Tagebuch 1919 von Paul Gaebler

 

Tagebuch von Paul Gäbler 1917 und 1919

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Inhalt

Linkliste zum Tagebuch

10.1. politische Veranstaltung
16.1. politische Morde
19.1. Wahl
20.1  Generalstreik
21.1. Straßenbeleuchtung
23.1.  Streik in Berlin
27.1.  Kaisers Geburtstag
10.2.  Landtag
11.2.  Reichspräsident
23.2.  Volkswehr
28.2.  Leipzig und Räterepublik
01.3.  Räterepublik
08.4.  Streiks
09.4.  Generalstreik
10.4.  Flugblätter  
11.4.  Gegenstreik

12.4.  Streiks
15.4.  Flugblätter
16.4.  Zeitungen
17.4.  Regierungstruppen
01.5.  Nationalfeiertag
07.5. Friedensbedingungen
13.5. Scheidemann
29.5.  Gerechter Friede?
15.6.  Putschversuch
16.6.  Krieg oder Frieden?
18.6.  Statt Versöhnung Verhöhnung?
20.6.  Abdankung Eberts
21.6.  Erzbergers Bedenken
22.6.  Bedingte Unterschrift
23.6.  Scape Flow

  • Paul Gäbler hat Anfang April 1919 mit 18 Jahren den Roman "Gottfried Kämpfer" von Hermann Anders Krüger  gelesen, der ihm außerordentlich gefallen hat. Er schreibt "Man hat einen feinen Einblick in die Brüdergemeinde bekommen; das Buch hat einem wirklich etwas gegeben!" Zum besseren Verständnis des Romans, der Paul Gäbler mit geprägt hat, ist unter den Anmerkungen ein Auszug aus dem Nachwort des Buches zu finden.

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August 1917

Montag, 6. August 1917

Wir standen schon vor ¼ 4 Uhr auf, denn heute endlich ging es ja nach Stützengrün zu Vater und Mutter! Auf den Zug, der 5.16 fahren musste, warteten wir vergeblich und fuhren mit dem folgenden Zuge 6.26. Es war so voll, dass wir bis Magdeburg stehen mussten (der Zug ging ganz ohne Aufenthalt durch). In Magdeburg stiegen wir möglicht schnell um. Während der Fahrt nach Leipzig mussten wir z. T. auch stehen, und zwar bis Halle, dann saßen wir fast immer bis Leipzig. Dort kamen wir um 12 an und hatten Zeit bis 12.40, konnten uns also im nach Hof fahrenden Zuge einen feinen Platz aussuchen. In Werdau stiegen wir fix um in den Zwickauer Zug. Auf dem Bahnhof in Zwickau war Vater. Nachdem wir auf dem Bahnhof Kaffee getrunken hatten, fuhren wir mit der Straßenbahn in die Stadt hinein, nach dem Markt. Dort sahen wir das Schumanndenkmal, Rathaus und Theater. Dann aßen wir in einer Gastwirtschaft eine Suppe und dann Kohlrabi. Von Zwickau fuhren wir nach Wilkau und stiegen dort in die nach Stützengrün führende Kleinbahn. Auf dem letzen Teile der Fahrt zeigt uns Vater u. a die Kirche. Mutter holte uns von der Bahn ab, der Koffer war noch nicht da, sondern kam glücklich am übernächsten Tage. Vater und Mutter zeigten uns den Garten. Zum Abendessen gab’s Bouillonsuppe (verdickt) und das Brot aus Braunschweig und Pudding mit Johannisbeeren. Dann gingen wir schnell zu Bett, und zwar schlief Gerhardt auf drei mit einem Strohsack bedeckten Konfirmandenbänken.

Dienstag, 7. August 1917

Wir konnten ausschlafen. Ich schlief bis ½ 10, bis mich Vater weckte. Zum Frühstück gab’s Graupen. Wir halfen Vater beim Zimmern einer Garderobe, ich musste die Wand an der betreffenden Stelle mit Zeitungsbogen tapezieren. Zum Mittagessen gab es Weißkohl mit Fleisch u. Kartoffel. Am Nachmittag machten wir bei den einzelnen Leuten und Nachbarn Besuche. Zum Abendessen gab’s Makrele und Brot.

Mittwoch, 8. August 1917

Ich stand um ¾ 8 auf. Zum 1. Frühstück gab’s Graupen, zum 2. Wurstbrot, zum Mittag Bohnen mit Klöße und etwas Speck, abends Pulversuppe und Pudding. Wir halfen Vater und schraubten die Garderobehaken ein. Am Abend um ½ 8 waren wir in der Kriegsbetstunde.

Donnerstag, 9. August 1917

Ich stand wieder um ¾ 8 auf. Am Morgen kam endlich Nachricht von Tante Käthe und Liel, und zwar wollten sie noch denselben Nachmittag kommen. Es musste bis dahin noch feste gearbeitet werden, ich half Vater dabei, die Gardinenstangen zurechtzumachen und die Gardinen aufzuhängen. Zum Mittagessen gab’s durchgedrehten Kohlrabi und durchgedrehte Mohrüben miteinander vermischt und etwas Fleisch. Am Nachmittag - Vater war nach Eibenstock zu einer Konferenz, wo er einen Vortrag halten musste - kamen dann die Tanten 5.16 hier an. Mutter war nach Rothenkirchen gegangen und dort zu ihnen in den Zug gestiegen. Als sie da waren, ging ein tüchtiger Regen los, mit etwas Donner begleitet. Zum Abendessen gab es eine sehr dicke Suppe, dann Pudding, der flüssig statt fest war, und dann ein Käsebrot. Dann gingen wir 3 um ¾ 9 zu Bett.

Freitag, 10 August 1917

Wir 3 standen um ¾ 8 auf. Die Graupen schmeckten Prachtvoll. ich las dann und machte Scheite zu Spänen, eine mühselige Arbeit. Zum Mittagessen gab’s Weißkohl mit Klößen. Zum Kaffee gab’s Zwetschenmusbrot und Torte von Frau Kantor Dann half ich Vater, die Wohnstubengardinen aufzustecken. Zum Abendessen gab’s Suppe, Pudding, Brot. Wir 3 gingen um ½ 10 zu Bett.

Sonnabend, 11. August 1917

Wir 3 standen ½ 8 auf. Es war windig, aber klar. Tante Käthe hatte heute Geburtstag, und es wurde ihr nach dem aus einer Mehlsuppe, in die Brotstücke eingetunkt waren, und einer Tasse Milch bestehenden Frühstück beschert, darnach holten wir von Singers in Neulohn einen Tafelwagen, um darauf von Herrn Pfarrer Parthei aus Hundshübel ein Bett zu holen. Unterwegs hatten wir das Pech, dass von einem Wagenrade die Mutter verloren ging und infolgedessen sich das Rad immer wieder abdrehte. Auf dem Rückwege kam uns Vater entgegen, und der band einen Strick ums Rad, so dass wir mit Ach und Krach um ¾ 2 zu Hause ankamen. Das Mittagessen bestand aus Mohrüben, Kohlrabi und Schweinebraten, und dann gab’s noch Zwetschgen, die Mutter noch von Tante Anna hatte. Nach dem Essen rannte ich gleich zu Frau Kanter und zum Schmidt wegen der Orgelschlüssel. Am Nachmittag waren wir mit Mutter und den beiden Tanten in der Kirche, wo wir auf den verschiedenen Treppen herum kletterten, und überhaupt das Innere der Kirche uns ansahen. Zum Abendessen gab’s Pellkartoffeln mit Speck und Zwiebeln!

Sonntag, 12. August 1917

Wir drei standen wieder um ½ 8 auf, und Ernst und ich zogen die langen Hosen an. Zum Frühstück gab’s eine wunderschön dicke Haferflockensuppe mit Zucker und Zimt bestreut, ein herrliches Essen. Um 9 war Kirche, um 8 vorher war Abendmahl gewesen. Der Gottesdienst dauerte fast 2 Stunden, es wurde eine Menge abgekündigt. Das aus richtiger Bouillonsuppe, Fleisch und Klößen bestehende Mittagbrot schmeckte herrlich. Nach dem Kaffee gingen wir am Hübel entlang nach Unterstützengrün, wo Vater bei einer 78-jährigen Frau, die sich das eine Bein vor längerer Zeit gebrochen hatte, aber doch noch lag, eine Privat-Kommunion hatte. Unterwegs merkte Vater, dass er einen Schlüssel im Schreibtisch hatte liegen lassen, und den mussten Ernst und ich holen. Nachdem wir dort bis dicht an den Wald gegangen waren, gingen wir in eine Gastwirtschaft und nahmen eine Tasse Kaffee und 2 Stücke feine Torte zu uns. Außerdem nahmen wir Aufschnitt ohne Marken (250g) mit nach Haus zum Abendessen. Auf dem Rückwege gingen wir über die Hübel. Zum Abendessen gab’s Kartoffel-Gurkensalat und hinterher eine Scheibe Brot mit etwas Schinken. Um ½ 10 lagen wir in der Klappe. Übrigens musste ich in dieser Woche immer mittags abtrocknen.

Montag, 13. August 1917

Wir 3 standen wieder um ½ 8 auf. Frühstück s. 11. Aug. Vater, Tante Käthe und Tante Liel gingen nach dem Hübel, wo T. K. malte u. T. L. lernte, während Vater und wir 3 nach dem Kuhberg gingen. Wir gingen unter der gebogenen Eisenbahnbrücke durch, durch Neulehn und am Forsthaus vorbei den Berg hinauf. Nach etwa 1-stündigem Wege waren wir oben, vom Aussichtsturme aus hatten wir eine prachtvolle Aussicht, man konnte sogar Zwickau liegen sehen, wenn auch in nebliger Ferne. Das Mittagbrot um 1 Uhr bestand aus Sauerkohl mit Fleisch. Nach Tisch wuschen Ernst und ich auf und hackten am Nachmittag Holz u. lasen. und machten eine Wäschestange, der Kaninchenstall wurde dann ausgemistet. Zum Abendbrot gab es Suppe und hinterher Gurkensalat. nach der Andacht gingen Gerhardt um ¾ 9 zu Bett,) wir (beiden anderen) um ¼ 10 zu Bett (Parole: Kuhberg).

Dienstag, 14. August 1917

Zum Frühstück gab’s Graupen. Zum 2. Frühstück gab’s ein Zuckerei, das Frau Baumgärtel geschenkt hatte. Ich musste zur Post gehen. Dann studierten wir wieder im Transhimalaja-Buch von Sven Hedin, das Vater eigens für uns in Leipzig geliehen hatte. Zum Mittagessen gab’s Schnippelbohnen mit weißen Bohnen und dazu Schmorbraten. Wir hackten am Nachmittag wieder Holz und ersetzten einen schäbigen Wäschepfahl durch einen neuen. Als Mutter mit den beiden Tanten aus Rothenkirchen wieder zurück war, schälte und zerschnitt ich wie am vorhergehenden Abend Gurken für Salat. Außerdem gab es Mischgemüsesuppe. Nach der Andacht ging Gerhardt um ¾ 9 zu Bett, wir beiden anderen um ¼ 10 Uhr (Parole: Gurke)

Mittwoch, 15. August 1917

Nachdem wir um ½ 8 aufgestanden waren, gab es Mehlsuppe mit eingebrockten Brot und eine Tasse Milch. Nach dem 2. Frühstück (Honigbrot) mussten Ernst und ich einen Plan für einen Kaninchenstall machen, der aber falsch wurde. Zum Mittag gab’s Weißkohl und Klöße. Dann legten wir die Bretter zurecht. Nach dem Kaffee waren wir drei mit Tante Käthe und Tante Liel in Rothenkirchen und machten einige Besorgungen. Dann spielten wir Schach und lasen. Zum Abendbrot gab’s Makkaroni, die großartig schmeckten. Um ¾ 10 gingen wir zu Bett.

Donnerstag, 16. August 1917

Ich stand wieder um ½ 8 auf. Zum Frühstück gab’s Grütze mit Zimt und Zucker. Dann zogen wir Bohnen ab und arbeiteten am Kaninchenstall. Zum Mittag gab’s grüne u. weiße Bohnen mit Kartoffeln. Nach dem Kaffee (Honigbrot) machten wir die Gurken(?) von den Bäumen weg und holten von Frau Händel 4 Eier und etwas Butter. Dort kriegten wir jeder 4 feine Birnen. Zum Abendessen gab’s Dörrgemüsesuppe mit Gurkensalat. Um ½ 8 war Kriegsbetstunde. Um ½ 10 gingen Ernst und ich zu Bett.

Freitag, 17. August 1917

Ernst und ich verschliefen die Zeit, wachten erst um ¾ 8 auf. Zum Frühstück gab’s eine herrliche Mehlsuppe dann mussten wieder Bohnen abgezogen werden dann, nach dem 2. Frühstück, jäteten wir Unkraut aus und suchten die Raupen vom Kohle ab. Das Mittagessen bestehend aus Mohrrüben und Kartoffeln im 1. Gange und aus Kohlrabi und Kartoffel im 2. Gange dann schrieb ich 3 Karten. Nach dem Kaffee um 3 (Kunsthonigbrot) malte ich mit Tante Käthe (Ernst zeichnete) ein Haus auf dem Hübel. Gegen Abend wurde es ziemlich kühl. Zum Abendessen gab’s ein feines Gericht: Pellkartoffel mit Senftunke. Ernst und ich lasen dann bis 10 Uhr abwechselnd aus den Tagebüchern im Ferienlager geführten Tagebuche vor.

Sonnabend, 18. August 1917

Da wir ausschlafen konnten, schlief ich bis ¼ 9 Uhr, ebenso Ernst. Zum 1. Frühstück gab’s dicke Graupensuppe mit Zimt und Zucker, was herrlich schmeckte. Um ½ 10 ging Vater mit den beiden Tanten und uns drei einen Spaziergang nach den beiden Eisenbahnbrücken. Endlich war mal das Wetter wieder wirklich schön. Auf verschiedenen Feldern wurde das Getreide gemacht. Nach unserer Rückkehr aßen wir das 2. Frühstück, bestehend, wie öfter, aus einer Scheibe Quark, ½ Scheibe Schweizerkäsebrot und einen Glase Buttermilch. Dann las ich das Kriegsbuch „Aus der Hölle empor“. Tante Käthe und Tante Liel backten unterdessen Kuchen. Zum Mittagessen gab’s 2 Teller dicke Bohnen (Pferdebohnen mit Klößen), von denen man mächtig satt wurde. Dann putzte ich etwa 9 Paar Stiefel bzw. Schuhe und trocknete dann ab. Nach dem Kaffee (Kunsthonigbrot und Gurkentorte) gingen wir drei in den Wald, wo Mutter früher öfter Heidelbeeren gesucht hatte, und suchten dort Pilze, die wir Sonntagabend als Tunke aßen. Als Abendessen gab es Pulversuppe und Käsebrot. Dann badeten wir in einer richtigen Badewanne und gingen bald nach ½ 10 zu Bett.

Sonntag, 19. August 1917

Aufgestanden wurde um ¾ 8. Zum Frühstück gab’s Haferflockensuppe, besser - Brei mit Zimt und Zucker. Es fand in der Kirche Lesegottesdienst statt, da Vater nach Hundshübel musste. Es wurden drei Arien gesungen. Zum Mittag gab’s feine Bouillonsuppe. Zum Kaffee gab’s Kuchen. Dann gingen wir mit Woogs zum Weißbachtal und suchten unterwegs eifrig Pilze. Aber wegen der großen Trockenheit gab’s nicht viele. Zum Abendessen gab’s Pellkartoffeln mit Senf- Pilze- tunke dann besahen wir Photographien von Indien u. lasen aus unserem Tagebuche vor. Um 10 etwa gingen wir zu Bett.

Montag, 20. August 1917

In dieser Woche hatte ich das Amt des „Oberausluckers“ und die nächste Woche noch mit (also 14 Tage) das Amt, die Kaninchen zu füttern. Wir standen um ½ 8 auf. Das Wetter war unfreundlich. Zum Frühstück gab’s Graupensuppe, zum Mittag Weißkohl. Dann mussten wir wieder am Kaninchenstall arbeiten. Auch verschiedene Besorgungen mussten wir machen. In dieser Woche gab’s auf den Kopf 5 lb, so dass wir jeden Tag 7 lb 5 lb essen konnten, da wir ja 7 Personen waren. Zum Kaffee gab’s 3 Scheiben Musbrot, zum Abendessen, das schon um ½ 8 war Dörrgemüsesuppe und 1 Scheibe Schweizerkäsebrot. Die beiden Tanten und Mutter gingen machten dann um ¾ 9, nachdem aufgewaschen war bei Frau Vorstand einen Besuch. Um kurz vor 10 lagen Ernst und ich in der Klappe. Übrigens hatte ich in dieser Woche immer morgens abzutrocknen.

Dienstag, 21. August 1917

Ernst und ich verschliefen gründlich die Zeit und wachten erst um ¾ 9 Uhr auf. Zum Frühstück bekamen wir angebrannte Hafergrütze, die aber zum Troste mit Zucker und Zimt bestreut war. Das Wetter war schlecht, es goss in einem fort. Ich musste Vater helfen, die Nähmaschine aufzubauen. Auch mussten wir Bindfäden entwirren. Am Morgen trocknete ich natürlich wieder ab. Zum Mittag gab’s Brechbohnen, Rindfleisch und Kartoffeln, wovon man ordentlich satt wurde. Das Wetter klärte sich nun allmählich auf, wenn auch die Sonne nicht hervorkam. Für den Nachmittag waren wir bei Herrn Pfarrer Parthei eingeladen, da Vater 2 Begräbnisse in Hundshübel hatte. Dort bekamen wir jeder mehrere Stücke Semmel, bei der besonders der Zuckerüberzug mundete. Leider war Herr Pfarrer P. krank geworden am Morgen und konnte deshalb nicht mit Kaffee trinken. Die alte 83- jährige Mutter von Frau Pf. P. besuchten wir dann auch. Auf dem Rückwege machten wir drei mit Vater einen Abstecher nach einem Aussichtspunkt. Die Aussicht war aber nicht berühmt. Die Tanten mit Mutter kamen nach. Unterwegs unterhielten wir uns mit Vater sehr fein über alle möglichen Dinge. Nach dem Abendessen (Pulversuppe mit Gerstengrütze und etwas Brot) saßen wir alle zusammen außer Gerhard, der schlief, bis etwas nach 11 gemütlich zusammen, und Vater und Mutter mussten von Indien erzählen. Wir fragten z.B. nach dem Schlangen, Fröschen, Skorpionen, Termiten. Dann ging’s schleunigst ins Bett.

Mittwoch, 22. August 1917

Da wir ausschlafen konnten, schliefen Ernst und ich bis kurz vor 8. Zum Frühstück gab’s feine dicke Gerstengrütze. Dann fütterte ich die Kaninchen und schrappte Mohrrüben. Tante Käthe ging zu dem See zum Malen. Ich musste dann noch abtrocknen und Mutter sonst wie noch helfen. Gleich nach ½ 1 aßen wir Mittagbrot. Mohrrübe und Kartoffeln. Tante Käthe aß nach, weil sie wegen des Malens zu spät kam. Dann wurde Honigkuchen gebacken. Am Nachmittag suchten wir Pilze und Tannenzapfen im Seidelswald. Wir fanden drei Rucksäcke voll Zapfen. Das Abendbrot um ½ 8 bestand aus Dörrgemüse-Suppe und darauf folgend feinen Pudding. Nach Tisch erzählte Vater wieder etwas von Indien, bis wir um 10 zu Bett gingen. Übrigens waren Tante Liel und Mutter nach dem Essen in Neulohn.

Donnerstag, 23. August 1917

Ich schlief bis ¾ 9. Zum Frühstück gab’s dicke Graupen. Dann half und las ich. Nach dem Abtrocknen arbeitete ich mit am Kaninchenstall bis zum Mittagessen, wo es Weißkohl mit Klößen und Büchsenfleisch gab. Nach Tisch las ich etwas und arbeitete tüchtig Geschichte, und zwar im Liegestuhl draußen liegend. Um 4 ½ gab’s Kaffee (Mus- u. Kunsthonigbrot) und dann musste Gerhardt, Ernst und ich nach Unterstützengrün zum Gemeindeamt, während Mutter mit den Tanten Frau Händel besuchte. Um 7 zum Abendbrot aßen wir Erbsensuppe mit Brot dazu. Dann waren wir in der Kriegsbetstunde. Nachher saßen wir beide bis ¾ 10 bei Vater im Zimmer und erzählten von der Schule und Vater zeigte uns einiges vom Hebräischen.

Freitag, 24. August 1917

Ich stand um ½ 9 auf. Zum Frühstück gab’s braun aussehende Roggengrütze-Suppe, die ganz ähnlich wie Brotsuppe schmeckte. Dann schrieb ich einen Brief an Tante Anna und las. Zum Mittagessen gab es Kohlrabi, Mohrüben und Kartoffeln. Dann schrieb und arbeitete ich Geschichte. Zum Kaffee aßen wir einen Mus und ein Kunsthonigbrot, worauf wir 6 Zitronen aus Unterstützengrün holen mussten. Dann las ich bis zu dem Abendbrot. Vorbereitungen, wo zum Abendbrot gab es Bratkartoffeln mit Gurkensalat und Fleisch so dass man ganz satt wurde. Leider waren sie etwas versalzen. Dann wuschen Ernst und ich noch auf, dann lasen wir bis ¼ 11, während Tante Käthe, Tante Liel und Mutter bei Frau Kantor waren.

Sonnabend, 25. August 1917

Wir standen um ½ 8 auf. Zum Frühstück gab’s feine dicke Graupen, dann half ich und las. Zum Mittagessen gab es Suppe und dann Kartoffelbrei mit Margarine- Tunke und 3 Stück Senfgurke. Das Essen schmeckte ganz herrlich, man wurde richtig „friedenssatt“, „knallprall“. Dann arbeitete ich Geschichte und las. Nach dem Kaffee (Brot und Torte) suchten wir Raupen vom Kohle ab und halfen sonst wie. Nach dem Abendbrot, wo es Mohrrüben und Erbsen gab, gingen Ernst und ich mit Mutter zu Brettschneiders (Schlachter) und holten – es war ja schon fast ganz dunkel - Kartoffeln. Dann badeten wir und gingen zu Bett.

Sonntag, 26. August 1917

Um ¾ 8 standen wir auf. Zum Frühstück gab’s Haferflocken mit Zimt und Zucker. Um 9 war Kirche, die etwa bis 11 Uhr dauerte. Bis zum Mittagessen, das im 1. Gang aus Bouillonsuppe mit Grießklößen, im 2. Gang aus Rindfleisch mit Tunke und aus Kartoffeln bestand, lasen wir. Zum Kaffee gab’s Zwetschenmusbrot, dann Kuchen und dann Honigbrot. Wieder lasen wir bis zum Abendbrot, das aus feinen Kartoffelsalat, Pudding und Brot bestand - die Henkersmahlzeit für Tante Käthe und Tante Liel. Wir durften dann bis ½ 10 noch aufbleiben. Die Tanten gingen aber früher zu Bett.

Montag, 27. August 1917

Wir standen um ¾ 7 auf, die Tanten waren schon 4.28 nach Dresden abgefahren. Zum Frühstück gab’s Grütze. Den ganzen Morgen wurden dann Bohnen abgezogen und geschnippelt. Als Mittagessen gab’s Brechbohnen, Kartoffel und Kalbsbraten mit Tunke, wovon man entsetzlich satt wurde. Zum 1. Male blieb Essen übrig. Dann arbeitete ich Geschichte und las. Zum Kaffee gab’s Honigbrot und ein Stück Kuchen. Als Abendbrot gab’s Suppe mit Kartoffeln und Bohnen und dann ein Käsebrot. Nach Tisch lasen wir und unterhielten uns, bis wir gleich nach 9 zu Bette gingen.

Dienstag, 28. August 1917

Ich stand um ¾ 8 auf. Zum Frühstück gab’s feine Dicke mit Zimt und Zucker bestreute Graupen. Dann arbeitete ich und las und spielte etwas auf dem Harmonium. Um ¾ 11 gingen wir drei in den Seidelswald und suchten Tannenzapfen und Pilze; T. fanden wir nur wenig, P. dagegen sehr viel, besonders auf einer Wiese Wiesenchampignons. Dann aßen wir Mittagbrot: Weißkohl mit fein viel Kartoffeln und dann 2 Äpfel von Frau Händel. Dann las ich bis 3; nun musste ich zu Mönikes und 5 lb Birnen zu 2.25 holen. Diese „Tafelbirnen“ waren aber nicht allzu gut. Dann machte ich meine Düte Pilze zurecht und dann tranken wir Kaffee (Honig- und Musbrot). Dann gingen wir zu Frau Hendel. Dort besahen wir uns zuerst mit Tienchen (Chrstinchen) den Garten, tranken dann noch mal Kaffee und aßen dazu Schmalzborte (Mutter war unterdes auch gekommen), und spielten dann im Garten bis ½ 8 fein Verstecken. Zum Abendbrot gab’s Pellkartoffeln mit Gurkensalat und Senfsoße, zu wozu die liebe Frau Hendel ein Stück vorgebrachte Rotwurst gestiftet hatte. Dann lasen wir noch eine Zeitlang und dann ging’s ins Bett.

Mittwoch, den 29. August 1917

Ich stand um ½ 8 auf. Es war Regenwetter. Zum Frühstück gab’s wieder Graupen. Ich musste an dem Tage auskehren und am Morgen abtrocknen. Darauf schrieb ich Tagebuch und eine Karte und las. Dann half ich Vater dabei, das Dach auf den Kaninchenstall aufzunageln. Als Mittagessen gab es Schnippelbohnen mit Kartoffeln. Nach Tisch arbeitete ich Geschichte, las und arbeitete am Kaninchenstall. Zum Kaffee gab’s Zwetschenmus und Kunsthonigbrot. Nachher las ich und arbeitete wieder am Kaninchenstalle. Zum Abendbrot gab es Suppe mit Resten vom Mittag und einen feinen Pudding und zur Suppe eine Scheibe Brot. Bis ½ 11 lasen wir.

Donnerstag, 30. August 1917

Um ¼ 9 weckte uns Mutter. Zum Frühstück - vorher gingen wir noch zu Frau Baumgärtel und holten Gemüse - gab es Milchsuppe, die fein dick war. Dann machten wir fürs Mittagessen die Mohrrüben zurecht. Nach dem 2. Frühstück halfen wir Vater wieder tüchtig beim Kaninchenstall. Zum Mittagessen gab’s Mohrrüben, und Kohlrabi und Kartoffeln mit Büchsen- Schweinefleisch und Tunke - ein herrliches Essen. Dann wurde der Stall zu Ende gezimmert, und die beiden Kaninchen konnten ihre neue, schöne Wohnung beziehen. Zum Kaffee gab’s Kunsthonig- und Zwetschenmusbrot. Dann besuchten wir Frau Reuther. Als wir wiedergekommen waren, deckten wir den Tisch und gingen um 7 Uhr in die Kriegsbetstunde. Dann aßen wir als Abendbrot Dörrgemüse-Suppe und Pudding. Bis ¾ 10 zeigte uns dann Vater seine Photos und seine Filme.

Freitag, 31. August 1917

Wir standen um ½ 8 auf. Zum Frühstück gab’s Graupen. Dann mussten wir das Bett wieder nach Hundsübel bringen, wozu wir uns von Schubert´s einen kleinen Tafelwagen liehen. Bei Herrn Pfarrer Parthey, dem es immer noch nicht wieder gut ging, bekamen wir Birnen. Unterdessen war Vater - er kam zum Mittagessen wieder zurück - in Schönheide. Dann machten wir eine Aufnahme vom Kuhberge. Zum Mittagessen gab’s Weißkohl mit Kartoffeln. Nachher wurde wieder photographiert. Nach dem Kaffee machten wir tüchtig Abzüge und brachten auch Tante Käthes Frachtsachen zur Bahn. Als Abendessen gab’s Suppe, Makkaroni und Kartoffeln. Nach dem Abendessen wurde der Film entwickelt, was mächtigen Spaß machte. Deshalb kamen wir auch erst um ½ 11 ins Bett. Diese Nächte war immer herrlicher Mondschein.

Sonnabend, 1. September 1917

Wir standen um 8 Uhr auf. Es gab zum Frühstück Mehlsuppe. Den Morgen über machten wir wieder fleißig Abzüge, wie auch am Nachtmittage. Zum 2. Frühstück gab’s ein Ei, zum Mittagbrot Kartoffelklöße mit Birnen und dann Pudding. Um ¼ 4 gingen Ernst und ich zu Mönike´s und holten 50 lb Kartoffeln; die Geschichte dauerte 1 ½ Stunden. Zum Kaffee gab’s Quarktorte und Wurstbrot!

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Januar 1919

Mittwoch, den 1. Januar 1919

Am Nachmittag lese ich "Oliver Twist" von Dickens zu Ende, dann "Licht und Leben" etwa 10 Nummern; nachher sind Ernst und ich bei Onkel Martin (ich leihe mir einen Geschichtsatlas, Siedelungsfragen). "Oliver Twist" hat mir ganz gut gefallen, aber er ist ermüdend zuweilen.

Donnerstag, den 2. Januar 1919

Ich mache mit Mutter einige Besorgungen in der Stadt, Mutter besorgt sich einen Pass für die Rückfahrt nach Leipzig: Im Polizeigebäude sitzen einige Damen, die viel Ähnlichkeit mit ehemaligen Dienstmädchen haben und schreiben ihre Pässe; wenn man etwas schriftliches hat, kriegt man todsicher so ein Monstrum(?).

Freitag, den 3. Januar 1919

Ich bringe in der Kladde den Aufsatz "Kassandra" zu Ende. Am Nachmittag wiederhole ich Hebräisch.

Sonnabend, 4. Januar 1919

Morgens 7.49 fährt Mutter wieder weg. nach Leipzig. Ich mache einen Knipser für den elektrischen Schalter in der Wohnstube. Dann gehe ich in die Stadt zu Besorgungen und am Nachmittag wiederhole ich Geschichte und Hebräisch.

Sonntag, den 5. Januar 1919

Wir sind in der Garnisonkirche (Pastor Fischer "Einer trage die Last des Anderen") und gehen dann zu Frau Dr. Jacobs, die bei ihrer Mutter Frau von Gröling augenblicklich wohnt. Sie hat eine längere Zeit krank im Bett gelegen und war zur Erholung in Flensburg. Nachher fange ich "Hamlet" zu lesen an. "Das Marmorbild" von Eichendorff, das ich Freitagabend gelesen habe, hat mir nur teilweise gefallen. Es ist zu verschnörkelt. Typisch für Eichendorf sind die Mondscheinszenen und Frau Venus.

Montag, den 6. Januar 1919

Ich lese "Hamlet" zu Ende. Er hat mir sehr gut gefallen, hoffentlich wird er bald auf dem Theater gegeben, dass ich ihn mir dort ansehen kann. Wie schade, dass Hamlet sein Leben verliert - doch dafür ist es ein Drama. - Dann mache ich die laufenden Schularbeiten für morgen, heute ist ja schon leider der letzte Schultag. Vergeblich erwarten wir den ganzen Tag Tante Tilly.

Dienstag, den 7. Januar 1919

Am Mittag schenkt mir Wolfgang eine Eintrittskarte für das Theater, das am Abend von 6 - 9 spielt. "Der fliegende Holländer" hat mir sehr gut gefallen. Den ersten Akt hatte ich schon gelesen. Der zweite war mir nicht ganz klar, und der dritte gefiel mir besonders gut.

Mittwoch, den 8. Januar 1919

Am Nachmittag B.K.. Es wurde die Trennung der Älteren und Jüngeren beschlossen, wir haben künftig Donnerstags Abend alle 14 Tage.

Freitag, den 10. Januar 1919

Hampe redet im Wilhelmsgarten. Lagershausen: Ernst und ich besorgen in der Druckerei von Göbel auf der Gördelingerstraße Flugblätter, die wir nachher verteilen. Der große Saal ist ganz voll. Draußen im Vorraum schlagen radaumachende Soldaten Schilder mit

"Hoch Merges"

"Hoch die Revolution"

an die Tür an. In einem unbewachten Augenblick riss Dürre einige Schilder ab, und im nächsten Augenblick kam ein kleiner grässlicher Soldat mit einem Glasauge angesaust und rannte an Dürre vorbei nach draußen, während sich Dürre schleunigst im Saal verkrümelte. Der Soldat kam mit einem älteren Mann an, den er fürchterlich anfuhr, aber nachher auf die spottenden Reden der anderen Soldaten zufrieden ließ.

Sonnabend, den 11. Januar 1919

Am Abend P.V., leider bin ich mit den Schularbeiten nicht fertig geworden. Wir sitzen im Kaffee Velten [?] im Kegelhause. Staff hält ein ziemlich schwer verständliches Referat über Marx, das er vorliest und wobei er viele fremdwörterliche Schlagworte gebraucht. Ich rauche meine erste Zigarette, Die mir W. anbietet und die ich ihm nicht abschlagen kann. Sie schmeckt mir nicht

Sonntag, den 12. Januar 1919

Ich bleibe wegen meiner Erkältung aus der Kirche und besuche nachher Dieter [?]. Er erzählt vom Kultusminister Hoffmann, dass er sich in sehr wohlwollendem Sinne über Schülerräte geäußert habe. Alle Schüler von OIII ab sollen genau wie die Lehrer eine Stimme haben, und unter den Schülern von Obersekunda ab ist die freie Liebe gestattet (!!!) und gegen erotische Tänze ist nichts einzuwenden (!!). – Ich muss noch ziemlich viele Schularbeiten machen, bis zum Abend. – Ich fange an, über Buddha zu lesen.

Montag, den 13. Januar 1919

Ich bringe den Aufsatz " Kassandra" zu Ende, arbeite bis 12 Uhr. - In Berlin sind nun die Spartakiden von den Mehrheitssozialisten mit Hilfe der "Regierungstruppen" überwunden.

Dienstag, den 14 Januar 1919

Heute ist Tante Ida Brenstadt [?] in Königslutter heimgegangen. Nach dreijähriger schwerer Krankheit ist sie endlich erlöst. Das Begräbnis ist am Sonnabend auf dem Domfriedhof. Sie hat sich in ihrer geistigen Umnachtung selbst aufgehängt - wie schrecklich traurig!

Mittwoch, den 15. Januar 1919

Ich arbeite abends bis 11, Mathematikhausarbeit.

Donnerstag, den 16. Januar 1919

Liebknecht und Rosa Luxemburg †, fast möchte man sich freuen!  -
In Schraders Hotel Vortrag von Herrn Missionsdirektor a.D. v. Schwartz über Trennung von Staat und Kirche

Sonntag, den 19. Januar 1919

Am Nachmittag ¾ 2 - 3 löse ich Benecke in einem Wahllokal auf der Bertramstraße ab und muss jedem Wähler einen Umschlag für die Stimmzettel geben. Heute ist ja die Wahl zur Nationalversammlung. Der Tag läuft ganz ruhig ab, weil die Wahlen unter dem Schutze der Arbeiter- und Soldatenräte stehen: Merkwürdig - noch vor kurzem erklärten Herr Örtes [?] und seine Amtsgenossen, der Weg zur Nationalversammlung ging über ihre Leichen; man muss sich eben den Verhältnissen anpassen können. -
Wegen meiner Erkältung kann ich nicht zur Kirche. - Mutter hält heute Abend ihren ersten Vortrag in Leipzig. Ich lese mit viel Interesse ein Buch "aus Natur u. Geisteswelt", das ich mir aus der Bücherei geliehen habe: "Leben und Lehre des Buddha" v. R. Pischel. Was ist der Buddhismus für eine dunkle und verzwickte Religion, auch wenn er stellenweise Ähnlichkeiten mit dem Christentum hat! Ich will vielleicht im P.V. hierüber einen Vortrag halten.

Montag, den 20. Januar 1919

Generalstreik sämtlicher Arbeiter anlässlich des Todes von Liebknecht u. Rosa Luxemburg. Nach sieben Uhr darf niemand der nicht einen Pass hat, sich auf der Straße blicken lassen. Wolfgang gibt mir einen Zettel folgenden Inhalts: "Der Arbeiter! Morgens macht er aus dem Bette, dann macht in die Hose, darauf macht er in die Fabrik. dort macht er Frühstück u. Mittag, um, wenn er seine Arbeit gemacht hat, nach Hause zu machen; und am Abend macht er ins Kino.

Dienstag, den 21. Januar 1919

Abends ist die Straßenbeleuchtung sehr kläglich, fast überhaupt nicht vorhanden. Um sieben Uhr geht das elektrische Licht aus, und wir müssen uns mit Kerzen behelfen.

Donnerstag, den 23. Januar 1919

Der Generalstreik beendigt. Man darf sich auch wieder draußen nach sieben Uhr abends bewegen, und die Geschäfte, die nur von 9 - 12 geöffnet sein durften, haben den ganzen Tag wieder offen. - Die Kellner, die einen Streik in Berlin gehabt hatten, sind jetzt auch mit ihren Forderungen durchgedrungen. Sie bekommen zwar nicht mehr Trinkgeld, dafür aber 1000 M als Angestellte im Wirtshaus. Zu was für Preisverteuerungen muss das führen, und wo bleiben die Finanzen! So viel bekam ja früher nicht einmal ein Minister!  -
Am Nachmittag mache ich einen Vortrag "Buddhas Leben und Lehren" zur Hälfte fertig in Kladde. Das Thema macht mir viel Spaß, leider muss ich reichlich viel abschreiben, ich habe eben zu wenig positive Kenntnisse in dieser Hinsicht. Aber immerhin habe ich ja auch selber dabei zu tun durch zusammensuchen, ordnen u.s.f.

Sonnabend, den 25. Januar 1919

P.V. Öhlmann hält einen Vortrag über "Strauß u. Wagner" und Brandes über "Impressionismus und Expressionismus". Die Erörterungen waren endlos lang und gingen weit hinaus über mein Verständnis.

Sonntag, den 26. Januar 1919

Leider können wir alle der Erkältungen wegen nicht in die Kirche. T. A. liest eine Predigt vor über die Sturmstillung Jesu, die ausgezeichnet in die Jetztzeit passt. Dann lese ich die Zeitschriften und arbeite am Buddha- Vortrag. Am Nachm. werde ich bei Wolfgang zum gestrigen Geburtstag eingeladen, wo sich noch Lebrecht, Werner Weber u. die beiden Drude einfinden. Es ist sehr gemütlich und nett. Wolfgang spielt nachher etwas auf dem Klavier vor.

Montag, den 27. Januar 1919

Kaisers Geburtstag! Wie anders sieht es jetzt aus im Vergleich zu andern Jahren! Der Kaiser wird wirklich hart geprüft. In der Stadt macht sich allmählich zaghaft eine Strömung bemerkbar, die nicht mit Herrn Schneidemeister Merges und Herrn Örter [?] zufrieden ist. So war dem Pferde des Herzog Wilhelm Denkmals vor der Burg Dankwarderode vor einigen Tagen über Nacht ein Plakat umgehängt; darauf war zu lesen:

Herzog Wilhelm steig´ hernieder!

Komm, regiere Du uns wieder!

Lass in diesen schweren Zeiten

Lieber Schneider Merges reiten!

Letzte Nacht hat ein kühner Kletterer das Dach des Landestheaters erstiegen und dort eine schwarz-weiß-rote Fahne aufgepflanzt und darunter ein Plakat angebracht, das in großen Buchstaben die Inschrift trug "Nieder mit Merges!" Ähnliche Plakate befanden sich an zahlreichen Anschlagsäulen. Leider wurden aber die antirepublikanischen Kundgebungen auf Veranlassung der Behörde alsbald entfernt und auf dem Landestheater wieder die rote Fahne auf Halbmast gehisst (wegen Liebknechts Tod).

Die Schule hat jetzt immer eine unangenehme Seite, nämlich die, dass die Klassen immer sehr schwach geheizt sind. Gewöhnlich sind es morgens 13° C und steigt dann bis 18°; heute früh waren es sogar bloß 7 ½° und [...] saßen wir alle in Mänteln - bei solch elender Kälte; ich werde meine Erkältung auf die Weise überhaupt nicht mehr los.

Donnerstag, den 30. Januar 1919

Es ist winterlich und kalt geworden, vorgestern sank das Thermometer bis -10°. - B.K. Es wird über die Art u. Weise u. den Inhalt der Stunden verhandelt, die abgehalten werden sollen. Jeder soll recht viel sich beteiligen mit Fragen u. Antworten, damit er innerlich weiterkommt.

Freitag, den 31. Januar 1919

Ernst u. ich sind bei Berger und bringen dann mit einem Dienstmann, Herrn Roland, die Möbeln von Tante Liel auf einem Karren zu Tante Webers Wohnung. Der Wagen ist voll bepackt mit Sekretär, Kiste, Kommode, zwei Tischen. Das Heraufschleppen der schweren Möbel ist ein tüchtiges Stück Arbeit, geht aber ganz gut. - Am Abend essen wir Butterbrot mit geräuchertem Fisch. Den Mutter geschickt hat, ein ganz herrliches Essen!! Leitung und Mithilfe des frdl. Herrn Roland.

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Februar 1919

Sonntag, den 2. Februar 1919

In der Kirche Gottesdienst für die heimgekehrten Krieger. Herr Domprediger spricht über "Dein Wille geschehe." Ich arbeite dann Geschichte für die morgige mündliche Wiederholung und mache schließlich den Buddha-Vortrag in der Kladde fertig.

Mittwoch, den. 5. Februar 1919

Es hat tüchtig geschneit. Es herrscht große Kohlenknappheit, manche Bäckereien sollen sogar keine Feuerung mehr zum Backen haben, darum werden heute die städtischen Schulen geschlossen. Heute, morgen u. übermorgen habe ich Nahrungsmittelkartenverteilung auf der Reichsstraße.

Donnerstag, den 6. Februar 1919

Heute haben wir Kälteferien bekommen, müssen aber diese Woche nachmittags 4 - 5 zur Schule. Nach der Kartenverteilung hat es um ½ 5 keinen Zweck mehr, zur Schule zu gehen. Darum wandle ich gleich zu W. Drude, der heute Geburtstag hat und Ernst u. mich eingeladen hat. Es ist ganz nett. Wolfgang Sch. spielt einiges von Beethoven auf dem Klavier u. spielt nachher unter Geigenbegleitung Jochens. Nachher B.K. wir sind nur wenig, Georg A. liest einiges von einem Erfurter B.K.ler vor, was der als Tagebuch geschrieben hatte. Nachher wird, nachdem noch P. Stosch gekommen ist, über das Bibellesen gesprochen.

Freitag, den 7. Februar 1919

Von der Nahrungsmittelverteilung gehe ich zu "Hamlet", der mir sehr gut gefällt. - Gestern hat die Nationalversammlung begonnen. Möge sie recht schnell zu ihren wichtigen Aufgaben schreiten und nicht das Bild von streitenden Parteien wie im Reichstag bieten.

Sonnabend, den 8. Februar 1919

Am Morgen schreibe ich z.T. den Vortrag über den Buddhismus in Reinschrift. 4 - 5. Homer gelesen.. Am Abend P.V. Meier redet sehr gelehrt über "Lassalle". Sonst ist es ziemlich laut und albern.

Sonntag, den 9. Februar 1919

Um 10 Uhr Missionsgottesdienst im Dom v. Superintendent Palmer aus Blankenburg. Im großen u. ganzen hat mir die Predigt ganz gut gefallen. "Fürchte Dich nicht, Du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben", aus dem Lukasevangelium. Am Mittag treffe ich Dr. Müller leider nicht zu Hause. Dann lese ich den Anfang von Freytags "verlorner Handschrift", die mir sehr gut gefällt. Diesmal exerziere ich, man hat doch viel mehr Gewinn dann vom Lesen. - Um 5 Missionsversammlung im Magni-Gemeindehaus. Herr Domprediger hält einen ausgezeichneten Vortrag über "deutsche und angelsächsische Missionsauffassung." Er hebt den aufs mehr Äußerliche gerichteten Sinn der Engländer u. Amerikaner hervor, dem der mehr innerliche Sinn d. Deutschen gegenübersteht. Die Angelsachsen sind praktischer, betreiben die Mission viel öffentlicher, machen Reklame, brauchen mehr Geld u. finden mehr Geldunterstützung. Die Missionsarbeit wird mehr als Sport angesehen, dass man mal 5 Jahre in "Übersee" gearbeitet hat. Der Engländer lernt nicht die Sprache der Eingeborenen, sondern bringt ihm die englische Sprache bei, die sicher nach seiner Meinung Weltsprache werden wird "Sie sehen es mehr auf äußere große Massenerfolge ab. Das Schlusswort hatte P. Lichtenstein.

Montag, den 10. Februar 1919

Der Landtag hat seine erste Sitzung. -
Schule: 8 - 9, 12 - 1, 4 - 5. Am Morgen mache ich Besorgungen und bin bei Dr. Müller.

Dienstag, den 11. Februar 1919

Herr Ebert (Mehrheitssocialist) wird von der Nationalversammlung zum Reichspräsidenten gewählt.

Donnerstag, den 13. Februar 1919

Mathematik- Hauarbeit, sehr schwer. Am Abend B.K. Ich halte einen Vortrag über den Buddhismus, an den sich eine kurze Zwiesprache anschließt. P. Stosch meinte er wäre "akademisch genau", offenbar erwartete er mehr vom Buddhismus der Jetztzeit. Aber darüber kann ich doch nicht reden, wenn die Grundlagen mir fehlen.

Freitag, den 14. Februar 1919

Kurze Inhaltsangabe von Lessings "Laokoon oder . ." für die Deutschstunde. Am Nachm. sind Ernst und ich bei den Tanten Wolffs und holen die von ihnen besorgten Konservenbüchsen ab. Nachher packten wir ein Paket v. Mutter für Tante Anna zum Geburtstag aus. Ich schreibe einen Brief an Mutter, den ersten seit Mutters Abreise.

Sonnabend, den 15. Februar 1919

Ehe Ernst um ¾ 8 zur Schule muss, bescheren wir Tante Anna. Am Mittag braust die Feuerwehr bei uns vorbei, der wir nacheilten: Wir sehen dann, wie sie einen großen brennenden Schuppen der Teerfabrik von (?) Schacht mit 3 Spritzen zu löschen bemüht ist. Das Wasser schießt zischend u. mit gr. Wucht in das Feuer. Nach einigen Stunden ist das Feuer gelöscht. - Um ½ 5 trinken wir Kaffee, wo wir Besuch hatten. Am Abend brachte ich Tante Emilie nach Hause.

Sonntag, den 16. Februar 1919

Am Morgen waren wir im Dom, wo Herr Domprediger auch das feine Wort vorbrachte: "Wir müssen beten, als wenn alles Arbeiten nichts hilft, und Arbeiten, als wenn alles Beten nichts hilft." - Am Nachmittag war ich bei Harffs und holte die Zeitschriften, wo ich dann mit Onkel Horst Schach spielte; aber das Spiel war ziemlich langweilig, weil wir leider offenbar wenig aufgelegt waren. Tante Tilly die gestern nachm. gekommen ist, bleibt bis heute Abend. Ihr Besuch ist sehr nett.

Montag, den 17. Februar 1919

Am Nachmittag ist eine große Schülerversammlung im Marmorsaal des Wilhelmsgartens, die sehr stark besucht ist und äußerst lebhaft verläuft. Ein Schüler Schoof hält eine Rede, in der er das bisherige Lern-Schulsystem verwirft und dafür die "Arbeitsschule" als Ersatz vorschlägt. Freilich ist er sich bewusst, dass bei der bisherigen Art und Weise die Größe des Lehrgebietes größer ist, dass aber bei der "Arbeitsschule" das Wissen fester sei. Da aber die Schüler hierfür noch nicht weit seien, müssten Sprechsäle gebildet werden, in denen die, die hierfür Interessen haben, sich zusammenschließen sollen. Diese würden als Sauerteig in der Schülerwelt wirken müssen. Hierbei will man jedoch die Mitarbeit der Lehrer durchaus nicht verwerfen. - Es folgte eine lebhafte Diskussion. Auch ein Lehrer - ein Jude - aus Hannover sucht die Jugend für das Ideale (?) zu begeistern. Die Geschichte, die sich von 4 - ½ 7 hinschleppte, endet damit, dass beschlossen wurde, jede Schule solle zunächst allein vorgehen. Diese konfuse Versammlung hat mich mit großer Abneigung gegen die phantastisch- ideale Schulgemeinde etc. erfüllt. Wenn die Schule, so wie sie jetzt ist, schon so lang bestanden hat und große Erfolge errungen hat, warum soll das jetzt mit einem Male überlebt sein? -
Ich lese in Freytags "Die verlorene Handschrift".

Dienstag, den 18. Februar 1919

Ich bringe den 1. Band der "Die verlorene Handschrift" zu Ende. - Am Abend im Kinopalast war eine Protestversammlung gegen den Raub der Kolonien. Herr Gaster [?] (Antwerpen) und Herr Kunze (Kamerun) redeten sehr fein.

Mittwoch, den 19. Februar 1919

Am Nachm. ist Frau Hartmann aus Gevensleben hier. Sie berichtet und verteidigt das Benehmen ihres Gatten in Gevensleben, der sich mit fast der ganzen Gemeinde verwirft.

Sonnabend, den 22. Februar 1919

Am Abend gibts Schokolade od. Kakao noch nachträglich zu Tante. Annas Geburtstag - schmeckt herrlich. - Gerhard u. ich holen ½ Zentner Buchenholz von der Neuen Knochenhauerstraße. - Am Abend im P.V. redet Wolfgang über neuzeitliche Malerei. Sehr fein setzt er da die verschiedenen Arten auseinander: Impressionismus (Klexmalerei), Futurismus (Darstellung von Bewegungen z.B. einem tanzenden Mädchen), Kubismus (Inhalt der Häuser u. dergl.) Er spricht fein und zeigt sehr viele Bilder.

Sonntag, den 23. Februar 1919 1919

Es ist Probealarm bei der Volkswehr, die Kerle marschieren protzig mit ihren Maschinengewehr- und Kanonenwagen durch die Stadt. Es sind widerliche Gestalten. Sie üben sich für den Ernstfall, dass Regierungstruppen heranrücken sollten. -
Am Nachm. suchen wir Herrn P. Priegel [?] im Vereinshause auf und zeigen ihm die Stadt (Bohlweg - Münzstraße - Damm - Landschaftsgebäude - Altstadtmarkt - Eulenspiegelbrunnen - Neuestraße - Burgplatz - Steinweg (Caffee Lück, dort trinken wir Kaffee) - Eulenstedterstraße [?] - Marienstift). Wir unterhalten uns sehr fein mit ihm. Er gefällt mir sehr gut. Nun kenne ich wieder einen Menschen aus dem Missionshause mehr.

Donnerstag, den 27. Februar 1919

Am Abend B.K. Wolfgang berichtet wieder über die neuzeitliche Malerei.

Freitag, den 28. Februar 1919

Politisch geht in Deutschland viel vor. In vielen Städten sind Streiks in ungeahnter Fülle, so dass die Lage immer ernster wird. In Leipzig ist der Zeitung gemäß der Eisenbahnverkehr fast völlig eingestellt; infolgedessen kann nur Post aus Leipzig selbst innerhalb Leipzigs bestellt werden. Gas u. elektr. Licht gibt seit Tagen nicht mehr, weil die ganze Bürgerschaft in einen Gegenstreik eingetreten ist. Was mag Mutter alles erleben! Hier ist die Räterepublik ausgerufen. -
Der Stundenplan wird reichhaltiger, die Michaelisabteilung bekommt einige Stunden mehr, so dass ich jetzt wöchentlich 14 Std. habe. - Ich arbeite zum 1. Male mit Georg Althaus zusammen Hebräisch Es freut mich sehr, dass ich so näher mit ihm zusammenkomme, er ist ein so netter, lieber Mensch, den man sich nur zum Beispiel nehmen kann. Dass ich in Hebr. jemand habe, mit dem ich zus. arbeiten kann, ist mir sehr lieb u. angenehm. - Ich telephoniere heute zum ersten Male allein; ich bin froh, dass ich dass gelernt habe; wenn man erst die Scheu davor überwunden hat, ist es so einfach und bequem. - Nach der Deutschstunde, in der Prof. Hahm über Lessings "Laokoon oder ..." geredet hat, zeigt er uns im Museum an einer Anzahl von Gemälden, dass der Maler verhältnismäßig sehr selten Handlungen darstellt, und dass der "prägnanteste Moment" auch häufig hinter dem Höhepunkt liegt,

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März 1919

Sonnabend, den 1. März 1919

Die Ausrufung der Räterepublik wird zurückgenommen. Da der Landtag vertagt ist, weiß man überhaupt nicht mehr, wer hier eigentlich regiert. -
Am Abend im P.V. redet Brandes über Schülersprechsäle. Aber eigentlich ist die Sache ja schon für uns abgetan durch die Erklärungen in den Zeitungen. Wir sind nur 16, da verschiedene tanzen. Wir kegeln nachher, was sehr viel Spaß macht.

Sonntag, den 2. März 1919

Herr Domprediger spricht über Joh. 11, 47 - 54 (Überschrift: Der Hass der Menschen. Wir sehens) 1. Wie ihn die Angst gebiert. 2. Wie ihn Gott regiert. - Ich treffe Dr. Müller nicht zu Haus. Ernst und ich besuchen Dettmers, die vorgestern und ehevorgestern Geburtstag hatten. Ich lese tüchtig im 2. Band der "verlorenen Handschrift" (Freitag).

Donnerstag, den 6. März 1919

Abends um 8 Uhr ist B.K. Auf Georgs Bitte hält Herr Pastor Lichtenstein, ein Flüchtling aus dem Baltenlanden und Vetter des hiesigen P.L. einen Vortrag, der tief beweglich ist. Zunächst gibt er einen geschichtlichen Überblick. Im 12. Jahrhundert zuerst wurden lübische Kaufleute in die Dunamündung verschlagen, unter ihnen auch ein Geistlicher namens Meinhard. Dieser wagte es später, auch den Winter über bei den dortigen Wilden Bewohnern zu bleiben und sie für das Evangelium zu gewinnen zu suchen. Seine missionarischen Erfolge waren nur gering, ja seine Nachfolger starben dort sogar den Märtyrertod. Er legte den Grundstein zur Kirche in Üxküll. Der Hauptmissionar war Albert von Bremen am Anfang des 13. Jahrhunderts. Er gründet auch Riga. Er arbeitete im Einvernehmen mit dem Papst und wurde Erzbischof (als solcher nahm er 1215 am Laterankonzil teil) und Herzog. Damit beginnt die Zweiherrenherrschaft in den Baltenlanden, da ihr Oberhaupt vom Kaiser das Land als Lehen bekommen hat und vom Papst das Erzbischofsamt. Er war der Gründer des Schwertbrüderordens, mit dem der Deutsch-Ritterorden verschmolz. Im 16. Jhrhd. wurden die Lande säkularisiert, sie bildeten im nordischen Kriege den Zankapfel. Peter d. Große ließ sie verwüsten so dass "nichts mehr zu zerstören" war. Aber die Lande erholen sich und erstarken, so dass seit Peter jeder Zar schwört, dem Lande "die deutsche Sprache, die deutsche Schule und die lutherische Kirche" zu erhalten. Nicht so Alexander III der mit der Russifizierung beginnt. Jeder, der Seelen für die griechisch- katholische Kirche gewinnt, bekommt eine hohe Belohnung. Darum machten 1905 die Letten und Esten einen Aufstand, an dem sich die Deutschen aber nicht beteiligten. Jetzt wurden die Provinzen wieder sehr gut behandelt, und das Land blüht bis 1914 auf. Dann tobte der Krieg über sie hin. Goldingen (von dort stammt P. Licht.) wurde 1915 von den Deutschen besetzt, die siegesgewiss und strahlend gegen Riga weiterzogen, denn "bei ihnen klappte es von oben bis unten und von unten bis oben". 1917 waren die Ostseeprovinzen ganz in Deutscher Hand, die Universität in Dorpat wurde eröffnet, und nun kam die schönste und lieblichste Zeit für die Lande. Jetzt war die Erfüllung ihrer 600 Jahre gehegten Wünsche in greifbare Nähe gerückt - da bricht alles zusammen, es ist schlimmer denn je. Das Deutsche Heer strebt in die Heimat, und auf der anderen Seite dringen die Bolschewisten vor, alles mit Schrecken und Entsetzen erfüllend, gefolgt von dem lutherischen Pöbel. Die Deutschen werden, nach Sibirien verschleppt oder ermordet. Man flieht. Auch P. L. hat seine Heimat verlassen müssen und ist jetzt hier. Die Verteidiger sind dort deutsche Russen, Letten und freiwillige Deutsche Scharen. - Was haben diese Deutschen Helden durchgemacht, die sich wahrlich würdiger benehmen als viele in Deutschland selbst.

Freitag, den 7. März 1919

Frau Jaste [?], unsere Waschfrau, ist an Magenkrebs gestorben.

Sonnabend, den 8. März 1919

Am Abend P.V. Ich rede über "Buddhas Leben und Lehre" vor etwa 15 Mann. Der Vortrag wickelt sich glatt ab und verläuft dankbar günstig. Er wird gut aufgenommen und hat bei Verschiedenen Interesse für diese Religion erweckt. Na, ich habe aber auch genug daran gearbeitet! Um ½ 11 gehe ich weg, ich habe keine Lust bis in die Puppen aufzusitzen. Da ist Schlaf entschieden gesünder.

Sonntag, den 9. März 1919

Am Morgen Dom. Nachher gehen wir 3 Brüder nach Steintor 2 [?] und schreiben unsere Namen in eine Liste als Glückwunsch zum Geburtstag des Erbprinzen in einigen Wochen. Da ich Dr. Müller nicht zu Hause treffe, gehe ich um ½ 4 noch einmal dahin. Aber ich kann ihn bloß ½ Std. besuchen, weil er einen Vortrag morgen zu halten hat. - Ich lese etwas im Buch von Schreckenbach über Luther

Montag, den 10. März 1919

Die Schule beginnt wieder in vollem Umgange. Am Abend findet im Magni-Gemeindehaus ein Vortrag von Dr. Baumann über "Grundstein zum Neubau der Kirche" (so etwa hieß das Thema) statt, an den sich Dr. Müller mit einem Korreferat anschloss. Dr. Müller ist mir aber doch reichlich optimistisch. Die Diskussion war ziemlich lebhaft.

Mittwoch, den 12. März 1919

Bei der Ausstellung der Quittung zur 9. Kriegsanleihe hat Prof. Ewers sich bei Frau Grote versehen und die Quittung statt über 300 nur über 200 M lauten lassen. So muss er aus seiner Tasche 100 M herrücken. Das tut mir zwar furchtbar leid, aber es lässt sich nicht ändern.

Donnerstag, den 13. März 1919

Beim "Geiger" soll etwas ausgeheckt werden, und zwar ist die neuste Erfindung, dass der Klassentürgriff locker ist. Als wir nach der Pause für seine Stunde hinaufpilgern, liegt der Griff an der Erde - aber die Tür ist zu. Wir bemühen uns, die Tür zu öffnen, aber vergeblich. Freilich, ob die Mühe Überanstrengung od. sonst etwas war, möchte ich dahingestellt sein lassen. Jedenfalls öffnete Herr Kruse schließlich die Tür. Bei Beginn des Unterrichts sagte dann der Geiger mit kummervollem Herzen, er habe dies sehr wohl bei dem Zusammensetzen des Griffes gemerkt, dass der nach innen gehörende Teil draußen gelegen hätte, und somit läge die "schnöde" Hinterlist klar zu Tage. Er wolle das Weitere veranlassen. - Der arme Geiger, warum muss er alles so tragisch fassen?? - Am Abend B.K. mit P. Stosch. Es wird "der reife Jüngling" besprochen.

Freitag, den 14. März 1919

abends 8 Uhr ist wieder im Gymnasium eine Vortragsfolge, in der verschiedene von uns ihre Vorträge abwickeln müssen. Etwa um ½ 10 erschien Herr Kruse: "Herr Professor, wollen sie bitte mal rauskommen?" Es waren 3 Matrosen da, die sich darnach erkundigten, ob da eine politische Versammlung abgehalten würde, es wäre dort schon öfter Licht beobachtet.

Sonntag, den 16. März 1919

Nach dem Dom (P. Fischer) sind Ernst und ich im herzoglichen Museum, wo wir die Gemälde in erster Linie betrachteten.

Mittwoch, den 19. März 1919

Es finden wieder verschiedene Vorträge statt (z.B. Wolfgang über die Entwicklung der Renaissance - Rokoko und Grünhagen über die Gedankenkräfte).

Donnerstag, den 20. März 1919

Gerhards Geburtstag - wahrscheinlich der letzte, den wir hier mit ihm zusammen feiern, er kommt ja wahrscheinlich im Herbst nach Grimma.

Freitag, den 21. März 1919

Tante Anna, die von (?) Schwarzens zu kommen eingeladen ist, wird von ihnen aufgefordert, in den Sommerferien bei ihnen den Haushalt zu führen, während sie in die Sommerfrische fahren. Dann sollen wir drei mit Mutter auch mit nach [...?]. Das sind feine Ferienaussichten!

Sonnabend, den 22. März 1919

Herr von Himmler, wieder auf einer Rundreise begriffen, hält im B.K.. einen feinen, verständlichen Vortrag über das Thema "Wir und die Freideutschen". Er führte folgendes aus: Denkt man sich eine gotische Kirche mit 2 himmelanstrebenden Türmen, so kann man sich auf den einen Turm als Kennzeichen des B.K. ein (?) Kreuz denken, und auf dem andern als Kennzeichen des Freideutschen die liegende Acht. 1913 fand jene bekannte Tagung auf dem hohen Meißner statt, am 11. Oktober, nachdem an die deutsche Jugend der Ruf zur Versammlung gegangen war (bes. Wandervögel und Vortrupp u.a.). Dort wurde auch das bekannte Wort geprägt: "Nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und mit innerer Wahrhaftigkeit wollen wir unser Leben gestalten". Das Wandern wurde vor allem betont. Die Freideutschen lehnen jedes feste Programm ab. Ihr Ziel ist die Rückkehr zur Natürlichkeit und zu sich selbst. Dabei verlieren sie sich ins Uferlose u. in Naturschwärmerei, sie suchen und suchen, ohne zu einem Ende zu kommen, das wollen sie auch gar nicht. Sie wollen innere Wahrhaftigkeit bei Wahrung der Natürlichkeit. Vergl. Walter Flex´s "Der Wanderer zwischen beiden Welten": Ernst Wurche kann das Ideal für einen Freideutschen sein, wenns auch nicht ausdrücklich dort steht

  1. Starke Betreuung des eigenen Ich. "Die neue Jugend seid Ihr". Sie lehnen sich nicht gegen jede Autorität durchweg auf. Führer gehen aus ihren Kreisen hervor, die sich selbst heraufarbeiten müssen und dann bestätigt werden. "Die Schule ist eine Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden" (Wynecke [?]), folglich für Schülerräte. Sie bejahen die Revolution, weil sie die Freiheit des Menschen gegen die Obrigkeit gebracht hat. Ausdrücklicher Kampf gegen das Philistertum.
     

  2. Mut zur umbedingten Wahrhaftigkeit. Der Kampf wird ohne Liebe mit Stolz und Trotz geführt.
     

  3. Das gefühlsmäßig betonte Naturempfinden. Geh in die Einsamkeit und finde dich selbst (Suchen ohne Ende!). Romantik! Kunst: Schattenbilder. Kleidung: schlicht und einfach. Zusammenkünfte: einfach, ohne bestimmte Formen, ganz natürlich. Kampf gegen Alkohol. Verkehr mit den Mädchen: natürlicher, schlichter Verkehr, kein Pussieren Aber dies letzte alle liegt schon an der Peripherie! Soweit von dem Lebensstil der Freideutschen. Nun ihre Stellung zur Religion! Sie ist ihnen etwas Ungreifbares. Es ist ihnen das Suchen nach etwas höherem, bei dem sie nie zu einem Ziel kommen und auch nicht kommen wollen. Sie suchen Gott in sich selbst. Sie wollen der Welt und den Menschen helfen. Jesus ist ihnen nicht Erlöser sondern ein Ideal, oft das Ideal und der vollkommenste Mensch, dem sie gleich zu werden wohl bestrebt sind, aber mit eigener Kraft. Sie vereinen die Tatsache der Sünde und Schuld, und so beugen sie die Wahrhaftigkeit. Man kann wieder an die beiden gotischen Türme denken. Der B.Kler und der Freideutsche machen gleichsam ein Treppenlaufen. Auf einer Stufe steht Jesus: der B. Kler bittet ihn um Hilfe, aber der Freideutsche meidet diese Stufe, geht um sie herum und findet so nie die Kraft, ganz heraufzukommen. Vergleich zwischen den Freideutschen und uns: Auch wir müssen lernen natürlich zu werden. Der Lebensstil ist für uns beide etwa gleich. Wir möchten dienen und allen, auch denen, die Schiffbruch gelitten haben, helfen, während die Freideutschen nur Elitemenschen gebrauchen können. Jesus ist uns der Heiland, wir mussten ja sagen.

Dienstag, den 25. März 1919

Am Abend kommt Onkel Dettmer zu Großmutters 70. Geburtstag.

Donnerstag, den 27. März 1919

Heute Abend ist die Abschiedsfeier für Benecke in der Hagenschenke am Hagemarkt. Auch Sarge [?] ist erschienen. Es ist sehr nett. Zwar wird sich eifrig gestritten. Am Dienstag u. Mittwoch findet die Prüfung v. T. Liel im Viktoria- Luise-Hause statt, die sie mit "sehr gut" besteht. Sie wird nun als Säuglingsschwester hier in Braunschweig angestellt, worüber wir uns sehr freuen. Sie ist ganz kaputt von der vielen Examensbüffelei. über Prof. Senhaß u. P. Lichtenstein, aber sonst geht es sehr friedlich zu. Nun will Benecke, dessen Vater vor ½ Jahr gestorben ist und dessen Mutter nun nach ihrer Bande (?) in der Altmark umzieht, Landwirt werden. Zunächst arbeitet er den Sommer über draußen, und dann geht er wahrscheinlich auf eine landwirtschaftliche Schule; er will Landwirt werden. Hoffentlich gewöhnt er sich sein unverfrorenes Lügen ab, sonst ist er ja ein sehr netter Kerl. Wann und wo und wie werde ich ihn wiedersehen?

Sonntag, den 30. März 1919

Auf ein Telegramm von Tante Tilly hin geht Tante Anna zum Nordbahnhof, wo sie dann mit Frl. Frenkel zusammentraf, an deren Stelle ja jetzt Mutter das Paketepacken im Leipzier Missionshaus hat. Frl. Frenkel (sie macht gerade eine fruchtbare Reise durch das braunschweigische Land) treffen Ernst u. ich auf dem Rückweg v. der Kirche, als sie mit T. A. auf die Straßenbahn wartet. Fein, nun kenne ich schon wieder einen Menschen aus der Missionsarbeit mehr. Ich studiere etwas den Maler Gebhard, dessen Bilder mir zum großen Teile sehr gut gefallen. Ich bin am Abend bei Drude, wo geprobt wird zu einer Aufführung "Der Kaiser u. der Abt" v. Bürger, die in Verbindung mit anderen Darbietungen demnächst einen Werbeabend für das Ferienheim in Großenheidorn darstellen soll.

Montag, den 31. März 1919

Ich lese "Die Judenbuche" v. Anette v. Droste-Hülshof, ein ziemlich merkwürdiges Buch, welches mir wegen seiner unklaren Geheimnisvölligkeit nicht recht zusagt.

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April 1919

Donnerstag, den 3. April 1919

Ernsts Geburtstag. Ich schenke ihm "Die Leute von Kluckendorf" von Schmökel, die mir Herr Wellermann angepriesen hat.

Freitag, den 4. April 1919

Heute wird das glückliche Bestehen Tante Liels im Examen gefeiert. Um ½ 8 kommen die Tanten Wolffs, es ist sehr fein u. feierlich, es gibt sogar Wein. Um ¾ 10 müssen wir dann in die Klappe.

Dienstag, den 8. April 1919

Im Reiche fangen die Streike wieder an!

Mittwoch, den 9. April 1919

Nun fängt bei uns auch der Generalstreik der Arbeiter an!
Diese Tage (Montag - Mittwoch) habe ich wieder Nahrungsmittelkartenverteilung, und zwar wieder in der Reichsstraße.

Donnerstag, den 10. April 1919

Ein Flieger, der antibolschewistische Flugblätter abwerfen will, wird eifrig beschossen! Natürlich erfolglos.
Ich habe zum ersten Male meinen neuen Stundenschüler, Rolf Döhrmann, aus der VI°, der jetzt in die V° versetzt wird. Er ist in Latein etwas schwach, nun soll ich ihn etwas sichern. Während der Ferien ist ja gut Gelegenheit dazu. Prof. Hahne II, der ihn mir überwiesen hat, hat richtig sich geäußert, dass er ziemlich schlau sei. Mir macht der Bengel Vergnügen. Eine wunderbare Gepflogenheit von ihm ist, dass er das Objekt in den Nominativ setzt. Ich fürchte, dass ich das nie aus ihm herausbringe, darin ist er verstockt. Sonst macht der Unterricht gute Fortschritte. - Wir alten B.Kler haben bei Georg Althaus eine Besprechung wegen Hünecke [?], der sich manchmal anmaßend benimmt. Doch wir wollen nach dem Worte handeln: "Einer trage des anderen Last". In diesen Tagen habe ich "Gottfried Kämpfer" v. Krüger gelesen, welches mir außerordentlich gefallen hat. Man hat einen feinen Einblick in die Brüdergemeinde bekommen; das Buch hat einem wirklich etwas gegeben!

Freitag, den 11. April 1919

Da die Bürgerlichen nun auch Ihrerseits in den Gegenstreik eingetreten sind und somit auch die Lehrer streiken, kommen wir am Morgen gleich mit den Zeugnissen aus der Schule zurück. In der vergangenen Nacht war gegen Morgen ein greuliches Geschiesse, ein Probealarm für die hiesigen Truppen.

Sonnabend, den 12. April 1919

Die Verfügung, dass nach 9 Uhr niemand mehr auf die Straße darf, wird wieder aufgehoben. Aber die Geschäfte bleiben geschlossen, außer den Lebensmittelgeschäften, die 10 - 1 verkaufen, ebenso streiken noch die Eisenbahn u. Straßenbahn, die Ärzte u. Apotheker.

Sonntag, den 13. April 1919

Konfirmation im Dom, Palmsonntag. Ich fange einen längeren Brief an Mutter zu schreiben an.

Montag, den 14. April 1919

Um ½ 8 marschieren Ernst und ich von Gerloffs über den Rautheimer Weg, über Mascherode und Salzdahlum nach Atzum, wo wir ½ 11 ankamen. Bei einer Frau Prillog [?] hamsterten wir dann f. G. Eier und Milch, sie schickte uns mit ihrer Enkelin zu den verschiedenen Bauern. Für je 30-50 d bekamen wir 32 Eier. Als wir bei Frau Prilloges ankamen, frühstückten sie gerade, aber uns etwas anzubieten fiel ihnen nicht ein. Naja, es sind andere Zeiten wie sonst. - Auf dem Rückweg beobachten wir ein Flugzeug, dass hannoversche Zeitungen abwirft, die verkünden, dass Generalmajor Manroker [?] vor der Stadt steht. Am Abend Passionsstunde.

Dienstag, den 15. April 1919

Auf das Flugblatt hin, das Manroker über Braunschweig hat abwerfen lassen - wir beobachteten es auf dem Rückwege v. Mascherode - liefern viele "heldenhafte" Braunschweiger ihre Waffen schleunigst im Schlosse ab. -
Herr Eppes junior hat gestern in der Küche und z.T. in der Jungenskammer die Decke abgestoßen, die heute frisch gestrichen wurde, sowie die Küchenwände. Es ist eine fürchterliche Schweinerei, Tante Anna weiß kaum wie sie alles wieder rein kriegen soll. Am Nachmittag bringe ich auf Prof. Winries [?] seine Bitte hin einen Brief zu Schuseil [?], dessen Vater in Mascherode Pastor ist. Ernst und Gerhard gehen mit, um Kartoffeln mitzuhamstern. Aber wir kriegen nischt. Am Abend Passionsstunde.

Mittwoch, den 16. April 1919

Zum 1. Male erscheint mal wieder die Zeitung. Sie berichtet von einem Gefecht mit den Regierungstruppen bei Börßum. Es kommt noch zu Scharmützeln in Helmstedt (ein Hauptmann †) und Schöningen.

Gründonnerstag, den 17. April 1919

Seit langen, langen Monaten ein Freuden- und Jubeltag. Die Regierungstruppen ziehen von allen Seiten und Himmelsrichtungen in die Stadt ein, von Jubel begrüßt, unter Blumenregen und Fahnenschmuck, wunderbarerweise ganz kampflos. Auf den öffentlichen Gebäuden flattern die schwarz-weiß-roten und blau-gelben Fahnen, endlich auch auf dem Schloss. Auf dem Bahnhof sind 2 Panzerzüge, die man aber nicht zu sehen kriegt, in der Stadt einige Panzerautos, an vielen Ecken stehen Maschinengewehre, an jeder Ecke werden von Primanern in Eile blaue, gelbe und grüne geharnischte Flugblätter Manrokers angeklebt, die den Belagerungszustand verkünden, die Waffenabgabe bis zum 22. abends 6 Uhr gebieten und zum Eintritt in ein "Jägerkorps Braunschweig" bzw. eine braunschweigsche "Landeswehr" (Zeitfreiwillige) auffordern. Ich helfe Prof. Winries [?] im Garten und sehe dann, wie eine Truppe auf der Spielmannstraße halt macht. Am Nachmittag geh ich in die Stadt und sehe mir das Leben und Treiben an. Was ist das für eine Freude, diese straffen Gestalten zu sehen. Eine neue stramme Zucht herrscht hier! Jeder grüßt die Vorgesetzten, die noch alle Achselklappen tragen. Ich melde mich im "Deutschen Haus" als Führer, wurde aber abgewiesen, weil sich schon so viele gemeldet haben. Dann gehe ich zur Husarenkaserne, wo ich mit Meine aus OIM (?) zusammentreffe, und wir krakelten einen Ltn. Kretschmer an, der uns Ausweise aus stellen lässt, dass wir uns noch nach 7 auf der Straße aufhalten dürfen. Wir sollen immer Befehle zw. dem "Deutschen Haus" und der Husarenkaserne hin und her tragen. Aber im Deutschen Haus wieder abgewiesen und bis zum nächsten Morgen vertröstet werden wir von Ltn. Kretschmer zu Ltn. Aschenberg im "Deutschen Hause" geschickt, der uns bis 10 gleich dabehält. Ich muss dann eine Anzahl Briefe noch zum "Monopol" bringen, habe aber im übrigen nichts zu tun. Als ich um ½ 11 zu Hause komme - unterwegs war ich unzählige Male von den zahlreichen Posten nach meinem Ausweise gefragt - atmen Tante Liel und Tante Anna auf, weil sie sich unsäglich um mich gesorgt und das Fürchterlichste zusammengedacht haben. Aber ich hatte es ja nicht ändern können, heut Gründonnerstag - so kommt es einem nicht vor! Endlich ist die Befreiung gekommen, ein Stoßtrupp hatte schon in der Nacht vom Schloss und der Kaserne Besitz genommen. [...?] und Eckhardt befinden sich jetzt in Schutzhaft. Merges und Eichhorn sind natürlich nicht zu finden.

Karfreitag, den 18. April 1919

Tante Anna, Tante Liel, Ernst und ich gehen zum hl. Abendmahl in den Dom. - Dann mache ich den Brief f. Mutter fertig und schicke ihn ab. - Am Nachmittag weist mich Ltn. Brandi (od. Brandis?) mit Seide (0I0) zu Kriegsgerichtsrat (Landsrichter) Dr. Müller in Zimmer 11, wo wir ihm nun künftig zur Hand sein werden. Und zwar müssen wir allerlei schreiben, besonders Besuchserlaubnisse für Verwandte der in Haft befindlichen Personen, dies und das im "Deutschen Haus" in den verschiedenen Zimmern ausrichten und öfter telephonieren. Dabei kriegt man sehr viel Fesselndes zu hören.

Stiller Sonnabend, den 19. April 1919

Bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller.

Ostersonntag, den 20. April 1919

Bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller helfe ich nur wenig. Gottesdienst im Dom. Nachher Parade auf dem Löwenwall, wo die Truppen sich alle zeigten im Parademarsch. Ein herrlicher Anblick! Nachher durchrasseln die Wagen der Artillerie die Stadt, überhaupt die Truppen. Am Nachmittag mache ich Schicht und lese - während Ernst u. Gerhard mit Zinnsoldaten eine Schlacht schlagen - Zeitschriften. - Auch löse ich ein interessantes Preisrätsel aus der Jugendkast (?), die folgendes ergibt: Bekanntlich finden wir am Himmel Nebelflecke, die sich bei genauerer Betrachtung in einer zahllosen Menge von Sternen auflösen. Einer der nächsten ist - nach Fr. Wilh. Herschel - 3000 Billionen (3000 000000 000000) Meilen entfernt; wenn nun etwaige Bewohner jener fernen Welten mit so außerordentlichen Hilfsmitteln versehen wären, um das Leben und Treiben auf unserer Erde beobachten zu können, so würden sie - wenn das Licht in einer Sekunde 40 000 Meilen zurücklegt im südöstlichen Europa etwas Merkwürdiges erblicken, nämlich die Gründung Roms, weil das Licht 2671 Jahre gebraucht, um zu ihnen zu gelangen!

Ostermontag, den 21. April 1919

Am Morgen helfe ich Kriegsgerichtsrat Dr. Müller. - Am Nachmittag lese ich, "Deutsche Liebe" von Max Müller, von dem Wolfgang begeistert ist, aber mir gefällt es doch nicht allzu gut, wenn auch Manches fein ist. Es sind eben zu neue Gedanken darin, die mir eigentlich sehr fern liegen, während sie Wolfgang nahe liegen. Dann lese ich von Anna Maria Schieber "Und hätte der Liebe nicht" zu Ende, ein herrliches Buch.

Dienstag, den 22. April 1919

Dienst bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller. Es gibt allerlei Botenwege. - Am Abend um 8 sind wir von Georg Althaus anlässlich seines Geburtstages eingeladen. Er wird 21 Jahre alt und damit mündig! Es gibt Tee und etwas Kuchen, Wir älteren BKlr sind alle da. Es ist sehr nett. Auch Friedolin Lange ist mit da, der dann mit Ernst und mir nach Hause geht. Er muss von seinen Erlebnissen aus Kiel erzählen. Er hat dort auf den kleinen Booten Mienen ausstreuen müssen bei jedem Wind und Wetter – ein furchtbar aufreibender Dienst. Er meldete sich deshalb öfters nach Flandern [?], obwohl er bei den bisherigen Diensten Gelegenheit hatte, fast jeden Sonntag nach Kiel zu fahren - aber erfolglos. Er erlebte allerlei während der Revolutionstage, ist aber immer glücklich durch alle Fährlichkeiten hindurchgekommen. Er hat schon 4 - 5 Semester Jura studiert, er will jetzt nach Marburg übersiedeln.

Mittwoch, den 23. April 1919

Gerhardt, Ernst und Paul Weihnachten 1919Am Morgen Dienst bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller, am Nachmittag frei, weil er mit dem General (Manroker [?]) eine Autofahrt hat. - So komme ich etwas zum Lesen. Ich lese von Falke "Der Buddhismus in unserem modernen Deutschen Geistesleben" zu Ende und bekomme so einen Einblick in die gewaltige Macht des Neobuddismus, und außerdem beginne ich von Sven Hedin "Von Pol zu Pol"; Das Buch ist sehr fein zu lesen, man bekommt einen feinen Einblick in seine fesselnden Reisen und Abenteuer. - Ernst und Gerhardt sind heute in Gevensleben zum hamstern. Heute früh um sieben fuhren sie vom Nordbahnhof nach Winnigstedt, der letzten Station vor Matierzoll, gingen dann zu Fuß nach G. und blieben da bis gegen Abend. Schwer beladen kamen sie um ½ 9 auf dem Hauptbahnhof an, hatten in G. einen Ausweis für "Schulbesuch" bekommen.

Donnerstag, den 24. April 1919

Flechsigs [?] ist ein Töchterlein geboren, die wahrscheinlich Giesela getauft werden soll. Am Abend BeKa. Wolfgang spricht eine gute Stunde lang über die Anfänge Braunschweigs vom 6. bis 12. Jahrhundert, wobei er bes. auf den Dom, die Ulricikirche (Kohlenmarkt), Jacobskirche (Jacobstraße / Eiermarkt) zur sprechen kam. Seine Ausführungen waren reichlich ausführlich. (Hilfsdienst bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller)

Freitag, den 25. April 1919

Ernst sein Mitschüler Rust, der am Dienstag gestorben ist, ist heut Mittag eingeäschert. Merkwürdiger Weise ist er, der ein Katholik ist, v. P. Lagershausen beigesetzt. - H. wie 24. - Am Nachmittag bin ich für bis 4 ½ frei, schrieb an Johannes einen Brief.

Sonnabend, den 26. April 1919

H. wie gestern. Am Mittag fährt Oberltn. Schmincke nach Wolfenbüttel (Kollege vom Kriegsgerichtsrat) im Auto, wobei Seide und ich ihn begleiten dürfen. Meine erste Autofahrt! Ich sitze neben dem Fahrer ein herrliches Vergnügen. Die Strecke wird in etwa 13 Minuten zurückgelegt. Eine mächtige Geschwindigkeit, und dabei geht die Fahrt so angenehm und leicht vonstatten! - Am Abend inofficiel P.V. bei Kablitz Wolfenbüttlerstraße. Es ist ganz nett, ein bisschen langweilig, komment etwas. Beratung der Oberprimaner in das Freikorps, negative Gesinnung.

Sonntag, den 27. April 1919

H. wie gestern, heute nur am Morgen, bin aber im Dom. Am Nachm. ist Theo Bodenstab da.

Montag, den 28. April 1919

H. wie gestern. Um 12 Uhr hält ein Offizier Rummel im "Deutschen Hause" eine Werbeversammlung für das Landesjägerkorps, das z.T. den "Grenzschutz Ost" hat. Da die Bedingungen äußerst günstig sind, möchte ich eintreten. Ich schreib schleunigst an Mutter und bitte sie um Zustimmung; am Nachmittag erfahre ich von demselben Herrn, dass auch die Unterprimaner der Michaelisabteilung zum Notabitur zugelassen werden. Wie herrlich! Günstiger kann es gar nicht sein. Hoffentlich meldet sich meine Klasse geschlossen. - Die folgenden Wochen vergehen in größter Ungewissheit für mich. Winderholt schreibe ich flehentlich an Mutter und bitte sie, ins Heer eintreten zu dürfen. Aber sie bespricht sich mit Herrn Missionsdirektor D. Paul, der ihr dringend abrät. Ich müsse tüchtig noch auf der Schule lernen, denn gerade die Prima sei eine außerordentlich wichtige Klasse, und wenn man dort den Unterricht versäume, bedeute das einen Nachteil, der gar nicht im Verhältnis stände zu den Vorteilen, die der Eintritt ins Freikorps böte. Erst wenn die von der Regierung anerkannte Notwendigkeit besteht, darf ich eintreten. - Aber all diese Gründe erscheinen mir durchaus nicht stichhaltig, und die Gründe, die Herr Missionsdirektor mir persönlich in einem Brief ad oculos demonstriert, kommen mir alle völlig nichtig vor, sie überzeugen mich noch lange nicht und werden mich wohl auch nie überzeugen. Aber gewiss dem 4. Gebot habe ich mich zu beugen, mag es mir auch noch so schwer werden. Vielleicht ist es auch besser so.

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Mai 1919

Donnerstag, den 1. Mai 1919

Heute ist großer Nationalfeiertag - was Rechtes in dieser betrüblichen Zeit. Frankreich trauert um seine gefallenen Söhne, und Deutschland tanzt und jauchzt. Wann wird es aus seinem Taumel erwachen??

Sonnabend, den 3. Mai 1919

Jetzt werden auch hier Gassperrstunden eingeführt. - Heute vor einem Jahr ging Vater heim!

Sonntag, den 4. Mai 1919

Am Morgen sind wir am Dom bei P. Fischer. Herr Domprediger ist ja jetzt im Schwarzwald mit seiner Frau, um dort Heilung von seinem und ihren schweren Lungenleiden zu suchen. Hoffentlich festigt sich seine Gesundheit wieder, ich gönnte es ihm so. - Am Nachmittag treffen Ernst und ich die Tanten Wolffs nicht zu Hause, - auf dem Rückwege gehen wir über die Gartenstraße und Fuchstrenke (?).

Mittwoch, den 7. Mai 1919

Heute werden die Friedensbedingungen bekannt. Wer lacht da? Hindenburg hätte viel Grund dazu, der sicher wie Hannibal geweint hat, als die Waffenstillstandsbedingungen herauskamen. Wenn jetzt noch solche Träumer und Idealisten wie Herr Erzberger aus allen Wolken fallen und vor Enttäuschung sich nicht zu lassen wissen, dann ist das ganz unglaublich. Wer das nicht erwartet hat, dass die Feinde uns einen ganz unerfüllbar schweren Frieden vorlegen, richtiger diktieren würden, der weiß auch nicht, dass das Leben harte Wirklichkeit ist, wo der Feind den Feind knebelt, dass er sich nicht rühren und muksen kann. Aber wir werden ja sehen, ob die Feinde mit ihren maßlosen Forderungen doch nicht über die Stränge geschlagen sind. Geduld hat der gutmütige Deutsche, aber wenn es allzu viel ist, dann kann er auch grob werden. O dass doch Deutschland "einig einig einig" wäre, wie der alte Atlinghausen im Tell ausruft. Mag uns Gott auch strafen für all die vielen Sünden, die unser Volk auf sich geladen hat - er ist der Weltenrichter, der die Zügel der Weltregierung fest in seinen Händen hat, dass all Lüge und Bosheit doch nicht ewig siegen kann. Er, der Allmächtige, sollte nicht die Macht besitzen, die Feinde zu Boden zu schmettern? Mag er auch jetzt noch mit seiner Hilfe verziehen, aber seine Mühlen mahlen langsam, aber fein. Man sehe doch die Weltgeschichte an! Das Volk Israel hatte oftmals die Feinde im Lande, trotzdem ist es nicht untergegangen. Die Römer waren die mächtigste Nation, unter ihrem Scepter beugte sich die ganze damalige Welt - trotzdem ist ihre Macht dahingesunken, und heute gibt es kein weltbeherrschendes Rom mehr. Nur Mut! Die Zeiten der Befreiung werden kommen. Wann? Das weiß niemand, aber sie werden kommen, wenn nicht in Jahren, dann in Jahrzehnten. Noch immer hat sich unser Vaterland durchgerappelt durch all die vielen schweren Zeiten der Heimsuchung. Wenn es in Verweltlichung untergehen wollte, würde es gehörig gedrückt, so dass es Zeit hatte, über sich nachzudenken um sich wieder auf die, tief in der Menschenbrust währenden edlen Triebe und Anlagen zu besinnen, um sich unter die Hand des gewaltigen, strafenden Gottes zu beugen, um dann wieder auf lichtvollen Höhen im Völkerleben gehoben zu werden, besser sich zu heben.
Heute sah ich zum ersten Male Hoffmann aus der UIII0 dessen Vater Unterinspektor des Proviantamtes auf der Hamburgerstraße (+ Reicherstraße) ist. Er ist ein bisschen dumm, ein bisschen schläfrig, ein bisschen lustig. Ich muss ihm fünfmal Stunde geben, in allen Fächern. Möchte ich ihm doch tüchtig weiterhelfen, dass er auch ordentlich etwas lernt! Früher hatte ihr Meine Stunde zu geben.

Donnerstag, den 8. Mai 1919

Heute habe ich Wehr aus der UIIIM zum 1. Male, ich muss ihm Griechisch geben. Er gibt sich Mühe, und ich hoffe, ihm ordentlich etwas beizubringen. - Um 8 B.K. Walter Lerche, der zum letzten Male da ist - er tritt dann bei dem freien Landesjägerkorps ein - hält einen höchst gelehrten Vortrag über "Schillers Weltanschauung" auf Grund seiner ästhetischen Briefe und dergl. Ja, wer so Bescheid weiß, wie Walther!

Sonnabend, den 10. Mai 1919

Alle Primaner, die ins Abitur gestiegen sind, haben es bestanden, außer Meyer, der auf Prof. Ewers Rat heut noch zurückgetreten ist - was man tut, erntet man! Am Abend Abschiedsfeier bei Kablitz (Wolfenbüttlerstraße).

Sonntag, den 11. Mai 1919

Im Dom predigt Herr Missionarsdirektor Schofein [?], nur leider spricht er sehr leise. Tante Liel ist seit Freitag wieder im Viktoria-Luise-Haus, weil sie noch nicht angestellt ist hier in Braunschweig. - Am Nachmittag findet bei Drude eine B.K. Vorstellung statt, wobei 110 M. zusammenkommen für das B.-K. Ferienheim in Großenheidorn am Steinhuder Meere. Zuerst fanden Musikvorträge statt, dann wurden allerlei Dinge verkauft wie kleine Bilder und dergl. Darauf wird das Bürgersche Gedicht "Kaiser und Abt" vorgetragen, wobei Heinbert Drude der König war, Wolfgang Drude der Abt, Eberhard Bosse Hans Bendix der Schäfer, und ich der Vorleser der Zwischenzeilen und des verbindenden Textes. Schließlich kam "Tante Eulalie", die durch ihre Verdünnungskur den größten Heiterkeitserfolg hatte.

Dienstag, den 13. Mai 1919

Scheidemann erklärt in der Nationalversammlung die Bedingungen für unannehmbar.
Am Abend wird Menking weggefeiert in Frühlingshotel, wo es sehr nett war. Ja wie mag es Menking ergehen? Er wird sich wohl durchschlagen, aber wie? Wird er so sarkastisch und bitter und hochmütig bleiben wie er sich manchmal zeigt? Vielleicht glättet und feilt er sich etwas. Sonst war er ja sehr nett im Verkehr, aber dem Christentum steht er bewusst sehr fern, und er hat bloß Neckereien und Scherze dafür über. Was nutzt ihm alle Klugheit, deren er sich wohl bewusst ist, und alles Lernvermögen, wenn ihm das Beste fehlt? Vielleicht erkennt er noch einmal, dass der Mensch Staub ist und dass er nichts durch eigene Kraft kann, und vielleicht findet er dann doch noch den Weg zu Christus, dem Heiland.

Mittwoch, den 14. Mai 1919

Heute fahren die Primaner weg nach Nauenburg, wo sie ins Freiwillige Landesjägerkorps eintreten, die Glücklichen! Werde ich auch noch ins Freikorps eintreten dürfen??

Donnerstag, den 15. Mai 1919

Heute vor einem Jahr ist Herr Dr. Jacobs gefallen. Wenn er dies alles erlebt hätte, was sich im letzten Jahre abgespielt hat! Am Nachmittag geht Tante Liel mit Gerhardt zum Doktor, weil G. so merkwürdige rote Flecke seit einigen Tagen hat, und stellt Scharlach fest. Das ist höchst unpassend, nun muss er für lange Wochen ins Bett, und Ernst und ich können nicht die Schule besuchen und auch nicht mehr die Nachhilfestunden geben - das ist sehr unangenehm. Nun müssen wir natürlich Tante Anna tüchtig helfen.

Sonntag, den 18. Mai 1919

Ernst und ich sind in der Jacobikirche bei P. Beck. Die J.-Kirche, die erst 1910 etwa fertig gestellt ist, ist als Predigtkirche erbaut. Ihr Inneres gefällt mir aber nicht, vielleicht deshalb, weil es ganz andersartig ist, als wie man bisher gewohnt ist. Die Predigt von P. Beck war im Anfang ganz schön, nachher aber höchst seltsam. Eine solche "Predigt", die mit einer Predigt herzlich wenig Ähnlichkeit hat, habe ich fast noch nie gehört. Sie handelte über einen alttestamentlichen Text, in dem über die Hungersnot geklagt wird - ein Wort, das für den heutigen Bußtag, der vom Konsistorium als Trauertag festgesetzt ist, ganz gut passt. P. Beck sprach über die Not unseres Volkes und führte in den drei Teilen seiner Predigt aus, wie Deutschlands Niedergang verursacht sei durch die Unselbstständigkeit (Vorbild: Handle wie Christus!), Die Uneinigkeit (Vorbild zur Besserung: Germania (!!) und die Unmäßigkeit, die ganz kurz abgemacht wurde und etwa mit folgenden Wort endet: "Alles mag untergehn, Deutschland wird bestehen (!!!!) Amen." (!!!) Von der Predigt war ich wenig erbaut, zumal da so viele Male politische Reden darin vorkamen.

Donnerstag, den 22 Mai 1919

Morgens um 9 gehen Ernst und ich über den Prinzenpark nach  Riddagshausen, wobei wir mehrere Aufnahmen, die ganz gut glücken machen. Auf dem Rückwege gehen wir über den Friedhof, wo ich leider zwei Aufnahmen von Tante Hermines Grabe verwackele.

Sonntag, den 25. Mai 1919

Ernst und ich gehen in die gotische Bruderkirche, wo P. Lehmann eine ganz schöne Predigt hält. Ich lese die Schillersche Schrift: "Die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde," eine anziehende Schrift!

Donnerstag, den 29. Mai 1919 (Himmelfahrt)

Heute werden die deutschen Gegenvorschläge eingereicht, über die man sich teilweise freut, teilweise ärgert. Woher sollen denn die 100 Milliarden herkommen? Nun ist man wirklich gespannt, was der Vierrat antwortet. Von seiner Entscheidung hängt es ab, ob es einen gerechten Frieden gibt oder wieder Krieg. -
Predigt im Dom. Pastor Wischer, Wolfenbüttel, kläglich, zu allgemein.

Freitag, den 30. Mai 1919

Bin ich in "Iphigenie auf Tauris" gewesen, was mir gut gefällt. Das Theater ist sehr leer, auf dem Bims sind etwa sechs Menschen! -
Dienst antreten. Leider kriegt sie einen Stadtteil, der am entgegensetzten Ende der Stadt liegt, Madammerweg [?] - Salzdahlumerstraße, im ganzen 177 Straßen - eine schöne Aufgabe, die alle zu betreuen! - Heute früh hatten wir Scharfschießen bei der Landeswehr auf dem Schützenhause. Die Landeseinwohnerwehr ist jetzt vor einiger Zeit eingerichtet und bewirkt die Ruhe und Sicherheit der Bewohner. Damit sich die verschiedenen Teilnehmer ertüchtigen, finden öfters Übungen statt, wöchentlich etwa zweimal ungefähr eine Stunde, wo über das Gewehr instruiert wird und dergl. Heute findet nun zum ersten Male Scharfschießen statt. Ich muss erst 1½ Std. warten, bis ich dran komme. Die vier Schüsse, zwei sitzend und zwei stehend, gehen alle vorbei, aber die Scheibe treffe ich doch immerhin. Nachher muss ich zur Scheibe nach vorn und die Treffer anzeigen, äußerst praktisch und sicher ist das eingerichtet. Die Kugeln haben eine mächtige Durchschlagskraft, sie durchbohren zwei hintereinander liegende Balken, zwischen denen noch eine Eisenplatte liegt, ohne Weiteres. Um ½ 12 ist die Geschichte endlich fertig und ich fahre mit Weichsels auf einen Wagen nach Hause. - In den ganzen Wochen (14. - 26. Mai) hält Pastor Hahn-Reval nachmittags um vier Uhr Bibelstunden über "Die Letztzeit und die Vollendung der Gemeinde Jesu" unter hauptsächlicher Zugrundlegung der Offenbarung Johannis, und abends Vorträge über "den Kampf des Lichtes und der Finsternis"; die Bibelstunden gefielen Ernst und mir besser. - Im Lauf dieser Zeit müssen Ernst und ich Tante Anna tüchtig helfen: Besorgungen machen, Abtrocknen, Bettenmachen, Mohrüben schrappen, Spinat verlesen, Treppe machen, abwischen, Kartoffeln waschen und abziehen, gründliches Reinemachen, Umkramen unseres Börts u.s.w., u.s.w. Es gibt gehörig zu tun, so dass wir höchstens die Zeitung lesen, und abends bisweilen vorlesen, und zwar zuerst: Ingeborg Maria Sicke "Ein Blumenstrau?" und dann Stutzers "Lebenserinnerungen".

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Juni 1919

Sonntag, den 1. Juni 1919

Nun kann jetzt Tante Liel auch als städtische Säuglingsfürsorgerin beschäftigt werden.

Freitag, 6. Juni 1919

Heute endlich bringe ich den grauen Anzug v. Vater weg zum Färben, den Ernst endlich in langer, mühseliger, einschläfernder Arbeit aufgetrennt hatte - die in [...] dreifachen Nähte und ganz kleinen Stiche! - Heute schreibe ich den Thomäschen Narrenbaum ab, den mir Onkel Johannes auf meine Bitte geschickt hat, ein ziemliches Stück Arbeit.

Sonnabend, den 7. Juni 1919

Herr Dr. Witte, der mal wieder da ist, sagt, Gerhardts Scharlach sei erloschen, worüber wir über die Maßen erstaunt sind. So sonderbar auch, dass sich Gerhardt nun doch nicht häutet! Nun heißt es Schularbeiten machen, seit 10 Tagen habe ich ja kein Buch mehr ansehen können! Deshalb sitze ich 2 - ¾ 9 an den Arbeiten.

Sonntag, den 8. Juni - Pfingsten 1919

Im Dom predigt P. Martens sehr fein über 2. [...] 1,7, wobei er besonders auf die Kraft des Christentums hinweist. - Ich spiele wieder etwas Klavier, wie fast alltäglich, jetzt schon 4 stimmig seit kaum 8 Tagen. Aber der Bass ist doch scheußlich schwer, es dauert immer Ewigkeiten, bis man die richtigen Töne f. die linke Hand hat, die rechte geht schon fast mechanisch los. - Nach Tisch studiere ich im Harms "Vaterländischer Erdkunde" die oberrheinische Tiefebene, wo ich nun endlich Bescheid lerne über die vielen Städte Worms, Trier usw. und das andere Geographische, was mir übrigens viel Spaß macht. - Nachher lese ich in Chamberlain´s "Grundlagen des 19. Jhrhds" die mir gut gefallen. Es ist ein äußerst mannigfaltiges und reichhaltiges Buch, das ich äußerst Gern lese. Allerdings finden sich hin und wieder einzelne Stellen, die mir falsch zu sein erscheinen. Die Lektion ist äußerst anregend und klärt allerlei Begriffe.

Montag, den 9. Juni, 2. Pfingsttag 1919

Am Morgen sind Ernst und ich mit Tante Liel bei P. Freise [?], der über Apostelgeschichte 2,42 spricht: sehr allgemein, ohne bemerkbare Disposition, man hat nichts Positives mit nach Hause zu nehmen. Am Nachm. ist Tante Emilie da, ich frage sie nach dem Wagnerschen Stammbaum, den ich notdürftig bis zu ihrem Vater zurück zusammenkriege. Außerdem studiere ich eine alte Bibel von 1678, mit Hilfe welcher ich den Stammbaum ganz hübsch vervollständigen kann (Kinder v. Johann Gottfried [...?].); freilich ist die Schrift fürchterlich. - Am Abend bringe ich T. E. nach Hause.

Dienstag, den 10. Juni 1919

Früh morgens muss ich ein Paket zur Botenfrau Kühnast für Frau Siemann in Gevensleben bringen, aber da sie verreist ist, treffe ich sie nicht. - Gerhards Kammer wird desinfiziert - ein schönes Vergnügen! - Ich muss wieder ganz gehörig Schularbeiten machen

Donnerstag, den 12. Juni 1919

Nach vier Wochen wieder Schule; allzu gut schmeckt sie mir aber nicht.

Sonnabend, den 14. Juni 1919

Im P.V. spricht Wolfgang Sch. über Sasche [?] Schneider ganz fein, er zeigt hauptsächlich Zeichnungen und dergl. von ihnen, die mir aber nicht allzu gut gefallen; manche sind ganz schön.

Sonntag, den 15. Juni 1919

Die Unsicherheit in der Stadt nimmt wieder zu. Die Matrosen werden frech und unverschämt. Ein Putschversuch in der Nacht auf die Husarenkaserne wird glücklich abgeschlagen. - Ernst und ich hören in der Andreaskirche eine Predigt über Nikodemus, der uns ganz gut gefällt. Es kommt zur Wiedergeburt nicht bloß durch die Sehnsucht, sondern es muss der entschiedene Wille dazu treten. - Ich schreibe an Mutter den Geburtstagsbrief und arbeite für die Religionsstunde einen kleinen Vortrag über den Irvingianismus aus. Nach dem Abendessen machen Ernst u. ich noch einen kl. Spaziergang nach dem Bülten [?].

Montag, den 16. Juni 1919

Heute Abend wird von dem Frieden in Versailles die Antwort an uns übergeben. Was mag sie uns bringen, Krieg od. Frieden? -
Gerhardt muss sich wieder zu Bett legen, weil er Schmerzen an den Fußgelenken hat. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes. - Da ich bei der Landeswehr bin, bin ich von vier nachmittags Schulstunden befreit und brauche nur noch zu einer Turn- u. zwei Hebräisch-Stunden.

Mittwoch, den 18. Juni 1919

Heute stehen in der Zeitung die endgültigen Bedingungen der Feinde. Haarsträubend, fürchterlich, entsetzlich, ganz ganz unbeschreibbar, "statt Versöhnung Verhöhnung". Du armes Deutschland, Du liebes Vaterland. Und doch! Die Zeit der Rache wird kommen - denn wehe Dir, oh wehe Dir, Franzosenblut, dann wehe allen Feinden. Und die Stunde der Erhebung wird für Deutschland kommen. - Werden wir unterzeichnen? Was sollen wir andres tun? Sollen wir aber in diesen Schandvertrag einwilligen? Geduld - bald wird es die Regierung schon bekannt geben. Was wohl Herr Scheidemann jetzt denkt, er der noch vor kurzem sagte: "Die Hand, die diesen Vertrag unterschreibt, verdorre!" Oh es ist ein namenlos weher Gedanke, wenn man daran denkt, wie vor einem Jahr noch alle Hoffnung auf Sieg vorhanden war, und wie wir jetzt in die tiefsten Tiefen hinuntergedrückt und gestoßen werden. Wird Deutschland nun endlich, endlich aufwachen und zur Besinnung kommen. Spät ist’s dazu - zu spät! -
Heute haben wir zum 1. Male in diesem Jahre Hitzeferien. Diese Dürre u. Trockenheit - wenn es doch regnen wollte!

Donnerstag, den 19. Juni 1919

Im B.K. spricht Alfred Hünek über "Gerhart Hauptmann". Er wurde am 25.11.1862 in Salzbrunn geboren als der jüngste Sohn gottesfürchtiger Eltern. Seine Mutter war eine gute Hausfrau und gute Mutter. Sie hatte festen Glauben an das Evangelium. Er war ein schlechter Schüler und kam, nachdem seine Eltern die Gastwirtschaft aufgegeben hatten, mit 15 Jahren aufs Land zu Verwandten, wo er auch streng religiös erzogen wurde. Aber Gerhardt wurde kein rechter Christ, soviel er auch rang und kämpfte. Er begann dann nacheinander verschiedene Berufe (Landwirt, Bildhauer Schauspieler, bis er dann seinen Dichtergeist entdeckte. In seinen Werken führt er uns viel Elend und Jammer vor, wie er es auf seiner Reise nach Italien kennen lernte. Dann ging Hüneke noch ganz kurz auf Hauptmanns Werk ein.

Freitag, den 20 Juni 1919

Die Regierung hat bis auf Ebert abgedankt - und wie hat sie auf den Kaiser geschimpft, als er abgedankt wurde, trotzdem er selbst es nicht wollte! Nun lassen sie ihren Posten im Stich und lassen den Karren im Dreck stecken. Wenn doch endlich mal Festigkeit in die Regierung käme!  -
Herr Eggers hat sich jetzt 2 kl. Schweine zugelegt, die am Tage in der Plättstube und nachts in der Laube hausen. Demnächst sollen sie in die noch auszuräumende hölzerne Laube.

Sonnabend, den 21. Juni 1919

Die herrliche Regierung kann sich immer noch nicht einigen, bes. weil Herr Erzberger Bedenken immer wieder hat. Sie schwankt, nachdem glatte Ablehnung für sie erledigt und unmöglich zu sein scheint, zwischen einer bedingungslosen und "bedingten" Annahme. Was mag aus diesem hässlichen Chaos herauskommen? Warum wir bloß nicht ablehnen wollen! Dann wäre doch wenigstens unsere Ehre gerettet! Den allerallerschwersten Zeiten sehen wir so oder so doch entgegen. -
In einer Pause (?) ist Schminck [?] aus Nauenburg da. Ihm und seinem ehemaligen Mitschüler gefällt das Soldatenleben (sie sind Artilleristen) ganz ausgezeichnet. - Am Abend findet im Keglerheim zunächst ein Vortrag von Herrn Prof. Ticius aus Göttingen statt über die Trennung v. Staat und Kirche, und daran anschließend eine Runde v. P. Schonburg [?] über den Schritt des Landtags, der 4 Männer bestimmt hat, die die rechtlichen Angelegenheiten ordnen sollen. Er be[...], manchmal mit sichtlicher Ironie, P. Goetze, der im Gegensatz zu ihm diese Trennung als ein Unglück bezeichnet. - Nachher ergriffen noch mehrere Redner für und gegen P. Schaumburg und Götze Partei - es war eine recht unerquickliche Sache das Pastorengezänk! - Erst um ½ 1 war die Geschichte zu Ende!

Sonntag, den 22. Juni 1919

Die deutsche Regierung hat jetzt nach langem hin und her ihre Einwilligung zu einer "bedingten" Unterschrift gegeben. Wo geht es mit Deutschland hin? -
Der Remenhof ist abgebrannt, wie betrüblich! Es ist wirklich sehr bedauernswert. Im Dezember hatte unser B.K. noch die Weihnachtsfeier dort! - Ich studiere etwas Kopernikus, Gallilei, Keppler u. Newton - Am Nachmittag bin ich mit Ernst bei Herrn Missionsdirektor v. Schwartz, wo ich für Prof. Lippelt eine Bestellung ausrichte - Er erzählt von seinem Zusammensein mit Mutter während des Missionsfestes. -

Montag, den 23. Juni 1919

Wir unterzeichnen auf eine ablehnende Antwort hin, die die Feinde uns haben so schnell zukommen lassen, "bedingungslos" !! Nun unterschreibt Deutschland sein eigenes Todesurteil - wo will das hin! Aber die Deutschen Matrosen haben noch ein bisschen deutsche MannesMannsehre gerettet - sie haben unsere stolze Flotte, die unter dem Feinde verteilt werden sollte, versenkt in der Bucht von Scapa-Flow, wo sie vor Anker lag. Sie wussten, was es heißt: "O Deutschland hoch in Ehren ...". Heil ihnen den braven, wackeren Helden! -
P. Lichtenstein hält in der Aula eine ergreifende Ansprache

Dienstag, den 24. Juni 1919

Am Nachm. Missionsfest in Rettungshausen [?]. Als erster Redner spricht Onkel Mayner über die "Entwicklung der Madrasgemeinde" und als zweiter Herr Lic. Trittelwitz, Bethel, über "Pastor von Bodelschwings Lebenswerk im Lichte der Gegenwart", beides sehr feine Vorträge. Mit Onkel Mayner spreche ich nachher noch.

Donnerstag, den 26. Juni 1919

Während der B.K. - Stunde gehen [...?], die beiden Wolfgänge, Ernst und ich in den Bürgerpark spazieren und unterhalten uns sehr fein. Das Hauptthema "die Mädchenfrage" wird rasch erledigt. Im B.K. Boten standen immer alte lange Geschichten darüber drin. Wir kamen zu dem Schluss, dass das Tanzen an u. für sich durchaus nicht verwerflich sei, sondern in den richtigen Grenzen gehalten wohl zu billigen sei. Im Übrigen muss es jeder selbst wissen, ob ihm der Verkehr mit den Mädchen richtig zu sein scheint oder nicht. Aber strikte ein für allemal nur zu brüllen, ist verkehrt.

Freitag, den 27. Juni 1919

Ich gehe mit Tante Liel zur "Arbeitsgemeinschaft" - Stunde zu P. Schonburg, wo er über die "Entstehung des modernen Weltbildes (Kopernikus - Kepler - Galilei - Newton) spricht. Wenn es auch an u. für sich ganz nett ist, so ist es mir doch recht fraglich, ob ich wieder zu ihm hingehe, weil er mir zu weit nach links steht. - Um ½ 7 ist bei der Landeswehr Probealarm, freilich nicht durch Alarm, sondern vorher schriftlich angekündigt. Es ist ziemlich quaselich, wenns richtiger Alarm, u. noch dazu Nacht wäre, würde es ein wunderbares Gemuse werden. Nun weiß jeder, wo er sich im Ernstfall aufstellen muss.

Sonnabend, den 28. Juni 1919

Im P.V. (Holst´s Garten) spricht Haferburg über Richard Wagners Musikwerk, wobei ich am meisten lerne, als er einen kurzen Lebensüberblick gibt. Sonst ist der Vortrag viel zu lang, dauert fast eine Stunde! Nachher wurde etwas gekegelt. - Heute um drei Uhr ist in Versailles der Friede unterzeichnet!!

Sonntag, den 29. Juni 1919

Der letzte Schulsonntag! Ernst u. ich suchen eifrig und lange im Fahrplan die Strecken nach Belitz u. Essen auf. - Es ist Trauersonntag heute anlässlich der Unterschrift unter den Schmachfrieden. - Wir sind im Dom, wo P. Fischer - Wolfenbüttel fein predigt.

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Juli 1919

Dienstag den 1. bis Mittwoch, den 2. Juli 1919

Ich habe nachts Wache bei der Konservenfabrik v. Struck in Gliesmerode 9 - 4 Uhr. Wir 13 Mann werden in zwei Abteilungen geteilt, von denen ich mit der einen Perteir [?] 11 - 1 und ½ 3 - 4 auf Posten drei aufpassen muss. Die Stelle ist ziemlich unangenehm, aber es verläuft alles ganz ruhig, und es steigt auch niemand über die Mauer. Als ich um ½ 5 zu Hause in die Klappe krabbele, bin ich redlich müde, und am Morgen schlafe ich halb in der Schule. Mittwoch nachm. habe ich zum 2. Male Scharfschießen im Schützenhause. Von fünf Malen treffe ich dieses Mal wenigstens ein Mal (Ring 18 etwa).

Freitag, den 4. Juli 1919

Heute gibt’s Sommerferien. In der Aula sagt Dittmar ein Gedicht her, wobei er eine mächtige Stimmkraft entwickelt. Er könnte reinweg noch einmal Volksredner werden! - P. Lichtenstein gibt mir die Literaturgeschichte von Buchmann, mit deren Hilfe ich einen Vortrag über "Lessings Stellung zum Christentum" halten soll. Die "Wolfenbüttler Fragmente" kann ich leider nirgends auftreiben. In der Schulbibliothek zu fragen ists zu spät. - Am Abend 8.35 fährt Ernst weg nach Mecklenburg. Wie wir später erfahren, hat er in Berlin infolge einstündiger Verspätung den Anschluss nicht mehr erreicht und ist dann über Stettin gefahren um aber noch am Sonnabend 4. Klasse nach Groß-Wüstenfelde zu gelangen. Dort kam er dann Sonnabendabend etwa um sechs an!

Sonnabend, den 5. Juli 1919

Gleich nach dem Mittagessen gehen Gerhardt und ich mit dem kl. Wagen nach Riddagshausen, wo wir von einem zum Gutsgarten gehörigen Felde ein Zentner Erbsen holen. Ich lese Lessings "Über den Beweis des Geistes und der Kraft".

Sonntag, den 6. Juli 1919

Am Morgen Garnisonkirche. Am Nachm. lese ich Lessings "Nathan d. Weise" unten in der Laube halb.

Montag, den 7. Juli 1919

Vom frühen Morgen bis zum späten Abend machen wir alle die Erbsen aus - ein schönes Stück Arbeit, aber wir werden doch fertig. Am Abend begießen wir Gerhardt u. ich den Garten von Prof. Winries [?] – eine feine Arbeit.

Dienstag, den 8. Juli 1919

Ich mache mich gehörig dahinter, Nathan u.s.w. zu studieren. Ich sitze die ganzen nächsten Tage dabei, Lessings Werke zu durchstöbern, so weit sie etwas mit dem Christentum zu tun haben - es ist eine tüchtige Arbeit. Dafür lernt man aber auch von Lessing viel kennen. - Am Mittag kommt Tante Tilly zu Besuch. Sie ist auf der Heimfahrt nach Erbstorf. Sie fährt morgen früh wieder weg.

Mittwoch, den 9. Juli 1919

Früh um ¾ 5 bringe ich Tante Tilly zum Hauptbahnhof. Dann mache ich mich wieder an den Vortrag, studiere hauptsächlich "Ernst u. Falk" (Freimaurer) Am Nachm. stellen wir alle Tante Liels Möbel aus Tante Webers Wohnung unter die dortige Bodentreppe, auf T. Webers Bitte. Dann kommt der brummige Hauswirt dazu, ein Scheusal in Menschgestalt, der uns ½ auffrisst. Unter Schimpfen befiehlt er uns, die Möbel sofort wieder wegzubringen, was wir dann auch besorgten. Komisch, dass er auch gerade etwas unter die Bodentreppe stellen wollte!! Pfui, wie kann man so hässlich sein!

Donnerstag, den 10. Juli 1919

Ich lese hauptsächlich "Die Erziehung des Menschengeschlechts" v. Lessing. Gegen Abend besuche ich Tante Emilie und Dr. Müller. Sein Vater liegt schwer krank im Marienstift, die Operation wegen Darmverschlingung vor 3 Wochen etwa ist gut verlaufen, nun ist noch ein Blasenleiden dazu gekommen.

Freitag, den 11. Juli 1919

Wann wohl endlich eine Einladung von Onkel Friedrich kommt? Ich warte mit brennender Ungeduld! Nach Hohenfelde bin ich von Wiens [?] nicht eingeladen, weil sie noch Angst vor dem Scharlach haben!! Das ist recht weit getrieben - Ich bringe den Vortrag in Kladde fertig und übertrage ihn auch schon fast ganz in Reinschrift. - Am Nachm. besuche ich Tante Dettmer, der es jetzt schon etwas besser geht.

Sonnabend, den 12. Juli 1919

Um ¼ 8 kommt von Onkel Friedrich ein Telegramm, ich möchte nun baldmöglichst zu ihm kommen. Endlich! Ich gehe zur Auskunftsstelle der Bahn u. erfahre, dass ich am besten 12.23 fahre u. dann nachts ½ 1 in Lüdenscheid ankomme. 5 Minuten vor 12 rase ich mit Gerhard von zu Hause weg, erreiche die Straßenbahn im allerletzten Augenblick u. komme dann noch ganz gut hin. Die Fahrt ist ganz schön, zuweilen erwische ich auch einen Sitzplatz. In Hannover, Hamm u. Hagen muss ich umsteigen, verpasse in Hamm durch Verspätung den Anschluss, erreiche aber durch einen glücklicherweise ¾ Std. später fahrenden Eilzug doch noch in Hagen die Verbindung. In Lüdenscheid weist mir ein Fabrikarbeiter den Weg, der meint, ich wollte in der Klinik wohl meine Frau besuchen (!). In der Nacht (genauer am Morgen, ich komme erst ¾ 1 an - schlafe ich auf einem Langstuhl in der Wohnstube. Künftig schlafe ich in der Gastwirtschaft v. Prapenstock-[?] auf der Thünenstraße.

Sonntag, den 13. Juli 1919

Zunächst eine Charakteristik einiger Personen hier: Onkel Friedrich hat sehr viel zu tun, er ist sehr lieb gegen mich. Herzelein (Else) ist ein richtiges Herzelein, nur manchmal ist sie frech u. ungezogen. Liselotte ist auch nett, nur ist sie dösig. Aber ich mag sie alle gern. Fräulein Hallerstede, ihre Lehrerin, ist ganz nett, nur viel zu nachsichtig und labrig. Es steckt gar kein Muck und Schwung dahinter. Sie besitzt gar nicht die erforderliche Autorität. Freche Antworten dürfte sie sich doch nicht gefallen lassen, und L. u. H. müssten ihr doch eigentlich auf´s Wort gehorchen! Frau Ruß ist eine brave und biedere Frau, zwei Jahre schon schwingt sie das Küchenscepter als Haushälterin, sie ist für Onkel Friedrich geradezu unentbehrlich, so tüchtig ist sie. Gegen H. u. L. ist sie auch zu nachsichtig. Sie ist ein nettes, freundliches Menschenkind, aufs Eifrigste darauf bedacht, mich tüchtig zu füttern und verwöhnen mit allen nur denkbaren Genüssen. Ich soll ja tüchtig zunehmen. Mal sehen, wie viel, jetzt wiege ich 113 Pf. - Ich lese "Lebrecht Hühnchen", ein ganz herrliches Buch, voll wundervollen Humors, ganz herrlich. Dann schreibe ich mit Onkel Friedrichs Schreibmaschine "Erika".

Montag, den 14. Juli 1919

Ich mache einen Schlender durch die Stadt, gehe zuerst zum Friedhofe zum Grabe von Tante Melanie, und dann an der Christuskirche vorbei, die Knapperstraße (Hauptverkehrsstraße mit d. Wilhelmsstraße) herunter u.s.w.

Dienstag, den 15. Juli 1919

Onkel Friedrich muss die Zentralheizung anmachen lassen, so kalt und unfreundlich ist es! Mit dem Onkel, der das besorgt, unterhalte ich mich eine Zeitlang. Er erzählt mir sogar seinen Lebenslauf: Als Knabe war er äußerst schwächlich gewesen, hatte erst sehr spät laufen gelernt und spät auf die Schule gekommen. Als er zum ersten Male auf der Musterung war wurde er als viel zu schwächlich abgewiesen, und dann das nächste Mal zur Infanterie geschrieben - so war er erstarkt. Jetzt würde er gern in der Fabrik feste arbeiten, aber das verbietet ihm sein alter u. gebrechlicher Körper. - Am Nachmittag mähe ich die beiden Rasen mit der Mähmaschine ab, wobei ich tüchtig ins Schwitzen komme. Aber Spaß macht’s doch. Ich gehe mal zum Bismarkturm.

Mittwoch, den 16. Juli 1919

Ich lese jetzt vorläufig im Chamberlain (Grundlagen ...") des Kapitels 5 über den "Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte". Es ist sehr schwere Lektion, Ch. drückt sich oft sehr schwer verständlich aus infolge seiner vielen Fremdworte, die er leicht vermeiden könnte, und des umständlichen Satzbaues. Aber wenn man sich hineingelesen hat, geht’s ganz gut und macht Spaß. Eine Menge lernt man kennen durch diese Lektüre, auch was allgemeine Wichtigkeit hat. - Nach dem Kaffee gehe ich mit Lieselotte spazieren: Gartenstraße - Neuenhof - Hemeck [?] - Homert - (vom Aussichtsturm haben wir eine ganz schöne Fernsicht) - Lon {?} - Westerfeld - Ldschd. Unterwegs finden wir noch allerlei "Waldbeeren" (- Heidelbeeren).

Donnerstag, den 17. Juli 1919

Nachdem Frühstück mache ich einen dreistündigen feinen Ausflug: Ldschd - Hellersen - Brenneck [?] - im Versetal aufwärts nach Brüninghausen, durchs ganze Dorf hindurch bis zur Kirche - dort links ab einen prachtvollen Höhenweg - NO um Leifringhausen herum - Schlittenbahn - zurück. Ich lese nachher z.T. von C.F. Meyer "Die Hochzeit des Mönches", eine konfliktreiche Geschichte, die aber einen befriedigenden Ausgang nimmt.

Freitag, den 18. Juli 1919

Ein Tagesausflug nach Altena: Schon um ¼ 9 mache ich mich auf, trotzdem das Wetter unsicher ist. Aber es klart sich auf nachher. Ich gehe an der Christuskirche vorbei, dann Mark - Heerweise - Freisenberg - Römerweg (ein herrlicher Höhenweg) Schnarüm -  Großendrescheid - Tal des Brachtenbeck - Brachtenbeck (herrlich! Die Blicke das Tal hinauf herrlich, die Sonne bricht durch) - Am Halse - Altena (kl. Pause) (schlängelt sich ganz an der Lenne entlang) - Höhenweg (herrlicher Ausblick nach Altena und dann ins  Rahmede- und Lennetal) sehr steil nach Bergfeld - Horst - NO um Brunscheid - Bellmerei - Worth - zurück. Um ½ 4 war ich wieder zu Hause. Ein herrlicher Weg!

Sonnabend, den 19. Juli 1919

Ich lese "Licht u. Leben". Am Mittag fahren Liselotte, Herzelein und ich zu Tante Käthe nach Essen, und zwar ab 12.58 und sind um 5.00 da. T. K. zeigt uns etwas die Stadt (Rathaus, Münster) und führt uns in eine Konditorei, wo wir Leckeres zu essen kriegen. Wir 4 werden photographiert!. Schließlich fahren wir mit der Straßenbahn zur Gudulastraße, wo Tante Käthe eine hübsche dreizimmerige Wohnung hat. Ich lese dann in ihren schönen kunstgeschichtlichen Büchern. Am Abend nach dem Essen unterhalten wir beide uns noch traulich, - es ist einfach herrlich. Nachdem ich dann in einem Bette geschlafen habe, was Hederichs, die Wirtsleute, mir eingeräumt haben, ist es

Sonntag, den 20. Juli 1919

"Herzelein", Tante Käthe, Paul, Lieselottegeworden. Das Wetter ist leider so schlecht, dass wir nicht zusammen losziehen können. Nachdem ich eine herrliche, prachtvolle Haferflockensuppe mit Schokolade und dann Kuchen vertilgt habe, gehe ich in die Erlöserkirche, wo P. Johannsen eine herrliche, kraftvolle Predigt über Lukas 9,19-27 hält. Die Erlöserkirche, eine Predigtkirche in einem romantischen Stile gefällt mir gut, viel besser als z.B. die Jacobikirche in Braunschweig, die ja auch eine Predigerkirche ist. - Darauf gehe ich zur Margarethenhöhe im SW von Essen dies ist ein neuerer Ort, in dem die Beamten von Krupp angesiedelt sind. Die Häuschen sind sehr anheimelnd, ganz wonnig. Die Straßennamen sind nett, z.B. Daheim. Auch ein Markt ist dort. So freundlich und abwechslungsreich, und doch so einheitlich - wirklich da möchte man wohnen! Nach dem Mittagessen, wo sogar noch etwas übrig bleibt, müssen wir 3 noch etwas fürs Gästebuch dichten und dann gibt’s noch feine Torte. Eh wir zur Bahn gehen, besuchen wir eine Freundin v. Tante Käthe, Frl. Regier [?], eine äußerlich etwas rauhe, aber doch herzensgute Dame. Sie füttert uns auch mit Kuchen, packt mir gleich in ihrer Güte 3 Stck. Kuchen auf, so dass ich mir beinahe den Magen verderbe. Die Rückfahrt geht sehr schnell vonstatten: 4.31 - 6.59. Zu Hause lese ich die bd. ersten Kapitel v. Hanne Nüter (Reuter). Am Abend stirbt Frau Neuerburg nach dreiwöchiger Krankheit, derentwegen Onkel Friedrich nicht in die Ferien fahren konnte.

Montag, den 21. Juli 1919

Es regnet. Am Nachm. machen die Unabhängigen einen Demonstrationszug. Ich säge zwei Äste v. einem Baum im Garten ab, nachdem ich einen "herrlichen" blauen Anzug übergezogen habe.

Dienstag, den 22. Juli 1919

Es regnet. Am Nachm. kommt P. Schnalenbach [?] aus Schalksmühlen zu Besuch, ein fröhlicher, ulkiger Mensch, den man gleich gern haben muss. Am Abend sind Schwester, Frau Reuß u. ich in einem "Sinfoniekonzert", das mir sehr gut gefällt.

Mittwoch, den 23. Juli 1919

Es regnet. Ich schreibe mit der Schreibmaschine an Tante Anna u. Johannes.

Donnerstag, den 24. Juli 1919

Die Sonne ringt sich durch. Ich gehe gegen 9 weg: Am Ende der Gartenstraße hole ich einen leeren Ackerwagen ein und auf meine Bitte hin darf ich mitfahren: Am Neuenhof vorbei; W der Ho[...?] (steige dort aus), ins Jubachtal hinunter - An der Jubachtalsperre vorbei (Höhe der Dammauer über 30 m) - Vollme - Vollmetal abwärts viele Wassermühlen - bis Bollwerk, von dort NO durch Altenlüdenscheid - Oberwinterbeck - Reininghausen - W Neuenhof und so zurück. Gerade gegen eins kam ich zum Mittagessen. Am Nachm. gehe ich mit Frl. Hallerstede in der Richtung nach Oberahmde [?] über Schafsbrücken [?] und suche Heidelbeeren. Der Erfolg ist allerdings ziemlich kläglich. Am Abend kann ich eine Ruhe vom [...?]stock haben, weil ich künftig hier schlafen kann, u. zwar auf Zimmer 7, ein schönes, prächtiges Gemach! Übrigens ist heute früh Onkel Friedrich nach München abgereist, wo er den ersten Teil seiner Ferien verbringen will.

Freitag, den 25. Juli 1919

Es regnet. Ich lese von Hans Wegener ein nettes Buch "Wir jungen Männer". Ich schreibe Briefe nach Dornhennersdorf, Hohenfelde u. an die Tanten Wolffs.

Sonnabend, den 26. Juli 1919

Trübes Wetter. Am Nachmittag mache ich einen 2½stündigen Spaziergang: An der Schmalspurhaltestelle vorbei - Schafsbrück - Oberrahmede - Neuenweg - Dünnebrett - hückingen Rahmede - Altroggenrahmeden [?] Fülbecker [?] Talsperre Hückingen - östlich von Gottwerk [?] (353) – Kirchhahn [?] - westlich Buschhausen (407) - östlich Vogelberg direkt nach Soden [?] und so zurück. Es war ein tüchtiges Stück, und ich musste mich gehörig heranhalten, um zeitig zurückzukommen. Gleichwohl kam ich erst, als mit Abendbrot begonnen war.

Sonntag, den 27. Juli 1919

Ich fahre morgens 7.20 ab Lüdenscheid und bin 9.31 in Witten, wo ich von Onkel Johannes, Evchen und Maria u. Hans abgeholt werde. Evchen  und Maria hätte ich kaum wiedererkannt, und die übrigen Vettern kannte ich noch nicht. Hans ist ein netter Bengel, er ähnelt Onkel Johannes; Hartwig scheint der Unglücksrabe zu sein: er hat einen breiten Mund, eine Stupsnase, schielt und ist auch etwas schwerhörig; aber er ist auch nett. Erika, mein erstes Patenkind, hat blaue Äuglein, dichtes bräunliches Haar und wiegt acht Pfund. Evchen scheint ein bisschen dösig zu sein wie Liselotte, und Maria ist frisch. - Nachdem ich das Haus kennen gelernt und gefrühstückt habe, holt Onkel Johannes mit mir Tante Käthe von der Bahn ab, die dann mit Frl. Wullenweber, die Mitpate ist, die Zimmer mit herrlichen Blumen und Efeuranken festlich schmückt. Über eine Kommode decken sie ein weißes Laken und richten so einen Altar her, der durch Rosen und zartes Grün einen hübschen Schmück erhält. Onkel Johannes zeigt mir das Martineum, das jetzt unten für die Zwecke der Lebensmittelkartenverteilung eingerichtet ist. Am Nachmittag lassen die geladenen Gäste ziemlich lange auf sich warten, so dass erst um ¼ 5 statt um 4 die Taufe vorgenommen werden kann. Onkel J. spricht über 1. Joh. …, wo er den Wunsch ausspricht, das Erika recht viel von der Liebe Gottes erfahren möge. In der sich nach einem von O. J. mit dem Klavier begleiteten Gesänge von Evchen, Maria u. Hans findet die eigentliche Taufhandlung statt, bei der ich Erika als der jüngste Pate tragen muss. Sie schreit nur wenig und strampelt mit ihren kleinen Ärmchen und Beinchen ganz wonnig. Außer mir und Frl. Wullenweber sind noch Paten: ? Nach der Taufe wird an einer langen Tafel Kaffee getrunken, zu dem von verschiedenen Bekannten Kuchen und Torten gestiftet ist. Als Gäste sind noch da u.a. Frau Prof. …, die schon 82 Jahre alte ist, P. Deppe, P. Nölle, Pastor Wilms (sein Sohn Ernst, etwas älter als ich, hatte 1917 die Ferienfahrt mitgemacht; jetzt lernt er in einem Jahr Griechisch und ½ Jahr Hebräisch nach, in Bethel - eine ganz gehörige Arbeit!) sämtlichst mit Frau. Onkel Johannes hält eine kleine Rede, in der er den Namen Erika Dorothea (nach Erich, Gottesgeschenk) begründet. Er weist darauf hin, dass bei seinem kommen nach Witten seine Kinderschar ¼ Dtzd. jetzt ½ Dtzd. umfasste, u.s.w. Pastor Wilms als der nächste Redner, "der greise Senior v. Witten", wie er scherzweise genannt wird, erzählt, wie er schon früher oft mit staunender Bewunderung Artikel und Schriften von einem Pastor Thomä gelesen habe, der sich immer besonders hervorgetan hätte. Als dann dieser Thomä nach Witten gekommen wäre, hätte er sich diesem großen Geist zu nähern versucht und hätte auch herzliche Freundschaft gefunden, u.s.w. Nun komme ich an den Tanz und muss reden im Namen der Paten; vorher sagt mir Frl. Wullenweber sehr fein, was ich ungefähr sagen kann, und dann lege ich los. Ohne Steckenbleiben fraß ich mich dann auch allmählich durch. Am Abend werde ich von Pastor Deppe eingeladen, um die Nacht bei ihnen zuzubringen. Es kommt am Abend Besuch, darunter ein äußerst lustiger Herr, der nichts mit ernstem Gesichte erzählen kann, denn überall macht er seine Witze - man konnte sich manchmal schütteln vor Lachen.

Montag, den 28. Juli 1919

Heute geht Onkel Johannes mit mir die Ruhrstraße, dann links ab am Hause von Pastor Richter vorbei zum Hohenheim, von wo wir eine feine Aussicht nach allen Richtungen, besonders das Ruhrtal aufwärts und abwärts und hinüber nach Bommern haben. Onkel Johannes und ich unterhalten uns sehr viel über allerlei, wie lang haben wir uns auch nicht gesehen! und wenn, dann nur im Vorbeihuschen. Am Nachm. nach dem Kaffee gehe ich zu Deppe´s hinüber, und Frl. Anna Deppe ging mit ihrem jüngeren Bruder Martin und mir zum Rudern auf die Ruhr zu einer Anlegestelle an der Ruhrstr. Von dort rudern wir sehr fein erst den toten Arm entlang, unter der Ruhrbrücke hindurch, die jetzt noch im Entstehen begriffen ist, die Ruhr dann aufwärts bis zu einer Insel. Von dort dann zurück. 1 ½ des Weges rudere ich mit und merk mit Freuden, dass ich es einigermaßen kann. Die Nacht über schlafe ich wieder bei Pastor Deppe, der sich erboten hat, mich noch eine Nacht zu beherbergen. Übrigens ist Frl. Anna Deppe ein frisches, fröhliches Menschenkind, die ihren Mund auf dem rechten Fleck sitzen hat.

Dienstag, den 29. Juli 1919

Ich gehe die Ruhrstraße abwärts - über die Ruhrfabrik (dort wird noch Brückengeld erhoben, u. zwar 20 Pf. für die Person. Da ich frage, wie viel Menschen die Brücke beidgleich benutzen, erfahre ich, rund 10 - 13 000, das bringt im Jahr, wenn man täglich 1150 Menschen durchschnittlich rechnet, eine Einnahme von 83 950 Reichsmark!) - Bommern - Wengen - am Wasserturm vorbei - Bommern - zurück. Am Nachmittag lese ich den Schreifritz. Nach dem Kaffee sitze ich mit Tante Marg. gemütlich zusammen - O. J. ist schon am Mittag dienstlich nach Hagen gefahren - und fahr dann 6.34. - 6.59 nach Hagen, wo ich mich mit Frl. Hellerstede vor dem Theater treffe. Dort genießen wir in vollen Zügen die Oper "Der Freischütz", das Theater ist sehr hübsch ausgestattet, aber ist ziemlich klein. Aber die Darsteller sind doch, von Max abgesehen und den andern Hauptrollen, ziemlich schwach in der Stimme, und die Bühnenausstattung ist natürlich auch schlichter. Am Abend fahren wir 11.10 - 12.31 zweite Klasse zurück

Mittwoch, den 30. Juli 1919

Es regnet. Ich schreibe an Dr. Müller und entsteine am Mittag eine Anzahl Kirschen aus mit einem sehr praktischen Instrument.

Donnerstag, den 31. Juli 1919

Liselotte und ich fahren 10.20 über Altenau und Letmathe nach Iserlohn (12.17) und gehen dann auf Liselottes Wunsch zunächst zu Frau Möller, einer früheren Kranken von O. Friedrich, die v. Liselotte u. Herzelein (Else) sehr ins Herz geschlossen ist. Nach längerem Suchen erfahren wir, dass sie nicht Iserlohner-, sondern Hagenerstraße wohnt. Wie zu erwarten, platzen wir ins Mittagessen hinein, bekommen aber nichts, weil Gassperre 1 - 7 (!) ist. Wir vertilgen einiges von den Broten und gehen dann in Begleitung von Frau Möller und ihrem kl. Neffen zur Dechenhöhle, einer Tropfsteinhöhle, in 1 Std. Diese ist 300 m lang, und ist erst um 1865 durch Zufall entdeckt von Bahnarbeitern, die ein Werkzeug verloren hatten. Die Höhle zeigt außerordentlich viel fesselnde Gebilde es befinden sich dort Säulen, ein kl. sitzender Zwerg mit einer Zipfelmütze, ein 1 ½ m tiefer kl. Teich und dergl. mehr. Fesselnd war, was der Führer sagte, nämlich dass in 10 Jahren die Gebilde nur um 1 mm, mithin in 1000 Jahren um 1 m wuchsen Darnach auf das Alter der gewaltigen Höhlen zu schließen, muss sie wohl Tausende von Jahre schon bestehen. Alles war elektrisch beleuchtet, z.T. blau od. rot. Die Säulen waren nachmal musikalisch wie Saiten. Liselotte u. ich gehen dann allein nach Letmathe (20 - 30 Min), wo wir den Ort durchwanderten. Ins Auge springend ist die erst 1914 erbaute gotische "Pfarrkirche ad Kilianum", die mich lebhaft an den Dom zu Speyer erinnert wegen der vielen Türme. Zurück fahren wir 5.45 - 8.40, wobei ich, wie auch auf der Hinfahrt lese die Novelle des Todes von E. A. Poe, die z.T. höchst sonderbar, z.T. aber äußerst fesselnd und unterhaltend sind wie z.T. das Kapitel über den Maelstrom (od. den Untergang des Hauses Usher) od. die erstaunlichen Wirkungen des Mesmerismus auf einen Sterbenden.

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August 1919

Freitag, den 1. August 1919

Vor 5 Jahren Kriegsanfang! Ich mache allerlei Kleinigkeiten.

Sonnabend, den 2. August 1919

Ich wollte heute einen Ausflug nach dem hohen Molmert machen, aber das ist ins Wasser gefallen. - Frau Ruß erzählt vom Herzelein (Else): Einmal, als noch Fahrerlaubnisscheine auf der Bahn nötig waren, ging Herzelein zur Bahn mit Frau Ruß, um Fahrkarten zu holen. Da Herzelein sagt, sie würde schon F. bekommen, lässt Frau Ruß sie ruhig gehen, natürlich nichts Böses ahnend. Herzelein kommt dann triumphierend an und bringt die Fahrkarten. Sie hat nämlich gesagt, dass ihre Großmutter im Sterben läge. Dafür hat sie vom Onkel Friedrich natürlich tüchtig was abgekriegt, aber man sieht wieder, dass sie es dick hinter den Ohren sitzen hat.

Sonntag, den 3. August 1919

Der letzte Tag hier! Eine wie schöne Zeit, erfrischend für Körper und Geist, liegt hinter mir! Ich bin tief dankbar für alle Liebe, die ich empfangen durfte. - Zugenommen habe ich etwa 6 Pfund 113 - 119 Pfund das ist eine ganz schöne Menge! Am Nachmittag mache ich mich ans Packen, das mit einigen Schwierigkeiten verknüpft ist, weil Frau Ruß mir fein viele Nahrungsmittel für Tante Anna mitgibt. - Am Morgen war ich mit Liselotte u. Herzelein in der Christuskirche, wo Herr P. Barthold über Römer 6,19-23 sprach.

Montag, den 4. August 1919

Morgens fahre ich 6.13 ab, von Liselotte, Herzelein u. Frau Ruß zur Bahn geleitet. Ich brauche nur in Hagen umzusteigen und fahre nach einem Aufenthalt 7.46 - 9.01 dort mit d. Zug weg und komme 2.22 in Braunschweig an, die Fahrt war ganz fein, nur sehr voll war es. Ich verstaue schließlich meinen Koffer in einem Abteil u. lasse mich im Speisewagen häuslich nieder, wo ich dann aber nach etwa zwei Stunden heraus muss. Ich bringe von Chamberlain das Kapitel "Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte" zu Ende. - Zu Hause treffe ich Mutter an, die noch etwa 14 Tage bleibt. Wie fein - Weihnachten haben wir uns zuletzt gesehen!

Dienstag, den 5. August 1919

Am Abend kommt Tante Käthe nach 1 Jahr Fernseins

Donnerstag, den 7. August 1919

Am Abend B.K. Wolfgang hält eine reformatorische Rede, um wieder Schwung in den Betrieb und Mitarbeit zu bringen. Hoffentlich kommt d. B.K. endlich auf einen grünen Ast, so dass er wirklich etwas gibt. Zunächst soll der Philipperbrief gelesen werden.

Freitag, den 8. August 1919

Prof. Ewers, der sich jetzt in einen Sozialdemokraten verwandelt hat, nachdem er Einblick in alle möglichen Urkunden während der Ferien gewonnen hat, versucht uns davon zu überzeugen, dass Deutschland die äußere (?) Schuld am Kriege hat, dass die Reden von der Einkreisungspolitik Englands ein Ammenmärchen sind u.s.w. Er stößt aber bei uns auf teilweise heftigen Widerstand - dies ist dann auch unerhört!

Sonnabend, den 9. August 1919

Am Abend im P.V. spricht Grünhagen, der jetzt in die Reichswehr eintritt, über den Kommunismus in idealem Sinne. Daran schließt sich eine erregte, lange Disputation an, in der wir aus dem 100. ins 1000. kommen - aber fein ist das, so lebendig war seit Urzeiten kein Abend. Dabei tut sich wie üblich Staff als verbohrt negative Opposition kund, aber dadurch kommt eben Schwung in die Sache. Über die Hohenzollern wird geurteilt, und jedenfalls ist das wohl richtig, dass ihr Höhepunkt in Friedrich II. zu erblicken ist, dass jetzt aber ihr Name entschieden auf niedersteigendem Aste steht, so dass es entschieden nicht zu bedauern ist, dass sie vom Throne gekommen sind. Aber gleichwohl wollen nicht ihre Verdienste herab gesetzt werden, und noch immer regte hier und da ein großer Geist aus ihrer Flut empor - Ferner sprach man über Luther, die Kirche, u.s.f.

Sonntag, den 10. August 1919

Herr Domprediger predigt zum 1. Male wieder seit Ostern, nachdem er im Schwarzwald Erholung v. seiner Lungenkrankheit gefunden hat. Am Nach. schreibe ich einen Dankbrief an Onkel Friedrich.

Sonnabend, den 16. August 1919

Zum ersten Male nach langer Zeit wird von der ganzen Schule ein Schülerausflug unternommen. Meine Klasse unter d. Leitung v. P. Lichtenstein und dazu die OIO (Drude (?)) machen eine feine Fahrt. Am Abend fahren wir bis Harzburg und wandern dann gemächlich im Dunkeln über Molkenhaus und Scharfenstein den Brocken hinauf, wobei Taschenlaternen die Wegweiser beleuchten. Eine herrliche Wanderung, es ist ziemlich kalt. Gegen ½ 4 kommen wir nach anstrengendem Wege und manchem Gestolper aber an und sehen mit Trauer, wie sich eine dicke Wolkenwand ringsum legt. Nach kurzer Rast im Brockenhaus sehen wir, wie allmählich die Sonne auftaucht als glühend-roter Feuerball, den man bald nicht mehr ansehen kann. Zahlreiche Leute kommen aus d. Brockenhaus, um das Schauspiel zu sehen - teilweise in den seltsamsten Gewändern. Um ½ 6 machen wir uns an den Abstieg, rasten im Torfhaus und gehen auf dem Weg 256, 12 B am Radauwasserfall vorüber zurück nach Harzburg, wo wir gegen 11 abfahren. Der Weg war sehr anregend, besonders die Gespräche mit P. L. waren sehr fein. - Das Wetter war denkbar schön. Zu Hause - die Tanten, Mutter u. O. Friedrich sind in [...?] lege ich mich hin und schlafe und schlafe bis ½ 11, wo voll Erstaunen alle mich wecken. Ernst u. Gerhard sind bei Steiwekers [?] gewesen, weil ich im Schlaf das Klingeln nicht gehört habe, u. erst als die Erwachsenen kamen, konnten sie in die Wohnung hinein.

Freitag, den 17. August 1919

Abends um 9 Wache bei [...?] bis 7. Ich rede viel mit Konther [?], einem Bekannten von der Fahrt nach Grünenplan. Er scheint ein Raudi und wenig gebildet zu sein. Aufs Gewissen pfeift er.

Montag, den 18. August 1919

Mutter u. O. Friedrich reisten wieder weg. Wird Mutter im Winter zu Weihnachten wiederkommen können angesichts d. bevorstehenden Kohlenknappheit?

Freitag, den 22. August 1919

Besuch bei Herrn Domprediger - neue Hoffnung!

Sonnabend, den 23. August 1919

Hahn IO. Spricht im P.V. über d. Sozialismus, hochgelehrt, wahrscheinlich viel abgeschrieben. Die Disputation danach ist sehr lebhaft.

Sonntag, den 24. August 1919

Am Nachmittag ziehen wir drei bald nach d. Mittagessen zum Flugplatz, wo wir zunächst Flugzeuge aus d. Nähe sahen, große u. kleine, darnach Vorführung v. Luftkämpfen u. Sturzflügen, sodann Verlosung von Freiflügen, wobei von etwa 5 - 10 000 Menschen 20 das Los bekommen, und schließlich nach endlos langem Warten bald nach sieben ein Absprung im Fallschirm aus 1000 m Höhe. Der Betr. sauste - wie das immer der Fall ist - erst 100 - 200 m wie ein Stein herunter, dann fing d. Ballon Luft und schwenkte gemächlich hernieder.

Mittwoch, den 27. August 1919

Um fünf Handgranatenwerfen der Bereitschaftstrupps, wobei wir andern zusehen. - Am Abend gehe ich nach Heinecks letzter (6.) Vorlesung, die den Schluss seines Epos enthält "Der Meister d. Menschheit". Das Bu[...]zimmer an d. Bruderkirche ist dunkel, d. Vortragende liest mit einem Baret bedeckt im Schein einer Laterne. Dichterisch gefällt mir das Werk, aber inhaltlich bin ich nicht damit einverstanden, dass er die Wunder weglässt und dergl. mehr. Freilich ist das ja das Recht d. Dichters.

Donnerstag, den 28. August 1919

Wir müssen aus d. B.K. wegbleiben, weil tüchtig Bohnen abgezogen u. geschnippelt werden müssen.

Sonntag, den 31. August 1919

Heute mache ich den Vortrag in Reinschrift "Die Entwicklung d. Judentums", der mir sehr viel Arbeit gekostet hat. Zuerst hatte ich in Lüdenscheid den Stoff im Chamberlain nachzulesen u. zuletzt in den vergangenen Wochen habe ich hin u. wieder den Grundstein und das Gerippe ausarbeiten können. Dann begleite ich T. A. u. T. Käthe nach Riddagshausen zu Bodenstedt [?].

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September 1919

Montag, den 1. September 1919

In der Aula spricht am Nachm. Herr Oberlehrer Gronau über "Der Humanitätsgedanken im Altertum". Aber dieser wie der vor acht Tagen v. Prof. Lippelt über "Homers Frauengestalten" gehaltene Vortrag fand wenig Zuhörer.

Dienstag, den 2. September 1919

Ernst u. ich spielen bei Herrn Dompr. Billard, was uns sehr viel Spaß macht. Bis man aber hinter die verschiedenen Kniffe kommt, bedarf es aber noch mancher Übung! Ich habe etwa 14 Punkte.

Donnerstag, den 4. September 1919

Meyer steht in d. Schule jämmerlich und droht mit Pauken u. Trompeten sitzen zu bleiben. So zieht er es vor, jetzt sofort ins Heer einzutreten, um später d. Versetzung nach Oberprima dadurch zu erlangen. Er wird in Wolfenbüttel Infanterist. So wird meine Klasse immer kleiner, die Schulkameraden verstreuen sich hierhin u. dorthin. Ob Meyer mit seiner Frechheit (nicht nur in schlechtem Sinne) wohl überall durchkommt?

Freitag, den 5. September 1919

8 - 12 Schulausflug zu Prof. Flor "Wie gelangt Gyges in den Besitz des geheimnisvollen Ringes?" ein Quartaneraufsatz. Die Begebenheit, die Gyges selbst berichtet, braucht bloß ausgeschminkt wiedergegeben zu werden.

Sonnabend, den 6. September 1919

Im P.V. (Kablitz) hält Prof. Ewers eine feine Vorlesung (ziemlich hoch) über d. Erfurter Programm, dabei sind noch Dr. Schrader u. Prof. Bodenstedt. Am Nachm. streiche(?) ich Birnen ab bei Prof. Winries. Am Morgen hat Präsidentwahl stattgefunden: I. [...?] (auch Filler [?] ist ins Heer eingetreten) II. Pinke [?] Fuchsmajor: Kleinau [?], später Kuchen [...?].

Sonntag, den 7. September 1919

Wir gehen zum hlg. Abendmahl. Nachher sehen wir uns im Städtischen Museum Bilder der neuen deutschen Maler an.

Montag, den 8. September 1919

Tante Käthes Ferien sind wieder zu Ende, so dass sie nach Hause fahren muss.

Freitag, den 12. September 1919

Hitzeferien, und dabei im September! So etwas kommt sicher selten vor! All die letzte Zeit ist das herrlichste Wetter, die Sonne strahlt warm vom wolkenlosen Himmel hernieder. - Am Abend hält Prof. Pohlens aus Göttingen einen gelehrten Vortrag über "Thukydides und wir" der mir besonders fesselnd war, weil ich ja schon Th. gelesen habe; es war auch die Rede von dem Athener u. Meliare [?], deren Verhandlungen uns feine Arbeit und Zähneausbeißen verursacht hatten.

Sonnabend, den 13. September 1919

Abends 9 die 3. Wache bei Struck [?] bis 5. Ich treffe mit Mylius [?], den ich noch v. d. Bültenweg-Bürgerschule kenne zus. Er besucht d. Lehrerseminar. Wir haben zus. Posten 2. u. 3. Er ist fast ängstlich und schreckhaft und sieht überall Gespenster, Einbrecher und Diebe, man kommt gar nicht aus dem Stehenbleiben u. ängstlich Horchen heraus. Die Birnen, die bei Posten vier hängen u. liegen, sind z.T. recht hart u. sauer.

Sonntag, den 21. September 1919

Ich studiere wieder Bergers Biografie von Schiller. Vom letzteren lese ich S[...?] und seine Schrift "Über den gegenwärtigen Stand d. Theaters".

Freitag, den 26. September 1919

Ich lese Grillparzers Novelle "Der arme Spielmann", das mir gefällt. - Am Abend werden die neuen Unterprimaner, auch Ernst, in den P.V. aufgenommen. - Der Harzausflug.

Sonnabend, den 27. September 1919

Gleich nach Schluss der Schule gehen Ernst und ich schleunigst nach Hause und nach schnell eingenommenem Mittagessen fahren wir nach Halberstadt mit schwer gepackten Rucksäcken. Die Stadt ist außerordentlich reich an allerlei alten Bauten. Wir fuhren vom Bahnhof mit der Straßenbahn zum Fischmarkt und besahen uns auf Kreuz- und Querwagen das Rathaus, die Andreaskirche, die Johanneskirche mit dem davorstehenden hölzernen Glockenturm, die Liebfrauenkirche, das freundliche Gleimhaus, das zahllose Bilder und Gemälde enthält. In den Dom, auf den wir uns natürlich am meisten gefreut hatten, fanden wir wegen gerade stattfindenden Amtshandlungen nicht. Um drei gingen wir nach dem eine Stunde entfernten Großquenstedt, wo wir bei Onkel Ernst und Tante Tilly (Uhl) feine Aufnahme fanden. Alle waren außer Irmgard da, am Abend kehrt auch Käthe in die Ferien heim.

Sonntag, den 28. September 1919

Eigentlich wollten wir gleich diesen Morgen weiterfahren, aber die freundliche Einladung, länger zu bleiben, und schlechtes Wetter halten uns noch länger fest. Nach dem Gottesdienst in der vom Dorf ganz abseits liegenden Kirche tollen wir auf einer Wiese herum und strolchen dann weiter hinaus, bis wir über Emersleben nach Hause zurückkommen. Nach Tisch lesen wir, und am Nachmittag spielen wir alle miteinander. Nach dem Abendessen ist es besonders traulich.

Montag, den 29. September 1919

Auch dieser Tag geht schnell hin, Ernst u. ich hacken auch Holz.

Dienstag, den 30. September 1919

Um ½ 6 geht es schon aus dem Bett und dann mit der Bahn nach Halberstadt, wobei wir vorn auf der Plattform stehend tüchtig durchfrieren. Um ½ 8 geht es weiter nach Werningerode und von dort mit der Brockenbahn nach der Station "Steinerne Rinne" Von dort aus klimmen wir, den Brocken hinaus. Zunächst ist der Aufstieg nur mäßig bis wir in die eigentliche Steinerne Rinne kommen. Der Weg macht von dort ab seinem Namen alle Ehre. Leider kommen wir je höher desto mehr in dichte Nebelschwaden, die jegliche Aussicht versperren. Nach kurzer Rast in der Schutzhütte nahe den Kapellenklippen geht es weiter auf breiter Landstraße. Auf dem Brocken kommen wir um ½ 1 an und erkennen erst auf nahe Entfernung die einzelnen Gebäude. Wir essen den von Braunschweig in einer Büchse mitgenommenen eisig kalten Kartoffelsalat und gehen, da die Aussicht hoffnungslos schlecht ist, nach einer Std. wieder herunter. Diesmal wählen wir den steil sich senkenden Weg durchs Eckerloch nach Schierke, von wo wir nach links zu den Hoheklippen abbiegen. Östlich gehen wir an der Ahrensklippe vorbei, umgehen nördlich den Erdbeerkopf und gehen dann quer durch eine Senkung an der gegenüberliegenden Seite empor. Die Leistenklippen werden erstiegen, ebenso die andeutend weniger zerklüfteten Bärenklippen, die aber keine Aussicht wegen des Nebels bieten. Bald sind wir unten beim Bahnhof Dreiannenhohn, von dem wir, der Landstraße folgend, über Elbingerode nach Rübeland wandern - eine tüchtige, lange Ecke Weges. Aber in dem herrlichen Walde kommen wir schnell vom Fleck und erreichen in der Dunkelheit Rübeland, unser Ziel. Die Strecke, die wir zurückgelegt haben insgesamt beträgt gut 40 km - eine ganz hübsche Leistung. In R. kommen wir bei einem Förster auf einem "Heuboden" unter. Der Schlaf ist freilich nicht allzu erquickend, weil das Heu mit Stroh so durchsetzt ist, dass wir elend gestochen werden.

Mittwoch, den 1. Oktober 1919

Hier endet das Tagebuch; so wissen wir leider nicht, wie die Reise endete.

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Anmerkungen

B.K. = Schülerbibelkreis

Schmökel, Hermann: Die Leute von Kluckendorf

Schieber, Anna Maria: Und hätte der Liebe nicht. Weihnächtliche Geschichten; 1912

Der Buddhismus in unserem modernen deutschen Geistesleben. Eine Studie von Robert Falke, Halle 1903

Hedin, Sven: Von Pol zu Pol; Leipzig 1910

Harms, Heinrich: Vaterländische Erdkunde; 1904

Sicke, Ingeborg Maria: Ein Blumenstrauß; Novelle 1908

Stutzer, Gustav: In Deutschland und Brasilien. Lebenserinnerungen. (1839 -1909) ; Braunschweig 1913

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts; 1915

Gemeint ist die Erzählung "Die Maske des roten Todes", vgl dazu auch den Text

Heute ist eine Bahnreise wesentlich schneller, alle zwei Stunden, z.B. am 06.06.2007 Lüdenscheid ab 7.06, Hagen an 7:47, Hagen ab 8.01, Braunschweig an 11.09.

Philipperbrief: im Neuen Testament Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi (gegründet 49/50), verfasst wahrscheinlich während seiner Gefangenschaft in Ephesos (54/55)

Hilfsdienst bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller


Hermann Anders Krüger: Gottfried Kämpfer; Roman 1904

Auszug aus dem Nachwort von Günter Wirth

Zum besseren Verständnis des Romans sind zunächst einige Bemerkungen zu seiner Entstehungsgeschichte wichtig. In der 1922 erschienenen »Jugendrechenschaft«, die unter dem Titel »Sohn und Vater« herauskam, hat Krüger, diese autobiographischen Notizen charakteristischerweise mit Hinweisen auf den »Gottfried Kämpfer« abschließend, festgehalten, er habe vorgehabt, »von den mich innerlich oft geradezu empörenden Zuständen unserer Fähnrichspresse« (Militärvorbereitungsanstalt, G. W.) »ausgehend, eine scharfe Satire auf die offizielle Bilungsabstempelung unseres ersten Standes im Militärstaat schreiben« zu wollen. Er habe dabei an eine geharnischte Streitschrift gedacht, etwa in der Art seiner »scharfen, britischen Studien über das Dresdner Hoftheatcr<«, die in der Tat so scharf waren, dass sie das Establishment dieses Theaters zu Fall brachten.

Für die von ihm geplanten »Schulmeistersünden des Klassenstaates« habe er auch schon eine Unmenge von Material gesammelt gehabt. Er sei dann aber schwer krank geworden, und in der Zeit seiner Krankheit hätten sich seine Pläne dahingehend gewandelt, gegen die Pädagogik des Klassenstaates nicht eine Polemik, sondern mit dem »Gottfried Kämpfer« ein »Idealbild deutscher Knabenerziehung auf den Boden herrnhutischer Überlieferung« zu stellen. Und das hieß für Krüger, und das werden wir (gerade auch im Weiterdenken der schon gemachten kritischen Einwände gegen Müller-Schwefe) in der heutigen Rezeption dieses Romans zu beachten haben:

»Alles, was ich als armseliger Pauker der Dresdner Fähnrichspresse als entsetzlich und verhängnisvoll bei Zurccht-hobelung oder gar Verschandelung meiner lieben, armen Jungens erlebt hatte, wollte ich ..., gleich wertvollem Dünger, in den durch Leid neu aufgeackcrtcn Boden meiner Seele streuen und wollte in dieses nun doppelt fruchtbare Ackerland den neuen Samen gesunder Vorbilder säen . . .«

Als »Kern des Ganzen« stellte sich für den Schriftsteller und Pädagogen die Notwendigkeit, »bewußt die Erziehung zur charakterlichen Selbständigkeit, zur eignen sittlichen Verantwortlichkeit« zu fördern.

In einem Aufsatz im »Eckart« 6/1929 wiederholte Krüger diese Gedankengänge (wenn auch nicht in dieser zugespitzten Schärfe), und er fügte ihnen einige wichtige Bemerkungen über das »herrnhutische Erziehungswesen« hinzu. In der Tat wird es geboten erscheinen, von ihnen ausgehend einige skizzenhafte Überlegungen zu dieser Thematik anzuschließen, um den historischen und pädagogischen Kontext dieses herrnhutischen Bubenromans im Ansatz erschließen zu können.

Wörtlich heißt es in dem »Eckart«-Aufsatz: »Das herrnhutische Erziehungswesen hatte eine ehrwürdige Überlieferung von vielerprobten Praktiken, die jedoch im Laufe der Jahrhunderte erstarrt waren, soweit nicht schöpferische Erzieherpersönlichkeiten die alten Formen mit neuem Geist erfüllt oder sich keck über sie hinweggesetzt hatten.«

Und Krüger fügte, nachdem er die Erinnerung an Schleiermacher beschworen hatte, den wichtigen Gedanken hinzu: »Auch an den großen tapferen Bischof der alten Brüderkirche Arnos Comenius dachte ich oft, als ich mit meinen Erziehungsproblemen rang. Dieser Begründer unserer neuen Pädagogik ging wie später ein Basedow, ein Pestalozzi, Fröbel, Lietz und andere bahnbrechende Erzieher unseres Volkes von der Negative eigener bitterer Erfahrungen zur Positive. Vertrieben aus seiner Heimat nach dem Zusammenbruch seiner Kirche, mitten im furchtbaren Jammer des Dreißigjährigen Krieges, schrieb er unverzagt seine aufbauenden Werke und gestand offen, >auch ich bin einer von den vielen Tausenden, ein armes Menschenkind, dem der lieblichste Frühling des ganzen Lebens, die blühenden Jugendjahre, in nichtigen Schulpossen zugebracht, elendig zugrunde gerichtet worden sind<. Aber er ging ans Werk, >um diesen Verlust auszubessern^ nicht bloß an sich, sondern auch an den andern. Von solchen erhabenen Vorbildern der alten und neuen Brüderkirche wollte ich ausgehen, um etwas Positives - anstatt der erst geplanten Negative - zu schaffen.«

Aus seiner Werkstatt berichtend, hielt Krüger schließlich fest, daß er seinen Roman auf eigenen Erlebnissen und »reichlichen Tagebuchseiten« mit den dort fixierten »rein Zuständlichen« aufbaute, ohne einen Schlüsselroman schreiben zu wollen. Allgemeines und Spezielles, Typisches und Individuelles wollten von ihm »unverkennbar vermischt« werden.

In der Tat: Folgt man anderen Berichten über herrnhutische Erziehung, wird man das Typische der von Krüger geschilderten Geschichten wiederentdecken, ohne daß die individuelle Färbung darunter leiden würde.

Nehmen wir als charakteristisches Beispiel den Lebensbericht »Pädagogische Existenz« (Göttingen 1967) von Hans-W. Jannasch, der zwar nicht in Niesky (sondern in Kleinwelka) zur Schule gegangen war, dann aber 1903 als Lehrer an die Unitäts-Knaben-Anstalt nach Niesky berufen wurde. Jannasch verdanken wir übrigens die Publikation der Aufzeichnungen eines Missionars der Herrnhuter Brüdergemeine, Traugott Bachmann, der 1865 in der Nähe von Niesky geboren wurde. In diesem Buch (»Ich gab manchen Anstoß«) erhalten wir Einblick in die Lebens- und Denkgewohnheiten kleinbäuerlicher Schichten in der Oberlausitz. Aus den Schilderungen in Jannaschs Lebensbericht seien hier einige wiedergegeben; es sind solche, die dem »Kämpfer«-Roman (der merkwürdigerweise nicht erwähnt wird) bis ins Detail zugeordnet erscheinen: Jannasch, aus der Familie eines Missionars der Brüdergemeine stammend, trifft in Niesky ein, und ohne daß ihm irgendwelche Hinweise vom Direktor gegeben werden, tritt er sofort seinen Dienst an:

»Es mag unverständlich sein, daß man mich ohne jede Dienstanweisung antreten ließ. Bedenkt man indessen, dass in allen Herrnhuter Anstalten die gleichen Hausordnungen und Gepflogenheiten herrschten und daß mein bisheriges Leben gänzlich von ihnen bestimmt worden war, so wechselte ich nur die Rolle, vom Zögling zum Erzieher, dessen mir wohlvertraute Funktion ich nunmehr auszuüben hatte. Ich riß also Schlag 7 Uhr die Schlafsaaltüre auf, kommandierte Aufstehen und Antreten, öffnete Fenster und Läden, schritt hinter der kleinen Ferienschar zum Waschsaal, zur Stube, wo die Knaben lebten und sich zunächst ankleideten, und endlich zum Frühstück im Speisesaal. Auf diesem Wege lernte ich die zunächst in Frage kommenden Räume der Anstalt kennen, ohne mich durch Erkundigungen bei den Jungen als Neuling verraten zu müssen. Dass der Ferientag mit einer i1/2stündigen >Stillen Freizeit< begann, war mir selbstverständlich. Ich beaufsichtigte sie gelassen und ließ mich als neuen Lehrer von 14 Augenpaaren neugierig betrachten. Gegen ihr Ende erschien der Direktor, stellte mich den Knaben und sie mir namentlich vor und überließ mich für diesen Tag meinem Schicksal.« 
 

»Die Herrnhuter hatten sich von der ängstlichen Voreingenommenheit allem Körperlichen gegenüber, die den Halleschen Pietismus kennzeichnet, befreit und den Wert der körperlichen Erziehung erkannt. Das Jahnsche wurde begrüßt und aufgenommen, ja selbst während seiner Verbotszeit in aller Stille fortgeführt. 1861 baute man schon eine Turnhalle, und unter dem >Turnvater< Bourquin nahm es einen neuen, religiös vertieften Aufschwung. Das Nieskyer Turnliederbuch erschien damals im Druck und trug das Gepräge dieses Geistes. Es enthielt neben eigenen Dichtungen vor allem das Liedgut der Freiheitskriege. Es scheint in den ersten Jahrzehnten diktiert worden zu sein, wie mir ein handgeschriebenes Liederheft des Knaben P. Fr. Döhring aus dem Jahr 1825 zeigte, das ich einst verstaubt in einer Bodenecke fand. Beim Diktat hatte ihm offenbar seine Thüringer Mundart die Rechtschreibung erschwert. Am Eingang von >Monplaisir< lag unter hohen Linden der Turnplatz mit Klettergerüst, Recks und Springgruben. Besonders eindrucksvoll war es, wenn das Pädagogium unter donnerndem Gesang griechischer Strophen durch die Straßen des Ortes zum Fünfkampf ausrückte.
 

Sowie die Jahreszeit es erlaubte, wurden die Spielplätze aufgesucht. Barlauf, bei festlichen Gelegenheiten >Fahnenbarre<, Schlagball und Fußball waren vor allem beliebt. Zur Winterszeit pflegte man den Eislauf und veranstaltete auf den gefrorenen Heideteichen Eisfeste. Die Naturverbundenheit und die Liebe zum Sport im Rahmen der herrnhutischen Erziehung werden von vielen Autoren hervorgehoben. Der später als Jenaer Philosoph und Patriot bekannt gewordene Jakob Friedrich Fries schwärmte als herrnhutischer Pädagogist von dieser Naturliebe, und was etwa das Schlittschuhlaufen betrifft, so wurde es von dem späteren Brüderbischof Martin Nitschmann schon um 1810 eingeführt. Und als der Rodelsport anderwärts noch nicht an der Tagesordnung war, gab es bereits in Niesky eine >Rutschbahn<. Sic war an einem Sandhügel des Urstromtales angelegt und wurde im Schnee der kalten Winternächte gegossen. Dadurch wurden auf ihr mit gekoppelten Handschlitten Geschwindigkeiten erzielt, die denen der heutigen Bobfahrer kaum nachstanden.«

Um noch auf einen anderen Aspekt einzugehen, so sind auch die in Krügers Roman unverkennbaren nationalistischen Tendenzen von Jannasch aufgezeichnet worden:

»Ganz besonders stolz aber war man auf das >Nieskyer Regiment<. Diese militärische Einrichtung diente wie in der Welker Anstalt neben der körperlichen Ertüchtigung der Pflege patriotischer Gesinnung. Den vielen ehemaligen Schülern, die den Offiziersberuf ergriffen, mögen die Erinnerungen daran besonders lieb geblieben sein. So berichtet der spätere Chef des Großen Generalstabes Graf Schlieffen während seiner Nieskyer Schülerzeit den Eltern in einem Briefe, wie sie in einem >Manöver< die Schlacht von Kulm und Nollendorf nachgespielt hätten.«

Dabei ist Jannasch sowohl hinsichtlich seiner eigenen Schulzeit in Kleinwelka wie hinsichtlich seiner Tätigkeit als Lehrer in Niesky bis 1909 (zeitweilig zusammen mit dem später als Schriftsteller bekannt gewordenen Martin Luserke) keineswegs unkritisch im Blick sowohl auf die auch von Krüger gerügten Züge eines gewissen Formalismus der herrnhutischen Erziehung wie auf die Schwierigkeit für Lehrer, auch nur maßvolle reformpädagogische Tendenzen, etwa die von Berthold Otto, zu verfolgen. ...

Es ist offensichtlich, daß diejenigen, die sich in ... bekennerisch zu Herrnhut und zu den erzieherischen Intentionen der Brüdergemeine geäußert haben, von den ursprünglichen Idealen Zinzendorfs ausgegangen sind, und man kann offenbar hinzufügen, dass dann immer Formalismus im herrnhutischen Erziehungssystem eintrat, wenn diese ursprünglichen Ideale Zinzendorfs außer Sicht gerieten.

Otto Uttendörfer, Direktor des Schullehrerseminars der Brüdergemeine, gleichbewundert als Theologe und Ornithologe, hat in seinem Buch »Zinzendorfs Weltbctrachtung« (Berlin 1929) das Material zu einer solchen Bewertung bereitgestellt und hinsichtlich des Geschichtsbildes Zinzendorfs solche Elemente herausgearbeitet, die uns als sehr gegenwärtig erscheinen: Entwicklungsidee; Werden, Altern und gegenseitige Ablösung von Geistesbewegungen; Gesetz des Wechsels in der Geschichte; das Gesetz des Fortschritts durch den Gegensatz. Gewiss, für Zinzendorf sind diese Elemente des Geschichtsbildes vornehmlich auf die Entwicklung des einzelnen und seines geistlichen Lebens bezogen. Aber der Graf ist, nach Uttendörfer, auch in der Lage gewesen, solche Überlegungen auf die Völker anzuwenden und zum Beispiel deren »Verschiedenartigkeit« zu würdigen. So hatte Zinzendorf am 2. Juli 1753 gesagt: Wenn der Geist ein Volk aus aller Welt Zungen zusammenbringe, so müsse ein jedes bei seiner Sprache und Weise bleiben, und die Mitarbeiter der Gemeine dürften die anderen Völker nicht in ihre Art »umgießen« wollen. Zinzendorf bezog solche Überlegungen ausdrücklich auf die Mission in allen Teilen der Welt, in denen die Brüdergemeine tätig war.

Die Konsequenzen einer solchen Haltung für die herrnhutische Erziehung sind, von unterschiedlichen Positionen her und unter verschiedenartigen Aspekten, im ganzen freilich einheitlich gewürdigt worden. »Das Herrnhuter Erziehungswesen wurzelte im Pietismus, unterschied sich jedoch von der Schöpfung A. H. Franckes und den anderen Gründungen dieser Geisteswelt durch seine Weltoffenheit, durch die stärkere Beachtung der kindlichen Eigenständigkeit. . . und damit auch ein engeres Verhältnis von Erzieher und Zögling.« So Jannasch in seinem Lebensbericht.

In der dritten Auflage von »Religion in Geschichte und Gegenwart« wird die enge Verknüpfung von herrnhutischer Erziehung mit fortschrittlichen Bildungsinhalten wie denen von Basedow und Salzmann hervorgehoben, und es wird hinzugefügt: »Im Verlauf des 19. Jhs. wurde das Pädagogium in Niesky zur einflussreichsten, für die zahlreichen anderen Anstalten der Brüderunität richtunggebenden Heimschule, deren bedeutendster Schüler Schleiermacher gewesen ist. Hier wurde unter Berufung auf 1 Kor. 3,21 ff.; 6,20 eine Synthese von Humanismus, Idealismus und Christentum angestrebt.« In dem 1928 herausgekommenen »Pädagogischen Lexikon« hielt Unitätsdirektor Karl Kücherer etwas fest, was für die Bewertung des »Gottfried Kämpfer« von Bedeutung ist: »Der düstere Büß- und Bekehrungsernst. . . wurde abgelöst durch die Botschaft der Freude, durch eine gesetzesfreie >noble< Erziehung.«

In der Einleitung zu den »Ausgewählten Pädagogischen Vorlesungen und Schriften« Schleiermachers, die 1965 in der DDR erschienen, erinnerte der marxistische Wissenschaftler Heinz Schuffenhauer daran, dass Schleiermacher 1783 bis 1787 in einer »Erziehungsanstalt« der Herrnhuter Brüdergemeine erzogen worden sei und er »gewisse demokratische Wesenszüge« kennengelernt habe, die die Brüdergemeine »in ihrem sozialen Organismus bewahrt« habe. Und wie der Nestor der pädagogischen Wissenschaft in der DDR, Robert Alt, das Werk von Comenius und der böhmischen Brüdergemeine positiv charakterisiert hat, so hält Schuffenhauer fest:

»Die Herrnhuter vertraten Auffassungen eines demokratischen, tätigen Christentums, und in den Schulen der Brüdergemeine, deren Missionstätigkeit sich bis nach Amerika erstreckte, wurden Knaben aus den verschiedensten Nationen gemeinsam erzogen.«

Eine analoge Position aus unseren Tagen reflektierte Carl Ordnung in seinem 1972 erschienenen Buch »250 Jahre Herrnhut«. Er berichtete: »Zusammenarbeit und Gemeinsamkeit von Marxisten und Christen - auf diesen Ton ist das gestimmt, was Günter Baum, Mitglied der SED und Vorsitzender des Ortsausschusses der Nationalen Front, zu einem Gespräch beiträgt, zu dem die CDU-Ortsgruppe im November 1971 eingeladen hatte. Er war lange Zeit Direktor der Oberschule in Herrnhut und ist jetzt stellvertretender Leiter des Instituts für Lehrerbildung in Löbau. Im Gespräch verschweigt er nicht, dass es ihm manchmal nicht leichtfalle, bestimmte Haltungen einzelner Christen und gewisse kirchliche Entscheidungen zu begreifen. Andererseits nötige ihm der Ernst, mit dem Mitglieder der Brüdergemeine im alltäglichen Leben Christen zu sein sich bemühen, Achtung ab . . .«

»Laß ein Mann mich werden, der durch Kampf und Streit, Lust und Not der Erden dringt zur Ewigkeit.« Mit diesem Motto des Girdein-Niesky-Liedes ist stichwortartig zusammengefasst, was den Kern dieses Bubenromans im Kontext herrnhutischer Erziehung, Religiosität und tätigen Christentums ausmacht. Dabei wird, um auch an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich hieran zu erinnern, bewusst bleiben müssen, was Krüger über den einen Anlass dieses Bubenromans festgehalten hatte, nämlich der »Fähnrichspresse« ein Idealbild von Erziehung entgegenzustellen. Den anderen Anlass hat Krüger wiederum selbst charakterisiert, wenn er in dem von Harald Braun 1932 herausgebrachten Band »Dichterglaube - Stimmen religiösen Erlebens« schrieb: »Auch mein Leben blieb mir ein Rätsel. Ich musste von neuem alles vergebliche Ringen meiner Kindheit gründlichst durchdenken, mir bis zum Letzten Rechenschaft ablegen, grübelnd, sehend, aufbäumend - bis es mich packte und zwang, mir alles von der Seele zu schreiben ...«

In zwei ausführlichen Besprechungen, die aus der Feder so bedeutender Vertreter herrnhutischen Geistes wie Walther E. Schmidt und H. Bauer bereits kurz nach Veröffentlichung des Romans in der Zeitschrift »Herrnhut« (Nr. 50/1904 bzw. Nr. 18 und 19/1905) erschienen, sind treffend fast alle Momente festgehalten, die eine Wiederbegegnung mit diesem Roman heute als lohnend erscheinen lassen.

Was an »Gottfried Kämpfer« anziehe, so urteilte damals Schmidt, sei »das Maßvolle in Stoff wie Form«. »Gerade die Form war in Krügers früheren Werken ... recht vernachlässigt, und man konnte in Frage sein, ob nicht >der junge Eichendorff< und die ausgezeichnete >Pseudoromantik< ihn einzig auf die literarhistorische Tätigkeit wiesen. An den Dichter Krüger haben wir erst durch Gottfried Kämpfer glauben gelernt.« Hier müsste man freilich hinzufügen, daß man (vom »Verjagten Volk« abgesehen) allein durch den »Gottfried Kämpfer« Krügers schriftstellerisches Werk als über den Tag hinaus wirkend zu bezeichnen vermag, denn etwa auch der »Kaspar Krumbholtz«, der eine Art Fortsetzung des »Kämpfer«-Romans ist, ist heute nicht mehr lesenswert. Dieses Werk war von Krüger (in einer zweiten Fassung) in 24 Tagen niedergeschrieben worden, und er hatte selbst vermerkt: »Immer glücken solche Gewaltkuren nicht.« Diese ist es bestimmt nicht. ...

Schmidt hatte 1904 ferner geschrieben, der »Gottfried Kämpfer« schildere das Brüdertum in einer Weise, »die beweist, daß es denn doch nicht so wunderlich, so beschränkt ist, wie die Außenwelt fürs Gewöhnliche meint und wie leider auch noch immer kirchengeschichtliche Werke ... es sehen«. Damit ist für uns heutige Leser dieses Romans deutlich, dass wir ihn als eine Art historischen Erziehungsroman aus einer bestimmten Phase der Entwicklung der Brüdergemeine aufzunehmen haben.

Gerade im Blick auf diesen Tatbestand ist eine Bemerkung in der Rezension Schmidts wichtig, deren kritischer Gehalt von uns in jeder Hinsicht unterstrichen werden wird. Schmidt macht nämlich darauf aufmerksam, dass das historisehe Milieu des Romans von den »Verfassungskämpfen« bestimmt werde, und er fährt fort: »Sie erscheinen bei ihm als Gegensatz zwischen einer pflichttreuen, strengen Gemeinaristokratie und einer demagogisch bewegten Demokratie. Daß das Neue nur deshalb sich durchsetzte, weil weitblickende, geschäftskundige Männer sowohl rechtliche als auch sittliche Gefahren für den Bestand der Gemeine in der Fortdauer des alten Regimes sahen und weil sie selbst dafür Opfer brachten, hat der Verfasser übersehen«.«

Es ist sehr aufschlußreich, dass die Passagen des Romans, die diese Verfassungskämpfe reflektieren, also nicht erst das Unbehagen des heutigen Lesers provozieren, sondern schon eine authentische zeitgenössische Kritik fanden - Zeichen des inneren demokratischen Gehalts echten herrnhutischen Geistes, von dem schon im Zusammenhang mit Schleiermacher die Rede war. Auch einer weiteren Bemerkung Schmidts wird man gern zustimmen. Er macht zunächst einige kritische Bemerkungen hinsichtlich der Frage, ob die Bürger der Gemeine eine Sprache reden, die die ihnen ureigene ist, um dann hinzuzufügen: ». . . sobald er (Krüger) von Niesky erzählt, ist alles frisch und echt.« Genau diese Frische ist es, die vom Literarischen her Veranlassung sein kann, uns diesem Roman heute von neuem zuzuwenden. Es war daher alles andere als ein Zufall, daß der Kulturredakteur der »Neuen Zeit« Ostern 1977 eine Passage des Romans abdruckte, was ein reges Echo im Leserkreis dieser Tageszeitung fand, u. a. bei dem in Uhyst lebenden Schriftsteller Gottfried Unterdörfer.

»Die Liebe zur Großmutter, das Suchen und Finden der Elternliebe, die Freundschaft mit Nöke, das sind Stellen, die man nur mit Bewegung lesen kann«, hält.«, Schmidt schließlich fest. Und in der Tat: Was hier im historischen Herrnhuter Gewand erscheint, sind Lebensfragen junger christlicher Menschen, die in anderer Form, aber mit solchem Kern auch heute ihre Antwort finden müssen. Deshalb kann man auch das abschließende Diktum Schmidts aufgreifen, dieses freilich auf andere Art, als es sein Verfasser wollte: »Wir wollen dienen, aber mit all den Gaben, die uns gegeben sind, und an den Stellen, wo wir die Pflicht fühlen. Von der Milde, dem Gehorsam, der Frömmigkeit spricht Gottfried Kämpfer. Von der Kraft, dem Selbstbewusstsein und den Energien des Glaubens nicht. Und darin haben wir, irren wir uns nicht, manches überwunden, was der brüderlichen Frömmigkeit einen passiven, fast trägen Charakter zuzeiten gab.« Schmidt nämlich (mehr noch Bauer in seiner Betrachtung) vermisste die aktive Frömmigkeit solcher Art in Krügers Roman - wir heutigen Leser, die wir gelernt haben, Frömmigkeit auf die Welt bezogen zu finden, würden sie sehr wohl bei ihm entdecken.

Schließlich ein Zitat aus der Rezension des verdienstvollen Nieskyer Pädagogen Bauer, eins, das sich auf das Gesamtgefüge des Romans treffend bezieht:

»Es ist ein ernstes und wohlgelungenes Kunstwerk schon deshalb, weil dem Verfasser die schwere Aufgabe gelungen ist, Selbsterlebtes in künstlerisch Gestaltetes umzusetzen. Gerade wer die Vorlagen kennt, der weiß dies zu würdigen, und wenn man sich von der Frage befreit hat, wer soll dies, was soll jenes sein, so genießt man das Ganze ungetrübt. Ich betone: das Ganze; denn erst in der Zusammenwirkung der Farben, die, allzu nah betrachtet, bald zu grell, bald zu matt erscheinen, leuchtet die Schönheit und Vollständigkeit der Darstellung hervor. Beispielsweise erscheinen zuerst hier zu viel Lichter, dort zu starke Schatten aufgetragen - vergleiche Loskiel, Lechner usw. auf der einen, Robinson, Mavaldt, Choas auf der andern Seite. Ferner ist das religiöse Moment der Erzählung bis zum Abendmahl auf eine ergreifende Höhe geführt und tritt dann auffallend zurück. Aber wenn es dann in Nielsens >Sprechen< und Loskiels Abschiedswort ausklingt, so bleibt der Gesamteindruck doch sehr harmonisch.« Ja, genau diese Harmonie des Ganzen macht das künstlerische Profil dieses Romans aus, und es ist diese Harmonie, die die beiden Ansätze des Autors voll zur Geltung kommen lässt. Solche Harmonie ist letztlich freilich nur die äußere Form jener Harmonie, um die es tendenziell in der herrnhutischen Erziehung ging und die uns sehr gegenwärtig dünkt. Wie sagte doch Bruder Nielsen in dem entscheidenden Gespräch zu Gottfried Kämpfer: »Du kennst das Ziel unserer Erziehung: eine möglichst harmonische Ausbildung aller geistigen und körperlichen Fähigkeiten.« Hiermit verbunden ist jener »Grundzug der Girdeiner Stubenerziehung«, jener »republikanische Geist«, von dem es im Roman heißt: »Keiner durfte dem andern gegenüber etwas voraushaben, geschweige denn irgendeinen Kameraden beeinträchtigen wollen.«


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