Paul Gäbler hat Anfang April 1919 mit 18 Jahren den Roman "Gottfried
Kämpfer" von Hermann Anders Krüger gelesen, der ihm
außerordentlich gefallen hat. Er schreibt "Man hat einen feinen
Einblick in die Brüdergemeinde bekommen; das Buch hat einem wirklich
etwas gegeben!" Zum besseren Verständnis des Romans,
der Paul Gäbler mit geprägt hat, ist unter den Anmerkungen ein
Auszug aus dem Nachwort des Buches zu finden.
August 1917
Montag, 6. August 1917
Wir standen schon vor ¼ 4 Uhr auf, denn heute endlich ging es ja nach
Stützengrün zu Vater und Mutter! Auf den Zug, der 5.16 fahren musste,
warteten wir vergeblich und fuhren mit dem folgenden Zuge 6.26. Es war
so voll, dass wir bis Magdeburg stehen mussten (der Zug ging ganz ohne
Aufenthalt durch). In Magdeburg stiegen wir möglicht schnell um. Während
der Fahrt nach Leipzig mussten wir z. T. auch stehen, und zwar bis
Halle, dann saßen wir fast immer bis Leipzig. Dort kamen wir um 12 an
und hatten Zeit bis 12.40, konnten uns also im nach Hof fahrenden Zuge
einen feinen Platz aussuchen. In Werdau stiegen wir fix um in den
Zwickauer Zug. Auf dem Bahnhof in Zwickau war Vater. Nachdem wir auf dem
Bahnhof Kaffee getrunken hatten, fuhren wir mit der Straßenbahn in die
Stadt hinein, nach dem Markt. Dort sahen wir das Schumanndenkmal,
Rathaus und Theater. Dann aßen wir in einer Gastwirtschaft eine Suppe
und dann Kohlrabi. Von Zwickau fuhren wir nach Wilkau und stiegen dort
in die nach Stützengrün führende Kleinbahn. Auf dem letzen Teile der
Fahrt zeigt uns Vater u. a die Kirche. Mutter holte uns von der Bahn ab,
der Koffer war noch nicht da, sondern kam glücklich am übernächsten
Tage. Vater und Mutter zeigten uns den Garten. Zum Abendessen gab’s
Bouillonsuppe (verdickt) und das Brot aus Braunschweig und Pudding mit
Johannisbeeren. Dann gingen wir schnell zu Bett, und zwar schlief
Gerhardt auf drei mit einem Strohsack bedeckten Konfirmandenbänken.
Dienstag, 7. August 1917
Wir konnten ausschlafen. Ich schlief bis ½ 10, bis mich Vater weckte.
Zum Frühstück gab’s Graupen. Wir halfen Vater beim Zimmern einer
Garderobe, ich musste die Wand an der betreffenden Stelle mit
Zeitungsbogen tapezieren. Zum Mittagessen gab es Weißkohl mit Fleisch u.
Kartoffel. Am Nachmittag machten wir bei den einzelnen Leuten und
Nachbarn Besuche. Zum Abendessen gab’s Makrele und Brot.
Mittwoch, 8. August 1917
Ich stand um ¾ 8 auf. Zum 1. Frühstück gab’s Graupen, zum 2. Wurstbrot,
zum Mittag Bohnen mit Klöße und etwas Speck, abends Pulversuppe und
Pudding. Wir halfen Vater und schraubten die Garderobehaken ein. Am
Abend um ½ 8 waren wir in der Kriegsbetstunde.
Donnerstag, 9. August 1917
Ich stand wieder um ¾ 8 auf. Am Morgen kam endlich Nachricht von Tante
Käthe und Liel, und zwar wollten sie noch denselben Nachmittag kommen.
Es musste bis dahin noch feste gearbeitet werden, ich half Vater dabei,
die Gardinenstangen zurechtzumachen und die Gardinen aufzuhängen. Zum
Mittagessen gab’s durchgedrehten Kohlrabi und durchgedrehte Mohrüben
miteinander vermischt und etwas Fleisch. Am Nachmittag - Vater war nach
Eibenstock zu einer Konferenz, wo er einen Vortrag halten musste - kamen
dann die Tanten 5.16 hier an. Mutter war nach Rothenkirchen gegangen und
dort zu ihnen in den Zug gestiegen. Als sie da waren, ging ein tüchtiger
Regen los, mit etwas Donner begleitet. Zum Abendessen gab es eine sehr
dicke Suppe, dann Pudding, der flüssig statt fest war, und dann ein
Käsebrot. Dann gingen wir 3 um ¾ 9 zu Bett.
Freitag, 10 August 1917
Wir 3 standen um ¾ 8 auf. Die Graupen schmeckten Prachtvoll. ich las
dann und machte Scheite zu Spänen, eine mühselige Arbeit. Zum
Mittagessen gab’s Weißkohl mit Klößen. Zum Kaffee gab’s Zwetschenmusbrot
und Torte von Frau Kantor Dann half ich Vater, die Wohnstubengardinen
aufzustecken. Zum Abendessen gab’s Suppe, Pudding, Brot. Wir 3 gingen um
½ 10 zu Bett.
Sonnabend, 11. August 1917
Wir 3 standen ½ 8 auf. Es war windig, aber klar. Tante Käthe hatte heute
Geburtstag, und es wurde ihr nach dem aus einer Mehlsuppe, in die
Brotstücke eingetunkt waren, und einer Tasse Milch bestehenden Frühstück
beschert, darnach holten wir von Singers in Neulohn einen Tafelwagen, um
darauf von Herrn Pfarrer Parthei aus Hundshübel ein Bett zu holen.
Unterwegs hatten wir das Pech, dass von einem Wagenrade die Mutter
verloren ging und infolgedessen sich das Rad immer wieder abdrehte. Auf
dem Rückwege kam uns Vater entgegen, und der band einen Strick ums Rad,
so dass wir mit Ach und Krach um ¾ 2 zu Hause ankamen. Das Mittagessen
bestand aus Mohrüben, Kohlrabi und Schweinebraten, und dann gab’s noch
Zwetschgen, die Mutter noch von Tante Anna hatte. Nach dem Essen rannte
ich gleich zu Frau Kanter und zum Schmidt wegen der Orgelschlüssel. Am
Nachmittag waren wir mit Mutter und den beiden Tanten in der Kirche, wo
wir auf den verschiedenen Treppen herum kletterten, und überhaupt das
Innere der Kirche uns ansahen. Zum Abendessen gab’s Pellkartoffeln mit
Speck und Zwiebeln!
Sonntag, 12. August 1917
Wir drei standen wieder um ½ 8 auf, und Ernst und ich zogen die langen
Hosen an. Zum Frühstück gab’s eine wunderschön dicke Haferflockensuppe
mit Zucker und Zimt bestreut, ein herrliches Essen. Um 9 war Kirche, um
8 vorher war Abendmahl gewesen. Der Gottesdienst dauerte fast 2 Stunden,
es wurde eine Menge abgekündigt. Das aus richtiger Bouillonsuppe,
Fleisch und Klößen bestehende Mittagbrot schmeckte herrlich. Nach dem
Kaffee gingen wir am Hübel entlang nach Unterstützengrün, wo Vater bei
einer 78-jährigen Frau, die sich das eine Bein vor längerer Zeit
gebrochen hatte, aber doch noch lag, eine Privat-Kommunion hatte.
Unterwegs merkte Vater, dass er einen Schlüssel im Schreibtisch hatte
liegen lassen, und den mussten Ernst und ich holen. Nachdem wir dort bis
dicht an den Wald gegangen waren, gingen wir in eine Gastwirtschaft und
nahmen eine Tasse Kaffee und 2 Stücke feine Torte zu uns. Außerdem
nahmen wir Aufschnitt ohne Marken (250g) mit nach Haus zum Abendessen.
Auf dem Rückwege gingen wir über die Hübel. Zum Abendessen gab’s
Kartoffel-Gurkensalat und hinterher eine Scheibe Brot mit etwas
Schinken. Um ½ 10 lagen wir in der Klappe. Übrigens musste ich in dieser
Woche immer mittags abtrocknen.
Montag, 13. August 1917
Wir 3 standen wieder um ½ 8 auf. Frühstück s. 11. Aug. Vater, Tante
Käthe und Tante Liel gingen nach dem Hübel, wo T. K. malte u. T. L.
lernte, während Vater und wir 3 nach dem Kuhberg gingen. Wir gingen
unter der gebogenen Eisenbahnbrücke durch, durch Neulehn und am
Forsthaus vorbei den Berg hinauf. Nach etwa 1-stündigem Wege waren wir
oben, vom Aussichtsturme aus hatten wir eine prachtvolle Aussicht, man
konnte sogar Zwickau liegen sehen, wenn auch in nebliger Ferne. Das
Mittagbrot um 1 Uhr bestand aus Sauerkohl mit Fleisch. Nach Tisch
wuschen Ernst und ich auf und hackten am Nachmittag Holz u. lasen. und
machten eine Wäschestange, der Kaninchenstall wurde dann ausgemistet.
Zum Abendbrot gab es Suppe und hinterher Gurkensalat. nach der Andacht
gingen Gerhardt um ¾ 9 zu Bett,) wir (beiden anderen) um ¼ 10 zu Bett
(Parole: Kuhberg).
Dienstag, 14. August 1917
Zum Frühstück gab’s Graupen. Zum 2. Frühstück gab’s ein Zuckerei, das
Frau Baumgärtel geschenkt hatte. Ich musste zur Post gehen. Dann
studierten wir wieder im Transhimalaja-Buch von Sven Hedin, das Vater
eigens für uns in Leipzig geliehen hatte. Zum Mittagessen gab’s
Schnippelbohnen mit weißen Bohnen und dazu Schmorbraten. Wir hackten am
Nachmittag wieder Holz und ersetzten einen schäbigen Wäschepfahl durch
einen neuen. Als Mutter mit den beiden Tanten aus Rothenkirchen wieder
zurück war, schälte und zerschnitt ich wie am vorhergehenden Abend
Gurken für Salat. Außerdem gab es Mischgemüsesuppe. Nach der Andacht
ging Gerhardt um ¾ 9 zu Bett, wir beiden anderen um ¼ 10 Uhr (Parole:
Gurke)
Mittwoch, 15. August 1917
Nachdem wir um ½ 8 aufgestanden waren, gab es Mehlsuppe mit
eingebrockten Brot und eine Tasse Milch. Nach dem 2. Frühstück
(Honigbrot) mussten Ernst und ich einen Plan für einen Kaninchenstall
machen, der aber falsch wurde. Zum Mittag gab’s Weißkohl und Klöße. Dann
legten wir die Bretter zurecht. Nach dem Kaffee waren wir drei mit Tante
Käthe und Tante Liel in Rothenkirchen und machten einige Besorgungen.
Dann spielten wir Schach und lasen. Zum Abendbrot gab’s Makkaroni, die
großartig schmeckten. Um ¾ 10 gingen wir zu Bett.
Donnerstag, 16. August 1917
Ich stand wieder um ½ 8 auf. Zum Frühstück gab’s Grütze mit Zimt und
Zucker. Dann zogen wir Bohnen ab und arbeiteten am Kaninchenstall. Zum
Mittag gab’s grüne u. weiße Bohnen mit Kartoffeln. Nach dem Kaffee
(Honigbrot) machten wir die Gurken(?) von den Bäumen weg und holten von
Frau Händel 4 Eier und etwas Butter. Dort kriegten wir jeder 4 feine
Birnen. Zum Abendessen gab’s Dörrgemüsesuppe mit Gurkensalat. Um ½ 8 war
Kriegsbetstunde. Um ½ 10 gingen Ernst und ich zu Bett.
Freitag, 17. August 1917
Ernst und ich verschliefen die Zeit, wachten erst um ¾ 8 auf. Zum
Frühstück gab’s eine herrliche Mehlsuppe dann mussten wieder Bohnen
abgezogen werden dann, nach dem 2. Frühstück, jäteten wir Unkraut aus
und suchten die Raupen vom Kohle ab. Das Mittagessen bestehend aus
Mohrrüben und Kartoffeln im 1. Gange und aus Kohlrabi und Kartoffel im
2. Gange dann schrieb ich 3 Karten. Nach dem Kaffee um 3
(Kunsthonigbrot) malte ich mit Tante Käthe (Ernst zeichnete) ein Haus
auf dem Hübel. Gegen Abend wurde es ziemlich kühl. Zum Abendessen gab’s
ein feines Gericht: Pellkartoffel mit Senftunke. Ernst und ich lasen
dann bis 10 Uhr abwechselnd aus den Tagebüchern im Ferienlager geführten
Tagebuche vor.
Sonnabend, 18. August 1917
Da wir ausschlafen konnten, schlief ich bis ¼ 9 Uhr, ebenso Ernst. Zum
1. Frühstück gab’s dicke Graupensuppe mit Zimt und Zucker, was herrlich
schmeckte. Um ½ 10 ging Vater mit den beiden Tanten und uns drei einen
Spaziergang nach den beiden Eisenbahnbrücken. Endlich war mal das Wetter
wieder wirklich schön. Auf verschiedenen Feldern wurde das Getreide
gemacht. Nach unserer Rückkehr aßen wir das 2. Frühstück, bestehend, wie
öfter, aus einer Scheibe Quark, ½ Scheibe Schweizerkäsebrot und einen
Glase Buttermilch. Dann las ich das Kriegsbuch „Aus der Hölle empor“.
Tante Käthe und Tante Liel backten unterdessen Kuchen. Zum Mittagessen
gab’s 2 Teller dicke Bohnen (Pferdebohnen mit Klößen), von denen man
mächtig satt wurde. Dann putzte ich etwa 9 Paar Stiefel bzw. Schuhe und
trocknete dann ab. Nach dem Kaffee (Kunsthonigbrot und Gurkentorte)
gingen wir drei in den Wald, wo Mutter früher öfter Heidelbeeren gesucht
hatte, und suchten dort Pilze, die wir Sonntagabend als Tunke aßen. Als
Abendessen gab es Pulversuppe und Käsebrot. Dann badeten wir in einer
richtigen Badewanne und gingen bald nach ½ 10 zu Bett.
Sonntag, 19. August 1917
Aufgestanden wurde um ¾ 8. Zum Frühstück gab’s Haferflockensuppe, besser
- Brei mit Zimt und Zucker. Es fand in der Kirche Lesegottesdienst
statt, da Vater nach Hundshübel musste. Es wurden drei Arien gesungen.
Zum Mittag gab’s feine Bouillonsuppe. Zum Kaffee gab’s Kuchen. Dann
gingen wir mit Woogs zum Weißbachtal und suchten unterwegs eifrig Pilze.
Aber wegen der großen Trockenheit gab’s nicht viele. Zum Abendessen
gab’s Pellkartoffeln mit Senf- Pilze- tunke dann besahen wir
Photographien von Indien u. lasen aus unserem Tagebuche vor. Um 10 etwa
gingen wir zu Bett.
Montag, 20. August 1917
In dieser Woche hatte ich das Amt des „Oberausluckers“ und die nächste
Woche noch mit (also 14 Tage) das Amt, die Kaninchen zu füttern. Wir
standen um ½ 8 auf. Das Wetter war unfreundlich. Zum Frühstück gab’s
Graupensuppe, zum Mittag Weißkohl. Dann mussten wir wieder am
Kaninchenstall arbeiten. Auch verschiedene Besorgungen mussten wir
machen. In dieser Woche gab’s auf den Kopf 5 lb, so dass wir jeden Tag 7
lb 5 lb essen konnten, da wir ja 7 Personen waren. Zum Kaffee gab’s 3
Scheiben Musbrot, zum Abendessen, das schon um ½ 8 war Dörrgemüsesuppe
und 1 Scheibe Schweizerkäsebrot. Die beiden Tanten und Mutter gingen
machten dann um ¾ 9, nachdem aufgewaschen war bei Frau Vorstand einen
Besuch. Um kurz vor 10 lagen Ernst und ich in der Klappe. Übrigens hatte
ich in dieser Woche immer morgens abzutrocknen.
Dienstag, 21. August 1917
Ernst und ich verschliefen gründlich die Zeit und wachten erst um ¾ 9
Uhr auf. Zum Frühstück bekamen wir angebrannte Hafergrütze, die aber zum
Troste mit Zucker und Zimt bestreut war. Das Wetter war schlecht, es
goss in einem fort. Ich musste Vater helfen, die Nähmaschine aufzubauen.
Auch mussten wir Bindfäden entwirren. Am Morgen trocknete ich natürlich
wieder ab. Zum Mittag gab’s Brechbohnen, Rindfleisch und Kartoffeln,
wovon man ordentlich satt wurde. Das Wetter klärte sich nun allmählich
auf, wenn auch die Sonne nicht hervorkam. Für den Nachmittag waren wir
bei Herrn Pfarrer Parthei eingeladen, da Vater 2 Begräbnisse in
Hundshübel hatte. Dort bekamen wir jeder mehrere Stücke Semmel, bei der
besonders der Zuckerüberzug mundete. Leider war Herr Pfarrer P. krank
geworden am Morgen und konnte deshalb nicht mit Kaffee trinken. Die alte
83- jährige Mutter von Frau Pf. P. besuchten wir dann auch. Auf dem
Rückwege machten wir drei mit Vater einen Abstecher nach einem
Aussichtspunkt. Die Aussicht war aber nicht berühmt. Die Tanten mit
Mutter kamen nach. Unterwegs unterhielten wir uns mit Vater sehr fein
über alle möglichen Dinge. Nach dem Abendessen (Pulversuppe mit
Gerstengrütze und etwas Brot) saßen wir alle zusammen außer Gerhard, der
schlief, bis etwas nach 11 gemütlich zusammen, und Vater und Mutter
mussten von Indien erzählen. Wir fragten z.B. nach dem Schlangen,
Fröschen, Skorpionen, Termiten. Dann ging’s schleunigst ins Bett.
Mittwoch, 22. August 1917
Da wir ausschlafen konnten, schliefen Ernst und ich bis kurz vor 8. Zum
Frühstück gab’s feine dicke Gerstengrütze. Dann fütterte ich die
Kaninchen und schrappte Mohrrüben. Tante Käthe ging zu dem See zum
Malen. Ich musste dann noch abtrocknen und Mutter sonst wie noch helfen.
Gleich nach ½ 1 aßen wir Mittagbrot. Mohrrübe und Kartoffeln. Tante
Käthe aß nach, weil sie wegen des Malens zu spät kam. Dann wurde
Honigkuchen gebacken. Am Nachmittag suchten wir Pilze und Tannenzapfen
im Seidelswald. Wir fanden drei Rucksäcke voll Zapfen. Das Abendbrot um
½ 8 bestand aus Dörrgemüse-Suppe und darauf folgend feinen Pudding. Nach
Tisch erzählte Vater wieder etwas von Indien, bis wir um 10 zu Bett
gingen. Übrigens waren Tante Liel und Mutter nach dem Essen in Neulohn.
Donnerstag, 23. August 1917
Ich schlief bis ¾ 9. Zum Frühstück gab’s dicke Graupen. Dann half und
las ich. Nach dem Abtrocknen arbeitete ich mit am Kaninchenstall bis zum
Mittagessen, wo es Weißkohl mit Klößen und Büchsenfleisch gab. Nach
Tisch las ich etwas und arbeitete tüchtig Geschichte, und zwar im
Liegestuhl draußen liegend. Um 4 ½ gab’s Kaffee (Mus- u. Kunsthonigbrot)
und dann musste Gerhardt, Ernst und ich nach Unterstützengrün zum
Gemeindeamt, während Mutter mit den Tanten Frau Händel besuchte. Um 7
zum Abendbrot aßen wir Erbsensuppe mit Brot dazu. Dann waren wir in der
Kriegsbetstunde. Nachher saßen wir beide bis ¾ 10 bei Vater im Zimmer
und erzählten von der Schule und Vater zeigte uns einiges vom
Hebräischen.
Freitag, 24. August 1917
Ich stand um ½ 9 auf. Zum Frühstück gab’s braun aussehende
Roggengrütze-Suppe, die ganz ähnlich wie Brotsuppe schmeckte. Dann
schrieb ich einen Brief an Tante Anna und las. Zum Mittagessen gab es
Kohlrabi, Mohrüben und Kartoffeln. Dann schrieb und arbeitete ich
Geschichte. Zum Kaffee aßen wir einen Mus und ein Kunsthonigbrot, worauf
wir 6 Zitronen aus Unterstützengrün holen mussten. Dann las ich bis zu
dem Abendbrot. Vorbereitungen, wo zum Abendbrot gab es Bratkartoffeln
mit Gurkensalat und Fleisch so dass man ganz satt wurde. Leider waren
sie etwas versalzen. Dann wuschen Ernst und ich noch auf, dann lasen wir
bis ¼ 11, während Tante Käthe, Tante Liel und Mutter bei Frau Kantor
waren.
Sonnabend, 25. August 1917
Wir standen um ½ 8 auf. Zum Frühstück gab’s feine dicke Graupen, dann
half ich und las. Zum Mittagessen gab es Suppe und dann Kartoffelbrei
mit Margarine- Tunke und 3 Stück Senfgurke. Das Essen schmeckte ganz
herrlich, man wurde richtig „friedenssatt“, „knallprall“. Dann arbeitete
ich Geschichte und las. Nach dem Kaffee (Brot und Torte) suchten wir
Raupen vom Kohle ab und halfen sonst wie. Nach dem Abendbrot, wo es
Mohrrüben und Erbsen gab, gingen Ernst und ich mit Mutter zu
Brettschneiders (Schlachter) und holten – es war ja schon fast ganz
dunkel - Kartoffeln. Dann badeten wir und gingen zu Bett.
Sonntag, 26. August 1917
Um ¾ 8 standen wir auf. Zum Frühstück gab’s Haferflocken mit Zimt und
Zucker. Um 9 war Kirche, die etwa bis 11 Uhr dauerte. Bis zum
Mittagessen, das im 1. Gang aus Bouillonsuppe mit Grießklößen, im 2.
Gang aus Rindfleisch mit Tunke und aus Kartoffeln bestand, lasen wir.
Zum Kaffee gab’s Zwetschenmusbrot, dann Kuchen und dann Honigbrot.
Wieder lasen wir bis zum Abendbrot, das aus feinen Kartoffelsalat,
Pudding und Brot bestand - die Henkersmahlzeit für Tante Käthe und Tante
Liel. Wir durften dann bis ½ 10 noch aufbleiben. Die Tanten gingen aber
früher zu Bett.
Montag, 27. August 1917
Wir standen um ¾ 7 auf, die Tanten waren schon 4.28 nach Dresden
abgefahren. Zum Frühstück gab’s Grütze. Den ganzen Morgen wurden dann
Bohnen abgezogen und geschnippelt. Als Mittagessen gab’s Brechbohnen,
Kartoffel und Kalbsbraten mit Tunke, wovon man entsetzlich satt wurde.
Zum 1. Male blieb Essen übrig. Dann arbeitete ich Geschichte und las.
Zum Kaffee gab’s Honigbrot und ein Stück Kuchen. Als Abendbrot gab’s
Suppe mit Kartoffeln und Bohnen und dann ein Käsebrot. Nach Tisch lasen
wir und unterhielten uns, bis wir gleich nach 9 zu Bette gingen.
Dienstag, 28. August 1917
Ich stand um ¾ 8 auf. Zum Frühstück gab’s feine Dicke mit Zimt und
Zucker bestreute Graupen. Dann arbeitete ich und las und spielte etwas
auf dem Harmonium. Um ¾ 11 gingen wir drei in den Seidelswald und
suchten Tannenzapfen und Pilze; T. fanden wir nur wenig, P. dagegen sehr
viel, besonders auf einer Wiese Wiesenchampignons. Dann aßen wir
Mittagbrot: Weißkohl mit fein viel Kartoffeln und dann 2 Äpfel von Frau
Händel. Dann las ich bis 3; nun musste ich zu Mönikes und 5 lb Birnen zu
2.25 holen. Diese „Tafelbirnen“ waren aber nicht allzu gut. Dann machte
ich meine Düte Pilze zurecht und dann tranken wir Kaffee (Honig- und
Musbrot). Dann gingen wir zu Frau Hendel. Dort besahen wir uns zuerst
mit Tienchen (Chrstinchen) den Garten, tranken dann noch mal Kaffee und
aßen dazu Schmalzborte (Mutter war unterdes auch gekommen), und spielten
dann im Garten bis ½ 8 fein Verstecken. Zum Abendbrot gab’s
Pellkartoffeln mit Gurkensalat und Senfsoße, zu wozu die liebe Frau
Hendel ein Stück vorgebrachte Rotwurst gestiftet hatte. Dann lasen wir
noch eine Zeitlang und dann ging’s ins Bett.
Mittwoch, den 29. August 1917
Ich stand um ½ 8 auf. Es war Regenwetter. Zum Frühstück gab’s wieder
Graupen. Ich musste an dem Tage auskehren und am Morgen abtrocknen.
Darauf schrieb ich Tagebuch und eine Karte und las. Dann half ich Vater
dabei, das Dach auf den Kaninchenstall aufzunageln. Als Mittagessen gab
es Schnippelbohnen mit Kartoffeln. Nach Tisch arbeitete ich Geschichte,
las und arbeitete am Kaninchenstall. Zum Kaffee gab’s Zwetschenmus und
Kunsthonigbrot. Nachher las ich und arbeitete wieder am Kaninchenstalle.
Zum Abendbrot gab es Suppe mit Resten vom Mittag und einen feinen
Pudding und zur Suppe eine Scheibe Brot. Bis ½ 11 lasen wir.
Donnerstag, 30. August 1917
Um ¼ 9 weckte uns Mutter. Zum Frühstück - vorher gingen wir noch zu Frau
Baumgärtel und holten Gemüse - gab es Milchsuppe, die fein dick war.
Dann machten wir fürs Mittagessen die Mohrrüben zurecht. Nach dem 2.
Frühstück halfen wir Vater wieder tüchtig beim Kaninchenstall. Zum
Mittagessen gab’s Mohrrüben, und Kohlrabi und Kartoffeln mit Büchsen-
Schweinefleisch und Tunke - ein herrliches Essen. Dann wurde der Stall
zu Ende gezimmert, und die beiden Kaninchen konnten ihre neue, schöne
Wohnung beziehen. Zum Kaffee gab’s Kunsthonig- und Zwetschenmusbrot.
Dann besuchten wir Frau Reuther. Als wir wiedergekommen waren, deckten
wir den Tisch und gingen um 7 Uhr in die Kriegsbetstunde. Dann aßen wir
als Abendbrot Dörrgemüse-Suppe und Pudding. Bis ¾ 10 zeigte uns dann
Vater seine Photos und seine Filme.
Freitag, 31. August 1917
Wir standen um ½ 8 auf. Zum Frühstück gab’s Graupen. Dann mussten wir
das Bett wieder nach Hundsübel bringen, wozu wir uns von Schubert´s
einen kleinen Tafelwagen liehen. Bei Herrn Pfarrer Parthey, dem es immer
noch nicht wieder gut ging, bekamen wir Birnen. Unterdessen war Vater -
er kam zum Mittagessen wieder zurück - in Schönheide. Dann machten wir
eine Aufnahme vom Kuhberge. Zum Mittagessen gab’s Weißkohl mit
Kartoffeln. Nachher wurde wieder photographiert. Nach dem Kaffee machten
wir tüchtig Abzüge und brachten auch Tante Käthes Frachtsachen zur Bahn.
Als Abendessen gab’s Suppe, Makkaroni und Kartoffeln. Nach dem
Abendessen wurde der Film entwickelt, was mächtigen Spaß machte. Deshalb
kamen wir auch erst um ½ 11 ins Bett. Diese Nächte war immer herrlicher
Mondschein.
Sonnabend, 1. September 1917
Wir standen um 8 Uhr auf. Es gab zum Frühstück Mehlsuppe. Den Morgen
über machten wir wieder fleißig Abzüge, wie auch am Nachtmittage. Zum 2.
Frühstück gab’s ein Ei, zum Mittagbrot Kartoffelklöße mit Birnen und
dann Pudding. Um ¼ 4 gingen Ernst und ich zu Mönike´s und holten 50 lb
Kartoffeln; die Geschichte dauerte 1 ½ Stunden. Zum Kaffee gab’s
Quarktorte und Wurstbrot!
Januar 1919
Mittwoch, den 1. Januar 1919
Am
Nachmittag lese ich "Oliver
Twist" von
Dickens zu Ende, dann "Licht und Leben" etwa 10 Nummern;
nachher sind
Ernst und ich bei Onkel Martin (ich leihe mir einen Geschichtsatlas,
Siedelungsfragen). "Oliver Twist" hat mir ganz gut gefallen, aber er ist
ermüdend zuweilen.
Donnerstag, den 2.
Januar 1919
Ich
mache mit
Mutter einige Besorgungen in der Stadt, Mutter besorgt sich einen
Pass für die Rückfahrt nach Leipzig: Im Polizeigebäude sitzen einige
Damen, die viel Ähnlichkeit mit ehemaligen Dienstmädchen haben und
schreiben ihre Pässe; wenn man etwas schriftliches hat, kriegt man
todsicher so ein Monstrum(?).
Freitag, den 3. Januar
1919
Ich
bringe in der Kladde den Aufsatz "Kassandra" zu Ende. Am Nachmittag
wiederhole ich Hebräisch.
Sonnabend, 4. Januar
1919
Morgens
7.49 fährt
Mutter wieder weg. nach Leipzig. Ich mache einen Knipser für den
elektrischen Schalter in der Wohnstube. Dann gehe ich in die Stadt zu
Besorgungen und am Nachmittag wiederhole ich Geschichte und Hebräisch.
Sonntag, den 5. Januar
1919
Wir
sind in der
Garnisonkirche (Pastor Fischer "Einer
trage die Last des Anderen") und gehen dann zu Frau Dr. Jacobs, die
bei ihrer Mutter Frau von Gröling augenblicklich wohnt. Sie hat eine
längere Zeit krank im Bett gelegen und war zur Erholung in Flensburg.
Nachher fange ich "Hamlet" zu lesen an. "Das
Marmorbild" von
Eichendorff, das ich Freitagabend gelesen habe, hat
mir nur teilweise gefallen. Es ist zu verschnörkelt. Typisch für
Eichendorf sind die Mondscheinszenen und Frau Venus.
Montag, den 6. Januar
1919
Ich
lese "Hamlet" zu Ende.
Er hat mir sehr gut gefallen, hoffentlich wird er bald auf dem Theater
gegeben, dass ich ihn mir dort ansehen kann. Wie schade, dass Hamlet
sein Leben verliert - doch dafür ist es ein Drama. - Dann mache ich die
laufenden Schularbeiten für morgen, heute ist ja schon leider der letzte
Schultag. Vergeblich erwarten wir den ganzen Tag Tante Tilly.
Dienstag, den 7. Januar
1919
Am
Mittag schenkt mir Wolfgang eine Eintrittskarte für das Theater, das am
Abend von 6 - 9 spielt. "Der
fliegende Holländer" hat mir sehr gut gefallen. Den ersten Akt hatte
ich schon gelesen. Der zweite war mir nicht ganz klar, und der dritte
gefiel mir besonders gut.
Mittwoch, den 8. Januar
1919
Am
Nachmittag B.K.. Es wurde die Trennung der Älteren und Jüngeren
beschlossen, wir haben künftig Donnerstags Abend alle 14 Tage.
Freitag, den 10. Januar
1919
Hampe
redet im Wilhelmsgarten. Lagershausen: Ernst und ich besorgen in der
Druckerei von Göbel auf der Gördelingerstraße Flugblätter, die wir
nachher verteilen. Der große Saal ist ganz voll. Draußen im Vorraum
schlagen radaumachende Soldaten Schilder mit
an die Tür an. In einem unbewachten Augenblick riss
Dürre einige Schilder ab, und im nächsten Augenblick kam ein kleiner
grässlicher Soldat mit einem Glasauge angesaust und rannte an Dürre
vorbei nach draußen, während sich Dürre schleunigst im Saal verkrümelte.
Der Soldat kam mit einem älteren Mann an, den er fürchterlich anfuhr,
aber nachher auf die spottenden Reden der anderen Soldaten zufrieden
ließ.
Sonnabend, den 11.
Januar 1919
Am
Abend P.V., leider bin ich mit den Schularbeiten nicht fertig geworden.
Wir sitzen im Kaffee Velten [?] im Kegelhause. Staff hält ein ziemlich
schwer verständliches Referat über Marx, das er vorliest und wobei er
viele fremdwörterliche Schlagworte gebraucht. Ich rauche meine erste
Zigarette, Die mir W. anbietet und die ich ihm nicht abschlagen kann.
Sie schmeckt mir nicht
Sonntag, den 12. Januar
1919
Ich
bleibe wegen meiner Erkältung aus der Kirche und besuche nachher Dieter
[?]. Er erzählt vom
Kultusminister Hoffmann, dass er sich in sehr wohlwollendem
Sinne über Schülerräte geäußert habe. Alle Schüler von OIII ab sollen
genau wie die Lehrer eine Stimme haben, und unter den Schülern von
Obersekunda ab ist die freie Liebe gestattet (!!!) und gegen erotische
Tänze ist nichts einzuwenden (!!). – Ich muss noch ziemlich viele
Schularbeiten machen, bis zum Abend. – Ich fange an, über Buddha zu
lesen.
Montag, den 13. Januar
1919
Ich
bringe den Aufsatz " Kassandra" zu Ende, arbeite bis 12 Uhr. - In Berlin
sind nun die Spartakiden von den Mehrheitssozialisten mit Hilfe der
"Regierungstruppen" überwunden.
Dienstag, den 14 Januar
1919
Heute
ist Tante Ida Brenstadt [?] in Königslutter heimgegangen. Nach
dreijähriger schwerer Krankheit ist sie endlich erlöst. Das Begräbnis
ist am Sonnabend auf dem Domfriedhof. Sie hat sich in ihrer geistigen Umnachtung selbst aufgehängt - wie schrecklich traurig!
Mittwoch, den 15. Januar
1919
Ich
arbeite abends bis 11, Mathematikhausarbeit.
Donnerstag, den 16.
Januar 1919
Liebknecht
und Rosa Luxemburg
†, fast möchte man sich freuen! -
In Schraders Hotel Vortrag von Herrn
Missionsdirektor a.D. v. Schwartz über Trennung von Staat und Kirche
Sonntag, den 19. Januar
1919
Am Nachmittag ¾ 2 - 3 löse
ich Benecke in einem Wahllokal auf der Bertramstraße ab und muss jedem
Wähler einen Umschlag für die Stimmzettel geben. Heute ist ja die Wahl
zur Nationalversammlung. Der Tag läuft ganz ruhig ab, weil die Wahlen
unter dem Schutze der Arbeiter-
und Soldatenräte stehen: Merkwürdig - noch vor
kurzem erklärten Herr Örtes [?] und seine Amtsgenossen, der Weg zur
Nationalversammlung ging über ihre Leichen; man muss sich eben den
Verhältnissen anpassen können. -
Wegen
meiner Erkältung kann ich nicht zur Kirche. - Mutter hält heute Abend ihren ersten
Vortrag in Leipzig. Ich lese mit viel Interesse ein Buch "aus Natur u.
Geisteswelt", das ich mir aus der Bücherei geliehen habe: "Leben und
Lehre des Buddha" v.
R. Pischel.
Was ist der Buddhismus für eine dunkle und verzwickte Religion, auch
wenn er stellenweise Ähnlichkeiten mit dem Christentum hat! Ich will
vielleicht im P.V. hierüber einen Vortrag halten.
Montag, den 20. Januar
1919
Generalstreik sämtlicher Arbeiter anlässlich des Todes von
Liebknecht u. Rosa Luxemburg. Nach sieben Uhr darf niemand der nicht
einen Pass hat, sich auf der Straße blicken lassen. Wolfgang gibt mir
einen Zettel folgenden Inhalts: "Der Arbeiter! Morgens macht er aus dem
Bette, dann macht in die Hose, darauf macht er in die Fabrik. dort macht
er Frühstück u. Mittag, um, wenn er seine Arbeit gemacht hat, nach Hause
zu machen; und am Abend macht er ins Kino.
Dienstag, den 21.
Januar 1919
Abends
ist die Straßenbeleuchtung sehr kläglich, fast überhaupt nicht
vorhanden. Um sieben Uhr geht das elektrische Licht aus, und wir müssen
uns mit Kerzen behelfen.
Donnerstag, den 23.
Januar 1919
Der
Generalstreik beendigt. Man darf sich auch wieder draußen nach sieben
Uhr abends bewegen, und die Geschäfte, die nur von 9 - 12
geöffnet sein durften, haben den ganzen Tag wieder offen. - Die Kellner,
die einen Streik in Berlin gehabt hatten, sind jetzt auch mit ihren
Forderungen durchgedrungen. Sie bekommen zwar nicht mehr Trinkgeld,
dafür aber 1000 M als Angestellte im Wirtshaus. Zu was für
Preisverteuerungen muss das führen, und wo bleiben die Finanzen! So viel
bekam ja früher nicht einmal ein Minister! -
Am Nachmittag
mache ich einen Vortrag "Buddhas Leben und Lehren" zur Hälfte fertig in
Kladde. Das Thema macht mir viel Spaß, leider muss ich reichlich viel
abschreiben, ich habe eben zu wenig positive Kenntnisse in dieser
Hinsicht. Aber immerhin habe ich ja auch selber dabei zu tun durch
zusammensuchen, ordnen u.s.f.
Sonnabend, den 25.
Januar 1919
P.V.
Öhlmann hält einen Vortrag über "Strauß u. Wagner" und Brandes über
"Impressionismus und Expressionismus". Die Erörterungen waren endlos
lang und gingen weit hinaus über mein Verständnis.
Sonntag, den 26. Januar
1919
Leider
können wir alle der Erkältungen wegen nicht in die Kirche. T. A. liest
eine Predigt vor über die Sturmstillung Jesu, die ausgezeichnet in die
Jetztzeit passt. Dann lese ich die Zeitschriften und arbeite am Buddha-
Vortrag. Am Nachm. werde ich bei Wolfgang zum gestrigen Geburtstag
eingeladen, wo sich noch Lebrecht, Werner Weber u. die beiden Drude
einfinden. Es ist sehr gemütlich und nett. Wolfgang spielt nachher etwas
auf dem Klavier vor.
Montag, den 27. Januar
1919
Kaisers
Geburtstag! Wie anders sieht es jetzt aus im Vergleich zu andern Jahren!
Der Kaiser wird wirklich hart geprüft. In der Stadt macht sich
allmählich zaghaft eine Strömung bemerkbar, die nicht mit Herrn
Schneidemeister Merges und Herrn Örter [?] zufrieden ist. So war dem
Pferde des Herzog Wilhelm Denkmals vor der Burg Dankwarderode vor
einigen Tagen über Nacht ein Plakat umgehängt; darauf war zu lesen:
Herzog Wilhelm steig´ hernieder!
Komm, regiere Du uns wieder!
Lass in diesen schweren Zeiten
Lieber Schneider Merges reiten!
Letzte
Nacht hat ein kühner Kletterer das Dach des Landestheaters erstiegen und
dort eine schwarz-weiß-rote Fahne aufgepflanzt und darunter ein Plakat
angebracht, das in großen Buchstaben die Inschrift trug "Nieder mit
Merges!" Ähnliche Plakate befanden sich an zahlreichen Anschlagsäulen.
Leider wurden aber die antirepublikanischen Kundgebungen auf
Veranlassung der Behörde alsbald entfernt und auf dem Landestheater
wieder die rote Fahne auf Halbmast gehisst (wegen Liebknechts Tod).
Die Schule hat jetzt immer eine unangenehme Seite, nämlich die, dass die
Klassen immer sehr schwach geheizt sind. Gewöhnlich sindes
morgens 13° C und steigt dann bis 18°; heute früh waren es sogar bloß 7
½° und [...] saßen wir alle in Mänteln - bei solch elender Kälte; ich
werde meine Erkältung auf die Weise überhaupt nicht mehr los.
Donnerstag, den 30.
Januar 1919
Es ist
winterlich und kalt geworden, vorgestern sank das Thermometer bis -10°.
- B.K.
Es wird über die Art u. Weise u. den Inhalt der Stunden verhandelt, die
abgehalten werden sollen. Jeder soll recht viel sich beteiligen mit
Fragen u. Antworten, damit er innerlich weiterkommt.
Freitag, den 31. Januar
1919
Ernst
u. ich sind bei Berger und bringen dann mit einem Dienstmann, Herrn
Roland, die Möbeln von Tante
Liel auf einem Karren zu Tante Webers Wohnung. Der Wagen ist voll
bepackt mit Sekretär, Kiste, Kommode, zwei Tischen. Das Heraufschleppen
der schweren Möbel ist ein tüchtiges Stück Arbeit, geht aber ganz gut. -
Am Abend essen wir Butterbrot mit geräuchertem Fisch. Den Mutter
geschickt hat, ein ganz herrliches Essen!! Leitung und Mithilfe des frdl.
Herrn Roland.
Februar 1919
Sonntag, den 2. Februar
1919
In der
Kirche Gottesdienst für die heimgekehrten Krieger. Herr Domprediger
spricht über "Dein Wille geschehe." Ich arbeite dann Geschichte für die
morgige mündliche Wiederholung und mache schließlich den Buddha-Vortrag
in der Kladde fertig.
Mittwoch, den. 5.
Februar 1919
Es hat
tüchtig geschneit. Es herrscht große Kohlenknappheit, manche Bäckereien
sollen sogar keine Feuerung mehr zum Backen haben, darum werden heute
die städtischen Schulen geschlossen. Heute, morgen u. übermorgen habe
ich Nahrungsmittelkartenverteilung auf der Reichsstraße.
Donnerstag, den 6.
Februar 1919
Heute
haben wir Kälteferien bekommen, müssen aber diese Woche nachmittags 4 -
5 zur Schule. Nach der Kartenverteilung hat es um ½ 5 keinen Zweck mehr,
zur Schule zu gehen. Darum wandle ich gleich zu W. Drude, der heute
Geburtstag hat und Ernst u. mich eingeladen hat. Es ist ganz nett.
Wolfgang Sch. spielt einiges von Beethoven auf dem Klavier u. spielt
nachher unter Geigenbegleitung Jochens. Nachher B.K. wir sind nur wenig,
Georg A. liest einiges von einem Erfurter B.K.ler vor, was der als
Tagebuch geschrieben hatte. Nachher wird, nachdem noch P. Stosch
gekommen ist, über das Bibellesen gesprochen.
Freitag, den 7. Februar
1919
Von der
Nahrungsmittelverteilung gehe ich zu "Hamlet", der mir sehr gut gefällt.
- Gestern hat die
Nationalversammlung begonnen. Möge sie recht schnell zu ihren
wichtigen Aufgaben schreiten und nicht das Bild von streitenden Parteien
wie im Reichstag bieten.
Sonnabend, den 8.
Februar 1919
Am
Morgen schreibe ich z.T. den Vortrag über den Buddhismus in Reinschrift.
4 - 5. Homer gelesen.. Am
Abend P.V. Meier redet sehr gelehrt über "Lassalle".
Sonst ist es ziemlich laut und albern.
Sonntag, den 9. Februar
1919
Um 10
Uhr Missionsgottesdienst im Dom v.
Superintendent Palmer aus Blankenburg. Im großen u. ganzen
hat mir die Predigt ganz gut gefallen. "Fürchte Dich nicht, Du kleine
Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben",
aus dem Lukasevangelium. Am Mittag treffe ich Dr. Müller leider nicht zu
Hause. Dann lese ich den Anfang von Freytags "verlorner Handschrift",
die mir sehr gut gefällt. Diesmal exerziere ich, man hat doch viel mehr
Gewinn dann vom Lesen. - Um 5 Missionsversammlung im
Magni-Gemeindehaus. Herr
Domprediger hält einen ausgezeichneten Vortrag über "deutsche und
angelsächsische Missionsauffassung." Er hebt den aufs mehr Äußerliche
gerichteten Sinn der Engländer u. Amerikaner hervor, dem der mehr
innerliche Sinn d. Deutschen gegenübersteht. Die Angelsachsen sind
praktischer, betreiben die Mission viel öffentlicher, machen Reklame,
brauchen mehr Geld u. finden mehr Geldunterstützung. Die Missionsarbeit
wird mehr als Sport angesehen, dass man mal 5 Jahre in "Übersee"
gearbeitet hat. Der Engländer lernt nicht die Sprache der Eingeborenen,
sondern bringt ihm die englische Sprache bei, die sicher nach seiner
Meinung Weltsprache werden wird "Sie sehen es mehr auf äußere große
Massenerfolge ab. Das Schlusswort hatte P. Lichtenstein.
Montag, den 10. Februar
1919
Der Landtag hat seine erste Sitzung.
-
Schule:
8 - 9, 12 - 1, 4 - 5. Am Morgen mache ich Besorgungen und bin bei Dr.
Müller.
Dienstag, den 11.
Februar 1919
Herr
Ebert (Mehrheitssocialist)
wird von der Nationalversammlung zum Reichspräsidenten gewählt.
Donnerstag, den 13.
Februar 1919
Mathematik- Hauarbeit, sehr schwer. Am Abend B.K. Ich halte einen
Vortrag über den Buddhismus, an den sich eine kurze Zwiesprache
anschließt. P. Stosch meinte er wäre "akademisch genau", offenbar
erwartete er mehr vom Buddhismus der Jetztzeit. Aber darüber kann ich
doch nicht reden, wenn die Grundlagen mir fehlen.
Freitag, den 14.
Februar 1919
Kurze
Inhaltsangabe von Lessings "Laokoon oder . ." für die Deutschstunde. Am
Nachm. sind Ernst und ich bei den Tanten Wolffs und holen die von ihnen
besorgten Konservenbüchsen ab. Nachher packten wir ein Paket v. Mutter
für Tante Anna zum Geburtstag aus. Ich schreibe einen Brief an Mutter,
den ersten seit Mutters Abreise.
Sonnabend, den 15.
Februar 1919
Ehe
Ernst um ¾ 8 zur Schule muss, bescheren wir Tante
Anna. Am Mittag braust die Feuerwehr bei uns vorbei, der wir
nacheilten: Wir sehen dann, wie sie einen großen brennenden Schuppen der
Teerfabrik von (?) Schacht mit 3 Spritzen zu löschen bemüht ist. Das
Wasser schießt zischend u. mit gr. Wucht in das Feuer. Nach einigen
Stunden ist das Feuer gelöscht. - Um ½ 5 trinken wir Kaffee, wo wir
Besuch hatten. Am Abend brachte ich Tante Emilie nach Hause.
Sonntag, den 16.
Februar 1919
Am
Morgen waren wir im Dom, wo Herr Domprediger auch das feine Wort
vorbrachte: "Wir müssen beten, als wenn alles Arbeiten nichts hilft, und
Arbeiten, als wenn alles Beten nichts hilft." - Am Nachmittag war ich
bei Harffs und holte die Zeitschriften, wo ich dann mit Onkel Horst
Schach spielte; aber das Spiel war ziemlich langweilig, weil wir leider
offenbar wenig aufgelegt waren. Tante Tilly die gestern nachm. gekommen
ist, bleibt bis heute Abend. Ihr Besuch ist sehr nett.
Montag, den 17. Februar
1919
Am Nachmittag ist eine große
Schülerversammlung im Marmorsaal des Wilhelmsgartens, die sehr stark
besucht ist und äußerst lebhaft verläuft. Ein Schüler Schoof hält eine
Rede, in der er das bisherige Lern-Schulsystem
verwirft und dafür die "Arbeitsschule" als Ersatz vorschlägt. Freilich
ist er sich bewusst, dass bei der bisherigen Art und Weise die Größe des
Lehrgebietes größer ist, dass aber bei der "Arbeitsschule" das Wissen
fester sei. Da aber die Schüler hierfür noch nicht weit seien, müssten
Sprechsäle gebildet werden, in denen die, die hierfür Interessen haben,
sich zusammenschließen sollen. Diese würden als Sauerteig in der
Schülerwelt wirken müssen. Hierbei will man jedoch die Mitarbeit der
Lehrer durchaus nicht verwerfen. - Es folgte eine lebhafte Diskussion.
Auch ein Lehrer - ein Jude - aus Hannover sucht die Jugend für das
Ideale (?) zu begeistern. Die Geschichte, die sich von 4 - ½ 7
hinschleppte, endet damit, dass beschlossen wurde, jede Schule solle
zunächst allein vorgehen. Diese konfuse Versammlung hat mich mit großer
Abneigung gegen die phantastisch- ideale Schulgemeinde etc. erfüllt.
Wenn die Schule, so wie sie jetzt ist, schon so lang bestanden hat und
große Erfolge errungen hat, warum soll das jetzt mit einem Male überlebt
sein? -
Ich
lese in Freytags
"Die verlorene Handschrift".
Dienstag, den 18.
Februar 1919
Ich
bringe den 1. Band der "Die verlorene Handschrift" zu Ende. - Am Abend
im Kinopalast war eine Protestversammlung gegen den Raub der Kolonien.
Herr Gaster [?] (Antwerpen) und Herr Kunze (Kamerun) redeten sehr fein.
Mittwoch, den 19.
Februar 1919
Am
Nachm. ist Frau Hartmann aus Gevensleben hier. Sie berichtet und
verteidigt das Benehmen ihres Gatten in Gevensleben, der sich mit fast
der ganzen Gemeinde verwirft.
Sonnabend, den 22.
Februar 1919
Am
Abend gibts Schokolade od. Kakao noch nachträglich zu Tante. Annas
Geburtstag - schmeckt herrlich. -
Gerhard u. ich holen ½ Zentner Buchenholz von der Neuen
Knochenhauerstraße. - Am Abend im P.V. redet Wolfgang über neuzeitliche
Malerei. Sehr fein setzt er da die verschiedenen Arten auseinander:
Impressionismus
(Klexmalerei),
Futurismus (Darstellung von Bewegungen z.B. einem tanzenden
Mädchen), Kubismus
(Inhalt der Häuser u. dergl.) Er spricht fein und zeigt sehr viele
Bilder.
Sonntag, den 23.
Februar 1919 1919
Es ist
Probealarm bei der Volkswehr, die Kerle marschieren protzig mit ihren
Maschinengewehr- und Kanonenwagen durch die Stadt. Es sind widerliche
Gestalten. Sie üben sich für den Ernstfall, dass Regierungstruppen
heranrücken sollten. -
Am Nachm. suchen wir Herrn P. Priegel [?] im
Vereinshause auf und zeigen ihm die Stadt (Bohlweg - Münzstraße - Damm -
Landschaftsgebäude - Altstadtmarkt - Eulenspiegelbrunnen - Neuestraße -
Burgplatz - Steinweg (Caffee Lück, dort trinken wir Kaffee) -
Eulenstedterstraße [?] - Marienstift). Wir unterhalten uns sehr fein mit
ihm. Er gefällt mir sehr gut. Nun kenne ich wieder einen Menschen aus
dem Missionshause mehr.
Donnerstag, den 27.
Februar 1919
Am
Abend B.K. Wolfgang berichtet wieder über die neuzeitliche Malerei.
Freitag, den 28.
Februar 1919
Politisch geht in Deutschland viel
vor. In vielen Städten sind Streiks in ungeahnter Fülle, so dass die
Lage immer ernster wird. In Leipzig ist der Zeitung gemäß der
Eisenbahnverkehr fast völlig eingestellt; infolgedessen kann nur Post
aus Leipzig selbst innerhalb Leipzigs bestellt werden. Gas u. elektr.
Licht gibt seit Tagen nicht mehr, weil die ganze Bürgerschaft in einen
Gegenstreik eingetreten ist. Was mag Mutter alles erleben! Hier ist die
Räterepublik ausgerufen.
-
Der
Stundenplan wird reichhaltiger, die Michaelisabteilung bekommt einige
Stunden mehr, so dass ich jetzt wöchentlich 14 Std. habe. - Ich arbeite
zum 1. Male mit
Georg Althaus zusammen Hebräisch Es freut mich sehr,
dass ich so näher mit ihm zusammenkomme, er ist ein so netter, lieber
Mensch, den man sich nur zum Beispiel nehmen kann. Dass ich in Hebr.
jemand habe, mit dem ich zus. arbeiten kann, ist mir sehr lieb u.
angenehm. - Ich telephoniere
heute zum ersten Male allein; ich bin froh, dass ich dass gelernt habe;
wenn man erst die Scheu davor überwunden hat, ist es so einfach und
bequem. - Nach der Deutschstunde, in der Prof. Hahm über Lessings "Laokoon
oder ..." geredet hat, zeigt er uns im
Museum an einer Anzahl von Gemälden, dass der Maler verhältnismäßig sehr
selten Handlungen darstellt, und dass der "prägnanteste Moment" auch
häufig hinter dem Höhepunkt liegt,
März
1919
Sonnabend, den 1. März
1919
Die
Ausrufung der Räterepublik wird zurückgenommen. Da der Landtag vertagt
ist, weiß man überhaupt nicht mehr, wer hier eigentlich regiert. - Am
Abend im P.V. redet Brandes über Schülersprechsäle. Aber eigentlich ist
die Sache ja schon für uns abgetan durch die Erklärungen in den
Zeitungen. Wir sind nur 16, da verschiedene tanzen. Wir kegeln nachher,
was sehr viel Spaß macht.
Sonntag, den 2. März
1919
Herr
Domprediger spricht über
Joh. 11, 47 - 54 (Überschrift:
Der Hass der
Menschen. Wir sehens) 1. Wie ihn die Angst gebiert. 2. Wie ihn Gott
regiert. - Ich treffe Dr. Müller nicht zu Haus. Ernst und ich besuchen Dettmers, die vorgestern und ehevorgestern Geburtstag hatten. Ich lese
tüchtig im 2. Band der "verlorenen Handschrift" (Freitag).
Donnerstag, den 6. März
1919
Abends
um 8 Uhr ist B.K. Auf Georgs Bitte hält Herr Pastor Lichtenstein, ein
Flüchtling aus dem Baltenlanden und Vetter des hiesigen P.L. einen
Vortrag, der tief beweglich ist. Zunächst gibt er einen geschichtlichen
Überblick. Im 12. Jahrhundert zuerst wurden lübische Kaufleute in die
Dunamündung verschlagen, unter ihnen auch ein Geistlicher namens
Meinhard. Dieser wagte es später, auch den Winter über bei den dortigen
Wilden Bewohnern zu bleiben und sie für das Evangelium zu gewinnen zu
suchen. Seine missionarischen Erfolge waren nur gering, ja seine
Nachfolger starben dort sogar den Märtyrertod. Er legte den Grundstein
zur Kirche in Üxküll. Der Hauptmissionar war
Albert von Bremen am Anfang
des 13. Jahrhunderts. Er gründet auch
Riga. Er arbeitete im Einvernehmen
mit dem Papst und wurde Erzbischof (als solcher nahm er 1215 am
Laterankonzil teil) und Herzog. Damit beginnt die Zweiherrenherrschaft
in den Baltenlanden, da ihr Oberhaupt vom Kaiser das Land als Lehen
bekommen hat und vom Papst das Erzbischofsamt. Er war der Gründer des
Schwertbrüderordens, mit dem der Deutsch-Ritterorden verschmolz. Im 16. Jhrhd. wurden die Lande säkularisiert, sie bildeten im nordischen Kriege
den Zankapfel. Peter d. Große ließ sie verwüsten so dass "nichts mehr zu
zerstören" war. Aber die Lande erholen sich und erstarken, so dass seit
Peter jeder Zar schwört, dem Lande "die deutsche Sprache, die deutsche
Schule und die lutherische Kirche" zu erhalten. Nicht so
Alexander III
der mit der Russifizierung beginnt. Jeder, der Seelen für die
griechisch- katholische Kirche gewinnt, bekommt eine hohe Belohnung.
Darum machten 1905 die Letten und Esten einen
Aufstand, an dem sich die
Deutschen aber nicht beteiligten. Jetzt wurden die Provinzen wieder sehr
gut behandelt, und das Land blüht bis 1914 auf. Dann tobte der Krieg
über sie hin. Goldingen (von dort stammt P. Licht.) wurde 1915 von den
Deutschen besetzt, die siegesgewiss und strahlend gegen Riga
weiterzogen, denn "bei ihnen klappte es von oben bis unten und von unten
bis oben". 1917 waren die Ostseeprovinzen ganz in Deutscher Hand, die
Universität in Dorpat wurde eröffnet, und nun kam die schönste und
lieblichste Zeit für die Lande. Jetzt war die Erfüllung ihrer 600 Jahre
gehegten Wünsche in greifbare Nähe gerückt - da bricht alles zusammen,
es ist schlimmer denn je. Das Deutsche Heer strebt in die Heimat, und
auf der anderen Seite dringen die Bolschewisten vor, alles mit Schrecken
und Entsetzen erfüllend, gefolgt von dem lutherischen Pöbel. Die
Deutschen werden, nach Sibirien verschleppt oder ermordet. Man flieht.
Auch P. L. hat seine Heimat verlassen müssen und ist jetzt hier. Die
Verteidiger sind dort deutsche Russen, Letten und freiwillige Deutsche
Scharen. - Was haben diese Deutschen Helden durchgemacht, die sich
wahrlich würdiger benehmen als viele in Deutschland selbst.
Freitag, den 7. März
1919
Frau
Jaste [?], unsere Waschfrau, ist an Magenkrebs gestorben.
Sonnabend, den 8. März
1919
Am
Abend P.V. Ich rede über "Buddhas Leben und Lehre" vor etwa 15 Mann. Der
Vortrag wickelt sich glatt ab und verläuft dankbar günstig. Er wird gut
aufgenommen und hat bei Verschiedenen Interesse für diese Religion
erweckt. Na, ich habe aber auch genug daran gearbeitet! Um ½ 11 gehe ich
weg, ich habe keine Lust bis in die Puppen aufzusitzen. Da ist Schlaf
entschieden gesünder.
Sonntag, den 9. März
1919
Am
Morgen Dom. Nachher gehen wir 3 Brüder nach Steintor 2 [?] und schreiben
unsere Namen in eine Liste als Glückwunsch zum Geburtstag des Erbprinzen
in einigen Wochen. Da ich Dr. Müller nicht zu Hause treffe, gehe ich um
½ 4 noch einmal dahin. Aber ich kann ihn bloß ½ Std. besuchen, weil er
einen Vortrag morgen zu halten hat. - Ich lese etwas im Buch von
Schreckenbach über Luther
Montag, den 10. März
1919
Die
Schule beginnt wieder in vollem Umgange. Am Abend findet im
Magni-Gemeindehaus ein Vortrag von Dr. Baumann über "Grundstein zum
Neubau der Kirche" (so etwa hieß das Thema) statt, an den sich Dr.
Müller mit einem Korreferat anschloss. Dr. Müller ist mir aber doch
reichlich optimistisch. Die Diskussion war ziemlich lebhaft.
Mittwoch, den 12. März
1919
Bei der
Ausstellung der Quittung zur 9.
Kriegsanleihe hat Prof. Ewers sich bei
Frau Grote versehen und die Quittung statt über 300 nur über 200 M
lauten lassen. So muss er aus seiner Tasche 100 M herrücken. Das tut mir
zwar furchtbar leid, aber es lässt sich nicht ändern.
Donnerstag, den 13.
März 1919
Beim
"Geiger" soll etwas ausgeheckt werden, und zwar ist die neuste
Erfindung, dass der Klassentürgriff locker ist. Als wir nach der Pause
für seine Stunde hinaufpilgern, liegt der Griff an der Erde - aber die
Tür ist zu. Wir bemühen uns, die Tür zu öffnen, aber vergeblich.
Freilich, ob die Mühe Überanstrengung od. sonst etwas war, möchte ich
dahingestellt sein lassen. Jedenfalls öffnete Herr Kruse schließlich die
Tür. Bei Beginn des Unterrichts sagte dann der Geiger mit kummervollem
Herzen, er habe dies sehr wohl bei dem Zusammensetzen des Griffes
gemerkt, dass der nach innen gehörende Teil draußen gelegen hätte, und
somit läge die "schnöde" Hinterlist klar zu Tage. Er wolle das Weitere
veranlassen. - Der arme Geiger, warum muss er alles so tragisch fassen??
- Am Abend B.K. mit P. Stosch. Es wird "der reife Jüngling" besprochen.
Freitag, den 14. März
1919
abends
8 Uhr ist wieder im Gymnasium eine Vortragsfolge, in der verschiedene
von uns ihre Vorträge abwickeln müssen. Etwa um ½ 10 erschien Herr
Kruse: "Herr Professor, wollen sie bitte mal rauskommen?" Es waren 3
Matrosen da, die sich darnach erkundigten, ob da eine politische
Versammlung abgehalten würde, es wäre dort schon öfter Licht beobachtet.
Sonntag, den 16. März
1919
Nach
dem Dom (P. Fischer) sind Ernst und ich im herzoglichen Museum, wo wir
die Gemälde in erster Linie betrachteten.
Mittwoch, den 19. März
1919
Es
finden wieder verschiedene Vorträge statt (z.B. Wolfgang über die
Entwicklung der Renaissance - Rokoko und Grünhagen über die
Gedankenkräfte).
Donnerstag, den 20.
März 1919
Gerhards Geburtstag - wahrscheinlich der letzte, den wir hier mit ihm
zusammen feiern, er kommt ja wahrscheinlich im Herbst nach Grimma.
Freitag, den 21. März
1919
Tante
Anna, die von (?) Schwarzens zu kommen eingeladen ist, wird von ihnen
aufgefordert, in den Sommerferien bei ihnen den Haushalt zu führen,
während sie in die Sommerfrische fahren. Dann sollen wir drei mit Mutter
auch mit nach [...?]. Das sind feine Ferienaussichten!
Sonnabend, den 22. März
1919
Herr
von Himmler, wieder auf einer Rundreise begriffen, hält im B.K.. einen
feinen, verständlichen Vortrag über das Thema "Wir und die
Freideutschen". Er führte folgendes aus: Denkt man sich eine gotische
Kirche mit 2 himmelanstrebenden Türmen, so kann man sich auf den einen
Turm als Kennzeichen des B.K. ein (?) Kreuz denken, und auf dem andern
als Kennzeichen des Freideutschen die liegende Acht. 1913 fand jene
bekannte
Tagung auf dem hohen Meißner statt, am 11. Oktober, nachdem an
die deutsche Jugend der Ruf zur Versammlung gegangen war (bes.
Wandervögel und Vortrupp u.a.). Dort wurde auch das bekannte Wort
geprägt: "Nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und mit
innerer Wahrhaftigkeit wollen wir unser Leben gestalten". Das Wandern
wurde vor allem betont. Die Freideutschen lehnen jedes feste Programm
ab. Ihr Ziel ist die Rückkehr zur Natürlichkeit und zu sich selbst.
Dabei verlieren sie sich ins Uferlose u. in Naturschwärmerei, sie suchen
und suchen, ohne zu einem Ende zu kommen, das wollen sie auch gar nicht.
Sie wollen innere Wahrhaftigkeit bei Wahrung der Natürlichkeit. Vergl.
Walter Flex´s "Der
Wanderer zwischen beiden Welten": Ernst
Wurche kann das
Ideal für einen Freideutschen sein, wenns auch nicht ausdrücklich dort
steht
Starke Betreuung des eigenen Ich. "Die neue Jugend seid Ihr". Sie lehnen
sich nicht gegen jede Autorität durchweg auf. Führer gehen aus ihren
Kreisen hervor, die sich selbst heraufarbeiten müssen und dann bestätigt
werden. "Die Schule ist eine Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden"
(Wynecke [?]), folglich für Schülerräte. Sie bejahen die Revolution,
weil sie die Freiheit des Menschen gegen die Obrigkeit gebracht hat.
Ausdrücklicher Kampf gegen das Philistertum.
Mut
zur umbedingten Wahrhaftigkeit. Der Kampf wird ohne Liebe mit Stolz und
Trotz geführt.
Das
gefühlsmäßig betonte Naturempfinden. Geh in die Einsamkeit und finde
dich selbst (Suchen ohne Ende!). Romantik! Kunst: Schattenbilder.
Kleidung: schlicht und einfach. Zusammenkünfte: einfach, ohne bestimmte
Formen, ganz natürlich. Kampf gegen Alkohol. Verkehr mit den Mädchen:
natürlicher, schlichter Verkehr, kein Pussieren Aber dies letzte alle
liegt schon an der Peripherie! Soweit von dem Lebensstil der
Freideutschen. Nun ihre Stellung zur Religion! Sie ist ihnen
etwas Ungreifbares. Es ist ihnen das Suchen nach etwas höherem, bei dem
sie nie zu einem Ziel kommen und auch nicht kommen wollen. Sie suchen
Gott in sich selbst. Sie wollen der Welt und den Menschen helfen. Jesus
ist ihnen nicht Erlöser sondern ein Ideal, oft das Ideal und der
vollkommenste Mensch, dem sie gleich zu werden wohl bestrebt sind, aber
mit eigener Kraft. Sie vereinen die Tatsache der Sünde und Schuld, und
so beugen sie die Wahrhaftigkeit. Man kann wieder an die beiden
gotischen Türme denken. Der B.Kler und der Freideutsche machen gleichsam
ein Treppenlaufen. Auf einer Stufe steht Jesus: der B. Kler bittet ihn
um Hilfe, aber der Freideutsche meidet diese Stufe, geht um sie herum
und findet so nie die Kraft, ganz heraufzukommen. Vergleich
zwischen den Freideutschen und uns: Auch wir müssen lernen natürlich zu
werden. Der Lebensstil ist für uns beide etwa gleich. Wir möchten dienen
und allen, auch denen, die Schiffbruch gelitten haben, helfen, während
die Freideutschen nur Elitemenschen gebrauchen können. Jesus ist uns der
Heiland, wir mussten ja sagen.
Heute
Abend ist die Abschiedsfeier für Benecke in der Hagenschenke am
Hagemarkt. Auch Sarge [?] ist erschienen. Es ist sehr nett. Zwar wird
sich eifrig gestritten. Am Dienstag u. Mittwoch findet die
Prüfung v. T.
Liel im Viktoria- Luise-Hause statt, die sie mit "sehr
gut" besteht. Sie wird nun als Säuglingsschwester hier in Braunschweig
angestellt, worüber wir uns sehr freuen. Sie ist ganz kaputt von der
vielen Examensbüffelei. über Prof. Senhaß u. P. Lichtenstein, aber sonst
geht es sehr friedlich zu. Nun will Benecke, dessen Vater vor ½ Jahr
gestorben ist und dessen Mutter nun nach ihrer Bande (?) in der Altmark
umzieht, Landwirt werden. Zunächst arbeitet er den Sommer über draußen,
und dann geht er wahrscheinlich auf eine landwirtschaftliche Schule; er
will Landwirt werden. Hoffentlich gewöhnt er sich sein unverfrorenes
Lügen ab, sonst ist er ja ein sehr netter Kerl. Wann und wo und wie
werde ich ihn wiedersehen?
Sonntag, den 30. März
1919
Auf ein
Telegramm von Tante Tilly hin geht
Tante Anna zum Nordbahnhof, wo sie dann
mit Frl. Frenkel zusammentraf, an deren Stelle ja jetzt Mutter das Paketepacken im Leipzier Missionshaus hat. Frl. Frenkel (sie macht
gerade eine fruchtbare Reise durch das braunschweigische Land) treffen
Ernst u. ich auf dem Rückweg v. der Kirche, als sie mit T. A. auf die
Straßenbahn wartet. Fein, nun kenne ich schon wieder einen Menschen aus
der Missionsarbeit mehr. Ich studiere etwas den Maler
Gebhard, dessen
Bilder mir zum großen Teile sehr gut gefallen. Ich bin am Abend bei
Drude, wo geprobt wird zu einer Aufführung "Der Kaiser u. der Abt" v.
Bürger, die in Verbindung mit anderen Darbietungen demnächst einen
Werbeabend für das Ferienheim in
Großenheidorn darstellen soll.
Montag, den 31. März
1919
Ich
lese "Die Judenbuche" v.
Anette v. Droste-Hülshof, ein ziemlich
merkwürdiges Buch, welches mir wegen seiner unklaren Geheimnisvölligkeit
nicht recht zusagt.
Heute
wird das glückliche Bestehen Tante Liels im Examen gefeiert. Um ½ 8
kommen die Tanten Wolffs, es ist sehr fein u. feierlich, es gibt sogar
Wein. Um ¾ 10 müssen wir dann in die Klappe.
Dienstag,
den 8. April
1919
Im
Reiche fangen die Streike wieder an!
Mittwoch,
den 9. April
1919
Nun
fängt bei uns auch der Generalstreik der Arbeiter an!
Diese Tage
(Montag - Mittwoch) habe ich wieder Nahrungsmittelkartenverteilung, und
zwar wieder in der Reichsstraße.
Donnerstag, den 10.
April 1919
Ein Flieger, der antibolschewistische Flugblätter
abwerfen will, wird eifrig beschossen! Natürlich erfolglos.
Ich
habe zum ersten Male meinen neuen Stundenschüler, Rolf Döhrmann, aus der
VI°, der jetzt in die V° versetzt wird. Er ist in Latein etwas schwach,
nun soll ich ihn etwas sichern. Während der Ferien ist ja gut
Gelegenheit dazu. Prof. Hahne II, der ihn mir überwiesen hat, hat
richtig sich geäußert, dass er ziemlich schlau sei. Mir macht der Bengel
Vergnügen. Eine wunderbare Gepflogenheit von ihm ist, dass er das Objekt
in den Nominativ setzt. Ich fürchte, dass ich das nie aus ihm
herausbringe, darin ist er verstockt. Sonst macht der Unterricht gute
Fortschritte. - Wir alten B.Kler haben bei Georg Althaus eine Besprechung wegen Hünecke [?], der
sich manchmal anmaßend benimmt. Doch wir wollen nach dem Worte handeln:
"Einer trage des anderen Last". In diesen Tagen habe ich "Gottfried
Kämpfer" v.
Krüger gelesen, welches mir außerordentlich gefallen hat.
Man hat einen feinen Einblick in die Brüdergemeinde bekommen; das Buch
hat einem wirklich etwas gegeben!
Freitag, den 11. April
1919
Da die
Bürgerlichen nun auch Ihrerseits in den Gegenstreik eingetreten sind und
somit auch die Lehrer streiken, kommen wir am Morgen gleich mit den
Zeugnissen aus der Schule zurück. In der vergangenen Nacht war gegen
Morgen ein greuliches Geschiesse, ein Probealarm für die hiesigen
Truppen.
Sonnabend, den 12.
April 1919
Die
Verfügung, dass nach 9 Uhr niemand mehr auf die Straße darf, wird wieder
aufgehoben. Aber die Geschäfte bleiben geschlossen, außer den
Lebensmittelgeschäften, die 10 - 1 verkaufen, ebenso streiken noch die
Eisenbahn u. Straßenbahn, die Ärzte u. Apotheker.
Sonntag, den 13. April
1919
Konfirmation im Dom, Palmsonntag. Ich fange einen längeren Brief an
Mutter zu schreiben an.
Montag, den 14. April
1919
Um ½ 8
marschieren Ernst und ich von Gerloffs über den Rautheimer Weg, über
Mascherode und Salzdahlum nach Atzum, wo wir ½ 11 ankamen. Bei einer
Frau Prillog [?] hamsterten wir dann f. G. Eier und Milch, sie schickte
uns mit ihrer Enkelin zu den verschiedenen
Bauern. Für je 30-50 d bekamen wir 32 Eier. Als wir bei Frau Prilloges
ankamen, frühstückten sie gerade, aber uns etwas anzubieten fiel ihnen
nicht ein. Naja, es sind andere Zeiten wie sonst. - Auf dem Rückweg
beobachten wir ein Flugzeug, dass hannoversche Zeitungen abwirft, die
verkünden, dass Generalmajor Manroker [?] vor der Stadt steht. Am Abend
Passionsstunde.
Dienstag, den 15. April 1919
Auf das Flugblatt hin, das Manroker über
Braunschweig hat abwerfen lassen - wir beobachteten es auf dem
Rückwege v.
Mascherode - liefern viele "heldenhafte" Braunschweiger ihre
Waffen schleunigst im Schlosse ab. -
Herr
Eppes junior hat gestern in der Küche und z.T. in der Jungenskammer die
Decke abgestoßen, die heute frisch gestrichen wurde, sowie die
Küchenwände. Es ist eine fürchterliche Schweinerei, Tante Anna weiß kaum
wie sie alles wieder rein kriegen soll. Am Nachmittag bringe ich auf
Prof. Winries [?] seine Bitte hin einen Brief zu Schuseil [?], dessen
Vater in Mascherode Pastor ist. Ernst und Gerhard gehen mit, um Kartoffeln mitzuhamstern. Aber wir kriegen nischt. Am
Abend Passionsstunde.
Mittwoch, den 16. April
1919
Zum 1.
Male erscheint mal wieder die Zeitung. Sie berichtet von einem Gefecht
mit den Regierungstruppen bei
Börßum.
Es kommt noch zu Scharmützeln in
Helmstedt (ein Hauptmann †) und
Schöningen.
Gründonnerstag, den 17.
April 1919
Seit
langen, langen Monaten ein Freuden- und Jubeltag. Die Regierungstruppen
ziehen von allen Seiten und Himmelsrichtungen in die Stadt ein, von
Jubel begrüßt, unter Blumenregen und Fahnenschmuck, wunderbarerweise
ganz kampflos. Auf den öffentlichen Gebäuden flattern die schwarz-weiß-roten und blau-gelben Fahnen, endlich auch auf dem Schloss. Auf dem
Bahnhof sind 2 Panzerzüge, die man aber nicht zu sehen kriegt, in der
Stadt einige Panzerautos, an vielen Ecken stehen Maschinengewehre, an
jeder Ecke werden von Primanern in Eile blaue, gelbe und grüne
geharnischte Flugblätter Manrokers angeklebt, die den
Belagerungszustand verkünden, die Waffenabgabe bis zum 22. abends 6 Uhr
gebieten und zum Eintritt in ein "Jägerkorps Braunschweig" bzw. eine
braunschweigsche "Landeswehr" (Zeitfreiwillige) auffordern. Ich helfe
Prof. Winries [?] im Garten und sehe dann, wie eine Truppe auf der
Spielmannstraße halt macht. Am Nachmittag geh ich in die Stadt und sehe
mir das Leben und Treiben an. Was ist das für eine Freude, diese
straffen Gestalten zu sehen. Eine neue stramme Zucht herrscht hier!
Jeder grüßt die Vorgesetzten, die noch alle Achselklappen tragen. Ich
melde mich im "Deutschen Haus" als Führer, wurde aber abgewiesen, weil
sich schon so viele gemeldet haben. Dann gehe ich zur Husarenkaserne, wo
ich mit Meine aus OIM (?) zusammentreffe, und wir krakelten einen Ltn.
Kretschmer an, der uns Ausweise aus stellen lässt, dass wir uns noch
nach 7 auf der Straße aufhalten dürfen. Wir sollen immer Befehle zw. dem
"Deutschen Haus" und der Husarenkaserne hin und her tragen. Aber im
Deutschen Haus wieder abgewiesen und bis zum nächsten Morgen vertröstet
werden wir von Ltn. Kretschmer zu Ltn. Aschenberg im "Deutschen Hause"
geschickt, der uns bis 10 gleich dabehält. Ich muss dann eine Anzahl
Briefe noch zum "Monopol" bringen, habe aber im übrigen nichts zu tun.
Als ich um ½ 11 zu Hause komme - unterwegs war ich unzählige Male von
den zahlreichen Posten nach meinem Ausweise gefragt - atmen Tante Liel
und Tante Anna auf, weil sie sich unsäglich um mich gesorgt und das
Fürchterlichste zusammengedacht haben. Aber ich hatte es ja nicht ändern
können, heut Gründonnerstag - so kommt es einem nicht vor! Endlich ist
die Befreiung gekommen, ein Stoßtrupp hatte schon in der Nacht vom
Schloss und der Kaserne Besitz genommen. [...?] und Eckhardt befinden
sich jetzt in Schutzhaft. Merges und Eichhorn sind natürlich nicht zu
finden.
Karfreitag, den 18.
April 1919
Tante
Anna, Tante Liel, Ernst und ich gehen zum hl. Abendmahl in den Dom. -
Dann mache ich den Brief f. Mutter fertig und schicke ihn ab. - Am
Nachmittag weist mich Ltn. Brandi (od. Brandis?) mit Seide (0I0) zu
Kriegsgerichtsrat (Landsrichter) Dr. Müller in Zimmer 11, wo wir ihm nun
künftig zur Hand sein werden. Und zwar müssen wir allerlei schreiben,
besonders Besuchserlaubnisse für Verwandte der in Haft befindlichen
Personen, dies und das im "Deutschen Haus" in den verschiedenen Zimmern
ausrichten und öfter telephonieren. Dabei kriegt man sehr viel
Fesselndes zu hören.
Stiller Sonnabend, den
19. April 1919
Bei
Kriegsgerichtsrat Dr. Müller.
Ostersonntag, den 20.
April 1919
Bei
Kriegsgerichtsrat Dr. Müller helfe ich nur wenig. Gottesdienst im Dom.
Nachher Parade auf dem Löwenwall, wo die Truppen sich alle zeigten im
Parademarsch. Ein herrlicher Anblick! Nachher durchrasseln die Wagen der
Artillerie die Stadt, überhaupt die Truppen. Am Nachmittag mache ich
Schicht und lese - während Ernst u. Gerhard mit Zinnsoldaten eine Schlacht schlagen
- Zeitschriften. - Auch löse ich ein interessantes
Preisrätsel aus der Jugendkast (?), die folgendes ergibt: Bekanntlich
finden wir am Himmel Nebelflecke, die sich bei genauerer Betrachtung in
einer zahllosen Menge von Sternen auflösen. Einer der nächsten ist -
nach Fr. Wilh. Herschel - 3000 Billionen (3000 000000 000000) Meilen
entfernt; wenn nun etwaige Bewohner jener fernen Welten mit so
außerordentlichen Hilfsmitteln versehen wären, um das Leben und Treiben
auf unserer Erde beobachten zu können, so würden sie - wenn das Licht in
einer Sekunde 40 000 Meilen zurücklegt im südöstlichen Europa etwas
Merkwürdiges erblicken, nämlich die Gründung Roms, weil das Licht 2671
Jahre gebraucht, um zu ihnen zu gelangen!
Ostermontag, den 21.
April 1919
Am
Morgen helfe ich Kriegsgerichtsrat Dr. Müller. - Am Nachmittag lese ich,
"Deutsche Liebe" von
Max Müller, von dem Wolfgang begeistert ist, aber
mir gefällt es doch nicht allzu gut, wenn auch Manches fein ist. Es sind
eben zu neue Gedanken darin, die mir eigentlich sehr fern liegen,
während sie Wolfgang nahe liegen. Dann lese ich von
Anna Maria Schieber
"Und hätte der Liebe nicht" zu Ende, ein herrliches Buch.
Dienstag, den 22. April
1919
Dienst
bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller. Es gibt allerlei Botenwege. - Am Abend
um 8 sind wir von Georg Althaus anlässlich seines Geburtstages
eingeladen. Er wird 21 Jahre alt und damit mündig! Es gibt Tee und etwas
Kuchen, Wir älteren BKlr sind alle da. Es ist sehr nett. Auch Friedolin
Lange ist mit da, der dann mit Ernst und mir nach Hause geht. Er muss
von seinen Erlebnissen aus Kiel erzählen. Er hat dort auf den kleinen
Booten Mienen ausstreuen müssen bei jedem Wind und Wetter – ein
furchtbar aufreibender Dienst. Er meldete sich deshalb öfters nach
Flandern [?], obwohl er bei den bisherigen Diensten Gelegenheit hatte,
fast jeden Sonntag nach Kiel zu fahren - aber erfolglos. Er erlebte
allerlei während der Revolutionstage, ist aber immer glücklich durch
alle Fährlichkeiten hindurchgekommen. Er hat schon 4 - 5 Semester Jura
studiert, er will jetzt nach Marburg übersiedeln.
Mittwoch, den 23. April
1919
Am
Morgen Dienst bei Kriegsgerichtsrat Dr. Müller, am Nachmittag frei, weil
er mit dem General (Manroker [?]) eine Autofahrt hat. - So komme ich etwas
zum Lesen. Ich lese von Falke "Der Buddhismus in
unserem modernen Deutschen Geistesleben" zu Ende und bekomme so einen Einblick in die
gewaltige Macht des Neobuddismus, und außerdem beginne ich von
Sven
Hedin "Von Pol zu Pol"; Das Buch ist sehr fein zu lesen, man bekommt
einen feinen Einblick in seine fesselnden Reisen und Abenteuer. - Ernst
und Gerhardt sind heute in Gevensleben zum hamstern. Heute früh um
sieben fuhren sie vom Nordbahnhof nach Winnigstedt, der letzten Station
vor Matierzoll, gingen dann zu Fuß nach G. und blieben da bis gegen
Abend. Schwer beladen kamen sie um ½ 9 auf dem Hauptbahnhof an, hatten
in G. einen Ausweis für "Schulbesuch" bekommen.
Donnerstag, den 24.
April 1919
Flechsigs [?] ist ein Töchterlein geboren, die wahrscheinlich Giesela getauft werden soll. Am Abend BeKa. Wolfgang
spricht eine gute Stunde lang über die Anfänge Braunschweigs vom 6. bis
12. Jahrhundert, wobei er bes. auf den Dom, die Ulricikirche
(Kohlenmarkt), Jacobskirche (Jacobstraße / Eiermarkt) zur sprechen kam.
Seine Ausführungen waren reichlich ausführlich. (Hilfsdienst bei
Kriegsgerichtsrat Dr. Müller)
Freitag, den 25. April
1919
Ernst
sein Mitschüler Rust, der am Dienstag gestorben ist, ist heut Mittag
eingeäschert. Merkwürdiger Weise ist er, der ein Katholik ist, v. P. Lagershausen beigesetzt. - H. wie 24. - Am Nachmittag bin ich für
bis 4 ½ frei, schrieb an
Johannes einen Brief.
Sonnabend, den 26.
April 1919
H.
wie gestern. Am Mittag fährt Oberltn. Schmincke nach Wolfenbüttel
(Kollege vom Kriegsgerichtsrat) im Auto, wobei Seide und ich ihn
begleiten dürfen. Meine erste Autofahrt! Ich sitze neben dem Fahrer ein
herrliches Vergnügen. Die Strecke wird in etwa 13 Minuten zurückgelegt.
Eine mächtige Geschwindigkeit, und dabei geht die Fahrt so angenehm und
leicht vonstatten! - Am Abend inofficiel P.V. bei Kablitz
Wolfenbüttlerstraße. Es ist ganz nett, ein bisschen langweilig,
komment etwas. Beratung der Oberprimaner in das Freikorps, negative
Gesinnung.
Sonntag, den 27. April
1919
H.
wie gestern, heute nur am Morgen, bin aber im Dom. Am Nachm. ist Theo
Bodenstab da.
Montag, den 28. April
1919
H.
wie gestern. Um 12 Uhr hält ein Offizier Rummel im "Deutschen Hause"
eine Werbeversammlung für das Landesjägerkorps, das z.T. den
"Grenzschutz Ost" hat. Da die Bedingungen äußerst
günstig sind, möchte ich eintreten. Ich schreib schleunigst an Mutter
und bitte sie um Zustimmung; am Nachmittag erfahre ich von demselben
Herrn, dass auch die Unterprimaner der Michaelisabteilung zum Notabitur
zugelassen werden. Wie herrlich! Günstiger kann es gar nicht sein.
Hoffentlich meldet sich meine Klasse geschlossen. -
Die folgenden Wochen vergehen in größter Ungewissheit für mich.
Winderholt schreibe ich flehentlich an Mutter und bitte sie, ins Heer
eintreten zu dürfen. Aber sie bespricht sich mit Herrn
Missionsdirektor D. Paul, der ihr dringend abrät. Ich müsse tüchtig noch auf der Schule
lernen, denn gerade die Prima sei eine außerordentlich wichtige Klasse,
und wenn man dort den Unterricht versäume, bedeute das einen Nachteil,
der gar nicht im Verhältnis stände zu den Vorteilen, die der Eintritt
ins Freikorps böte. Erst wenn die von der Regierung anerkannte
Notwendigkeit besteht, darf ich eintreten. - Aber all diese Gründe
erscheinen mir durchaus nicht stichhaltig, und die Gründe, die Herr
Missionsdirektor mir persönlich in einem Brief ad oculos demonstriert,
kommen mir alle völlig nichtig vor, sie überzeugen mich noch lange nicht
und werden mich wohl auch nie überzeugen. Aber gewiss dem 4. Gebot habe
ich mich zu beugen, mag es mir auch noch so schwer werden. Vielleicht
ist es auch besser so.
Mai
1919
Donnerstag, den 1. Mai
1919
Heute
ist großer Nationalfeiertag - was Rechtes in dieser betrüblichen Zeit.
Frankreich trauert um seine gefallenen Söhne, und Deutschland tanzt und
jauchzt. Wann wird es aus seinem Taumel erwachen??
Sonnabend, den 3. Mai
1919
Jetzt
werden auch hier Gassperrstunden eingeführt. - Heute vor einem Jahr ging
Vater heim!
Sonntag, den 4. Mai
1919
Am
Morgen sind wir am Dom bei P. Fischer. Herr Domprediger ist ja jetzt im
Schwarzwald mit seiner Frau, um dort Heilung von seinem und ihren
schweren Lungenleiden zu suchen. Hoffentlich festigt sich seine
Gesundheit wieder, ich gönnte es ihm so. - Am Nachmittag treffen Ernst
und ich die Tanten Wolffs nicht zu Hause, - auf dem Rückwege gehen wir
über die Gartenstraße und Fuchstrenke (?).
Mittwoch, den 7. Mai
1919
Heute
werden die Friedensbedingungen bekannt. Wer lacht da?
Hindenburg hätte
viel Grund dazu, der sicher wie
Hannibal geweint hat, als die
Waffenstillstandsbedingungen herauskamen. Wenn jetzt noch solche Träumer
und Idealisten wie Herr Erzberger aus allen Wolken fallen und vor
Enttäuschung sich nicht zu lassen wissen, dann ist das ganz unglaublich.
Wer das nicht erwartet hat, dass die Feinde uns einen ganz
unerfüllbar schweren Frieden vorlegen, richtiger diktieren würden, der
weiß auch nicht, dass das Leben harte Wirklichkeit ist, wo der Feind den
Feind knebelt, dass er sich nicht rühren und muksen kann. Aber wir
werden ja sehen, ob die Feinde mit ihren maßlosen Forderungen doch nicht
über die Stränge geschlagen sind. Geduld hat der gutmütige Deutsche,
aber wenn es allzu viel ist, dann kann er auch grob werden. O dass doch
Deutschland "einig einig einig" wäre, wie der alte Atlinghausen im
Tell
ausruft. Mag uns Gott auch strafen für all die vielen Sünden, die unser
Volk auf sich geladen hat - er ist der Weltenrichter, der die Zügel der
Weltregierung fest in seinen Händen hat, dass all Lüge und Bosheit doch
nicht ewig siegen kann. Er, der Allmächtige, sollte nicht die Macht
besitzen, die Feinde zu Boden zu schmettern? Mag er auch jetzt noch mit
seiner Hilfe verziehen, aber seine Mühlen mahlen langsam, aber fein. Man
sehe doch die Weltgeschichte an! Das Volk Israel hatte oftmals die
Feinde im Lande, trotzdem ist es nicht untergegangen. Die Römer waren
die mächtigste Nation, unter ihrem Scepter beugte sich die ganze
damalige Welt - trotzdem ist ihre Macht dahingesunken, und heute gibt es
kein weltbeherrschendes Rom mehr. Nur Mut! Die Zeiten der Befreiung
werden kommen. Wann? Das weiß niemand, aber sie werden kommen, wenn
nicht in Jahren, dann in Jahrzehnten. Noch immer hat sich unser
Vaterland durchgerappelt durch all die vielen schweren Zeiten der
Heimsuchung. Wenn es in Verweltlichung untergehen wollte, würde es
gehörig gedrückt, so dass es Zeit hatte, über sich nachzudenken um sich
wieder auf die, tief in der Menschenbrust währenden edlen Triebe und
Anlagen zu besinnen, um sich unter die Hand des gewaltigen, strafenden
Gottes zu beugen, um dann wieder auf lichtvollen Höhen im Völkerleben
gehoben zu werden, besser sich zu heben.
Heute sah ich zum ersten Male
Hoffmann aus der UIII0 dessen
Vater Unterinspektor des Proviantamtes auf der
Hamburgerstraße (+ Reicherstraße) ist. Er ist ein bisschen dumm, ein
bisschen schläfrig, ein bisschen lustig. Ich muss ihm fünfmal Stunde
geben, in allen Fächern. Möchte ich ihm doch tüchtig weiterhelfen, dass
er auch ordentlich etwas lernt! Früher hatte ihr Meine Stunde zu geben.
Donnerstag, den 8. Mai
1919
Heute
habe ich Wehr aus der UIIIM zum 1. Male, ich muss ihm Griechisch geben.
Er gibt sich Mühe, und ich hoffe, ihm ordentlich etwas beizubringen. -
Um 8 B.K. Walter Lerche, der zum letzten Male da ist - er tritt dann bei
dem freien Landesjägerkorps ein - hält einen höchst gelehrten Vortrag
über "Schillers Weltanschauung" auf Grund seiner ästhetischen Briefe und
dergl. Ja, wer so Bescheid weiß, wie Walther!
Sonnabend, den 10. Mai
1919
Alle
Primaner, die ins Abitur gestiegen sind, haben es bestanden, außer
Meyer, der auf Prof. Ewers Rat heut noch zurückgetreten ist - was man
tut, erntet man! Am Abend Abschiedsfeier bei Kablitz (Wolfenbüttlerstraße).
Sonntag, den 11. Mai
1919
Im Dom
predigt Herr Missionarsdirektor Schofein [?], nur leider spricht er sehr
leise. Tante Liel ist seit Freitag wieder im Viktoria-Luise-Haus, weil
sie noch nicht angestellt ist hier in Braunschweig. - Am Nachmittag
findet bei Drude eine B.K. Vorstellung statt, wobei 110 M.
zusammenkommen für das B.-K. Ferienheim in Großenheidorn am Steinhuder
Meere. Zuerst fanden Musikvorträge statt, dann wurden allerlei Dinge
verkauft wie kleine Bilder und dergl. Darauf wird das
Bürgersche Gedicht
"Kaiser und Abt" vorgetragen, wobei Heinbert Drude der König war,
Wolfgang Drude der Abt, Eberhard Bosse Hans Bendix der Schäfer, und ich
der Vorleser der Zwischenzeilen und des verbindenden Textes. Schließlich
kam "Tante Eulalie", die durch ihre Verdünnungskur den größten
Heiterkeitserfolg hatte.
Dienstag, den 13. Mai
1919
Scheidemann erklärt in der Nationalversammlung die Bedingungen für
unannehmbar.
Am Abend wird Menking weggefeiert in Frühlingshotel, wo es
sehr nett war. Ja wie mag es Menking ergehen? Er wird sich wohl
durchschlagen, aber wie? Wird er so sarkastisch und bitter und hochmütig
bleiben wie er sich manchmal zeigt? Vielleicht glättet und feilt er sich
etwas. Sonst war er ja sehr nett im Verkehr, aber dem Christentum steht
er bewusst sehr fern, und er hat bloß Neckereien und Scherze dafür über.
Was nutzt ihm alle Klugheit, deren er sich wohl bewusst ist, und alles
Lernvermögen, wenn ihm das Beste fehlt? Vielleicht erkennt er noch
einmal, dass der Mensch Staub ist und dass er nichts durch eigene Kraft
kann, und vielleicht findet er dann doch noch den Weg zu Christus, dem
Heiland.
Mittwoch, den 14. Mai
1919
Heute
fahren die Primaner weg nach Nauenburg, wo sie ins Freiwillige
Landesjägerkorps eintreten, die Glücklichen! Werde ich auch noch ins
Freikorps eintreten dürfen??
Donnerstag, den 15. Mai
1919
Heute
vor einem Jahr ist Herr Dr. Jacobs gefallen. Wenn er dies alles erlebt
hätte, was sich im letzten Jahre abgespielt hat! Am Nachmittag geht
Tante Liel mit Gerhardt zum Doktor, weil G. so merkwürdige rote Flecke
seit einigen Tagen hat, und stellt Scharlach fest. Das ist höchst
unpassend, nun muss er für lange Wochen ins Bett, und Ernst und ich
können nicht die Schule besuchen und auch nicht mehr die
Nachhilfestunden geben - das ist sehr unangenehm. Nun müssen wir
natürlich Tante Anna tüchtig helfen.
Sonntag, den 18. Mai
1919
Ernst
und ich sind in der Jacobikirche bei P. Beck. Die J.-Kirche, die erst
1910 etwa fertig gestellt ist, ist als Predigtkirche erbaut. Ihr Inneres
gefällt mir aber nicht, vielleicht deshalb, weil es ganz andersartig
ist, als wie man bisher gewohnt ist. Die Predigt von P. Beck war im
Anfang ganz schön, nachher aber höchst seltsam. Eine solche "Predigt",
die mit einer Predigt herzlich wenig Ähnlichkeit hat, habe ich fast noch
nie gehört. Sie handelte über einen alttestamentlichen Text, in dem über
die Hungersnot geklagt wird - ein Wort, das für den heutigen Bußtag, der
vom Konsistorium als Trauertag festgesetzt ist, ganz gut passt. P. Beck
sprach über die Not unseres Volkes und führte in den drei Teilen seiner
Predigt aus, wie Deutschlands Niedergang verursacht sei durch die
Unselbstständigkeit (Vorbild: Handle wie Christus!), Die Uneinigkeit
(Vorbild zur Besserung: Germania (!!) und die Unmäßigkeit, die ganz kurz
abgemacht wurde und etwa mit folgenden Wort endet: "Alles mag untergehn,
Deutschland wird bestehen (!!!!) Amen." (!!!) Von der Predigt war ich
wenig erbaut, zumal da so viele Male politische Reden darin vorkamen.
Donnerstag, den 22 Mai
1919
Morgens
um 9 gehen Ernst und ich über den Prinzenpark nach
Riddagshausen, wobei
wir mehrere Aufnahmen, die ganz gut glücken machen. Auf dem Rückwege
gehen wir über den Friedhof, wo ich leider zwei Aufnahmen von Tante
Hermines Grabe verwackele.
Heute
werden die deutschen Gegenvorschläge eingereicht, über die man sich
teilweise freut, teilweise ärgert. Woher sollen denn die 100 Milliarden
herkommen? Nun ist man wirklich gespannt, was der Vierrat antwortet. Von
seiner Entscheidung hängt es ab, ob es einen gerechten Frieden gibt oder
wieder Krieg. -
Predigt im Dom. Pastor
Wischer, Wolfenbüttel, kläglich, zu allgemein.
Freitag, den 30. Mai
1919
Bin ich
in "Iphigenie auf Tauris" gewesen, was mir gut gefällt. Das Theater ist
sehr leer, auf dem Bims sind etwa sechs Menschen! -
Dienst antreten.
Leider kriegt sie einen Stadtteil, der am entgegensetzten Ende der Stadt
liegt, Madammerweg [?] - Salzdahlumerstraße, im ganzen 177 Straßen -
eine schöne Aufgabe, die alle zu betreuen! - Heute früh hatten wir
Scharfschießen bei der Landeswehr auf dem Schützenhause. Die
Landeseinwohnerwehr ist jetzt vor einiger Zeit eingerichtet und bewirkt
die Ruhe und Sicherheit der Bewohner. Damit sich die verschiedenen
Teilnehmer ertüchtigen, finden öfters Übungen statt, wöchentlich etwa
zweimal ungefähr eine Stunde, wo über das Gewehr instruiert wird und
dergl. Heute findet nun zum ersten Male Scharfschießen statt. Ich muss
erst 1½ Std. warten, bis ich dran komme. Die vier Schüsse, zwei sitzend
und zwei stehend, gehen alle vorbei, aber die Scheibe treffe ich doch
immerhin. Nachher muss ich zur Scheibe nach vorn und die Treffer
anzeigen, äußerst praktisch und sicher ist das eingerichtet. Die Kugeln
haben eine mächtige Durchschlagskraft, sie durchbohren zwei
hintereinander liegende Balken, zwischen denen noch eine Eisenplatte
liegt, ohne Weiteres. Um ½ 12 ist die Geschichte endlich fertig und ich
fahre mit Weichsels auf einen Wagen nach Hause. - In den ganzen Wochen
(14. - 26. Mai) hält Pastor Hahn-Reval nachmittags um vier Uhr
Bibelstunden über "Die Letztzeit und die Vollendung der Gemeinde Jesu"
unter hauptsächlicher Zugrundlegung der Offenbarung Johannis, und abends
Vorträge über "den Kampf des Lichtes und der Finsternis"; die
Bibelstunden gefielen Ernst und mir besser. - Im Lauf dieser Zeit müssen
Ernst und ich Tante Anna tüchtig helfen: Besorgungen machen,
Abtrocknen, Bettenmachen, Mohrüben schrappen, Spinat verlesen, Treppe
machen, abwischen, Kartoffeln waschen und abziehen, gründliches
Reinemachen, Umkramen unseres Börts u.s.w., u.s.w. Es gibt gehörig zu
tun, so dass wir höchstens die Zeitung lesen, und abends bisweilen
vorlesen, und zwar zuerst: Ingeborg Maria Sicke "Ein Blumenstrau?" und
dann Stutzers
"Lebenserinnerungen".
Juni
1919
Sonntag, den 1. Juni
1919
Nun
kann jetzt Tante Liel auch als städtische Säuglingsfürsorgerin
beschäftigt werden.
Freitag, 6. Juni 1919
Heute
endlich bringe ich den grauen Anzug v. Vater weg zum Färben, den Ernst
endlich in langer, mühseliger, einschläfernder Arbeit aufgetrennt hatte
- die in [...] dreifachen Nähte und ganz kleinen Stiche! - Heute
schreibe ich den Thomäschen Narrenbaum ab, den mir Onkel Johannes auf
meine Bitte geschickt hat, ein ziemliches Stück Arbeit.
Sonnabend, den 7. Juni
1919
Herr
Dr. Witte, der mal wieder da ist, sagt, Gerhardts Scharlach sei
erloschen, worüber wir über die Maßen erstaunt sind. So sonderbar auch,
dass sich Gerhardt nun doch nicht häutet! Nun heißt es Schularbeiten
machen, seit 10 Tagen habe ich ja kein Buch mehr ansehen können! Deshalb
sitze ich 2 - ¾ 9 an den Arbeiten.
Sonntag, den 8. Juni -
Pfingsten 1919
Im Dom
predigt P. Martens sehr fein über 2. [...] 1,7, wobei er besonders auf
die Kraft des Christentums hinweist. - Ich spiele wieder etwas Klavier,
wie fast alltäglich, jetzt schon 4 stimmig seit kaum 8 Tagen. Aber der
Bass ist doch scheußlich schwer, es dauert immer Ewigkeiten, bis man die
richtigen Töne f. die linke Hand hat, die rechte geht schon fast
mechanisch los. - Nach Tisch studiere ich im Harms "Vaterländischer
Erdkunde" die oberrheinische Tiefebene, wo ich nun endlich Bescheid
lerne über die vielen Städte Worms, Trier usw. und das andere
Geographische, was mir übrigens viel Spaß macht. - Nachher lese ich in Chamberlain´s "Grundlagen des 19. Jhrhds" die mir gut gefallen. Es ist
ein äußerst mannigfaltiges und reichhaltiges Buch, das ich äußerst Gern
lese. Allerdings finden sich hin und wieder einzelne Stellen, die mir
falsch zu sein erscheinen. Die Lektion ist äußerst anregend und klärt
allerlei Begriffe.
Montag, den 9. Juni, 2.
Pfingsttag 1919
Am
Morgen sind Ernst und ich mit Tante Liel bei P. Freise [?], der über
Apostelgeschichte 2,42 spricht: sehr allgemein, ohne bemerkbare Disposition,
man hat nichts Positives mit nach Hause zu nehmen. Am Nachm. ist Tante
Emilie da, ich frage sie nach dem Wagnerschen Stammbaum, den ich
notdürftig bis zu ihrem Vater zurück zusammenkriege. Außerdem studiere
ich eine alte Bibel von 1678, mit Hilfe welcher ich den Stammbaum ganz
hübsch vervollständigen kann (Kinder v. Johann Gottfried [...?].);
freilich ist die Schrift fürchterlich. - Am Abend bringe ich T. E. nach
Hause.
Dienstag, den 10. Juni
1919
Früh
morgens muss ich ein Paket zur Botenfrau Kühnast für Frau Siemann in
Gevensleben bringen, aber da sie verreist ist, treffe ich sie nicht. -
Gerhards Kammer wird desinfiziert - ein schönes Vergnügen! - Ich muss
wieder ganz gehörig Schularbeiten machen
Donnerstag, den 12.
Juni 1919
Nach
vier Wochen wieder Schule; allzu gut schmeckt sie mir aber nicht.
Sonnabend, den 14. Juni
1919
Im P.V.
spricht Wolfgang Sch. über Sasche [?] Schneider ganz fein, er zeigt
hauptsächlich Zeichnungen und dergl. von ihnen, die mir aber nicht allzu
gut gefallen; manche sind ganz schön.
Sonntag, den 15. Juni
1919
Die
Unsicherheit in der Stadt nimmt wieder zu. Die Matrosen werden frech und
unverschämt. Ein Putschversuch in der Nacht auf die Husarenkaserne wird
glücklich abgeschlagen. - Ernst
und ich hören in der Andreaskirche eine Predigt über Nikodemus, der uns
ganz gut gefällt. Es kommt zur Wiedergeburt nicht bloß durch die
Sehnsucht, sondern es muss der entschiedene Wille dazu treten. - Ich schreibe an Mutter den Geburtstagsbrief und
arbeite für die Religionsstunde einen kleinen Vortrag über den Irvingianismus aus. Nach dem Abendessen machen Ernst u. ich noch einen
kl. Spaziergang nach dem Bülten [?].
Montag, den 16. Juni
1919
Heute
Abend wird von dem Frieden in Versailles die Antwort an uns übergeben.
Was mag sie uns bringen, Krieg od. Frieden? -
Gerhardt muss sich wieder
zu Bett legen, weil er Schmerzen an den Fußgelenken hat. Hoffentlich ist
es nichts Schlimmes. - Da ich bei der Landeswehr bin, bin ich von vier
nachmittags Schulstunden befreit und brauche nur noch zu einer Turn- u.
zwei Hebräisch-Stunden.
Mittwoch, den 18. Juni
1919
Heute
stehen in der Zeitung die endgültigen Bedingungen der Feinde.
Haarsträubend, fürchterlich, entsetzlich, ganz ganz unbeschreibbar,
"statt Versöhnung Verhöhnung". Du armes Deutschland, Du liebes
Vaterland. Und doch! Die Zeit der Rache wird kommen - denn wehe Dir, oh
wehe Dir, Franzosenblut, dann wehe allen Feinden. Und die Stunde der
Erhebung wird für Deutschland kommen. - Werden wir unterzeichnen? Was
sollen wir andres tun? Sollen wir aber in diesen Schandvertrag
einwilligen? Geduld - bald wird es die Regierung schon bekannt geben.
Was wohl Herr Scheidemann jetzt denkt, er der noch vor kurzem sagte:
"Die Hand, die diesen Vertrag unterschreibt, verdorre!" Oh es ist ein
namenlos weher Gedanke, wenn man daran denkt, wie vor einem Jahr noch
alle Hoffnung auf Sieg vorhanden war, und wie wir jetzt in die tiefsten
Tiefen hinuntergedrückt und gestoßen werden. Wird Deutschland nun
endlich, endlich aufwachen und zur Besinnung kommen. Spät ist’s dazu -
zu spät! -
Heute haben wir zum 1. Male in diesem Jahre Hitzeferien.
Diese Dürre u. Trockenheit - wenn es doch regnen wollte!
Donnerstag, den 19. Juni
1919
Im
B.K.
spricht Alfred Hünek über "Gerhart Hauptmann".
Er wurde am 25.11.1862 in Salzbrunn geboren als der jüngste Sohn gottesfürchtiger Eltern. Seine
Mutter war eine gute Hausfrau und gute Mutter. Sie hatte festen Glauben
an das Evangelium. Er war ein schlechter Schüler und kam, nachdem seine
Eltern die Gastwirtschaft aufgegeben hatten, mit 15 Jahren aufs Land zu
Verwandten, wo er auch streng religiös erzogen wurde. Aber Gerhardt
wurde kein rechter Christ, soviel er auch rang und kämpfte. Er begann
dann nacheinander verschiedene Berufe (Landwirt, Bildhauer Schauspieler,
bis er dann seinen Dichtergeist entdeckte. In seinen Werken führt er uns
viel Elend und Jammer vor, wie er es auf seiner Reise nach Italien
kennen lernte. Dann ging Hüneke noch ganz kurz auf Hauptmanns Werk ein.
Freitag, den 20 Juni
1919
Die
Regierung hat bis auf Ebert abgedankt
- und wie hat sie auf den Kaiser
geschimpft, als er abgedankt wurde, trotzdem er selbst es nicht wollte!
Nun lassen sie ihren Posten im Stich und lassen den Karren im Dreck
stecken. Wenn doch endlich mal Festigkeit in die Regierung käme! -
Herr
Eggers hat sich jetzt 2 kl. Schweine zugelegt, die am Tage in der
Plättstube und nachts in der Laube hausen. Demnächst sollen sie in
die noch auszuräumende hölzerne Laube.
Sonnabend, den 21. Juni
1919
Die
herrliche Regierung kann sich immer noch nicht einigen, bes. weil Herr
Erzberger Bedenken immer wieder hat. Sie schwankt, nachdem glatte
Ablehnung für sie erledigt und unmöglich zu sein scheint, zwischen einer
bedingungslosen und "bedingten" Annahme. Was mag aus diesem hässlichen
Chaos herauskommen? Warum wir bloß nicht ablehnen wollen! Dann wäre doch
wenigstens unsere Ehre gerettet! Den allerallerschwersten Zeiten sehen
wir so oder so doch entgegen. -
In einer Pause (?) ist Schminck [?] aus
Nauenburg da. Ihm und seinem ehemaligen Mitschüler gefällt das
Soldatenleben (sie sind Artilleristen) ganz ausgezeichnet. - Am Abend
findet im Keglerheim zunächst ein Vortrag von Herrn Prof. Ticius aus
Göttingen statt über die Trennung v. Staat und Kirche, und daran
anschließend eine Runde v. P. Schonburg [?] über den Schritt des
Landtags, der 4 Männer bestimmt hat, die die rechtlichen Angelegenheiten
ordnen sollen. Er be[...], manchmal mit sichtlicher Ironie, P. Goetze,
der im Gegensatz zu ihm diese Trennung als ein Unglück bezeichnet. -
Nachher ergriffen noch mehrere Redner für und gegen P. Schaumburg und
Götze Partei - es war eine recht unerquickliche Sache das
Pastorengezänk! - Erst um ½ 1 war die Geschichte zu Ende!
Sonntag, den 22. Juni
1919
Die
deutsche Regierung hat jetzt nach langem hin und her ihre Einwilligung
zu einer "bedingten" Unterschrift gegeben. Wo geht es mit Deutschland
hin? -
Der
Remenhof ist abgebrannt, wie betrüblich! Es ist wirklich sehr
bedauernswert. Im Dezember hatte unser B.K. noch die Weihnachtsfeier
dort! - Ich studiere etwas Kopernikus, Gallilei, Keppler u. Newton - Am
Nachmittag bin ich mit Ernst bei Herrn Missionsdirektor v. Schwartz, wo
ich für Prof. Lippelt eine Bestellung ausrichte - Er erzählt von seinem
Zusammensein mit Mutter während des Missionsfestes. -
Montag, den 23. Juni
1919
Wir
unterzeichnen auf eine ablehnende Antwort hin, die die Feinde uns haben
so schnell zukommen lassen, "bedingungslos" !! Nun unterschreibt
Deutschland sein eigenes Todesurteil - wo will das hin! Aber die
Deutschen Matrosen haben noch ein bisschen deutsche MannesMannsehre
gerettet - sie haben unsere stolze Flotte, die unter dem Feinde verteilt
werden sollte, versenkt in der Bucht von
Scapa-Flow, wo sie vor Anker
lag. Sie wussten, was es heißt: "O Deutschland hoch in Ehren ...". Heil
ihnen den braven, wackeren Helden! -
P. Lichtenstein hält in der Aula
eine ergreifende Ansprache
Dienstag, den 24. Juni
1919
Am
Nachm. Missionsfest in Rettungshausen [?]. Als erster Redner spricht
Onkel Mayner über die "Entwicklung der Madrasgemeinde" und als zweiter
Herr Lic. Trittelwitz, Bethel, über "Pastor von
Bodelschwings Lebenswerk
im Lichte der Gegenwart", beides sehr feine Vorträge. Mit Onkel Mayner
spreche ich nachher noch.
Donnerstag, den 26.
Juni 1919
Während
der B.K.- Stunde gehen [...?], die beiden Wolfgänge, Ernst
und ich in den Bürgerpark spazieren und unterhalten uns sehr fein. Das
Hauptthema "die Mädchenfrage" wird rasch erledigt. Im
B.K. Boten standen
immer alte lange Geschichten darüber drin. Wir kamen zu dem Schluss,
dass das Tanzen an u. für sich durchaus nicht verwerflich sei, sondern
in den richtigen Grenzen gehalten wohl zu billigen sei. Im Übrigen muss
es jeder selbst wissen, ob ihm der Verkehr mit den Mädchen richtig zu
sein scheint oder nicht. Aber strikte ein für allemal nur zu brüllen,
ist verkehrt.
Freitag, den 27. Juni
1919
Ich
gehe mit Tante Liel zur "Arbeitsgemeinschaft" - Stunde zu P. Schonburg,
wo er über die "Entstehung des modernen Weltbildes (Kopernikus - Kepler
- Galilei - Newton) spricht. Wenn es auch an u. für sich ganz nett ist,
so ist es mir doch recht fraglich, ob ich wieder zu ihm hingehe, weil er
mir zu weit nach links steht. - Um ½ 7 ist bei der Landeswehr
Probealarm, freilich nicht durch Alarm, sondern vorher schriftlich
angekündigt. Es ist ziemlich quaselich, wenns richtiger Alarm, u.
noch dazu Nacht wäre, würde es ein wunderbares Gemuse werden. Nun weiß
jeder, wo er sich im Ernstfall aufstellen muss.
Sonnabend, den 28. Juni
1919
Im P.V.
(Holst´s Garten) spricht Haferburg über Richard Wagners Musikwerk, wobei
ich am meisten lerne, als er einen kurzen Lebensüberblick gibt. Sonst
ist der Vortrag viel zu lang, dauert fast eine Stunde! Nachher wurde
etwas gekegelt. - Heute um drei Uhr ist in Versailles der Friede
unterzeichnet!!
Sonntag, den 29. Juni
1919
Der
letzte Schulsonntag! Ernst u. ich suchen eifrig und lange im Fahrplan
die Strecken nach Belitz u. Essen auf. - Es ist Trauersonntag heute
anlässlich der Unterschrift unter den Schmachfrieden. - Wir sind im Dom,
wo P. Fischer - Wolfenbüttel fein predigt.
Juli
1919
Dienstag den 1. bis
Mittwoch, den 2. Juli 1919
Ich
habe nachts Wache bei der Konservenfabrik v. Struck in Gliesmerode 9 - 4
Uhr. Wir 13 Mann werden in zwei Abteilungen geteilt, von denen ich mit
der einen Perteir [?] 11 - 1 und ½ 3 - 4 auf Posten drei aufpassen muss.
Die Stelle ist ziemlich unangenehm, aber es verläuft alles ganz ruhig,
und es steigt auch niemand über die Mauer. Als ich um ½ 5 zu Hause in
die Klappe krabbele, bin ich redlich müde, und am Morgen schlafe ich
halb in der Schule. Mittwoch nachm. habe ich zum 2. Male Scharfschießen
im Schützenhause. Von fünf Malen treffe ich dieses Mal wenigstens ein
Mal (Ring 18 etwa).
Freitag, den 4. Juli
1919
Heute
gibt’s Sommerferien. In der Aula sagt Dittmar ein Gedicht her, wobei er
eine mächtige Stimmkraft entwickelt. Er könnte reinweg noch einmal
Volksredner werden! - P. Lichtenstein gibt mir die Literaturgeschichte
von Buchmann, mit deren Hilfe ich einen Vortrag über "Lessings Stellung
zum Christentum" halten soll. Die "Wolfenbüttler Fragmente" kann ich
leider nirgends auftreiben. In der Schulbibliothek zu fragen ists zu
spät. - Am Abend 8.35 fährt Ernst weg nach Mecklenburg. Wie wir später
erfahren, hat er in Berlin infolge einstündiger Verspätung den Anschluss
nicht mehr erreicht und ist dann über Stettin gefahren um aber noch am
Sonnabend 4. Klasse nach
Groß-Wüstenfelde zu gelangen. Dort kam er dann Sonnabendabend etwa um sechs an!
Sonnabend, den 5. Juli
1919
Gleich
nach dem Mittagessen gehen Gerhardt und ich mit dem kl. Wagen nach
Riddagshausen, wo wir von einem zum Gutsgarten gehörigen Felde ein
Zentner Erbsen holen. Ich lese Lessings "Über den Beweis des Geistes und
der Kraft".
Sonntag, den 6. Juli
1919
Am
Morgen Garnisonkirche. Am Nachm. lese ich Lessings "Nathan d. Weise"
unten in der Laube halb.
Montag, den 7. Juli
1919
Vom
frühen Morgen bis zum späten Abend machen wir alle die Erbsen aus - ein
schönes Stück Arbeit, aber wir werden doch fertig. Am Abend begießen wir
Gerhardt u. ich den Garten von Prof. Winries [?] – eine feine Arbeit.
Dienstag, den 8. Juli
1919
Ich
mache mich gehörig dahinter, Nathan u.s.w. zu studieren. Ich sitze die
ganzen nächsten Tage dabei, Lessings Werke zu durchstöbern, so weit sie
etwas mit dem Christentum zu tun haben - es ist eine tüchtige Arbeit.
Dafür lernt man aber auch von Lessing viel kennen. - Am Mittag kommt
Tante Tilly zu Besuch. Sie ist auf der Heimfahrt nach Erbstorf. Sie
fährt morgen früh wieder weg.
Mittwoch, den 9. Juli
1919
Früh um
¾ 5 bringe ich Tante Tilly zum Hauptbahnhof. Dann mache ich mich wieder
an den Vortrag, studiere hauptsächlich "Ernst u. Falk" (Freimaurer) Am
Nachm. stellen wir alle Tante Liels Möbel aus Tante Webers Wohnung unter
die dortige Bodentreppe, auf T. Webers Bitte. Dann kommt der brummige
Hauswirt dazu, ein Scheusal in Menschgestalt, der uns ½ auffrisst. Unter
Schimpfen befiehlt er uns, die Möbel sofort wieder wegzubringen, was wir
dann auch besorgten. Komisch, dass er auch gerade etwas unter die
Bodentreppe stellen wollte!! Pfui, wie kann man so hässlich sein!
Donnerstag, den 10.
Juli 1919
Ich
lese hauptsächlich "Die Erziehung des Menschengeschlechts" v. Lessing.
Gegen Abend besuche ich Tante Emilie und Dr. Müller. Sein Vater liegt
schwer krank im Marienstift, die Operation wegen Darmverschlingung vor 3
Wochen etwa ist gut verlaufen, nun ist noch ein Blasenleiden dazu
gekommen.
Freitag, den 11. Juli
1919
Wann
wohl endlich eine Einladung von Onkel
Friedrich kommt? Ich warte mit
brennender Ungeduld! Nach Hohenfelde bin ich von Wiens [?] nicht
eingeladen, weil sie noch Angst vor dem Scharlach haben!! Das ist recht
weit getrieben - Ich bringe den Vortrag in Kladde fertig und übertrage
ihn auch schon fast ganz in Reinschrift. - Am Nachm. besuche ich Tante Dettmer, der es jetzt schon etwas besser geht.
Sonnabend, den 12. Juli
1919
Um ¼ 8
kommt von Onkel Friedrich ein Telegramm, ich möchte nun baldmöglichst zu
ihm kommen. Endlich! Ich gehe zur Auskunftsstelle der Bahn u. erfahre,
dass ich am besten 12.
23
fahre u. dann nachts ½ 1 in Lüdenscheid
ankomme. 5 Minuten vor 12 rase ich mit Gerhard von zu Hause weg,
erreiche die Straßenbahn im allerletzten Augenblick u. komme dann noch
ganz gut hin. Die Fahrt ist ganz schön, zuweilen erwische ich auch einen
Sitzplatz. In Hannover, Hamm u. Hagen muss ich umsteigen, verpasse in
Hamm durch Verspätung den Anschluss, erreiche aber durch einen
glücklicherweise ¾ Std. später fahrenden Eilzug doch noch in Hagen die
Verbindung. In Lüdenscheid weist mir ein Fabrikarbeiter den Weg, der
meint, ich wollte in der Klinik wohl meine Frau besuchen (!). In der
Nacht (genauer am Morgen, ich komme erst ¾ 1 an - schlafe ich auf einem
Langstuhl in der Wohnstube. Künftig schlafe ich in der Gastwirtschaft v. Prapenstock-[?] auf der Thünenstraße.
Sonntag, den 13. Juli
1919
Zunächst eine Charakteristik einiger Personen hier: Onkel Friedrich hat
sehr viel zu tun, er ist sehr lieb gegen mich. Herzelein (Else) ist ein
richtiges Herzelein, nur manchmal ist sie frech u. ungezogen.
Liselotte
ist auch nett, nur ist sie dösig. Aber ich mag sie alle gern. Fräulein Hallerstede, ihre Lehrerin, ist ganz nett, nur viel zu nachsichtig und
labrig. Es steckt gar kein Muck und Schwung dahinter. Sie besitzt gar
nicht die erforderliche Autorität. Freche Antworten dürfte sie sich doch
nicht gefallen lassen, und L. u. H. müssten ihr doch eigentlich auf´s
Wort gehorchen! Frau Ruß ist eine brave und biedere Frau, zwei
Jahre schon schwingt sie das Küchenscepter als Haushälterin, sie ist für
Onkel Friedrich geradezu unentbehrlich, so tüchtig ist sie. Gegen H. u.
L. ist sie auch zu nachsichtig. Sie ist ein nettes, freundliches
Menschenkind, aufs Eifrigste darauf bedacht, mich tüchtig zu füttern und
verwöhnen mit allen nur denkbaren Genüssen. Ich soll ja tüchtig
zunehmen. Mal sehen, wie viel, jetzt wiege ich 113 Pf. - Ich lese
"Lebrecht Hühnchen", ein ganz herrliches Buch, voll wundervollen Humors,
ganz herrlich. Dann schreibe ich mit Onkel Friedrichs Schreibmaschine
"Erika".
Montag, den 14. Juli
1919
Ich
mache einen Schlender durch die Stadt, gehe zuerst zum Friedhofe zum
Grabe von Tante
Melanie, und dann an der Christuskirche vorbei, die
Knapperstraße (Hauptverkehrsstraße mit d. Wilhelmsstraße) herunter
u.s.w.
Dienstag, den 15. Juli
1919
Onkel
Friedrich muss die Zentralheizung anmachen lassen, so kalt und
unfreundlich ist es! Mit dem Onkel, der das besorgt, unterhalte ich mich
eine Zeitlang. Er erzählt mir sogar seinen Lebenslauf: Als Knabe war er
äußerst schwächlich gewesen, hatte erst sehr spät laufen gelernt und
spät auf die Schule gekommen. Als er zum ersten Male auf der Musterung
war wurde er als viel zu schwächlich abgewiesen, und dann das nächste
Mal zur Infanterie geschrieben - so war er erstarkt. Jetzt würde er gern
in der Fabrik feste arbeiten, aber das verbietet ihm sein alter u.
gebrechlicher Körper. - Am Nachmittag mähe ich die beiden Rasen mit der
Mähmaschine ab, wobei ich tüchtig ins Schwitzen komme. Aber Spaß macht’s
doch. Ich gehe mal zum Bismarkturm.
Mittwoch, den 16. Juli
1919
Ich
lese jetzt vorläufig im Chamberlain (Grundlagen ...") des Kapitels 5
über den "Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte". Es ist
sehr schwere Lektion, Ch. drückt sich oft sehr schwer verständlich aus
infolge seiner vielen Fremdworte, die er leicht vermeiden könnte, und
des umständlichen Satzbaues. Aber wenn man sich hineingelesen hat,
geht’s ganz gut und macht Spaß. Eine Menge lernt man kennen durch diese
Lektüre, auch was allgemeine Wichtigkeit hat. - Nach dem Kaffee gehe ich
mit Lieselotte spazieren: Gartenstraße - Neuenhof - Hemeck [?] -
Homert - (vom Aussichtsturm haben wir eine ganz schöne Fernsicht) - Lon {?} - Westerfeld - Ldschd. Unterwegs finden wir noch allerlei
"Waldbeeren" (- Heidelbeeren).
Donnerstag, den 17.
Juli 1919
Nachdem
Frühstück mache ich einen dreistündigen feinen Ausflug: Ldschd -
Hellersen - Brenneck [?] - im
Versetal aufwärts nach
Brüninghausen,
durchs ganze Dorf hindurch bis zur Kirche - dort links ab einen
prachtvollen Höhenweg - NO um
Leifringhausen herum - Schlittenbahn -
zurück. Ich lese nachher z.T. von
C.F. Meyer "Die Hochzeit des Mönches",
eine konfliktreiche Geschichte, die aber einen befriedigenden Ausgang
nimmt.
Freitag, den 18. Juli
1919
Ein
Tagesausflug nach Altena: Schon um ¼ 9 mache ich mich auf, trotzdem das
Wetter unsicher ist. Aber es klart sich auf nachher. Ich gehe an der
Christuskirche vorbei, dann Mark - Heerweise - Freisenberg - Römerweg
(ein herrlicher Höhenweg) Schnarüm -
Großendrescheid - Tal des Brachtenbeck -
Brachtenbeck (herrlich! Die Blicke das Tal hinauf herrlich, die Sonne
bricht durch) - Am Halse - Altena (kl. Pause) (schlängelt sich ganz an
der Lenne entlang) - Höhenweg (herrlicher Ausblick nach Altena und dann
ins Rahmede- und Lennetal) sehr steil nach Bergfeld - Horst - NO um
Brunscheid - Bellmerei - Worth - zurück. Um ½ 4 war ich wieder zu Hause.
Ein herrlicher Weg!
Sonnabend, den 19. Juli
1919
Ich
lese "Licht u. Leben". Am Mittag fahren
Liselotte,
Herzelein und ich zu
Tante
Käthe nach
Essen, und zwar ab 12.
58
und sind um 5.00
da. T. K.
zeigt uns etwas die Stadt (Rathaus, Münster) und führt uns in eine
Konditorei, wo wir Leckeres zu essen kriegen. Wir 4 werden
photographiert!. Schließlich fahren wir mit der Straßenbahn zur
Gudulastraße, wo Tante Käthe eine hübsche dreizimmerige Wohnung hat. Ich
lese dann in ihren schönen kunstgeschichtlichen Büchern. Am Abend nach
dem Essen unterhalten wir beide uns noch traulich, - es ist einfach
herrlich. Nachdem ich dann in einem Bette geschlafen habe, was
Hederichs, die Wirtsleute, mir eingeräumt haben, ist es
Sonntag, den 20. Juli
1919
geworden. Das Wetter ist leider so schlecht, dass wir nicht zusammen
losziehen können. Nachdem ich eine herrliche, prachtvolle
Haferflockensuppe mit Schokolade und dann Kuchen vertilgt habe, gehe ich
in die Erlöserkirche, wo P. Johannsen eine herrliche, kraftvolle Predigt
über Lukas 9,19-27 hält. Die Erlöserkirche, eine Predigtkirche in einem
romantischen Stile gefällt mir gut, viel besser als z.B. die
Jacobikirche in Braunschweig, die ja auch eine Predigerkirche ist. -
Darauf gehe ich zur Margarethenhöhe im SW von Essen dies ist ein neuerer
Ort, in dem die Beamten von Krupp angesiedelt sind. Die Häuschen sind
sehr anheimelnd, ganz wonnig. Die Straßennamen sind nett, z.B. Daheim.
Auch ein Markt ist dort. So freundlich und abwechslungsreich, und doch
so einheitlich - wirklich da möchte man wohnen! Nach dem Mittagessen, wo
sogar noch etwas übrig bleibt, müssen wir 3 noch etwas fürs Gästebuch
dichten und dann gibt’s noch feine Torte. Eh wir zur Bahn gehen,
besuchen wir eine Freundin v. Tante Käthe, Frl. Regier [?], eine
äußerlich etwas rauhe, aber doch herzensgute Dame. Sie füttert uns auch
mit Kuchen, packt mir gleich in ihrer Güte 3 Stck. Kuchen auf, so dass
ich mir beinahe den Magen verderbe. Die Rückfahrt geht sehr schnell
vonstatten: 4.
31
- 6.59. Zu Hause lese ich die bd. ersten Kapitel v.
Hanne Nüter (Reuter). Am Abend stirbt Frau Neuerburg nach dreiwöchiger
Krankheit, derentwegen Onkel Friedrich nicht in die Ferien fahren
konnte.
Montag, den 21. Juli
1919
Es
regnet. Am Nachm. machen die Unabhängigen einen Demonstrationszug. Ich
säge zwei Äste v. einem Baum im Garten ab, nachdem ich einen
"herrlichen" blauen Anzug übergezogen habe.
Dienstag, den 22. Juli
1919
Es
regnet. Am Nachm. kommt P. Schnalenbach [?] aus Schalksmühlen zu Besuch,
ein fröhlicher, ulkiger Mensch, den man gleich gern haben muss. Am Abend
sind Schwester, Frau Reuß u. ich in einem "Sinfoniekonzert", das mir
sehr gut gefällt.
Mittwoch, den 23. Juli
1919
Es
regnet. Ich schreibe mit der Schreibmaschine an Tante Anna u. Johannes.
Donnerstag, den 24.
Juli 1919
Die
Sonne ringt sich durch. Ich gehe gegen 9 weg: Am Ende der Gartenstraße
hole ich einen leeren Ackerwagen ein und auf meine Bitte hin darf ich
mitfahren: Am Neuenhof vorbei; W der Ho[...?] (steige dort aus), ins
Jubachtal hinunter - An der
Jubachtalsperre vorbei (Höhe der Dammauer
über 30 m) - Vollme - Vollmetal abwärts viele Wassermühlen - bis
Bollwerk, von dort NO durch Altenlüdenscheid - Oberwinterbeck -
Reininghausen - W Neuenhof und so zurück. Gerade gegen eins kam ich zum
Mittagessen. Am Nachm. gehe ich mit Frl. Hallerstede in der Richtung
nach Oberahmde [?] über Schafsbrücken [?] und suche Heidelbeeren. Der
Erfolg ist allerdings ziemlich kläglich. Am Abend kann ich eine Ruhe vom
[...?]stock haben, weil ich künftig hier schlafen kann, u. zwar auf
Zimmer 7, ein schönes, prächtiges Gemach! Übrigens ist heute früh Onkel
Friedrich nach München abgereist, wo er den ersten Teil seiner Ferien
verbringen will.
Freitag, den 25. Juli
1919
Es regnet. Ich lese von
Hans Wegener ein nettes Buch
"Wir jungen Männer". Ich schreibe Briefe nach Dornhennersdorf,
Hohenfelde u. an die Tanten Wolffs.
Sonnabend, den 26. Juli
1919
Trübes
Wetter. Am Nachmittag mache ich einen 2½stündigen Spaziergang: An der
Schmalspurhaltestelle vorbei - Schafsbrück - Oberrahmede - Neuenweg -
Dünnebrett - hückingen Rahmede - Altroggenrahmeden [?] Fülbecker [?]
Talsperre Hückingen - östlich von Gottwerk [?] (353) – Kirchhahn [?] -
westlich Buschhausen (407) - östlich Vogelberg direkt nach Soden [?] und
so zurück. Es war ein tüchtiges Stück, und ich musste mich gehörig
heranhalten, um zeitig zurückzukommen. Gleichwohl kam ich erst, als mit
Abendbrot begonnen war.
Sonntag, den 27. Juli
1919
Ich
fahre morgens 7.
20
ab Lüdenscheid und bin 9.31
in
Witten, wo ich von
Onkel
Johannes,
Evchenund Maria u.
Hans abgeholt werde. Evchen
und Maria hätte ich kaum wiedererkannt, und die übrigen Vettern kannte
ich noch nicht. Hans ist ein netter Bengel, er ähnelt Onkel Johannes;
Hartwig
scheint der Unglücksrabe zu sein: er hat einen breiten Mund, eine
Stupsnase, schielt und ist auch etwas schwerhörig; aber er ist auch
nett. Erika, mein erstes Patenkind, hat blaue Äuglein, dichtes
bräunliches Haar und wiegt acht Pfund. Evchen scheint ein bisschen
dösig zu sein wie Liselotte, und Maria ist frisch. - Nachdem ich das
Haus kennen gelernt und gefrühstückt habe, holt Onkel Johannes mit mir Tante Käthe
von der Bahn ab, die dann mit Frl. Wullenweber, die Mitpate ist, die
Zimmer mit herrlichen Blumen und Efeuranken festlich schmückt. Über eine
Kommode decken sie ein weißes Laken und richten so einen Altar her, der
durch Rosen und zartes Grün einen hübschen Schmück erhält. Onkel
Johannes zeigt
mir das Martineum, das jetzt unten für die Zwecke der
Lebensmittelkartenverteilung eingerichtet ist. Am Nachmittag lassen die
geladenen Gäste ziemlich lange auf sich warten, so dass erst um ¼ 5
statt um 4 die Taufe vorgenommen werden kann. Onkel J. spricht über 1.
Joh. …, wo er den Wunsch ausspricht, das Erika recht viel von der Liebe
Gottes erfahren möge. In der sich nach einem von O. J. mit dem Klavier
begleiteten Gesänge von Evchen, Maria u. Hans findet die eigentliche
Taufhandlung statt, bei der ich Erika als der jüngste Pate tragen muss.
Sie schreit nur wenig und strampelt mit ihren kleinen Ärmchen und
Beinchen ganz wonnig. Außer mir und Frl. Wullenweber sind noch Paten: ?
Nach der Taufe wird an einer langen Tafel Kaffee getrunken, zu dem von
verschiedenen Bekannten Kuchen und Torten gestiftet ist. Als Gäste sind
noch da u.a. Frau Prof. …, die schon 82 Jahre alte ist, P. Deppe, P.
Nölle, Pastor Wilms (sein Sohn Ernst, etwas älter als ich, hatte 1917 die
Ferienfahrt mitgemacht; jetzt lernt er in einem Jahr Griechisch und ½
Jahr Hebräisch nach, in Bethel - eine ganz gehörige Arbeit!) sämtlichst
mit Frau. Onkel Johannes hält eine kleine Rede, in der er den Namen
Erika
Dorothea (nach Erich, Gottesgeschenk) begründet. Er weist darauf hin,
dass bei seinem kommen nach Witten seine Kinderschar ¼ Dtzd. jetzt ½
Dtzd. umfasste, u.s.w. Pastor Wilms als der nächste Redner, "der greise
Senior v. Witten", wie er scherzweise genannt wird, erzählt, wie er
schon früher oft mit staunender Bewunderung Artikel und Schriften von
einem Pastor Thomä gelesen habe, der sich immer besonders hervorgetan hätte.
Als dann dieser Thomä nach Witten gekommen wäre, hätte er sich diesem
großen Geist zu nähern versucht und hätte auch herzliche Freundschaft
gefunden, u.s.w. Nun komme ich an den Tanz und muss reden im Namen der
Paten; vorher sagt mir Frl. Wullenweber sehr fein, was ich ungefähr
sagen kann, und dann lege ich los. Ohne Steckenbleiben fraß ich mich
dann auch allmählich durch. Am Abend werde ich von Pastor Deppe
eingeladen, um die Nacht bei ihnen zuzubringen. Es kommt am Abend
Besuch, darunter ein äußerst lustiger Herr, der nichts mit ernstem
Gesichte erzählen kann, denn überall macht er seine Witze - man konnte
sich manchmal schütteln vor Lachen.
Montag, den 28. Juli
1919
Heute
geht Onkel Johannes mit mir die Ruhrstraße, dann links ab am Hause von
Pastor Richter vorbei zum Hohenheim, von wo wir eine feine Aussicht nach
allen Richtungen, besonders das Ruhrtal aufwärts und abwärts und hinüber
nach Bommern haben. Onkel Johannes und ich unterhalten uns sehr viel über
allerlei, wie lang haben wir uns auch nicht gesehen! und wenn, dann nur
im Vorbeihuschen. Am Nachm. nach dem Kaffee gehe ich zu Deppe´s hinüber,
und Frl. Anna Deppe ging mit ihrem jüngeren Bruder
Martin und mir zum Rudern auf die Ruhr zu einer Anlegestelle an der
Ruhrstr. Von dort rudern wir sehr fein erst den toten Arm entlang, unter
der Ruhrbrücke hindurch, die jetzt noch im Entstehen begriffen ist, die
Ruhr dann aufwärts bis zu einer Insel. Von dort dann zurück. 1 ½ des
Weges rudere ich mit und merk mit Freuden, dass ich es einigermaßen
kann. Die Nacht über schlafe ich wieder bei Pastor Deppe, der sich erboten
hat, mich noch eine Nacht zu beherbergen. Übrigens ist Frl. Anna Deppe ein
frisches, fröhliches Menschenkind, die ihren Mund auf dem rechten Fleck
sitzen hat.
Dienstag, den 29. Juli
1919
Ich
gehe die Ruhrstraße abwärts - über die Ruhrfabrik (dort wird noch
Brückengeld erhoben, u. zwar 20
Pf. für die Person. Da ich frage, wie viel
Menschen die Brücke beidgleich benutzen, erfahre ich, rund 10 - 13 000,
das bringt im Jahr, wenn man täglich 1150 Menschen durchschnittlich
rechnet, eine Einnahme von 83 950 Reichsmark!) - Bommern - Wengen - am Wasserturm
vorbei - Bommern - zurück. Am Nachmittag lese ich den Schreifritz. Nach
dem Kaffee sitze ich mit Tante Marg. gemütlich zusammen - O. J. ist
schon am Mittag dienstlich nach Hagen gefahren - und fahr dann 6.
34. -
6.59
nach Hagen, wo ich mich mit Frl. Hellerstede vor dem Theater
treffe. Dort genießen wir in vollen Zügen die Oper "Der Freischütz", das
Theater ist sehr hübsch ausgestattet, aber ist ziemlich klein. Aber die
Darsteller sind doch, von Max abgesehen und den andern Hauptrollen,
ziemlich schwach in der Stimme, und die Bühnenausstattung ist natürlich
auch schlichter. Am Abend fahren wir 11.10
- 12.31
zweite Klasse zurück
Mittwoch, den 30. Juli
1919
Es
regnet. Ich schreibe an Dr. Müller und entsteine am Mittag eine Anzahl
Kirschen aus mit einem sehr praktischen Instrument.
Donnerstag, den 31.
Juli 1919
Liselotte und ich fahren 10.
20
über Altenau und Letmathe nach
Iserlohn
(12.17) und gehen dann auf Liselottes Wunsch zunächst zu Frau Möller,
einer früheren Kranken von O. Friedrich, die v. Liselotte u. Herzelein (Else) sehr ins Herz geschlossen ist. Nach längerem Suchen
erfahren wir, dass sie nicht Iserlohner-, sondern Hagenerstraße wohnt.
Wie zu erwarten, platzen wir ins Mittagessen hinein, bekommen aber
nichts, weil Gassperre 1 - 7 (!) ist. Wir vertilgen einiges von den
Broten und gehen dann in Begleitung von Frau Möller und ihrem kl. Neffen
zur Dechenhöhle, einer Tropfsteinhöhle, in 1 Std. Diese ist 300 m lang,
und ist erst um 1865 durch Zufall entdeckt von Bahnarbeitern, die ein
Werkzeug verloren hatten. Die Höhle zeigt außerordentlich viel fesselnde
Gebilde es befinden sich dort Säulen, ein kl. sitzender Zwerg mit einer
Zipfelmütze, ein 1 ½ m tiefer kl. Teich und dergl. mehr. Fesselnd war,
was der Führer sagte, nämlich dass in 10 Jahren die Gebilde nur um 1 mm,
mithin in 1000 Jahren um 1 m wuchsen Darnach auf das Alter der
gewaltigen Höhlen zu schließen, muss sie wohl Tausende von Jahre schon
bestehen. Alles war elektrisch beleuchtet, z.T. blau od. rot. Die Säulen
waren nachmal musikalisch wie Saiten. Liselotte u. ich gehen dann allein
nach Letmathe (20 - 30 Min), wo wir den Ort durchwanderten. Ins Auge
springend ist die erst 1914 erbaute gotische "Pfarrkirche ad Kilianum",
die mich lebhaft an den Dom zu Speyer erinnert wegen der vielen Türme.
Zurück fahren wir 5.45
- 8.40, wobei ich, wie auch auf der Hinfahrt lese
die Novelle des Todes von
E. A. Poe, die z.T. höchst sonderbar, z.T. aber
äußerst fesselnd und unterhaltend sind wie z.T. das Kapitel über den
Maelstrom (od. den Untergang des Hauses Usher) od. die erstaunlichen
Wirkungen des Mesmerismus auf einen Sterbenden.
August
1919
Freitag, den 1. August
1919
Vor 5
Jahren Kriegsanfang! Ich mache allerlei Kleinigkeiten.
Sonnabend, den 2.
August 1919
Ich
wollte heute einen Ausflug nach dem hohen Molmert machen, aber das ist
ins Wasser gefallen. - Frau Ruß erzählt vom Herzelein (Else): Einmal,
als noch Fahrerlaubnisscheine auf der Bahn nötig waren, ging Herzelein
zur Bahn mit Frau Ruß, um Fahrkarten zu holen. Da Herzelein sagt, sie
würde schon F. bekommen, lässt Frau Ruß sie ruhig gehen, natürlich
nichts Böses ahnend. Herzelein kommt dann triumphierend an und bringt
die Fahrkarten. Sie hat nämlich gesagt, dass ihre Großmutter im Sterben
läge. Dafür hat sie vom Onkel Friedrich natürlich tüchtig was
abgekriegt, aber man sieht wieder, dass sie es dick hinter den Ohren
sitzen hat.
Sonntag, den 3. August
1919
Der
letzte Tag hier! Eine wie schöne Zeit, erfrischend für Körper und Geist,
liegt hinter mir! Ich bin tief dankbar für alle Liebe, die ich empfangen
durfte. - Zugenommen habe ich etwa 6 Pfund 113 - 119 Pfund das ist eine
ganz schöne Menge! Am Nachmittag mache ich mich ans Packen, das mit
einigen Schwierigkeiten verknüpft ist, weil Frau Ruß mir fein viele
Nahrungsmittel für Tante Anna mitgibt. - Am Morgen war ich mit Liselotte
u. Herzelein in der Christuskirche, wo Herr P. Barthold über Römer
6,19-23 sprach.
Montag, den 4. August
1919
Morgens
fahre ich 6.
13
ab, von Liselotte, Herzelein u. Frau Ruß zur Bahn
geleitet. Ich brauche nur in Hagen umzusteigen und fahre nach einem
Aufenthalt 7.46
- 9.01
dort mit d. Zug weg und komme
2.22
in
Braunschweig an, die Fahrt war ganz fein, nur sehr voll war es. Ich
verstaue schließlich meinen Koffer in einem Abteil u. lasse mich im
Speisewagen häuslich nieder, wo ich dann aber nach etwa zwei Stunden
heraus muss. Ich bringe von Chamberlain das Kapitel "Der Eintritt der
Juden in die abendländische Geschichte" zu Ende. - Zu Hause treffe ich
Mutter an, die noch etwa 14 Tage bleibt. Wie fein - Weihnachten haben
wir uns zuletzt gesehen!
Dienstag, den 5. August
1919
Am
Abend kommt Tante Käthe nach 1 Jahr Fernseins
Donnerstag, den 7.
August 1919
Am
Abend B.K. Wolfgang hält eine reformatorische Rede, um wieder Schwung in
den Betrieb und Mitarbeit zu bringen. Hoffentlich kommt d. B.K. endlich
auf einen grünen Ast, so dass er wirklich etwas gibt. Zunächst soll der
Philipperbrief gelesen werden.
Freitag, den 8. August
1919
Prof.
Ewers, der sich jetzt in einen Sozialdemokraten verwandelt hat, nachdem
er Einblick in alle möglichen Urkunden während der Ferien gewonnen hat,
versucht uns davon zu überzeugen, dass Deutschland die äußere (?) Schuld
am Kriege hat, dass die Reden von der Einkreisungspolitik Englands ein
Ammenmärchen sind u.s.w. Er stößt aber bei uns auf teilweise heftigen
Widerstand - dies ist dann auch unerhört!
Sonnabend, den 9.
August 1919
Am
Abend im P.V. spricht Grünhagen, der jetzt in die Reichswehr eintritt,
über den Kommunismus in idealem Sinne. Daran schließt sich eine erregte,
lange Disputation an, in der wir aus dem 100. ins 1000. kommen - aber
fein ist das, so lebendig war seit Urzeiten kein Abend. Dabei tut sich
wie üblich Staff als verbohrt negative Opposition kund, aber dadurch
kommt eben Schwung in die Sache. Über die Hohenzollern wird geurteilt,
und jedenfalls ist das wohl richtig, dass ihr Höhepunkt in Friedrich II.
zu erblicken ist, dass jetzt aber ihr Name entschieden auf
niedersteigendem Aste steht, so dass es entschieden nicht zu bedauern
ist, dass sie vom Throne gekommen sind. Aber gleichwohl wollen nicht
ihre Verdienste herab gesetzt werden, und noch immer regte hier und da
ein großer Geist aus ihrer Flut empor - Ferner sprach man über Luther,
die Kirche, u.s.f.
Sonntag, den 10. August
1919
Herr
Domprediger predigt zum 1. Male wieder seit Ostern, nachdem er im
Schwarzwald Erholung v. seiner Lungenkrankheit gefunden hat. Am Nach.
schreibe ich einen Dankbrief an Onkel Friedrich.
Sonnabend, den 16.
August 1919
Zum
ersten Male nach langer Zeit wird von der ganzen Schule ein
Schülerausflug unternommen. Meine Klasse unter d. Leitung v. P.
Lichtenstein und dazu die OIO (Drude (?)) machen eine feine Fahrt. Am
Abend fahren wir bis Harzburg und wandern dann gemächlich im Dunkeln
über Molkenhaus und Scharfenstein den
Brocken hinauf, wobei
Taschenlaternen die Wegweiser beleuchten. Eine herrliche Wanderung, es
ist ziemlich kalt. Gegen ½ 4 kommen wir nach anstrengendem Wege und
manchem Gestolper aber an und sehen mit Trauer, wie sich eine dicke
Wolkenwand ringsum legt. Nach kurzer Rast im Brockenhaus sehen wir, wie
allmählich die Sonne auftaucht als glühend-roter Feuerball, den man
bald nicht mehr ansehen kann. Zahlreiche Leute kommen aus d.
Brockenhaus, um das Schauspiel zu sehen - teilweise in den seltsamsten
Gewändern. Um ½ 6 machen wir uns an den Abstieg, rasten im
Torfhaus und
gehen auf dem Weg 256, 12 B am
Radauwasserfall vorüber zurück nach
Harzburg, wo wir gegen 11 abfahren. Der Weg war sehr anregend, besonders
die Gespräche mit P. L. waren sehr fein. - Das Wetter war denkbar schön.
Zu Hause - die Tanten, Mutter u. O. Friedrich sind in [...?] lege ich
mich hin und schlafe und schlafe bis ½ 11, wo voll Erstaunen alle mich
wecken. Ernst u. Gerhard sind bei Steiwekers [?] gewesen, weil ich im
Schlaf das Klingeln nicht gehört habe, u. erst als die Erwachsenen
kamen, konnten sie in die Wohnung hinein.
Freitag, den 17. August
1919
Abends
um 9 Wache bei [...?] bis 7. Ich rede viel mit Konther [?], einem
Bekannten von der Fahrt nach
Grünenplan. Er scheint ein Raudi und
wenig gebildet zu sein. Aufs Gewissen pfeift er.
Montag, den 18. August
1919
Mutter
u. O. Friedrich reisten wieder weg. Wird Mutter im Winter zu Weihnachten
wiederkommen können angesichts d. bevorstehenden Kohlenknappheit?
Freitag, den 22. August
1919
Besuch
bei Herrn Domprediger - neue Hoffnung!
Sonnabend, den 23.
August 1919
Hahn
IO. Spricht im P.V. über d. Sozialismus, hochgelehrt, wahrscheinlich
viel abgeschrieben. Die Disputation danach ist sehr lebhaft.
Sonntag, den 24. August
1919
Am
Nachmittag ziehen wir drei bald nach d. Mittagessen zum Flugplatz, wo
wir zunächst Flugzeuge aus d. Nähe sahen, große u. kleine, darnach
Vorführung v. Luftkämpfen u. Sturzflügen, sodann Verlosung von
Freiflügen, wobei von etwa 5 - 10 000 Menschen 20 das Los bekommen, und
schließlich nach endlos langem Warten bald nach sieben ein Absprung im
Fallschirm aus 1000 m Höhe. Der Betr. sauste - wie das immer der Fall
ist - erst 100 - 200 m wie ein Stein herunter, dann fing d. Ballon Luft
und schwenkte gemächlich hernieder.
Mittwoch, den 27.
August 1919
Um fünf
Handgranatenwerfen der Bereitschaftstrupps, wobei wir andern zusehen. -
Am Abend gehe ich nach Heinecks letzter (6.) Vorlesung, die den Schluss
seines Epos enthält "Der Meister d. Menschheit". Das Bu[...]zimmer an d.
Bruderkirche ist dunkel, d. Vortragende liest mit einem Baret bedeckt im
Schein einer Laterne. Dichterisch gefällt mir das Werk, aber inhaltlich
bin ich nicht damit einverstanden, dass er die Wunder weglässt und
dergl. mehr. Freilich ist das ja das Recht d. Dichters.
Donnerstag, den 28.
August 1919
Wir
müssen aus d. B.K. wegbleiben, weil tüchtig Bohnen abgezogen u.
geschnippelt werden müssen.
Sonntag, den 31. August
1919
Heute
mache ich den Vortrag in Reinschrift "Die Entwicklung d. Judentums", der
mir sehr viel Arbeit gekostet hat. Zuerst hatte ich in Lüdenscheid den
Stoff im Chamberlain nachzulesen u. zuletzt in den vergangenen Wochen
habe ich hin u. wieder den Grundstein und das Gerippe ausarbeiten
können. Dann begleite ich T. A. u. T. Käthe nach
Riddagshausen zu
Bodenstedt [?].
September 1919
Montag, den 1.
September 1919
In der
Aula spricht am Nachm. Herr Oberlehrer Gronau über "Der
Humanitätsgedanken im Altertum". Aber dieser wie der vor acht Tagen v.
Prof. Lippelt über "Homers Frauengestalten" gehaltene Vortrag fand wenig
Zuhörer.
Dienstag, den 2.
September 1919
Ernst
u. ich spielen bei Herrn Dompr. Billard, was uns sehr viel Spaß macht.
Bis man aber hinter die verschiedenen Kniffe kommt, bedarf es aber noch
mancher Übung! Ich habe etwa 14 Punkte.
Donnerstag, den 4.
September 1919
Meyer
steht in d. Schule jämmerlich und droht mit Pauken u. Trompeten sitzen
zu bleiben. So zieht er es vor, jetzt sofort ins Heer einzutreten, um
später d. Versetzung nach Oberprima dadurch zu erlangen. Er wird in
Wolfenbüttel Infanterist. So wird meine Klasse immer kleiner, die
Schulkameraden verstreuen sich hierhin u. dorthin. Ob Meyer mit seiner
Frechheit (nicht nur in schlechtem Sinne) wohl überall durchkommt?
Freitag, den 5.
September 1919
8 - 12
Schulausflug zu Prof. Flor "Wie gelangt Gyges in den Besitz des
geheimnisvollen Ringes?" ein Quartaneraufsatz. Die Begebenheit, die Gyges
selbst berichtet, braucht bloß ausgeschminkt wiedergegeben zu werden.
Sonnabend, den 6.
September 1919
Im P.V.
(Kablitz) hält Prof. Ewers eine feine Vorlesung (ziemlich hoch) über d.
Erfurter Programm, dabei sind noch Dr. Schrader u. Prof. Bodenstedt. Am
Nachm. streiche(?) ich Birnen ab bei Prof. Winries. Am Morgen hat
Präsidentwahl stattgefunden: I. [...?] (auch Filler [?] ist ins Heer
eingetreten) II. Pinke [?] Fuchsmajor: Kleinau [?], später Kuchen
[...?].
Sonntag, den 7.
September 1919
Wir
gehen zum hlg. Abendmahl. Nachher sehen wir uns im Städtischen Museum
Bilder der neuen deutschen Maler an.
Montag, den 8.
September 1919
Tante
Käthes Ferien sind wieder zu Ende, so dass sie nach Hause fahren muss.
Freitag, den 12.
September 1919
Hitzeferien, und dabei im September! So etwas kommt sicher selten vor!
All die letzte Zeit ist das herrlichste Wetter, die Sonne strahlt warm
vom wolkenlosen Himmel hernieder. - Am Abend hält Prof. Pohlens aus
Göttingen einen gelehrten Vortrag über "Thukydides und wir" der mir
besonders fesselnd war, weil ich ja schon Th. gelesen habe; es war auch
die Rede von dem Athener u. Meliare [?], deren Verhandlungen uns feine
Arbeit und Zähneausbeißen verursacht hatten.
Sonnabend, den 13.
September 1919
Abends
9 die 3. Wache bei Struck [?] bis 5. Ich treffe mit Mylius [?], den ich
noch v. d. Bültenweg-Bürgerschule kenne zus. Er besucht d.
Lehrerseminar. Wir haben zus. Posten 2. u. 3. Er ist fast ängstlich und
schreckhaft und sieht überall Gespenster, Einbrecher und Diebe, man
kommt gar nicht aus dem Stehenbleiben u. ängstlich Horchen heraus. Die
Birnen, die bei Posten vier hängen u. liegen, sind z.T. recht hart u.
sauer.
Sonntag, den 21.
September 1919
Ich
studiere wieder Bergers Biografie von Schiller. Vom letzteren lese ich
S[...?] und seine Schrift "Über den gegenwärtigen Stand d. Theaters".
Freitag, den 26.
September 1919
Ich
lese Grillparzers Novelle "Der arme Spielmann", das mir gefällt. - Am
Abend werden die neuen Unterprimaner, auch Ernst, in den P.V.
aufgenommen. - Der Harzausflug.
Sonnabend, den 27.
September 1919
Gleich
nach Schluss der Schule gehen Ernst und ich schleunigst nach Hause und
nach schnell eingenommenem Mittagessen fahren wir nach
Halberstadt mit
schwer gepackten Rucksäcken. Die Stadt ist außerordentlich reich an
allerlei alten Bauten. Wir fuhren vom Bahnhof mit der Straßenbahn zum
Fischmarkt und besahen uns auf Kreuz- und Querwagen das Rathaus, die
Andreaskirche, die Johanneskirche mit dem davorstehenden hölzernen
Glockenturm, die Liebfrauenkirche, das freundliche Gleimhaus, das
zahllose Bilder und Gemälde enthält. In den Dom, auf den wir uns
natürlich am meisten gefreut hatten, fanden wir wegen gerade
stattfindenden Amtshandlungen nicht. Um drei gingen wir nach dem eine
Stunde entfernten
Großquenstedt, wo wir bei Onkel Ernst und Tante Tilly
(Uhl) feine Aufnahme fanden. Alle waren außer Irmgard da, am Abend kehrt
auch Käthe in die Ferien heim.
Sonntag, den 28.
September 1919
Eigentlich wollten wir gleich diesen Morgen weiterfahren, aber die
freundliche Einladung, länger zu bleiben, und schlechtes Wetter halten
uns noch länger fest. Nach dem Gottesdienst in der vom Dorf ganz abseits
liegenden Kirche tollen wir auf einer Wiese herum und strolchen dann
weiter hinaus, bis wir über Emersleben nach Hause zurückkommen. Nach
Tisch lesen wir, und am Nachmittag spielen wir alle miteinander. Nach
dem Abendessen ist es besonders traulich.
Montag, den 29.
September 1919
Auch
dieser Tag geht schnell hin, Ernst u. ich hacken auch Holz.
Dienstag, den 30.
September 1919
Um ½ 6
geht es schon aus dem Bett und dann mit der Bahn nach Halberstadt, wobei
wir vorn auf der Plattform stehend tüchtig durchfrieren. Um ½ 8 geht es
weiter nach
Werningerode und von dort mit der Brockenbahn nach der
Station "Steinerne Rinne" Von dort aus klimmen wir, den Brocken hinaus.
Zunächst ist der Aufstieg nur mäßig bis wir in die eigentliche Steinerne
Rinne kommen. Der Weg macht von dort ab seinem Namen alle Ehre. Leider
kommen wir je höher desto mehr in dichte Nebelschwaden, die jegliche
Aussicht versperren. Nach kurzer Rast in der Schutzhütte nahe den
Kapellenklippen geht es weiter auf breiter Landstraße. Auf dem
Brocken kommen wir um ½ 1 an und erkennen erst auf nahe Entfernung die
einzelnen Gebäude. Wir essen den von Braunschweig in einer Büchse
mitgenommenen eisig kalten Kartoffelsalat und gehen, da die Aussicht
hoffnungslos schlecht ist, nach einer Std. wieder herunter. Diesmal
wählen wir den steil sich senkenden Weg durchs
Eckerloch nach
Schierke,
von wo wir nach links zu den Hoheklippen abbiegen. Östlich gehen wir an
der Ahrensklippe vorbei, umgehen nördlich den Erdbeerkopf und gehen dann
quer durch eine Senkung an der gegenüberliegenden Seite empor. Die
Leistenklippen werden erstiegen, ebenso die andeutend weniger
zerklüfteten Bärenklippen, die aber keine Aussicht wegen des Nebels
bieten. Bald sind wir unten beim Bahnhof Dreiannenhohn, von dem wir, der
Landstraße folgend, über
Elbingerode nach Rübeland wandern - eine
tüchtige, lange Ecke Weges. Aber in dem herrlichen Walde kommen wir
schnell vom Fleck und erreichen in der Dunkelheit Rübeland, unser Ziel.
Die Strecke, die wir zurückgelegt haben insgesamt beträgt gut 40 km -
eine ganz hübsche Leistung. In R. kommen wir bei einem Förster auf einem
"Heuboden" unter. Der Schlaf ist freilich nicht allzu erquickend, weil
das Heu mit Stroh so durchsetzt ist, dass wir elend gestochen werden.
Mittwoch, den 1.
Oktober 1919
Hier
endet das Tagebuch; so wissen wir leider nicht, wie die Reise endete.
Anmerkungen
B.K. = Schülerbibelkreis
Schmökel, Hermann: Die Leute von Kluckendorf
Schieber, Anna Maria:
Und hätte der
Liebe nicht. Weihnächtliche Geschichten; 1912
Der Buddhismus in unserem
modernen deutschen Geistesleben. Eine Studie von Robert Falke, Halle 1903
Hedin,
Sven: Von Pol zu Pol; Leipzig 1910
Harms, Heinrich: Vaterländische Erdkunde; 1904
Sicke, Ingeborg Maria: Ein Blumenstrauß; Novelle 1908
Stutzer, Gustav: In Deutschland und Brasilien.
Lebenserinnerungen. (1839 -1909) ; Braunschweig 1913
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des
19. Jahrhunderts; 1915
Heute ist eine Bahnreise wesentlich schneller, alle zwei
Stunden, z.B. am 06.06.2007 Lüdenscheid ab 7.06,
Hagen an 7:47, Hagen ab 8.01,
Braunschweig an 11.09.
Philipperbrief: im Neuen Testament
Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi (gegründet 49/50),
verfasst wahrscheinlich während seiner Gefangenschaft in Ephesos (54/55)
Hilfsdienst bei Kriegsgerichtsrat
Dr. Müller
Hermann Anders Krüger: Gottfried Kämpfer; Roman 1904
Auszug aus dem Nachwort von Günter Wirth
Zum besseren Verständnis des Romans sind zunächst einige
Bemerkungen zu seiner Entstehungsgeschichte wichtig. In der 1922 erschienenen
»Jugendrechenschaft«, die unter dem Titel »Sohn und Vater« herauskam, hat
Krüger, diese autobiographischen Notizen charakteristischerweise mit Hinweisen
auf den »Gottfried Kämpfer« abschließend, festgehalten, er habe vorgehabt, »von
den mich innerlich oft geradezu empörenden Zuständen unserer Fähnrichspresse«
(Militärvorbereitungsanstalt, G. W.) »ausgehend, eine scharfe Satire auf die
offizielle Bilungsabstempelung unseres ersten Standes im Militärstaat schreiben«
zu wollen. Er habe dabei an eine geharnischte Streitschrift gedacht, etwa in der
Art seiner »scharfen, britischen Studien über das Dresdner Hoftheatcr<«, die in
der Tat so scharf waren, dass sie das Establishment dieses Theaters zu Fall
brachten.
Für die von ihm geplanten »Schulmeistersünden des
Klassenstaates« habe er auch schon eine Unmenge von Material gesammelt gehabt.
Er sei dann aber schwer krank geworden, und in der Zeit seiner Krankheit hätten
sich seine Pläne dahingehend gewandelt, gegen die Pädagogik des Klassenstaates
nicht eine Polemik, sondern mit dem »Gottfried Kämpfer« ein »Idealbild deutscher
Knabenerziehung auf den Boden herrnhutischer Überlieferung« zu stellen. Und das
hieß für Krüger, und das werden wir (gerade auch im Weiterdenken der schon
gemachten kritischen Einwände gegen Müller-Schwefe) in der heutigen Rezeption
dieses Romans zu beachten haben:
»Alles, was ich als armseliger Pauker der Dresdner
Fähnrichspresse als entsetzlich und verhängnisvoll bei Zurccht-hobelung oder
gar Verschandelung meiner lieben, armen Jungens erlebt hatte, wollte ich
..., gleich wertvollem Dünger, in den durch Leid neu aufgeackcrtcn Boden
meiner Seele streuen und wollte in dieses nun doppelt fruchtbare Ackerland
den neuen Samen gesunder Vorbilder säen . . .«
Als »Kern des Ganzen« stellte sich für den Schriftsteller und
Pädagogen die Notwendigkeit, »bewußt die Erziehung zur charakterlichen
Selbständigkeit, zur eignen sittlichen Verantwortlichkeit« zu fördern.
In einem Aufsatz im »Eckart« 6/1929 wiederholte Krüger diese
Gedankengänge (wenn auch nicht in dieser zugespitzten Schärfe), und er fügte
ihnen einige wichtige Bemerkungen über das »herrnhutische Erziehungswesen«
hinzu. In der Tat wird es geboten erscheinen, von ihnen ausgehend einige
skizzenhafte Überlegungen zu dieser Thematik anzuschließen, um den historischen
und pädagogischen Kontext dieses herrnhutischen Bubenromans im Ansatz
erschließen zu können.
Wörtlich heißt es in dem »Eckart«-Aufsatz: »Das herrnhutische
Erziehungswesen hatte eine ehrwürdige Überlieferung von vielerprobten Praktiken,
die jedoch im Laufe der Jahrhunderte erstarrt waren, soweit nicht schöpferische
Erzieherpersönlichkeiten die alten Formen mit neuem Geist erfüllt oder sich keck
über sie hinweggesetzt hatten.«
Und Krüger fügte, nachdem er die Erinnerung an Schleiermacher
beschworen hatte, den wichtigen Gedanken hinzu: »Auch an den großen tapferen
Bischof der alten Brüderkirche Arnos Comenius dachte ich oft, als ich mit meinen
Erziehungsproblemen rang. Dieser Begründer unserer neuen Pädagogik ging wie
später ein Basedow, ein Pestalozzi, Fröbel, Lietz und andere bahnbrechende
Erzieher unseres Volkes von der Negative eigener bitterer Erfahrungen zur
Positive. Vertrieben aus seiner Heimat nach dem Zusammenbruch seiner Kirche,
mitten im furchtbaren Jammer des Dreißigjährigen Krieges, schrieb er unverzagt
seine aufbauenden Werke und gestand offen, >auch ich bin einer von den vielen
Tausenden, ein armes Menschenkind, dem der lieblichste Frühling des ganzen
Lebens, die blühenden Jugendjahre, in nichtigen Schulpossen zugebracht, elendig
zugrunde gerichtet worden sind<. Aber er ging ans Werk, >um diesen Verlust
auszubessern^ nicht bloß an sich, sondern auch an den andern. Von solchen
erhabenen Vorbildern der alten und neuen Brüderkirche wollte ich ausgehen, um
etwas Positives - anstatt der erst geplanten Negative - zu schaffen.«
Aus seiner Werkstatt berichtend, hielt Krüger schließlich
fest, daß er seinen Roman auf eigenen Erlebnissen und »reichlichen
Tagebuchseiten« mit den dort fixierten »rein Zuständlichen« aufbaute, ohne einen
Schlüsselroman schreiben zu wollen. Allgemeines und Spezielles, Typisches und
Individuelles wollten von ihm »unverkennbar vermischt« werden.
In der Tat: Folgt man anderen Berichten über herrnhutische
Erziehung, wird man das Typische der von Krüger geschilderten Geschichten
wiederentdecken, ohne daß die individuelle Färbung darunter leiden würde.
Nehmen wir als charakteristisches Beispiel den Lebensbericht
»Pädagogische Existenz« (Göttingen 1967) von Hans-W. Jannasch, der zwar nicht in
Niesky (sondern in Kleinwelka) zur Schule gegangen war, dann aber 1903 als
Lehrer an die Unitäts-Knaben-Anstalt nach Niesky berufen wurde. Jannasch
verdanken wir übrigens die Publikation der Aufzeichnungen eines Missionars der
Herrnhuter Brüdergemeine, Traugott Bachmann, der 1865 in der Nähe von Niesky
geboren wurde. In diesem Buch (»Ich gab manchen Anstoß«) erhalten wir Einblick
in die Lebens- und Denkgewohnheiten kleinbäuerlicher Schichten in der
Oberlausitz. Aus den Schilderungen in Jannaschs Lebensbericht seien hier einige
wiedergegeben; es sind solche, die dem »Kämpfer«-Roman (der merkwürdigerweise
nicht erwähnt wird) bis ins Detail zugeordnet erscheinen: Jannasch, aus der
Familie eines Missionars der Brüdergemeine stammend, trifft in Niesky ein, und
ohne daß ihm irgendwelche Hinweise vom Direktor gegeben werden, tritt er sofort
seinen Dienst an:
»Es mag unverständlich sein, daß man mich ohne jede
Dienstanweisung antreten ließ. Bedenkt man indessen, dass in allen
Herrnhuter Anstalten die gleichen Hausordnungen und Gepflogenheiten
herrschten und daß mein bisheriges Leben gänzlich von ihnen bestimmt worden
war, so wechselte ich nur die Rolle, vom Zögling zum Erzieher, dessen mir
wohlvertraute Funktion ich nunmehr auszuüben hatte. Ich riß also Schlag 7
Uhr die Schlafsaaltüre auf, kommandierte Aufstehen und Antreten, öffnete
Fenster und Läden, schritt hinter der kleinen Ferienschar zum Waschsaal, zur
Stube, wo die Knaben lebten und sich zunächst ankleideten, und endlich zum
Frühstück im Speisesaal. Auf diesem Wege lernte ich die zunächst in Frage
kommenden Räume der Anstalt kennen, ohne mich durch Erkundigungen bei den
Jungen als Neuling verraten zu müssen. Dass der Ferientag mit einer
i1/2stündigen >Stillen Freizeit< begann, war mir selbstverständlich. Ich
beaufsichtigte sie gelassen und ließ mich als neuen Lehrer von 14
Augenpaaren neugierig betrachten. Gegen ihr Ende erschien der Direktor,
stellte mich den Knaben und sie mir namentlich vor und überließ mich für
diesen Tag meinem Schicksal.«
»Die Herrnhuter hatten sich von der ängstlichen
Voreingenommenheit allem Körperlichen gegenüber, die den Halleschen
Pietismus kennzeichnet, befreit und den Wert der körperlichen Erziehung
erkannt. Das Jahnsche wurde begrüßt und aufgenommen, ja selbst während
seiner Verbotszeit in aller Stille fortgeführt. 1861 baute man schon eine
Turnhalle, und unter dem >Turnvater< Bourquin nahm es einen neuen, religiös
vertieften Aufschwung. Das Nieskyer Turnliederbuch erschien damals im Druck
und trug das Gepräge dieses Geistes. Es enthielt neben eigenen Dichtungen
vor allem das Liedgut der Freiheitskriege. Es scheint in den ersten
Jahrzehnten diktiert worden zu sein, wie mir ein handgeschriebenes
Liederheft des Knaben P. Fr. Döhring aus dem Jahr 1825 zeigte, das ich einst
verstaubt in einer Bodenecke fand. Beim Diktat hatte ihm offenbar seine
Thüringer Mundart die Rechtschreibung erschwert. Am Eingang von >Monplaisir<
lag unter hohen Linden der Turnplatz mit Klettergerüst, Recks und
Springgruben. Besonders eindrucksvoll war es, wenn das Pädagogium unter
donnerndem Gesang griechischer Strophen durch die Straßen des Ortes zum
Fünfkampf ausrückte.
Sowie die Jahreszeit es erlaubte, wurden die Spielplätze
aufgesucht. Barlauf, bei festlichen Gelegenheiten >Fahnenbarre<, Schlagball
und Fußball waren vor allem beliebt. Zur Winterszeit pflegte man den Eislauf
und veranstaltete auf den gefrorenen Heideteichen Eisfeste. Die
Naturverbundenheit und die Liebe zum Sport im Rahmen der herrnhutischen
Erziehung werden von vielen Autoren hervorgehoben. Der später als Jenaer
Philosoph und Patriot bekannt gewordene Jakob Friedrich Fries schwärmte als
herrnhutischer Pädagogist von dieser Naturliebe, und was etwa das
Schlittschuhlaufen betrifft, so wurde es von dem späteren Brüderbischof
Martin Nitschmann schon um 1810 eingeführt. Und als der Rodelsport
anderwärts noch nicht an der Tagesordnung war, gab es bereits in Niesky eine
>Rutschbahn<. Sic war an einem Sandhügel des Urstromtales angelegt und wurde
im Schnee der kalten Winternächte gegossen. Dadurch wurden auf ihr mit
gekoppelten Handschlitten Geschwindigkeiten erzielt, die denen der heutigen
Bobfahrer kaum nachstanden.«
Um noch auf einen anderen Aspekt einzugehen, so sind auch die
in Krügers Roman unverkennbaren nationalistischen Tendenzen von Jannasch
aufgezeichnet worden:
»Ganz besonders stolz aber war man auf das >Nieskyer
Regiment<. Diese militärische Einrichtung diente wie in der Welker Anstalt
neben der körperlichen Ertüchtigung der Pflege patriotischer Gesinnung. Den
vielen ehemaligen Schülern, die den Offiziersberuf ergriffen, mögen die
Erinnerungen daran besonders lieb geblieben sein. So berichtet der spätere
Chef des Großen Generalstabes Graf Schlieffen während seiner Nieskyer
Schülerzeit den Eltern in einem Briefe, wie sie in einem >Manöver< die
Schlacht von Kulm und Nollendorf nachgespielt hätten.«
Dabei ist Jannasch sowohl hinsichtlich seiner eigenen
Schulzeit in Kleinwelka wie hinsichtlich seiner Tätigkeit als Lehrer in Niesky
bis 1909 (zeitweilig zusammen mit dem später als Schriftsteller bekannt
gewordenen Martin Luserke) keineswegs unkritisch im Blick sowohl auf die auch
von Krüger gerügten Züge eines gewissen Formalismus der herrnhutischen Erziehung
wie auf die Schwierigkeit für Lehrer, auch nur maßvolle reformpädagogische
Tendenzen, etwa die von Berthold Otto, zu verfolgen. ...
Es ist offensichtlich, daß diejenigen, die sich in ...
bekennerisch zu Herrnhut und zu den erzieherischen Intentionen der Brüdergemeine
geäußert haben, von den ursprünglichen Idealen Zinzendorfs ausgegangen sind, und
man kann offenbar hinzufügen, dass dann immer Formalismus im herrnhutischen
Erziehungssystem eintrat, wenn diese ursprünglichen Ideale Zinzendorfs außer
Sicht gerieten.
Otto Uttendörfer, Direktor des Schullehrerseminars der
Brüdergemeine, gleichbewundert als Theologe und Ornithologe, hat in seinem Buch
»Zinzendorfs Weltbctrachtung« (Berlin 1929) das Material zu einer solchen
Bewertung bereitgestellt und hinsichtlich des Geschichtsbildes Zinzendorfs
solche Elemente herausgearbeitet, die uns als sehr gegenwärtig erscheinen:
Entwicklungsidee; Werden, Altern und gegenseitige Ablösung von
Geistesbewegungen; Gesetz des Wechsels in der Geschichte; das Gesetz des
Fortschritts durch den Gegensatz. Gewiss, für Zinzendorf sind diese Elemente des
Geschichtsbildes vornehmlich auf die Entwicklung des einzelnen und seines
geistlichen Lebens bezogen. Aber der Graf ist, nach Uttendörfer, auch in der
Lage gewesen, solche Überlegungen auf die Völker anzuwenden und zum Beispiel
deren »Verschiedenartigkeit« zu würdigen. So hatte Zinzendorf am 2. Juli 1753
gesagt: Wenn der Geist ein Volk aus aller Welt Zungen zusammenbringe, so müsse
ein jedes bei seiner Sprache und Weise bleiben, und die Mitarbeiter der Gemeine
dürften die anderen Völker nicht in ihre Art »umgießen« wollen. Zinzendorf bezog
solche Überlegungen ausdrücklich auf die Mission in allen Teilen der Welt, in
denen die Brüdergemeine tätig war.
Die Konsequenzen einer solchen Haltung für die herrnhutische
Erziehung sind, von unterschiedlichen Positionen her und unter
verschiedenartigen Aspekten, im ganzen freilich einheitlich gewürdigt worden.
»Das Herrnhuter Erziehungswesen wurzelte im Pietismus, unterschied sich jedoch
von der Schöpfung A. H. Franckes und den anderen Gründungen dieser Geisteswelt
durch seine Weltoffenheit, durch die stärkere Beachtung der kindlichen
Eigenständigkeit. . . und damit auch ein engeres Verhältnis von Erzieher und
Zögling.« So Jannasch in seinem Lebensbericht.
In der dritten Auflage von »Religion in Geschichte und
Gegenwart« wird die enge Verknüpfung von herrnhutischer Erziehung mit
fortschrittlichen Bildungsinhalten wie denen von Basedow und Salzmann
hervorgehoben, und es wird hinzugefügt: »Im Verlauf des 19. Jhs. wurde das
Pädagogium in Niesky zur einflussreichsten, für die zahlreichen anderen
Anstalten der Brüderunität richtunggebenden Heimschule, deren bedeutendster
Schüler Schleiermacher gewesen ist. Hier wurde unter Berufung auf 1 Kor. 3,21
ff.; 6,20 eine Synthese von Humanismus, Idealismus und Christentum angestrebt.«
In dem 1928 herausgekommenen »Pädagogischen Lexikon« hielt Unitätsdirektor Karl
Kücherer etwas fest, was für die Bewertung des »Gottfried Kämpfer« von Bedeutung
ist: »Der düstere Büß- und Bekehrungsernst. . . wurde abgelöst durch die
Botschaft der Freude, durch eine gesetzesfreie >noble< Erziehung.«
In der Einleitung zu den »Ausgewählten Pädagogischen
Vorlesungen und Schriften« Schleiermachers, die 1965 in der DDR erschienen,
erinnerte der marxistische Wissenschaftler Heinz Schuffenhauer daran, dass
Schleiermacher 1783 bis 1787 in einer »Erziehungsanstalt« der Herrnhuter
Brüdergemeine erzogen worden sei und er »gewisse demokratische Wesenszüge«
kennengelernt habe, die die Brüdergemeine »in ihrem sozialen Organismus bewahrt«
habe. Und wie der Nestor der pädagogischen Wissenschaft in der DDR, Robert Alt,
das Werk von Comenius und der böhmischen Brüdergemeine positiv charakterisiert
hat, so hält Schuffenhauer fest:
»Die Herrnhuter vertraten Auffassungen eines
demokratischen, tätigen Christentums, und in den Schulen der Brüdergemeine,
deren Missionstätigkeit sich bis nach Amerika erstreckte, wurden Knaben aus
den verschiedensten Nationen gemeinsam erzogen.«
Eine analoge Position aus unseren Tagen reflektierte Carl
Ordnung in seinem 1972 erschienenen Buch »250 Jahre Herrnhut«. Er berichtete:
»Zusammenarbeit und Gemeinsamkeit von Marxisten und Christen - auf diesen Ton
ist das gestimmt, was Günter Baum, Mitglied der SED und Vorsitzender des
Ortsausschusses der Nationalen Front, zu einem Gespräch beiträgt, zu dem die
CDU-Ortsgruppe im November 1971 eingeladen hatte. Er war lange Zeit Direktor der
Oberschule in Herrnhut und ist jetzt stellvertretender Leiter des Instituts für
Lehrerbildung in Löbau. Im Gespräch verschweigt er nicht, dass es ihm manchmal
nicht leichtfalle, bestimmte Haltungen einzelner Christen und gewisse kirchliche
Entscheidungen zu begreifen. Andererseits nötige ihm der Ernst, mit dem
Mitglieder der Brüdergemeine im alltäglichen Leben Christen zu sein sich
bemühen, Achtung ab . . .«
»Laß ein Mann mich werden, der durch Kampf und Streit, Lust
und Not der Erden dringt zur Ewigkeit.« Mit diesem Motto des
Girdein-Niesky-Liedes ist stichwortartig zusammengefasst, was den Kern dieses
Bubenromans im Kontext herrnhutischer Erziehung, Religiosität und tätigen
Christentums ausmacht. Dabei wird, um auch an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich hieran zu erinnern, bewusst bleiben müssen, was Krüger über den
einen Anlass dieses Bubenromans festgehalten hatte, nämlich der »Fähnrichspresse«
ein Idealbild von Erziehung entgegenzustellen. Den anderen Anlass hat Krüger
wiederum selbst charakterisiert, wenn er in dem von Harald Braun 1932
herausgebrachten Band »Dichterglaube - Stimmen religiösen Erlebens« schrieb:
»Auch mein Leben blieb mir ein Rätsel. Ich musste von neuem alles vergebliche
Ringen meiner Kindheit gründlichst durchdenken, mir bis zum Letzten Rechenschaft
ablegen, grübelnd, sehend, aufbäumend - bis es mich packte und zwang, mir alles
von der Seele zu schreiben ...«
In zwei ausführlichen Besprechungen, die aus der Feder so
bedeutender Vertreter herrnhutischen Geistes wie Walther E. Schmidt und H. Bauer
bereits kurz nach Veröffentlichung des Romans in der Zeitschrift »Herrnhut« (Nr.
50/1904 bzw. Nr. 18 und 19/1905) erschienen, sind treffend fast alle Momente
festgehalten, die eine Wiederbegegnung mit diesem Roman heute als lohnend
erscheinen lassen.
Was an »Gottfried Kämpfer« anziehe, so urteilte damals
Schmidt, sei »das Maßvolle in Stoff wie Form«. »Gerade die Form war in Krügers
früheren Werken ... recht vernachlässigt, und man konnte in Frage sein, ob nicht
>der junge Eichendorff< und die ausgezeichnete >Pseudoromantik< ihn einzig auf
die literarhistorische Tätigkeit wiesen. An den Dichter Krüger haben wir erst
durch Gottfried Kämpfer glauben gelernt.« Hier müsste man freilich hinzufügen,
daß man (vom »Verjagten Volk« abgesehen) allein durch den »Gottfried Kämpfer«
Krügers schriftstellerisches Werk als über den Tag hinaus wirkend zu bezeichnen
vermag, denn etwa auch der »Kaspar Krumbholtz«, der eine Art Fortsetzung des »Kämpfer«-Romans
ist, ist heute nicht mehr lesenswert. Dieses Werk war von Krüger (in einer
zweiten Fassung) in 24 Tagen niedergeschrieben worden, und er hatte selbst
vermerkt: »Immer glücken solche Gewaltkuren nicht.« Diese ist es bestimmt nicht.
...
Schmidt hatte 1904 ferner geschrieben, der »Gottfried
Kämpfer« schildere das Brüdertum in einer Weise, »die beweist, daß es denn doch
nicht so wunderlich, so beschränkt ist, wie die Außenwelt fürs Gewöhnliche meint
und wie leider auch noch immer kirchengeschichtliche Werke ... es sehen«. Damit
ist für uns heutige Leser dieses Romans deutlich, dass wir ihn als eine Art
historischen Erziehungsroman aus einer bestimmten Phase der Entwicklung der
Brüdergemeine aufzunehmen haben.
Gerade im Blick auf diesen Tatbestand ist eine Bemerkung in
der Rezension Schmidts wichtig, deren kritischer Gehalt von uns in jeder
Hinsicht unterstrichen werden wird. Schmidt macht nämlich darauf aufmerksam,
dass das historisehe Milieu des Romans von den »Verfassungskämpfen« bestimmt
werde, und er fährt fort: »Sie erscheinen bei ihm als Gegensatz zwischen einer
pflichttreuen, strengen Gemeinaristokratie und einer demagogisch bewegten
Demokratie. Daß das Neue nur deshalb sich durchsetzte, weil weitblickende,
geschäftskundige Männer sowohl rechtliche als auch sittliche Gefahren für den
Bestand der Gemeine in der Fortdauer des alten Regimes sahen und weil sie selbst
dafür Opfer brachten, hat der Verfasser übersehen«.«
Es ist sehr aufschlußreich, dass die Passagen des Romans, die
diese Verfassungskämpfe reflektieren, also nicht erst das Unbehagen des heutigen
Lesers provozieren, sondern schon eine authentische zeitgenössische Kritik
fanden - Zeichen des inneren demokratischen Gehalts echten herrnhutischen
Geistes, von dem schon im Zusammenhang mit Schleiermacher die Rede war. Auch
einer weiteren Bemerkung Schmidts wird man gern zustimmen. Er macht zunächst
einige kritische Bemerkungen hinsichtlich der Frage, ob die Bürger der Gemeine
eine Sprache reden, die die ihnen ureigene ist, um dann hinzuzufügen: ». . .
sobald er (Krüger) von Niesky erzählt, ist alles frisch und echt.« Genau diese
Frische ist es, die vom Literarischen her Veranlassung sein kann, uns diesem
Roman heute von neuem zuzuwenden. Es war daher alles andere als ein Zufall, daß
der Kulturredakteur der »Neuen Zeit« Ostern 1977 eine Passage des Romans
abdruckte, was ein reges Echo im Leserkreis dieser Tageszeitung fand, u. a. bei
dem in Uhyst lebenden Schriftsteller Gottfried Unterdörfer.
»Die Liebe zur Großmutter, das Suchen und Finden der
Elternliebe, die Freundschaft mit Nöke, das sind Stellen, die man nur mit
Bewegung lesen kann«, hält.«, Schmidt schließlich fest. Und in der Tat: Was hier
im historischen Herrnhuter Gewand erscheint, sind Lebensfragen junger
christlicher Menschen, die in anderer Form, aber mit solchem Kern auch heute
ihre Antwort finden müssen. Deshalb kann man auch das abschließende Diktum
Schmidts aufgreifen, dieses freilich auf andere Art, als es sein Verfasser
wollte: »Wir wollen dienen, aber mit all den Gaben, die uns gegeben sind, und an
den Stellen, wo wir die Pflicht fühlen. Von der Milde, dem Gehorsam, der
Frömmigkeit spricht Gottfried Kämpfer. Von der Kraft, dem Selbstbewusstsein und
den Energien des Glaubens nicht. Und darin haben wir, irren wir uns nicht,
manches überwunden, was der brüderlichen Frömmigkeit einen passiven, fast trägen
Charakter zuzeiten gab.« Schmidt nämlich (mehr noch Bauer in seiner Betrachtung)
vermisste die aktive Frömmigkeit solcher Art in Krügers Roman - wir heutigen
Leser, die wir gelernt haben, Frömmigkeit auf die Welt bezogen zu finden, würden
sie sehr wohl bei ihm entdecken.
Schließlich ein Zitat aus der Rezension des verdienstvollen
Nieskyer Pädagogen Bauer, eins, das sich auf das Gesamtgefüge des Romans
treffend bezieht:
»Es ist ein ernstes und wohlgelungenes Kunstwerk schon
deshalb, weil dem Verfasser die schwere Aufgabe gelungen ist, Selbsterlebtes in
künstlerisch Gestaltetes umzusetzen. Gerade wer die Vorlagen kennt, der weiß
dies zu würdigen, und wenn man sich von der Frage befreit hat, wer soll dies,
was soll jenes sein, so genießt man das Ganze ungetrübt. Ich betone: das Ganze;
denn erst in der Zusammenwirkung der Farben, die, allzu nah betrachtet, bald zu
grell, bald zu matt erscheinen, leuchtet die Schönheit und Vollständigkeit der
Darstellung hervor. Beispielsweise erscheinen zuerst hier zu viel Lichter, dort
zu starke Schatten aufgetragen - vergleiche Loskiel, Lechner usw. auf der einen,
Robinson, Mavaldt, Choas auf der andern Seite. Ferner ist das religiöse Moment
der Erzählung bis zum Abendmahl auf eine ergreifende Höhe geführt und tritt dann
auffallend zurück. Aber wenn es dann in Nielsens >Sprechen< und Loskiels
Abschiedswort ausklingt, so bleibt der Gesamteindruck doch sehr harmonisch.« Ja,
genau diese Harmonie des Ganzen macht das künstlerische Profil dieses Romans
aus, und es ist diese Harmonie, die die beiden Ansätze des Autors voll zur
Geltung kommen lässt. Solche Harmonie ist letztlich freilich nur die äußere Form
jener Harmonie, um die es tendenziell in der herrnhutischen Erziehung ging und
die uns sehr gegenwärtig dünkt. Wie sagte doch Bruder Nielsen in dem
entscheidenden Gespräch zu Gottfried Kämpfer: »Du kennst das Ziel unserer
Erziehung: eine möglichst harmonische Ausbildung aller geistigen und
körperlichen Fähigkeiten.« Hiermit verbunden ist jener »Grundzug der Girdeiner
Stubenerziehung«, jener »republikanische Geist«, von dem es im Roman heißt:
»Keiner durfte dem andern gegenüber etwas voraushaben, geschweige denn
irgendeinen Kameraden beeinträchtigen wollen.«