschließt, umfasst die Jahre der Verborgenheit Sundar Singh's. Die Biographen wissen nur wenig im Zusammenhang über diese Jahre zu sagen, wenn sie nicht überhaupt mit nur wenigen Zeilen über diese Periode hinweggehen. Besonders die Chronologie ist höchst lückenhaft. Wir behandeln aus diesem Grunde dieses Kapitel etwas breiter und versuchen, die verhältnismäßig dürftigen Notizen, die sich hier und da zerstreut finden, möglichst vollständig zusammenzutragen. Wir werden sehen, dass dadurch diese unbekannten Jahre mit Leben erfüllt werden. In chronologischer Hinsicht tut uns dabei das bisher für diesen Zweck noch nicht ausgeschöpfte Reisebüchlein die besten Dienste. 1. Sundar Singh wird SadhuSchon von seinen Kindertagen an hegte Sundar Singh den Wunsch, ein Sadhu zu werden. Den Keim dazu hatte seine Mutter in seine Seele gelegt. Missionsinspektor Pohl berichtet: "Sie beschwor ihn unter Tränen, nie so weltlich zu werden wie seine Brüder; ihr sehnlichster Wunsch war, dass ihr Sundar (‚der Schöne’) ein Sadhu, ein Heiliger, ein Gottgeweihter werde. Er sagte mir einmal: ‚Meine Mutter hat mich zu einem Sadhu, aber der Herr Jesus hat mich zu einem Christen gemacht’" (1). Schon als Knabe in Rampur äußerte er seinem Schulfreund Chauhan gegenüber diesen Wunsch, wie dieser bezeugt (2), wie er auch in Ludhiana Ralla Ram gegenüber hiervon gesprochen hatte (3). Nachdem Sundar Singh die Taufe erhalten hatte, sah er den Zeitpunkt gekommen, seinen längst gehegten Plan zu verwirklichen. Wir können uns nur schwer vorstellen, was für eine Entschlossenheit dazu gehörte. In unendlich vielen Fällen haben sich die Getauften in die Obhut der Mission begeben, sich weiter ausbilden und schließlich von der Mission anstellen lassen. Sundar Singh hätte auf diesen Gedanken kommen können, da er mit der Taufe alle Brücken hinter sich abgebrochen und sein Elternhaus verloren hatte. Aber nichts lag ihm ferner als dies. In seinem Herzen loderte der Wunsch, die frohe Botschaft, die ihn mit Frieden und Freude erfüllt hatte, weiter zu tragen, und zwar als christlicher Sadhu. Hinduistische Sadhus (4) gibt es in Indien so zahlreich "wie Frösche in der Regenzeit", wie Sundar Singh in einem humorvollen Vergleich treffend bemerkt (5). Sie sind vielfach unangenehme, bettelhafte Gesellen, die sich zu einer wahren Landplage entwickelt haben. Nur die wenigsten von ihnen sind geistlich gesinnt und ernstlich darauf bedacht, der Welt völlig zu entsagen und darum zu ringen, dass sie Schritt für Schritt mit dem Göttlichen eins werden. Derartige Ziele fielen natürlich bei Sundar Singh weg, ebenso wenig legte er asketische oder monastische Gelübde ab (6). Er sagt hierüber: ".... Es muss daran erinnert werden, dass ich nie irgendwelche Gelübde ablegte, ein Asket zu sein, sondern als ein christlicher Sadhu zu leben und zu wirken, wie ich getan habe und tue und weiterhin tun werde, solange ich lebe. Und ich hasse kein Ding, noch halte ich es für etwas Schlechtes; nur der Missbrauch guter Dinge verursacht Schlechtes, aber wir müssen alles mit Dankbarkeit annehmen, was unser himmlischer (Vater) uns gibt. Und ich nehme auch Honorar und Ertraganteile für meine Bücher (6a) an, denn dabei ist nichts Schlechtes, und ich kann es für gute Zwecke verwerten" (7). Zwischen ihm und den nichtchristlichen Sadhus besteht eine Ähnlichkeit nur in der Gewandung und in der Art des Auftretens. Sundar Singh legte das safrangelbe Sadhugewand an, weil er glaubte, in ihm am besten evangelistisch wirken zu können. Dass er sich weder zur Armut noch zur Ehelosigkeit verpflichtete, zeigt, dass er seine evangelische Freiheit bewahrte und nicht in mönchisches Wesen verfiel. Es ist also völlig abwegig, wenn man glaubt, er sei dadurch, dass er später zwei Häuser (8) kaufte, seinem "Gelübde" untreu geworden (8a) und habe deshalb das Recht verwirkt, als Sadhu angesprochen zu werden (8b). Wie Appasamy berichtet, äußerte sich Sundar Singh ihm gegenüber zu dieser Frage im Herbst 1928 folgendermaßen: "Mein Ideal ist nie die Entsagung um der Entsagung willen gewesen. Entsagung ist nichts Verdienstliches. Alles in der Welt ist von Gott geschaffen worden, und was immer Gott geschaffen hat, ist gut. Das Unheil entsteht nicht, wenn wir Gottes Gaben gebrauchen, sondern wenn wir sie missbrauchen ... Ich habe niemals jemand um Geld gebeten, das Geld ist vielmehr ungebeten gekommen ... Den Jüngern wurde anfänglich kein Geld gegeben. Als sie die Lektion gelernt hatten, dass Gott für ihre Bedürfnisse sorgen würde, wurde ihnen erlaubt, mit Geld umzugehen. Das ist auch meine Erfahrung gewesen ..." (9) - und Appasamy fügt hinzu: "In seiner Lebensweise ist Sundar Singh noch so schlicht wie zuvor und trägt die einfachste Kleidung und isst einfaches Essen" (10). So werden wir sagen dürfen, dass bei Sundar Singh vom altindischen Sadhu-Ideal wenig übrig blieb. Aber das Entscheidende war, dass er dies Ideal auch positiv neu gestaltete. Wie Andrews sagt: "Er fügte als etwas Neues das eine überragende Motiv hinzu, welches alles verwandelte. Denn es war die bezwingende Macht der Liebe Christi, die ihn trug und ihm inneren Frieden gab." Und Andrews charakterisiert zusammenfassend, was das Kennzeichnende dieses neuen Sadhutums bei Sundar Singh im Gegensatz zu seinen zahllosen Vorgängern war: "Er war ein Bhakta des Herrn Jesus" (10a). Nachdem Sundar Singh seine Taufe empfangen hatte, kehrte er - vielleicht über Ludhiana - nach Subathu zurück, von wo er dann reichlich einen Monat später seine erste Reise antrat. 2. Erste Reise6.10.1905 - 8.7.1906Sundar Singh begann seine erste evangelistische Reise am 6. Oktober 1905 von Subathu aus. Zunächst machte er eine kleinere Rundreise, die ihn über Kasauli, Solon und Dagshai nach Simla führte (11). Es folgte, wie Sundar Singh angibt, eine Reise "durch ganz Indien, nämlich den Panjab, Sindh, die Vereinigten Provinzen, Calcutta, Bombay, Madras etc." (12). So weit die erste Hälfte dieses Satzes geht, hat Sundar Singh wahrscheinlich recht. Dagegen weckt die Behauptung betr. Calcutta, Bombay und Madras Zweifel, da diese Orte so weit entfernt sind. Doch können wir hierüber nichts Endgültiges sagen. Was dann die Einzelheiten dieser Reise betrifft, so trieb es Sundar Singh vor allem nach Rampur. Er berichtet darüber: "Als ich zu predigen anfing, ging ich in mein Heimatdorf und in die benachbarten Orte, aber später machte ich ausgedehnte Wanderungen über ganz Indien hin" (13). Es wird bei dieser Gelegenheit gewesen sein, dass er seinen Vater besuchte und von ihm als Ausgestoßener behandelt wurde. Als er anklopfte, wollte ihn sein Vater zunächst überhaupt nicht ins Haus hineinlassen, bis er ihm dann wenigstens für die eine Nacht die Tür auftat. "... am Abend ließ er mich getrennt von den anderen sitzen, damit ich nicht sie oder ihre Gefäße schänden könnte; dann brachte er mir zu essen und gab mir zu trinken, indem er aus einem hochgehaltenen Gefäß in meine Hände goss, wie man einem Kastenlosen zu trinken gibt. Bei dieser Behandlung konnte ich die niederstürzenden Tränen nicht zurückhalten ..." Dann nahm Sundar Singh Abschied von seinem Vater, schlief die Nacht unter einem Baum und zog am Morgen weiter (14). Ähnliches berichtet Frau Parker (15). An dieser Steile sei eingefügt, dass die Bitterkeit des Vaters mit den fortschreitenden Jahren abnahm. Als Sundar Singh seinen Vater z. B. im April 1913 nach seinem Fasten besuchte, zeigte sich endlich ein Wandel. "Sie behandelten mich gerade so wie in der Zeit, bevor ich Christ wurde; sie sind sogar bereit, mir meinen Anteil am ganzen Besitz zu geben; aber es ist nicht recht, dass ich zurückblicke, nachdem ich meine Hand an den Pflug gelegt habe ..." (16). Gegen Ende 1919 rang sich dann Sundar Singh's Vater zu dem Wunsche durch, selbst Christ zu werden (17). Damit kam es zu einer Aussöhnung zwischen Vater und Sohn. Ob jedoch Sundar Singh seinen Vater selbst getauft hat, wie dieser es wünschte, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen (18). Weiter hören wir von zwei besonderen Erlebnissen Sundar Singh's, von denen wir nicht wissen, ob sie dem Besuche in Rampur vorausgingen oder nachfolgten. Das erste ist Sundar Singh's Errettung von einer Schlange in D o i w a l a (19). Da wir einen eigenhändigen Bericht von Sundar Singh darüber haben, der bisher noch nicht veröffentlicht worden ist, geben wir ihn hier wieder:
Diese Schlangengeschichte, die in dieser Form durchaus den Stempel der Echtheit an der Stirn trägt, ist von Zahir, nachdem er sie in Shaida (21) noch in enger Anlehnung an Sundar Singh's eigenen Bericht gebracht hatte, von Jahr zu Jahr immer mehr ausgeschmückt worden. (22) Was den Zeitpunkt dieses Erlebnisses betrifft, so werden wir kaum fehl gehen, wenn wir dafür September oder Oktober 1905 annehmen. (23) Kurze Zeit danach hatte Sundar Singh ein ganz andersartiges Erlebnis. Als er sich auf dem Wege von Roorkee nach Meerut (24) befand, hatte er infolge der heißen Mittagssonne sehr zu leiden. Er hatte sich Blasen gelaufen und verspürte dazu heftigen Hunger und Durst, so dass er sich innerlich schwer angefochten fühlte. Da traf er einen am Wegrand sitzenden Mann mit einem Lamm im Schoß. Während der Unterhaltung mit ihm fielen Sundar Singh die Worte Jesu ein: "Meine Schafe hören meine Stimme und folgen mir." Dann stand der Mann auf und zog weiter. Nach kurzer Zeit folgte ihm Sundar Singh, aber plötzlich war der Mann mit dem Lamm seinen Blicken entschwunden. Es dauerte nicht lange, bis Sundar Singh auf seiner Wanderung von einem Brahmanen gerufen und von ihm mit Brot und Hülsenfrüchten gestärkt wurde (25). - Offenbar verstand Sundar Singh die Begegnung in dem Sinne, dass hier ein Wunder geschehen sei; ob allerdings in dem Sinne, dass Sundar Singh glaubte, der Mann mit dem Lamm sei ein von Gott zu seiner Belehrung gesandter Engel gewesen, wie Zahir zu verstehen gibt, möchten wir dahingestellt sein lassen. - Zwei Erklärungen für dies Erlebnis sind möglich. Vielleicht handelte es sich um eine mystische Erfahrung; so deutete es jedenfalls Emmet (26), wenn er schreibt, es sei eine Erfahrung gewesen, "... bei der des Sadhu lebendiges Gefühl von einem inneren göttlichen Gefährten (companionship) in dem Eindruck von einem ‚Begleiter’, der an seiner Seite schritt, äußere Gewalt gewonnen" habe. Diese Möglichkeit lässt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Es könnte indessen auch sein, dass Sundar Singh tatsächlich einem Mann mit einem Lamm begegnet ist und die wunderhaften Züge (plötzliches Verschwinden des Mannes) erst später in dies Zusammentreffen hineinprojiziert hat. - Über den Khyberpass (27) gelangte dann Sundar Singh Januar oder Februar 1906 (28) nach Afghanistan. (29) Hier hatte er viele Schwierigkeiten durchzumachen, weil man ihn einerseits zunächst als einen Spion betrachtete - man muss ja bedenken, dass eigentlich beständig ein Guerilla-Krieg zwischen der englischen Regierung und den afghanischen Grenzbewohnern stattfindet - und man dort andererseits seine evangelistische Tätigkeit nicht billigte. Afghanistan ist bis zum heutigen Tag ein für das Evangelium verschlossenes Land (30). Sundar Singh erzählt als Beispiel für die Gefahren, welche die Evangeliumsverkündigung in Afghanistan mit sich bringt, die Geschichte von Abdul Karim, der erst ein heftiger Gegner des Christentums war und ein böses Leben führte, bis er bekehrt wurde und anfing, das Evangelium in Afghanistan zu verkündigen. Da er sich dort durch nichts bewegen ließ, zu seiner väterlichen Religion zurückzukehren, wurde er in grausamer Weise zu Tode gemartert (31). Sundar Singh berichtet, er habe diese Geschichte von Daud Khan erfahren, der Abdul Karim mit gemartert habe, aber durch dessen Geduld und Standhaftigkeit selbst zum Christentum bekehrt worden sei (32). Zehn Jahre später sah Sundar Singh in der Kirche zu Quetta in Baluchistan eine Erinnerungstafel für Abdul Karim sowie für einen anderen Märtyrer Nasir U l l a h Khan, der ebenfalls in Afghanistan, und zwar unweit Chaman (33) ermordet worden sei (34). Ein dritter, der in Afghanistan auf grausamste Weise getötet wurde, ist G u l b a d S h a h (35), dessen Geschichte Sundar Singh ebenfalls kurz wiedergibt (36). Auch Sundar Singh blieben schwere Stunden nicht erspart. Einmal im Februar hatte man ein Komplott geschmiedet ihn zu töten. Aber es wurde ihm hinterbracht, so dass er nachts während eines wolkenbruchartigen Regens fliehen musste. Die nächste Nacht suchte er Zuflucht in einer verfallenen Hütte voller Lehm und Kuhdung, da ihm die Dörfler keine Unterkunft gewährten, noch auch Brot und Feuerholz gaben. Er verbrachte die Nacht frierend, ohne ein Auge zuzutun, so dass er ernstlich fürchtete, er würde sich eine Lungenentzündung oder Rheumatismus zuziehen. Aber er nahm keinen Schaden. Als er am nächsten Morgen seine Kleider in der Sonne trocknete, sah er sich plötzlich von den Dörflern sowie den Feinden, die ihm aufgespürt hatten, umzingelt. Schon machte er sich auf das Schlimmste gefasst, als sich alles plötzlich zum Guten wandte. Da seine Widersacher ihn gesund und munter vorfanden, glaubten sie, er stünde unter Gottes besonderem Schutze. Sie nahmen ihn auf eine Woche mit in ihr Dorf und schenkten ihm zum Abschied einen Turban und einen Rock (37). - Auch sonst erfuhr Sundar Singh unerwartete Freundlichkeiten. So gab ihm in einem Orte ein siebenjähriger Knabe, der an der Tür stand, ohne weitere Worte Brot, das er gerade in der Hand hatte. Es war Sundar Singh hochwillkommen, weil er heftigen Hunger litt (38). Sehr weit ist Sundar Singh nicht in Afghanistan eingedrungen. "Er sagte, dass er bis Jahallabad (lies Jalalabad) (39) gekommen sei; aber da er weder Pashtu noch Persisch verstand, hielt er es für zwecklos, weiter zu reisen", berichtet Missionar Riddle (40). Von Afghanistan führte Sundar Singh's Weg nach Kaschmir. Die landschaftliche Schönheit dieser Gegend, die das Entzücken aller Reisenden ist, sprach auch zu Sundar Singh's Sinnen, so dass er sagt: "Wer mit der Geographie nicht vertraut ist, mag dieses Land sicher für den einstigen Garten Eden halten" (41), überhaupt zeichnet sich Sundar Singh dadurch aus, dass er im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute einen ausgesprochenen Sinn für Naturschönheit besitzt. Sundar Singh erwähnt als Orte, die er besucht hat, Srinagar (42), Islamabad (43) und Derinag (44) und fügt hinzu: "Die Leute hier behandelten mich mit äußerster Freundlichkeit. Ich arbeitete vor allem unter den Pilgern, die aus ungeheuren Entfernungen gekommen waren, um Amarnath (45) anzubeten" (46). Bei Kishtwar (47) hatte Sundar Singh wieder große Schwierigkeiten zu bestehen, so dass er am Verzagen war. Wir lassen ihn selbst erzählen, wie er bei solch einer Gelegenheit getröstet wurde: "... Ich schloss mich zwei anderen Männern an, und wir gelangten zusammen zu einem Dorf Darashta (48). Dort buken die Einwohner auf einem riesigen flachen Stein Brot. Der Stein selbst war von der Hitze der Flammen glühend rot geworden, aber es wurde mit Erstaunen beobachtet, dass ausgerechnet in der Mitte des Steines eine Stelle etwa in der Größe eines Rupies kalt blieb. Als der Stein zerbrochen wurde, fiel ein weißes Reptil heraus. Alle waren voller Verwunderung, dass Gott auf wunderbare Weise das Leben der Kreatur inmitten solch intensiver Hitze bewahrt hatte" (49). Sundar Singh fährt fort, dass ihn der Gedanke von Gottes Fürsorge sehr getröstet habe, und schließt diese Stelle mit der Erinnerung an die drei Männer im feurigen Ofen. - Wir haben diesen Bericht in Sundar Singh's eigenen Worten angeführt, weil dies die erste Fassung darstellt, die überdies bisher noch nicht veröffentlicht worden ist. Vergleicht man damit, was Zahir daraus gemacht hat (50), so fallen sofort erhebliche Unterschiede auf. Im Reisebüchlein bleibt es eine offene Frage, ob Sundar Singh dies alles mit eigenen Augen gesehen oder nur davon gehört hat, während Zahir es als eigenes Erlebnis Sundar Singh's schildert. Bei ihm wird in Shaida aus dem flachen Stein eine aus Ton hergestellte Pfanne, auf der trotz des Feuers das Brot ungebacken blieb; es wird hinzugefügt, es sei unter den Versammelten zunächst Geld gesammelt worden, ehe diese Pfanne zerbrochen wurde, um den Besitzer zu entschädigen; Zahir weiß ferner in Lover, es sei ein "großes flaches Insekt" gewesen, und Sundar Singh habe erklärt: "Ich bekannte sofort meine Sünde im Schreine Gottes, und ich schämte mich aufs tiefste, dass ich an Gottes Freundlichkeit gezweifelt hatte." Wir haben hier tatsächlich ein Musterbeispiel dafür, was Zahir unter Umständen aus einer Geschichte zu machen versteht. - Was dann unsere Stellungnahme zu Sundar Singh's eigenhändigem Bericht betrifft, so werden wir schwerlich fehlgehen, wenn wir ihn so deuten, dass Sundar Singh ihn nicht als eigenes Erlebnis hinstellen will, sondern als etwas, was ihm erzählt worden ist. Pfister neigt zu der Annahme, dass es sich bei dieser Geschichte überhaupt nur um eine Gleichniserzählung handele (51). Mir scheint jedoch, dass Sundar Singh sie als bare Münze genommen hat, wie auch sonst Manches, über das wir den Kopf schütteln. Aber es beweist nur, dass Sundar Singh im Punkte Leichtgläubigkeit sich - von seinen letzten Lebensjahren abgesehen - nicht von den meisten seiner Landsleute unterschied. Von Kishtwar reiste Sundar Singh über Jammu (52) nach Kotgarh. Er traf dort am 8. Juli 1906 ein (53). Damit fand Sundar Singh's erste evangelistische Reise ihr Ende. Er hatte sie in einem ungewöhnlich jungen Alter unternommen; wurde er doch gerade jetzt erst 18 Jahre alt und damit mündig (54). 3. Zusammenarbeit mit Missionar Stokes8.7.1906 - November 1907Kotgarh (55) sollte für viele Jahre die zweite Heimat Sundar Singh's werden, zu der er nach seinen Reisen immer wieder zurückkehrte. Es liegt 50 Meilen (56) nordöstlich von Simla an der sog. Hindustan-Tibet-Road, die Sundar Singh in späteren Jahren noch oft entlang ziehen sollte. In Kotgarh traf Sundar Singh Missionar S. E. Stokes wieder, der ihn einen Tag vor seiner Taufe zu Missionar Redman begleitet hatte. Stokes hatte zu Beginn seiner Indienzeit eine kurze Periode in Verbindung mit der sog. Ausbreitungsgesellschaft (57), einer bekannten amerikanischen Missionsgesellschaft, in Delhi gearbeitet und wohnte jetzt in Bareri (58), einem Hause bzw. einer Niederlassung etwa zwei Meilen von Kotgarh entfernt (59). Es war wahrscheinlich eine Frucht des Zusammenseins von Sundar Singh und Stokes, dass dieser beschloss, auch seinerseits Sadhu zu werden. Sundar Singh erzählt (60), wie er versucht habe, Stokes diesen Gedanken auszureden. Er hatte ja bereits eine einjährige Erfahrung hinter sich und wusste, wie schwer solch ein Leben schon für ihn als Inder war. Wie viel mehr für einen Abendländer, der schon rein körperlich solchen Strapazen in einem Tropenlande auf die Dauer nicht gewachsen ist. Sundar Singh's prinzipielle Stellungnahme, die echt evangelisch ist, findet sich in dem prägnanten Satze: "... Es ist nicht wesentlich, dass alle als Sadhus dienen. Es gibt viele Arten von Berufen (Dienst), und alle sind gut. Deshalb sollte jeder das tun, wozu er sich von Gott berufen weiß" (61). Stokes ließ sich jedoch nicht irre machen. Er war von einer glühenden Opferbereitschaft erfüllt und wollte nach dem Vorbild von Franziskus von Assisi sein Leben völlig dem Dienst an den Armen und Kranken weihen. Er glaubte dies am besten durch die freiwillige Übernahme mönchischer Askese verwirklichen zu können. Seine Gedanken entwickelte er später ausführlicher in einem Aufsatz, der in einer englischen Missionszeitschrift erschien und weithin Beachtung fand (62). So verteilte er alles, was er hatte und wurde, nachdem er sich zwei Hütten gebaut hatte - eine in einem Dorfe, und eine in einer Bergeshöhle -, ein Sadhu wie Sundar Singh (63). Das war im August oder September 1906 (64). Bald darauf folgten gemeinsame Reisen der beiden Freunde in den nördlich von Simla gelegenen Eingeborenenstaaten, in Kullu, Mandi und Suket, wobei sie mit Hilfe einer Laterna Magica Lichtbilder zeigten (65). Sie hatten dabei mancherlei Entbehrungen auf sich zu nehmen. Einmal erhielten sie, wie Sundar Singh schildert, keinen Unterschlupf für die Nacht, bekamen auch keinen Bissen zu essen, bis sich um Mitternacht jemand über sie erbarmte, ihnen ein Maisbrot zu essen gab und sie in einem schmutzigen K u h s t a l l einquartierte. Vor Kälte und Ungeziefer konnten sie nicht einschlafen; aber der Gedanke an die Niedrigkeit Christi und seine Geburt in der Krippe ließ ihre Herzen gleichwohl voll Freude sein (66). Aber es fehlte auch nicht an gegenteiligen Erfahrungen. So wurden sie eines Abends, als sie schon an viele Türen umsonst angeklopft hatten, von einem Dorfbewohner auf der Hausveranda einquartiert und jeder wenigstens mit zwei Matten bedacht, so dass sie nicht völlig der Kälte preisgegeben waren; am nächsten Morgen brachte ihnen jemand zwei dicke Gerstenbrote (67). Ein anderes Erlebnis, das als einziger von beiden Beteiligten Stokes schildert, soll nicht unerwähnt bleiben. Beide waren "Hunderte" (?) von Meilen in das Landesinnere vorgedrungen. Dabei erkrankte Sundar Singh und hatte täglich Fieberattacken und Leibschmerzen. Schließlich, eines Abends, konnte er mitten im Gebirge nicht mehr weiter und wurde von Stokes, der sich große Sorge um ihn machte, auf den Boden gebettet. Stokes fährt fort: "Mich dicht zu seinem Ohr hinabneigend, fragte ich ihn, wie er sich fühlte. Ich wusste, dass er niemals klagen würde, aber auf die Antwort, die ich erhielt, war ich nicht gefasst. Er öffnete seine Augen und lächelte abwesend; dann sagte er mit einer fast unhörbaren Stimme: "Ich bin sehr glücklich: wie süß ist es, um Seinetwillen zu leiden!" (68). Später erholte sich dann Sundar Singh wieder. Neben der Wortverkündigung widmeten sich Sundar Singh und Stokes auch der Krankenpflege, ohne sich vor Ansteckung zu fürchten. So arbeiteten sie freiwillig einen oder mehrere Monate im Aussätzigen-Hospital zu Subathu (69). Im Verlauf des Jahres 1907 geschah dies, und zwar mit dem Erfolge, dass mehrere der Aussätzigen Christen wurden (70). Im gleichen Jahr (1907) traf Sundar Singh erstmalig Tharchin, der später ein Mitarbeiter Sundar Singh's werden sollte. Augenblicklich befand er sich im Dienste des Herrnhuter Missionars Schnabel, der damals 6 Monate in Kotgarh lebte und ebenfalls Sundar Singh kennen lernte. Tharchin besuchte gern die Lichtbildervorführungen von Sundar Singh und machte dabei dessen Bekanntschaft (71). Offenbar geht es auf eine Mitteilung Missionar Schnabel's zurück, wenn Missionsinspektor Bechler im Blick auf jene Zeit schreibt: "Um die Eingeborenen anzulocken, brauchte Sundar oft eine Ziehharmonika. Auf seine Musik hin sammelten sich Leute um ihn, und nun begann er zu reden" (72). In das Jahr 1907 fiel auch die Konfirmation (73) Sundar Singh's. Da sie in den Biographien Sundar Singh's nirgends erwähnt wird, bringen wir die Übersetzung des vollen Berichtes aus der Feder eines Augenzeugen, Rev. C. F. Andrews:
Jahr für Jahr pflegte dann Andrews seine Besuche in Kotgarh zu wiederholen, und so lernte er Sundar Singh immer besser kennen und immer tiefer schätzen. Das muss man in seinem Buche selber nachlesen (78). Wir müssen nachholen, dass Sundar Singh und Stokes keineswegs immer Seite an Seite arbeiteten. "Sundar selbst sagt, dass er und Stokes nur drei Monate lang wirklich zusammengelebt hätten, obgleich sie zwei Jahre gemeinschaftlich arbeiteten" (79). So hatte Stokes im Frühjahr 1907 auf einige Zeit Kotgarh verlassen. Denn es trieb ihn, eins der von der Pest heimgesuchten Dörfer aufzusuchen, um dort zu wirken. "So nahm ich eine Decke, ein kleines Wassergefäß, genannt Lota, einige Medizinen und mein griechisches Neues Testament und brach auf, um mir ein passendes Dorf auszusuchen" (80). Im Herbst begaben sich dann Stokes und Sundar Singh gemeinsam nach Lahore und arbeiteten unter den Pockenkranken. Dort traf sie Andrews beide, "wie sie auf dem bloßen Boden schliefen und abwechselnd einen Rajputen-Knaben von den Bergen pflegten ..." (81). Darnach reiste Stokes im November 1907 (82) nach Amerika, um dort Freunde für seine Arbeit zu gewinnen, während Sundar Singh auf die Berge zurückkehrte. 4. Weitere WirksamkeitNovember 1907 - Dezember 1909Das Erste, was wir über diese Zeit wissen, betrifft den 22. Februar 1908. Wie Streeter mit Sundar Singh's eigenen Worten berichtet, sah dieser einmal in der Ekstase einen Menschen mit einem verklärten Leibe, der sich ihm gegenüber als ein früherer Bekannter ausgab. Er sagte zu Sundar Singh: "Ich war in einem Hospital für Aussätzige, das du besuchtest. Infolge des Aussatzes hatte ich meine Finger verloren und mein Gesicht war ganz entstellt. Jetzt bin ich kein Aussätziger mehr. Von Jesus Christus empfing ich dies selige Dasein. Am 22. Februar 1908 verließ ich jenen Leib und ging zu diesem Leben ein." Sundar Singh fährt fort: "Ich prüfte später diese Angaben und fand sie richtig. Er war an dem Tage und an dem Orte gestorben, die während der Vision genannt wurden" (83). - Da Sundar Singh diese für den Historiker entscheidenden Angaben fortlässt, schrieb Hosten zur Feststellung der geschichtlichen Wahrheit an den Leiter des Aussätzigenheimes in Subathu und bat ihn zu ermitteln, ob dort am 22. 2. 1908 ein Aussätziger gestorben sei (84)". Aber er erhielt keine Antwort, wie es ja überhaupt zweifelhaft ist, ob tatsächlich Subathu gemeint ist. Streeter hat vielleicht Recht, wenn er telepathische Einwirkungen zur Erklärung dieser Vision für möglich hält. Im übrigen sind wir außerstande ein Urteil zu fällen, ob erstens die Vision und zweitens das in der Vision Geschaute geschichtlich sind. Das Nächste, was wir über Sundar Singh hören, stammt aus dem Munde Tharchin's, der uns bereits vorhin begegnete. Er besitzt die seltene Eigenschaft, dass er sorgfältig Tagebuch schreibt und fast immer mit genauen Einzelheiten aufwarten kann. Wir holen hier aus seinem Leben nach, dass er seiner Nationalität nach ein Tibeter war und in Poo, das uns noch öfter beschäftigen wird, im Jahre des Eisernen Tiger, also im Jahre 1890 (85) geboren und in Poo am 16. April 1905 am Palmsonntag konfirmiert wurde (86). Nachdem er, wie wir sahen, im Winter 1906 bis 1907 mit Missionar Schnabel in Kotgarh gewesen war, "kam er Ende 1907 nach S i m l a. Für etwa 6 Monate lebte er in Simla und tat Kuliarbeit, schleppte Steine usf. Eines Tages, am 10. Mai 1908 ... traf er Sundar Singh, wie er auf dem Basar predigte. Nach der Predigt stellte sich Tharchin Sundar Singh in den Weg und dieser erkannte ihn in seiner heruntergekommenen Gewandung und sagte: "Bist du es, Tharchin? Komme mit mir mit. Ich will für dich sorgen." Sundar Singh lebte in der St. Thomasbücherei der Kirchenmission (87). Tharchin ging mit ihm mit und diente ihm sowie zwei bis drei indischen Babus (88), die am gleichen Orte wohnten. Tharchin arbeitete als Bediensteter, holte Wasser, half beim Kochen usf. Im Mai, Juni (und Juli ?) war Sundar Singh in Simla. Dann sagte Sundar Singh, er ginge zu einem weit entfernten Orte, ohne zu erwähnen, wohin ..." (89). - Wir bekommen hier einen Einblick, wie Sundar Singh sich des Hilfsbedürftigen annahm. Aber nicht nur das -; "Tharchin sagt, dass Sundar Singh ihn während seines dreimonatlichen Aufenthaltes (er spricht von drei Monaten) bei ihm im Jahre 1908 Hindustani gelehrt hätte und er (Tharchin) ihn als seinen Guru (geistlichen Lehrer) betrachtet und verehrt habe, als einen, der ihn im Punkte Religion und Frömmigkeit stark beeinflusst hätte. Es sei Sundar Singh gewesen, der ihn aus seiner niedrigen Stellung emporgehoben und befähigt habe, seine Lage nach und nach zu bessern. Er empfindet daher für Sundar Singh die größte Verehrung und Dankbarkeit" (90). In ähnlichem Sinn schreibt Tharchin an Heiler (91), und auch Sundar Singh selbst berichtet dass Tharchin im Jahre 1908 bei ihm in Simla gewesen sei (92). Im August trat dann Tharchin in Delhi bei einem Inder aus dem Panjab eine Stelle an (93). Der Ort, zu dem Sundar Singh von Simla aus ging, war P o o. Die Einladung hierzu hatte Sundar Singh von dem Herrnhuter Missionar H. B. Marx erhalten, als dieser ihn früher während seines Zusammenseins mit Stokes in Kotgarh besucht hatte. Marx fährt unter Bezugnahme auf Sundar Singh ganz kurz fort: "... Den Besuch führte er 1908 aus, als wir alle auf der Station waren. Damals blieb er nur wenige Tage in Poo und kehrte von da wieder zurück, wahrscheinlich nach Kotgarh" (94). Dieser Besuch muss zwischen dem 17. Juni und 3. August erfolgt sein, da Missionar Schnabel, der damals ebenfalls in Poo stationiert war, sich auf einer Evangelisationsreise durch Spiti nach Kyelang befand, wo anschließend eine Missionskonferenz stattfand. "Gerade in dieser Zeit scheint Sundar Singh Pu (= Poo) besucht zu haben ..." (95). - Das sind die einzigen Nachrichten über Sundar Singh's Besuch in Poo, der schwerlich vor Mitte oder Ende Juli stattgefunden haben dürfte (96). Nach einiger Zeit trat Sundar Singh abermals eine längere Reise an. Schon lange Zeit hatte ihn der Wunsch erfüllt, Palästina zu besuchen. So begab er sich - wahrscheinlich war es 1909 - nach Karachi, um eine Überfahrtsgelegenheit nach dem Heiligen Lande zu suchen. Aber sein Plan scheiterte, und so reiste er nach Bombay weiter (97). Im weiteren Verlauf der Reise - vielleicht ehe er noch Bombay erreichte - hatte er zwei besondere Erlebnisse, bei denen nicht feststellbar ist, welches sich zuerst zutrug und weiches nachfolgte (98), wenn die beiden Erlebnisse überhaupt historisch sind. Das eine geschah bei K a l y a n (99), und zwar nach George Milton am 1. März 1909. Seit drei Tagen war Sundar Singh ohne Nahrung geblieben. Nun begegneten ihm auch noch die Dörfler feindselig, als er ihnen die frohe Botschaft verkündigte, und verweigerten ihm Essen und Nachtquartier. Als er das Dorf verließ und mit der sinkenden Nacht dem Dschungel zuwanderte, wurde er heftig von der Versuchung angefochten, zu seinem Vater heimzukehren. Der Kummer überwältigte ihn so sehr, dass er bittere Tränen vergoss. Schließlich betete er und fand Frieden, so dass er einschlummerte. Um Mitternacht wachte er davon auf, dass zwei Männer seine Hand berührten; sie brachten ihm einen Teller mit Speise und einen Becher zum Trinken. Sundar Singh war erstaunt, dass sich die Hartherzigkeit der Dörfler gewandelt hatte, und wollte ihnen danken. Aber sie forderten ihn auf, erst zu essen. Als er nach seiner Mahlzeit aufstand, um ihnen endlich seinen Dank auszusprechen, war plötzlich alles verschwunden (100). - Es ist klar, dass es sich hier um ein Erlebnis handelt, das in einer Linie mit der Geschichte von dem Mann mit dem Lamm liegt. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus liegt keine Möglichkeit zu einer Nachprüfung der Schilderung vor, zumal Sundar Singh in dieser nächtlichen Speisung zweifellos ein göttliches Wunder erblickte. Ob es sich nun um eine wirkliche Speisung durch den Dörfler oder um einen Traum Sundar Singh's oder etwas anderes handelte, lässt sich nicht entscheiden. Jedenfalls liegt kein Grund vor, diese Geschichte als eine bloße Erfindung Sundar Singh's abzutun. Das andere Erlebnis trug sich in N a s i k zu (101). Von der Reise hungrig und durstig begab sich Sundar Singh zum dortigen Missionar. Er hoffte auf etwas Wasser zum Trinken. Aber da ihn der Missionar nicht weiter beachtete, musste er enttäuscht und mutlos davonziehen. Er war noch nicht weit gegangen, als der Missionar ihm einen Diener nachschickte und ihn zurückrief. Er fragte ihn nach seinem Namen, und da stellte es sich heraus, dass sich im Missionshaus ein Paket befand, das die Post dort abgegeben hatte (102) und das an ihn adressiert war; aber da der Missionar Sundar Singh's Adresse nicht gewusst hatte, war er nicht imstande gewesen, es umzuadressieren. Als Sundar Singh das Paket öffnete, fand er darin etwas zu essen (103). Als er es verzehrte, entdeckte er zu seiner freudigen Überraschung darin einen hohen Geldbetrag (104), der es ihm ermöglichte, die Reise mit der Bahn fortzusetzen. - Heutzutage ist es nicht mehr möglich, die Geschichtlichkeit der Erzählung festzustellen. Hätte man dieses rechtzeitig versucht, hätte sich wenigstens der Name des Missionars sowie seine Stellungnahme zu diesem Vorfall ermitteln lassen (105). Dann kehrte Sundar Singh über Bhusaval (106), Hoshangabad (107), Lucknow und Delhi nach Kotgarh zurück (108). Am 31. Mai 1909 kam ein Brahmane mit Namen Shri Dhar Tirath, der 42 Jahre lang als Sadhu durchs Land gezogen war, nach Kotgarh und wurde dort getauft. Da Sundar Singh selbst dieses Ereignis erwähnt (109), hat er vielleicht die Taufe mit erlebt. Das würde bedeuten, dass seine Reise vorher beendigt gewesen wäre. 5. Im St. John's College zu LahoreDezember 1909 - Juli 1910Schon ehe Sundar Singh auf seine allererste Reise ging, hatte ihm sein väterlicher Freund Dr. Wherry zugeredet, er solle sich einer theologischen Ausbildung unterziehen, und zwar im theologischen Seminar zu Saharanpur. Aber da Sundar Singh keine Neigung dazu verspürte, ließ ihn Wherry mit seinem Segen davonziehen (110). Aber schließlich spürte Sundar Singh doch das Bedürfnis nach weiterer Ausbildung und trat in das John's College der englischen hochkirchlichen Mission in Lahore ein (111). Hierzu veranlasste ihn vor allem der Rat von Freunden, die ihn überredeten, in Zukunft nicht nur, wie bisher, unter Nichtchristen, sondern auch unter Christen zu wirken (112). Der Leiter der Anstalt war damals zunächst Kanonikus Wigram (113), der dann nach einigen Wochen von Kanonikus Wood abgelöst wurde (114). Über den Kursus, den Sundar Singh absolvierte, erfahren wir nähere Einzelheiten aus einem Brief von Kay, der später die Anstalt leitete. Danach trat Sundar Singh im Dezember 1909 von Kotgarh kommend in den Anfängerkursus ein, der bereits im Oktober eröffnet war, und wurde dann nach Weihnachten zu dem unteren Katechetenkursus zugelassen (115), den er bis zu Ende durchmachte (116). Auf dieser Stufe gibt es weder Lateinisch noch Griechisch als Fremdsprachen, wenn auch einzelne Studenten die Gelegenheit benutzen, sich hier bereits die Anfangsgründe des Griechischen anzueignen. Das Ziel des Studiums ist die Vorbereitung zu einem der 4 kirchlichen Ämter, welche die anglikanische Kirche in Indien aufweist: Evangelisten, Katecheten, Diakonen (117) und Priester. Die beiden Ersteren werden nicht ordiniert, während die beiden Letzteren der bischöflichen Ordination bedürfen. Jedem, der als Evangelist oder Katechet ausgebildet wird, steht die Laufbahn zum geistlichen Amte offen; das war auch bei Sundar Singh der Fall (118). Er hätte nur eine Zeitlang praktisch arbeiten und sich nach einer gewissen Bewährungszeit zu einem weiteren Kursus nach Lahore begeben müssen (119), wie es überhaupt in Indien von den protestantischen Missionen oft so gehandhabt wird. Hieraus ergibt sich, dass das, was Sundar Singh lernte, etwa dem gleichzustellen ist, was bei uns in Deutschland die Diakonen lernen. Tatsächlich waren die Unterrichtsfächer Bibelkunde, Gebetbuch (Common Prayer Book). Grundzüge der Kirchengeschichte und Apologetik sowie Einführung in die nichtchristlichen Religionen, soweit sie bei ihrer späteren Arbeit mit ihnen in Berührung kommen konnten. Von Streeter erfahren wir außerdem, dass Sundar Singh im College Sitar, ein indisches Saiteninstrument, spielen lernte. "Aber er gab es bald wieder auf, weil es ihm zuviel Zeit kostete und weil es für ihn als Sadhu zu schwierig gewesen wäre, es mit sich herum zu tragen" (120). Der Einzige, der uns einen Einblick in Sundar Singh's Inneres während dieser Zeit vermittelt, ist Andrews. Er besuchte ihn öfters und versuchte ihn aufzuheitern. "Er (Sundar Singh) erschien mir wie ein Vogel des Waldes, der mit seinen Flügeln vergebens gegen die Stangen des Käfigs schlägt. Es war fast so, als ob seine Flügel beschnitten wären, und ich machte mir viel Sorgen um ihn, wenn ich sah, wie sich vor meinen Augen etwas wie eine Tragödie abspielte" (121). Sundar Singh fand sich nur schwer in das Zusammenleben mit den anderen Studenten hinein, von denen er so grundverschieden war, und zog es vor, sich so viel wie möglich in sein eigenes Zimmer zurückzuziehen, ohne sich indessen völlig zu isolieren. Anfänglich ergaben sich dadurch Schwierigkeiten, wie nicht anders zu erwarten, bis ein plötzlicher Wandel eintrat. Eines Tages fand nämlich einer von den Studenten, die sich Sundar Singh gegenüber mancherlei Lieblosigkeiten hatten zuschulden kommen lassen, Sundar Singh im Freien allein unter einem Baume sitzend, ohne dass dieser ihn bemerkte. "Zu seiner großen Überraschung fand er, dass Sundar Singh weinte und in ernster Fürbitte sein Herz vor Gott ausschüttete, und zwar gerade für den Studenten, der eben herangekommen war. Er betete, dass das, was er selbst falsch getan haben könnte, vergeben werden möchte und dass es zwischen ihnen zu aufrichtiger Liebe kommen möchte." Der Student war davon so überwältigt, dass er sich alsbald Sundar entdeckte, ihn um Verzeihung bat und mit ihm herzliche Freundschaft schloss (122). Auch sonst scheint Sundar Singh in dieser Zeit einen stillen, nachhaltigen Einfluss ausgeübt zu haben. "... Junge Leute, Christen wie Nichtchristen, pflegten zu geistlicher Hilfe und Beratung zu ihm zu kommen ..." (123). Später erhielt Sundar Singh eine schriftliche Predigtlizenz von Bischof Lefroy, die ihn berechtigte, in der Diözese Lahore zu predigen. Aber bald erkannte Sundar Singh, dass er damit eben auch an die anglikanische Kirche sowie an diese Diözese gebunden war, also konfessionell wie territorial. Dies erschien ihm als Beschränkung seiner Wirkungsmöglichkeit, wie er sich überhaupt mehr "zu einem prophetischen als zu einem pastoralen Dienst von Gott berufen glaubte" (124). So legte er schließlich Bischof Lefroy seine Ansichten dar und stieß bei ihm auf volles Verständnis. Er durfte seine Predigterlaubnis zurückgeben, ohne dass ihm das Predigen verboten wurde. Dieses völlig unbürokratische, verständnisvolle Entgegenkommen des Bischofs (125) ermöglichte es dann Sundar Singh, eine ungeahnte, weit reichende Tätigkeit zu entfalten. Auch so blieb er ein Kind der anglikanischen Kirche, in der er die Taufe empfangen hatte und konfirmiert war und in der er auch weiterhin zum Abendmahl ging (126). Aber bei seiner Wortverkündigung war er in jeder Weise ungebunden (127) und nahm weder in kirchlicher noch in konfessioneller Hinsicht besondere Rücksichten. Allerdings nahm er mit seiner theologisch unbeschwerten Einstellung eine Ausnahmestellung ein, die ihm gegenüber der Erzbischof von Canterbury lächelnd in die Worte kleidete: "Das ist alles ganz gut und schön - für Sie" (128). In die Zeit von Sundar Singh's Aufenthalt in Lahore fällt die Gründung der "Bruderschaft der Nachahmung Christi". Nachdem Stokes im November 1907 nach Amerika und dann 1908 weiter nach England gereist war, entwarf er - noch in England - Richtlinien für eine neu zu gründende Bruderschaft, für die er sich das Einverständnis des Bischofs von Lahore durch einen Besuch am 2. Juni 1908 gewann (129). Im November 1908 kehrte Stokes nach Indien zurück (130). Wie sich aus einem ausführlichen Brief ergibt, den er an seine Freunde in Übersee schrieb (131), widmete er sich wieder dem praktischen Dienst der Nächstenliebe, indem er Kranke pflegte und für unbemittelte Knaben eine Kostschule in Kotgarh begründete. Hierbei verwirklichte sich allmählich der Plan der Bruderschaft, bis der Bischof sie am 22. Februar 1910 in einem feierlichen Eröffnungsgottesdienst in der Kathedrale zu Lahore offiziell anerkannte und gleichzeitig Stokes und Missionar später Kanonikus, jetzt Bischof - Western, den Letzteren als Novizen, zu Mitgliedern der Bruderschaft erklärte (132). Auch Sundar Singh scheint an diesem Gottesdienst teilgenommen zu haben (133), ohne jedoch beizutreten (134). Stokes und Western blieben die einzigen Mitglieder; ein Missionar Branch, der mit ihnen eng befreundet war, konnte sich schließlich doch nicht zum Beitritt entschließen. Im Sommer 1910 weilten Stokes und Western außerhalb Indiens (135) und setzten nach ihrer Rückkehr ihre gemeinsame Arbeit im Sinne ihrer Regeln (136) fort und versuchten auf jede Weise das franziskanische Ideal des Dienstes an den Brüdern zu verwirklichen. 6. WanderjahreAugust 1910 - Januar 1912Die eineinhalb Jahre, die dem Aufenthalt in Lahore folgten, sind für uns in Dunkel gehüllt. Einen Anhalt bietet uns Kanonikus Western, der schreibt: "... Ich kam (nachdem ich 1910 in England gewesen war) Anfang 1911 nach Kotgarh ... Ich glaube, er (Sundar Singh) war einen Teil der Zeit von Februar bis Juli 1911 in Kotgarh, aber ich glaube nicht für lange, höchstens ein- bis zweimal. Er führte einfach ein Wanderleben und arbeitete an verschiedenen Orten für sich allein und auf eigene Verantwortung" (136a). Welche Orte dies waren, wissen wir nicht (137). Zweifellos hat Sundar Singh während dieser Zeit auch weiterhin mit Stokes, Western und ihrem Freundeskreis zusammengearbeitet. Die Bruderschaft fand indessen ein schnelles Ende, weil sich bereits im August 1911 Stokes entschloss zu heiraten (138). Nach dem, was wir über Sundar Singh's frühere Tätigkeit gehört haben, können wir uns ein Bild davon machen, wie er auch jetzt gearbeitet haben wird. Andrews, der bis 1911 alljährlich nach Bareri bei Kotgarh zu gehen pflegte (139), entwirft ein anschauliches Bild von Sundar Singh's Art und seinem Wirken während all dieser Jahre. Er vergleicht ihn mit den rauschenden Gebirgsbächen: "In jener ersten Zeit, als das Feuer seiner Hingabe am hellsten loderte, war gewiss diese unmittelbare und schöpferische Freiheit des Geistes kennzeichnend für den Sadhu, wie wir ihn kannten. Heute konnte er hier sein und morgen wieder dort. In aller Frühe, ehe der Tag anbrach, konnte er eine neue Reise antreten, bloß einen Zettel hinterlassend, dass er den Ruf vernommen hätte und gegangen sei. Dann wieder konnte er ebenso plötzlich wieder erscheinen, niemand wusste, woher" (140). Andrews erzählt ein Beispiel aus der Zeit, wo er selbst in Kotgarh war: "Eines Nachts stand er vom Gebet auf und traf Anstalten, allein fortzugehen. Als er gefragte wurde, warum er so spät abends aufbreche, erwiderte er, dass er den Ruf von jemand im Tale unten, der seiner sofortigen Hilfe bedürfe, gehört habe. Die, die neben ihm schliefen, baten ihn, bis zum Anbruch der Dämmerung zu warten und sich nicht den nächtlichen Gefahren des Urwaldes auszusetzen. Doch der Sadhu blieb bei seinem Vorsätze, sofort aufzubrechen. Nach einigen Tagen kehrte er zurück. Der Mensch, den zu suchen er fortgegangen war, war schwer krank gewesen und hatte sehr seiner Hilfe bedurft. Dieser plötzliche Ruf durch den Geist in ihm, der mit seinem eigenen Geiste während einer Nacht schweigenden Gebetes Zwiesprache hielt, passte zu Sundar Singh's ganzem Christenleben und sein sofortiger, furchtloser Gehorsam war von der gleichen Art ..." (141). In diese gleiche Zeit mögen auch Sundar Singh's Besuche in Delhi gehören, bei denen er der Gast von Principal Rudra (142), dem Leiter des St. Stephen's College, war, an dem auch Andrews wirkte. Bei diesen Gelegenheiten widmete sich Sundar Singh vor allem den Studenten des Studentenheims. Andrews sagt, dass Sundar Singh zuwege gebracht habe, was alle anderen vergeblich versucht hätten: die Studenten mit brennender Hingabe zu Christus zu erfüllen. Und zwar war es praktisches Christentum, das Sundar Singh den Studenten vorlebte. Andrews fährt fort: "Der Wandel, der auf diese Weise zustande kam, war erstaunlich zu beobachten. Einer der Studenten, ein Kricketspieler und Athlet, ließ seine sicheren Aussichten auf Regierungsstellen fahren für direkt christlichen Dienst. Ein anderer beschloss, in den Dienst der Kirche zu treten ... Als ein Angehöriger der Fegekaste, der im College zu fegen hatte und ein "Unberührbarer" war, krank danieder lag, ging einer von denen, die am stärksten unter den Einfluss des Sadhu geraten waren, in die Behausungen der Feger, blieb bei ihm und pflegte ihn während seiner Krankheit. So etwas war in der Geschichte des College bis dahin noch nie vorgekommen" (142a). Will man Sundar Singh's tief greifenden Einfluss recht ermessen, muss man sich vor Augen halten, dass kein anderer als auch Andrews selbst von ihm aufs Nachhaltigste beeinflusst wurde. Mit durch Sundar Singh's Beispiel sah sich Andrews schließlich veranlasst, seine gesicherte Stelle als Professor am St. Stephen's College in Dehli aufzugeben (143); er löste die Verbindung mit seiner Mission und wurde auch seinerseits ein heimatloser Wanderer um Christi willen. Und gerade dadurch wie durch sein ganzes Wesen und Wirken gewann Andrews die Herzen der Inder, der Christen wie der Nichtchristen, in einem Maße, wie es nur ganz selten einem Missionar möglich war. Feuer entzündet sich nur an Feuer. Wenn wir rückblickend auf die Frucht sehen, die Sundar Singh's Leben während dieses Zeitabschnittes gewirkt hat, so können wir nicht anders als sagen, dass es ein großes und reiches Leben war. Es war die Zeit der ersten Liebe. Aber wir wollen nicht vergessen, dass sie für Sundar Singh selbst auch unendlich Schweres enthielt. Schreibt er doch einmal in seiner gleichnisreichen Sprache beim Rückblick auf die ersten 8 Jahre seines Dienstes, dass er in dieser Zeit soviel Tränen vergossen habe, dass damit jedes Jahr eine Flasche hätte gefüllt werden können. Erst in späteren Jahren habe man mit Freundlichkeit auf ihn geblickt (144). Anmerkungen |