Unsere Kriegserlebnisse
Von Else Gäbler, Stützengrün im Erzgebirge
Braunschweiger Volkskalender 1918. Seite 31 bis 41.
Inhalt
Madras 1914
Es war in Madras in den ersten Tagen des
August 1914. Wir
waren gerade von Kodaikanal zurückgekommen, wo wir zwei wunderschöne Monate der
Ruhe und Erholung auf den kühlen blauen Bergen im Kreise lieber
Missionsgeschwister verlebt hatten und uns erholen durften von der Gluthitze der
Ebene, um neue Kräfte zu sammeln zu, wie wir hofften, neuer, ruhiger Arbeit in
dem unruhigen Madras. Da brachten Telegramme und Extrablätter der großen
englischen Tageszeitung, der "Madras-Post", und vieler anderer Blätter die Kunde
vom Ausbruch des Weltkrieges auch nach Indien. Überall, unter Weißen und
Braunen, herrschte große Erregung, und in alle unsere Gespräche, in unsere
Gedanken, in die aufsteigenden Sorgen drängte sich immer wieder die eine bange
Frage: Was wird England tun? Nicht lange dauerte es, da war die Entscheidung da,
und wir sollten bald merken, dass wir über Nacht aus gleichgestellten Freunden
und Mitarbeitern Feinde geworden waren, denen man nicht mehr trauen durfte. Bis
jetzt hatten wir nie mit der Polizei zu tun gehabt, jetzt waren Polizisten
unsere täglichen Gäste! Es regnete Verordnungen und Vermahnungen über unser
Reisen und die dazu nötigen Reisepässe, über unsern Verkehr mit den
Eingeborenen, für den uns die größte Vorsicht und Zurückhaltung eingeschärft
wurde; wer Schusswaffen hatte, musste diese abliefern - so liegen auch meines
Mannes Gewehr und Tesching noch im Polizeiamte in Madras, - unsere Missionare,
an manchen Orten auch ihre Frauen, mussten schriftlich versprechen, nichts gegen
England zu unternehmen, die Regierung verlangte eine Liste sämtlicher in Indien
anwesender Missionsangehörigen, mit einem Male blieb die deutsche Post aus, ja,
wir erfuhren gar bald, dass es Krieg gab, und dass wir in Feindesland waren. Und
es dauerte nicht lange, da kam die Kunde von den ersten Internierungen
Deutscher, mit der freilich die Missionare zuerst noch verschont blieben. - Bald
trat unser Missionskirchenrat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um
über möglichste Einschränkungen in den Ausgaben zu beraten, womöglich neue
Geldquellen ausfindig zu machen, und zu überlegen, wie man unsere
Gemeindeglieder mehr als bisher zu Abgaben und zu Beiträgen z. B. für die
Erziehung ihrer Kinder in unsern Schulen heranziehen könne.
Uns persönlich brachte der Krieg Anfang Oktober 1914 unsere
Versetzung nach Villupuram (Viluppuram), aus der großen Weltstadt mit ihrem lebhaften
Getriebe in das kleine Landstädtchen, aus der Weite in die Enge! Das war ein
schwieriger Umzug, mein Mann viel fieberkrank und bettlägerig, das Haus voller
Gäste, im Krankenhause lagen liebe Kranke, die sich so sehr über jeden Besuch
freuten - dabei Packen usw., und dann der schwere Abschied aus liebgewordenen
Verhältnissen! - Aber bald hatte man sich am neuen Orte zurechtgefunden, und wie
freuten sich unsere Gemeindeglieder, dass sie nun wieder ihren eigenen "Eier"
hatten, denn seit einem halben Jahre verwaltete der Missionar von Kudalur
Villupuram mit für den auf Urlaub in Deutschland weilenden Missionar Frölich.
Natürlich gab es gar viel zu tun - mein Mann hatte sich in
die neue Station mit ihren mancherlei schwierigen Verhältnissen einzuarbeiten,
ich besorgte das Auspacken und Einräumen, wozu doch die rechte Freudigkeit
fehlte beim Gedanken an die große Ungewissheit unserer Zukunft. - Dazu setzte
pünktlich am 15. Oktober eine ganz ungewöhnlich heftige Regenzeit ein, so dass
unser Haus tagelang wie eine Insel im Wasser stand, überall regnete es durch,
und auch fast alle Kapellen und Lehrerhäuser auf der Station wie im Distrikt
hatten schadhafte Dächer und verlangten dringend kleinere und größere
Reparaturen, was mit viel Arbeit und mancherlei Verdruss verbunden war. Schwer
lag die Sorge um unsere Kinder daheim auf uns. Fast drei Monate lang hatten wir
keine Nachricht erhalten, da lag plötzlich eines Morgens ein kurzer über Leipzig
gesandter Brief vor uns. Das war im Oktober. Dann kam wieder eine lange Pause -
kein Weihnachtsgruß kam herüber, das erste Mal in unserer ganzen indischen Zeit!
- erst der Februar brachte wieder Kunde von den Lieben daheim, dann kam öfter
einmal, etwa alle ein bis zwei oder auch drei Monat, ein Brief oder eine Karte
durch als "Kriegsgefangenensendung" oder auf Umwegen durch bekannte und
unbekannte Freunde. W i r durften englische Karten über Bombay senden, die aber
sehr vorsichtig abgefasst werden mussten, sonst verschwanden sie unweigerlich in
dem großen Papierkorb des gestrengen englischen Zensors. Sogar der Briefverkehr
der Engländer selbst stand unter strenger Aufsicht, und es ist vorgekommen, dass
ein Engländer von einem Brief einer Tante in England nur die Einleitung bekam,
der Zensor fügte hinzu, seine Tante sei zu schwatzhaft, den ganzen Brief könne
er daher nicht bekommen.
Mittlerweile waren Basler und Breklumer Missionare in
Ahmednagar interniert worden, ihre Frauen und Kinder brachte man an
verschiedenen Orten unter und schickte sie schließlich in die Lager von Bellary
und Belgaum und nach Kodaikanal (abgekürzt: Kodi), drei von unsern Missionaren
wanderten auch nach Ahmednagar, die drei ältesten Hermannsburger Missionare
saßen drei Monate in der Festung St. Georg in Madras und kamen schließlich nach
Kodi, - wann würde nun uns dasselbe Schicksal treffen? Allerlei Gerüchte kamen
auf über die Internierung Aller, Verschickung nach Australien, der eine wusste
dies, der andere das! Schließlich verlangte die Regierung, dass jeder Missionar
zwei englische Beamte als Bürgen für sein Wohlverhalten stellen solle, - doch
dann machte sie die obersten Distriktsbeamten für ihre Missionare
verantwortlich, die auch teilweise ganz energisch für sie eintraten. So war es
ein Trost, zu sehen, wie manche von ihnen die Hand über sie hielten and sie bis
zuletzt auf ihren Stationen ließen, wie z. V. die Collektoren (Kreisdirektor)
von Tanjore und Trichinopoly. Der unsrige, der in Kudelur wohnte, war ein
Mohammedaner, ein feiner, liebenswürdiger, älterer Mann, der aber - eben als
Mohammedaner - den Engländern gegenüber eine sehr schwierige Stellung hatte, er
sagte mir selbst einmal, dass er sehr vorsichtig sein müsse, natürlich um nicht
in den Verdacht der Deutschfreundlichkeit zu kommen!
Die englischen Zeitungen zu lesen, kostete einen Überwindung,
oft brachte man es gar nicht fertig, so ekelte einen das Geschimpfe und
Verhetzen, die gemeinen Ausdrücke, Schmähungen und Verhöhnungen alles dessen an,
was deutsch war, und aller derer, die einen deutschen Namen trugen. Leider
standen auch viele englische Missionare gegen uns, und nur wenige fanden den
Mut, öffentlich für uns einzutreten. Im August erreichte die Pressehetze gegen die
Deutschen, Laien wie Missionare, ihren Höhepunkt, und nun war auch die Regierung
mürbe geworden, die Zeitungen vom Sonntag, den 15. August 1915, brachten die
Nachricht - eine Regierungsorder, die sie im Wortlaut mitteilten -, dass alle
deutschen Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren interniert, die übrigen aber und
Frauen und Kinder in ihre Heimat abgeschoben werden sollten. Zwei Tage später
brachte uns die Post die Bestätigung dieser Meldung, nämlich den schriftlichen
Befehl, dass wir in vier Wochen zur Abreise nach Deutschland fertig zu sein
hätten, der nach einigen Tagen dahin ergänzt wurde, dass wir nur das für die
Reise Nötigste mitnehmen dürften. Was aber sollte mit unsern Sachen, mit dem
ganzen Haushalt werden? Die Regierung wollte dafür die Verantwortung nicht
übernehmen und wünschte Verkauf. Da wanderte denn ein Stück nach dem andern für
ein Spottgeld aus dem Hause hinaus zu den Eingeborenen, die mit dem ihnen
angeborenen Handelsgeiste die niedrigsten Preise herauszupressen verstanden mit
dem ausgesprochenen oder auch nur gedachten: sie müssen ja fort, und sie müssen
verkaufen. Noch heute ist mir wehmütig zu Sinne, wenn ich daran denke, was wohl
aus meinen Möbeln, Küchensachen, Geschirr usw. unter den eingeborenen Händen
geworden sein mag! - Öfter erschienen Polizeibeamte, um die für die Pässe
nötigen Feststellungen zu machen, wir wurden photographiert und gemessen;
allerlei Verordnungen, die Reise betreffend, erschienen, und so kam Mitte
September heran, aber der Befehl zur Abreise ließ auf sich warten. Es war wohl
doch nicht so leicht und so einfach, für so eine große Reisegesellschaft
passende Reisegelegenheit zu finden. Und so wurde weiter gewartet und gewartet
bis in den November hinein mit gepackten Kisten und Koffern (mittlerweile war
nämlich genau angegeben worden, was und wie viel mitgenommen werden durfte,
natürlich so spät, dass vieles, was man noch hätte mitnehmen können, schon
verkauft war).
Missionsarbeit im Krieg
Wie ging nun unterdessen die Missionsarbeit weiter? Viel
Bewegungsfreiheit hatte der Missionar nicht, ohne Reisepass vom Kollektor durfte
er seine Station nicht verlassen, und der ließ oft lange auf sich warten, oder
er blieb ganz aus. Aber die Gemeindeglieder durften ungehindert zu ihrem
Missionar kommen, und so musste dieser eben durch den Pastor und die Lehrer
arbeiten, die sich in diesen schweren Zeiten wohl bewährt haben, und sie noch
mehr als bisher anleiten und zur Selbständigkeit führen. Und es waren und sind
wirklich bitterschwere Notzeiten für unsere armen Missionsangestellten, deren
Gehalt schon in normalen Zeiten kaum langt, und die nun auch schon im dritten
Jahre viele, viele Entbehrungen bei den hohen Preisen für alle Lebensmittel, wie
Reis, Gewürze, Früchte, das Gemüse tragen müssen; auch die Kleidungsstücke und
alles andere stiegen im Preise. Schon damals, d. h. vor fast zwei Jahren, fehlten
deutsche Medizinen und Chemikalien, deutsche Farben, deutsche Maschinen und
vieles andere wie Seifen, Glaswaren, Blei- und Schieferstifte! Da ist allerdings
Japan eingetreten, aber es wurde viel geklagt über die schlechten, wenn auch
billigen Waren, und die eingeborenen Käufer und Verkäufer jammerten nach den
billigen und guten deutschen Sachen. Und wie so vieles nicht oder nur in
beschränktem Maße eingeführt werden konnte, so fehlte andererseits das
Absatzgebiet für viele indische Erzeugnisse, z. B. die Erdnüsse, deren Anbau für
die ländliche Bevölkerung in und um Villupuram eine Haupterwerbsquelle bildet.
Früher pflegten die dortigen Tagelöhner zur Zeit der viel Arbeit und Verdienst
bringenden Erdnussernte ihre im Laufe des Jahres gemachten Schulden zu bezahlen,
jetzt müssen sie neue dazu machen - so wirkt dieser Weltkrieg bis in die
kleinste, ärmlichste Hütte eines elenden, indischen Dörfleins.
Endlich im
November 1914 verdichteten sich die Vermutungen und Gerüchte über unser
Schicksal zu bestimmten Nachrichten, die Zeitungen meldeten, dass die "Golconda", ein altes englisches Schiff, in Kalkutta für den
Transport der Deutschen instand gesetzt würde, das Datum der Abfahrt von dort
wurde festgesetzt, auch wir in der Madras-Präsidentschaft bekamen bestimmten
Befehl, uns fertig zu halten, bis eines Tages auch uns der Tag der Abreise
mitgeteilt wurde, an demselben Nachmittage jedoch brachte uns dann ein Telegramm
die Nachricht, dass aus dem Süd-Arkot-Distrikt niemand abreisen würde. So, hatten
Hellers, Frau Hammitzsch und ihre beiden Kinder und wir noch zu bleiben, und
ebenso erging es den Deutschen im Madura-Distrikt, also den vielen in Kodi
Internierten. - In der Nacht zwischen dem 22. und 23. November standen wir bei
strahlendem Mondschein auf unserm Bahnhof, um von unsern nach Madras zur
Heimfahrt mit der "Golconda" reisenden Missionsgeschwistern Abschied zu nehmen.
Der sie begleitende Polizeioffizier erlaubte uns, mit ihnen zu sprechen, ein
halbes Stündchen stand der Zug, dann brauste er davon, und mit gemischten
Gefühlen, wehmütig und doch fröhlich, blickten wir ihnen nach. Wie freuten sich
unsere Christen, dass sie ihren Missionar noch behalten hatten, und wir waren
herzlich dankbar, dass wir unsere Arbeit noch einige Monate länger tun durften. -
Allerlei Gerüchte über unsere baldige Internierung in Belgaum oder Kodi
verstummten auch jetzt nicht, ja, wir wurden offiziell gefragt, ob wir die für
ein Leben im "Lager" nötigen Sachen, wie Möbel und Betten, Geschirr, Wäsche usw.
hätten, so dass man aus der Unruhe und Ungewissheit nicht herauskam. So kam das
liebe Weihnachtsfest heran, das wir trotz aller Not und Sorgen der Zeit doch
fröhlich mit unsern Gemeinden feiern durften. Liebe Freunde hatten uns vor ihrer
Abreise Gaben in die Hand gelegt, um den Ärmsten unter unsern vielen Armen ein
Weihnachtskleid geben zu können; seit Wochen hatte ich aus allerlei Zeugresten
große und kleine Betelbeutel genäht, die bei keinem Weihnachtsfest fehlen
dürfen, und es machte mir oft Spaß, wenn die alten Witwen mir zusahen und so
begehrliche Blicke darauf warfen und dann schüchtern anfingen: "Amma, jennakku
perija pci kodungel! - Mutter, geben Sie mir doch einen großen Beutel!" "Jen
- warum?" frage ich. "Nan rombu weikke wöndum - ich muss viel hineintun", ist die
Antwort. "Un pei jennakku catu - zeige mir doch einmal deinen Beutel", ermuntere
ich sie. Und da zieht sie einen zerrissenen, schmutzigen Beutel heraus und
breitet dessen Inhalt vor mir aus: Betelblätter und die dazu gehörigen Arelanüsse, ein Büchschen mit Kalt, eine Zange zum Zerkleinern der Nüsse, einige
Stangen Kautabak und einige Kupfer-Pfennige, ihr ganzer Reichtum - und da sehe
ich wohl ein, dass für diese Schätze ein recht großer Beutel nötig ist, und
strahlend zieht die Alte ab mit dem Versprechen, dass sie den großen Beutel, den
sie sich sogar selbst aussuchen durfte, auch wirklich bekommen wird. In der mit
Palmzweigen und bunten Papiergirlanden festlich geschmückten, frisch geweihten
kleinen Kapelle versammelten wir uns 'dann alle zu den schönen
Festgottesdiensten, zu denen freilich nicht wie daheim die Glocken eingeladen
hatten, sondern nur das Tasu, eine Messingscheibe, die durch Anschlagen mit
einem Holzklöppel zum Tönen gebracht wird. Und fröhlich zog jeder heim mit
seinen bescheidenen Gaben. Wie gern hätten wir mehr gegeben, wenn nur das Geld
nicht so knapp gewesen wäre, - und - die sonst Jahr für Jahr mit Sehnsucht
erwarteten und bei ihrer Ankunft freudig begrüßten großen Weihnachtskisten aus
Leipzig fehlten ja auch mit ihrem reichen Inhalt an Kleidungsstücken, mit denen
man so manche geheime und offene Not hatte lindern können.
Nun waren wir in das neue Jahr 1915 eingetreten, nicht
ahnend, was uns schon der Januar bringen würde. Am 16. früh, einem Sonntag,
kamen wir aus der Kirche, da stand der Polizeiinspektor, ein eingeborener
Christ, vor der Tür und brachte meinem Manne den schriftlichen Befehl, dass er
sich zur Abreise nach Madras mit dem Nachtzuge fertig machen müsse. Das kam uns
gänzlich unerwartet, und auch unter unsern Christen erhob sich lautes Weinen und
Klagen, dass sie nun auch ihren "Vater" verlieren sollten. Unter viel Arbeit
aller Art verging der Tag nur zu schnell, und bald schlug gegen Mitternacht die
Abschiedsstunde, da mein Mann sich losreißen musste von seiner Gemeinde, dem Tamulenlande, von seiner Lebensarbeit! Der Polizeiinspektor kam, die Sachen
wurden verladen und auf die Bahn gebracht, ein letztes Gebet mit den vielen
Gemeindegliedern, die es sich nicht nehmen lassen wollten, ihren Missionar zur
Bahn zu geleiten, dann ging es hinaus in die Nacht, und bald stand ich allein
auf dem Bahnhofe und musste allein in mein stilles Haus zurückkehren. Viel Liebe
und Teilnahme haben mir unsere Christen und die uns bekannten Heiden und
Mohammedaner erwiesen, die es gar nicht verstehen konnten, wie man Mann und Frau
so trennen konnte.
An Arbeit fehlte es mir nicht. Ich hatte alles von neuem zu
packen, Herr Sandergren, der schwedische Missionar, kam, die Station zu
übernehmen, und wollte über vielerlei Fragen Aufschluss haben, die Lehrer kamen
und gingen, die Armen wollten weiter versorgt sein, in Haus und Garten gab es
noch mancherlei zu richten und in Ordnung zu bringen - so verging die Zeit gar
schnell! Nach 14 Tagen etwa kam Frau Heller, die in Sidambaram auch allein saß,
mit ihrem kleinen Gottfried und ist bis zuletzt bei mir geblieben. Auch von oben
her wurde es wieder lebhaft, ich weiß nicht, wie viel Verordnungen und Erlasse,
betr. unserer Reise, des Datums der Abreise, des Reisegepäcks und vieler anderer
Sachen ich in diesen letzten 10 Wochen erhalten habe! Mitte Februar 1915 kam der
oberste Polizeibeamte unseres Distrikts, der Polizeisuperintendent, um unsere
Kisten auf ihren Inhalt zu untersuchen, damit wir nicht etwa verbotene Dinge,
wie photographische Apparate, Aluminiumgegenstände usw. - es war eine lange
Liste von verbotenen Sachen uns zugegangen - auszuführen versuchten. Er war ein
Engländer, ein feiner, liebenswürdiger Mann, der uns unsere Lage möglichst zu
erleichtern suchte und uns auf manche Frage bereitwillig Auskunft und gute
Ratschläge gab. Er sagte mir, dass er es nicht für möglich gehalten habe, dass man
meinen Mann noch internieren würde. Es war eben gegen die Militärbehörde, die
behauptete, das Dienstalter in Deutschland sei auf 55 Jahre heraufgesetzt und
mein Mann daher noch militärpflichtig, nichts zu machen. Einige Tage später kam
er dann noch mal, um unsere Kisten vorschriftsmäßig zu adressieren, zu versiegeln
und abzusenden.
Abschied am 27. März 1915
Da der Termin der
Abreise immer wieder verschoben wurde, oft im letzten Augenblicke, glaubten wir
schließlich nichts mehr, bis endlich die "Golconda"
wirklich zurückgekehrt war und im Hafen von Bombay lag, von wo aus die Abreise
des zweiten Transports von Deutschen erfolgen sollte. Zehn Tage später, d. h. am
27. März 1915, schlug auch mir die Abschiedsstunde. Am Montag früh um neun Uhr
mussten wir, Frau Heller und ihr Kind und ich, auf dem Bahnhof von Villupuram
sein. Die Polizei holte uns und unsere Sachen frühzeitig ab, und nach einem
kurzen herzlichen Gebet unseres lieben Pastors ging es fort. Da hieß es auch für
mich, Abschied nehmen von der lieben Missionsarbeit, von unsern Christen, von
unserer lieben zweiten Heimat. Ja, eine Heimat war uns Indien geworden, und oft
wandern die Gedanken hinüber zu all den lieben Bekannten weiß und braun! Und
manche Frage wird laut, wie mag es ihnen allen gehen: unserm alten treuen Koch
Asierwadam, der 20 Jahre mit seinem Herrn viel Freude und viel Leid getragen
hat, dem treuen, eifrigen Pastor Samuel Pakiam mit seiner großen Kinderschar,
dem fleißigen, unbedingt zuverlässigen Lehrer Njanarettinam und seiner Frau, die
einst als Mädchen in unserm Hause arbeitete, all den armen, darbenden Lehrern
mit ihren großen Familien, unsern vielen Armen, wie der blinden Maria, der immer
kranken Martha, der lahmen Maria, dem Krüppel Jakob, und wie sie alle heißen,
denen wir so manches Mal den Hunger stillen durften, wie werden sie alle
durchkommen in diesen schweren Zeiten?
Eine Anzahl unserer Christen hatte sich auf dem Bahnhof
eingefunden, um ihre Ammal abreisen zu sehen. Gar bald brauste der Extrazug
heran, der schon ziemlich besetzt war mit etwa 60 Frauen und Kindern aus Kodi
und zehn Nonnen aus Travaucore, die später auf dem Schiffe stets bereit waren,
müden und abgespannten Müttern bei der Pflege und Wartung der oft so unruhigen
Kinder beizustehen. Neben dem Bahngebäude war ein Zelt aufgeschlagen und dort
ein Frühstück für alle Reisenden bereitgehalten, dem tapfer zugesprochen wurde.
Unser Polizeiinspektor übergab uns dann dem Polizeioffizier, der den Zug bis
Bombay begleitete, und wir erhielten unsere Plätze angewiesen. Die letzten paar
Minuten vergingen schnell, das Zeichen zur Abfahrt erscholl, die letzten von
Tränen erstickten Abschiedsgrüße und Segenswünsche zwischen der abreisenden
Missionarsfrau und ihren "Kindern" wurden gewechselt, und bald lag Villupuram und
damit dieser Lebensabschnitt hinter mir; es ging heim, aber damit zugleich einer
unsichern, unbekannten Zukunft, einem neuen Leben entgegen. Gott allein weiß, ob
wir noch einmal zurückkehren dürfen in unsere liebe Arbeit, zu unsern lieben,
braunen Christen!
Wie wir während der Kriegsjahre in Indien nicht über
schlechte Behandlung von Seiten der englischen Beamten zu klagen gehabt hatten,
so wurden wir auch auf der ganzen Reise anständig behandelt. Die Verpflegung
während der zweitägigen Bahnfahrt war gut und reichlich, wir hatten in den
geräumigen Wagen 2. KI. auch genügend Platz, dass wir uns nachts zum Schlafen
niederlegen konnten, aber die lange Fahrt wirkte doch sehr ermüdend, besonders
nach den letzten anstrengenden, heißen Tagen und den vielen halb durchwachten
Nächten, die der Reise vorangegangen waren. Auf verschiedenen Stationen kamen
während der Fahrt noch neue Trupps von Frauen und Kindern dazu, die auch
heimgeschickt werden sollten, und uns alle bewegte die Frage: wie wird es mit
"unsern Männern" werden, wann werden wir sie, die in Ahmednagar Internierten
sehen? Es war in der zweiten Reisenacht, etwa um drei Uhr; wir standen auf dem
Bahnhof von Dhond, da flog das Wort durch unsern Zug: "Drüben stehen unsere
Männer!" Und wirklich, auf dem Bahnsteig gegenüber stand der Zug, der die
heimzusendenden Männer von Ahmednagar nach Bombay bringen sollte, gleich darauf
setzte er sich in Bewegung, fuhr an uns vorbei - ein fröhliches Grüßen und
Winken herüber und hinüber, dann wurde er vor unseren Zug gespannt, und so
fuhren wir nach Poona, wo ein großes Zelt aufgeschlagen und ein ordentliches
Frühstück für alle die hungrigen Reisenden hergerichtet war. Kaum stand der Zug,
da waren die Männer auch schon draußen und auf der Suche nach ihren Lieben. Das
war ein bewegtes Wiedersehen nach langer, schwerer, banger Trennung. Wie mancher
Vater sah sein Kindchen zum ersten Male, das ihm doch schon hätte entgegenlaufen
können, wenn es sich nicht vor dem fremden Manne gefürchtet hätte!
Die größeren
Kinder waren selig, den lang entbehrten Vater wieder zu haben, die kleineren,
die längst vergessen hatten, wie der Vater, von dem so oft gesprochen wurde,
aussah, versteckten sich ängstlich hinter der Mutter, und in manchen Fällen
dauerte es wochenlang, bis sie ihn anerkannten und zutraulich wurden. Noch
einmal eine kurze Trennung, und nun ging es in wundervoller Fahrt die Berge
hinunter nach Bombay, wo, als wir zum Hafen fuhren, die "Germans" angegafft und
angestaunt wurden wie wilde Tiere, und bald waren wir auf der schwarzen, durch
ihre erste Fahrt übelberüchtigten "Golconda", ohne
dass man uns mit der angedrohten s t r e n g e n und gründlichen Untersuchung von
Person und Sachen behelligt hatte.
Heimreise auf der Golconda
Da wir schon daheim Kabinen- und Bettnummern
bekommen hatten, wussten wir bald, wohin wir gehörten. Eine Kabine erster Klasse
neben dem Speisesaal nahm uns auf, d. h. Frau Dürr (Basler Mission) und ihren
sechsjährigen Jungen, Frau Heller mit dem über ein Jahr alten Gottfried und mich,
und gegenüber hausten unsere Männer und ein österreichischer Arzt, der lange in
Regierungsdiensten in Indien gewesen war. Kabine erster Klasse!, das klingt sehr
schön und vornehm, aber wenn der Raum, der ursprünglich für nur zwei Personen
bestimmt war, nun für fünf reichen soll, so ist das reichlich knapp! Und manch
eine aus dem Zwischendeck, die uns um unsere erste Klasse beneidete, zog doch
nachher ihre eigene, geräumige Kabine vor, wenn sie sie auch mit vielen teilen
musste, nachdem sie unsere "fürstliche" Enge besichtigt hatte. Die erste Nacht
habe ich in meinem neu eingebauten, oberen Kastenbett zugebracht, dann hatte ich
genug und habe dann Nacht für Nacht oben auf dem Deck, auf dem Boden auf Decken
liegend, geschlafen, und mit mir noch einige andere Damen, denen es in ihrer
Kabine erster Klasse ebenso ging. Auch viele Herren, die in engen, dumpfen
Löchern, zwei Treppen tief hinten im Schiff untergebracht waren, haben stets
oben geschlafen, und es wurde dann so eingerichtet, dass die linke Seite des
Mitteldecks von zehn Uhr ab den Damen, die rechte von elf Uhr ab den Herren als
Schlafraum zur Verfügung stand. Einen Nachteil hatte freilich die Schlaferei an
Deck, jeden Morgen um fünf Uhr erschienen braune Matrosen und setzten als
Einleitung zum Deckwaschen das ganze Deck unter Wasser. Da hieß es schnell nach
unten flüchten, meistens konnten wir gleich baden, und um sechs Uhr gab es schon
Kaffee oder Tee mit Brot und Butter. Die Verpflegung war reichlich, die Speisen
wurden aber leider wenig sorgfältig zubereitet, und von Abwechslung war nicht
die Rede. Da gab es denn oft Spaß, wenn wir bei Tisch saßen und über das "ewige"
Kürbis- oder anderes Gemüse seufzten, wie sich manche ausmalten, was sie zu
Hause alles essen wollten! Wie fielen dann alle über den pessimistischen Warner
her, der mit seinem: "Kinder, glaubt doch nicht, dass es das in Deutschland noch
gibt," so gar keinen Glauben fand bei der fröhlichen Jugend. Aber im großen und
ganzen waren wir doch froh und dankbar, dass wir es noch so gut hatten, und wenn
mal einer stöhnte, so hieß es sicher aus irgendeiner Ecke: "Sei nur zufrieden,
wenn du in Ahmednagar gewesen wärest, würdest du nichts sagen!" Aus solchen
gelegentlichen Bemerkungen konnte man ersehen, wie schwer es doch dort gewesen
war, und in herzlicher Teilnahme gedenkt man der vielen, die noch immer dort in
der Hitze der Tropen schmachten! Es war eine bunte Gesellschaft, die auf der "Golconda"
zusammengebracht war, Reiche und Arme, Alte und Junge, Gelehrte und
Schiffsjungen, Geistliche, Ärzte und Laien, aber letztere nur über 55 oder unter
17 Jahre alt. Ein alter, über 70jähriger Basler Missionar war dabei, der seit 45
Jahren drüben gearbeitet hatte und nun blutenden Herzens das Land seiner Liebe
und seiner Arbeit verließ, ein greiser katholischer Priester, der 30 Jahre lang
nicht daheim gewesen war, mehrere Zenanalehrerinnen, die 30 Jahre und länger im
Dienste einer englischen Mission in Nordindien gearbeitet hatten, ein Herrnhuter
Missionar, der große Forschungsreisen in Tibet gemacht hatte - während er in A.
interniert war, kam in London der erste Band seines großen Werkes über seine
Reisen mit wundervollen Bildern heraus, und der zweite war gerade jetzt dort in
Druck -, Missionare mit ihren Familien aus Ostafrika u. Indien, Kaufmanns- und
andere Frauen aus Zanzibar, Rangun, Afghanistan, Bombay und Madras, deren Männer
in Abmednagar hatten zurückbleiben müssen -, manche Missionare, deren Familien
mit der ersten "Golconda" geschickt waren, reisten nun allein, die meisten mit
ihren Familien. Und das Herz tat einem weh, wenn man manche von den Kindern Tag
für Tag müde und matt in ihrem Schiffsstuhle liegen sah, sie litten noch unter
den Folgen der Malaria, die sie sich in Bellary zugezogen hatten, und mancher
armen Mutter ging es ebenso! Aber von kleineren Erkrankungen, besonders des
Magens, was bei der Kost kein Wunder war, abgesehen, war doch der
Gesundheitszustand ein verhältnismäßig ganz guter.
Postcard GOLCONDA Built in 1888 by William Doxford & Sons,Sunderland. Tonnage: 6,037g, 3,960n, 6,000dwt. Engine: Triple Expansion by Builder, 4,360 I.H.P., 13 Knots. Launched 8th February 1887,
Completed September 1888, Yard No 166
Golconda 1887 - 1915 became Indian Government transport,
1916 sunk by mine in North Sea, 19 lives lost.
Es waren 89 protestantische und 89 katholische Missionare an
Bord, die ersteren gehörten den verschiedensten Missionsgesellschaften an, von
den letzteren waren allein 65 Jesuiten, die hauptsächlich in Bombay im
Unterrichts- und Erziehungswesen tätig gewesen waren, und von denen uns einer
einmal einen sehr interessanten Vortrag über die Termiten, diese bösen Feinde
des Menschen resp. seiner Sachen in Indien, gehalten hat. Es wurde viel gesungen
und musiziert, und es verging wohl kein Abend, an dem nicht Vaterlandslieder,
vor allem das: "In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehen!"
erklangen. Die Katholiken fingen ihren Tag schon um fünf Uhr mit einer Messe an,
wir Protestanten versammelten uns um sieben Uhr zu einer Morgenandacht auf dem
Mitteldeck, die von den Missionaren abwechselnd gehalten wurde. Eine besondere
Erquickung waren uns die schönen sonntäglichen Gottesdienste im Ess-Saal, und es
ging einem durchs Herz, als am ersten Sonntage der schon in Ahmednagar
bestehende Chor der Missionare den ersten Gottesdienst auf der "Golconda" mit
dem 126. Psalm eröffnete: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so
werden wir sein wie die Träumenden!" Ja, es war einem wirklich wie ein Traum,
dass die beiden langen bangen Jahre des Wartens und Harrens, der quälenden
Ungewissheit nun endlich zu Ende waren, dass wir uns auf der Heimreise befanden.
Die Enge und das Gedränge auf dem überfüllten Schiffe war
groß. In drei langen Reihen stand Stuhl an Stuhl an Deck, und jedes Plätzchen
und Eckchen musste ausgenutzt werden. Die armen Kinder, 105 an der Zahl, wussten
oft nicht, wo, wie und was sie spielen, die geplagten, abgespannten Mütter, wie
sie sie beschäftigen und ruhig halten sollten! Da war es eine Wohltat, dass eine
gute "Tante" jeden Morgen für ein paar Stunden die Kleinen in einem Kindergarten
sammelte, und mehrere Herren die schulpflichtigen Knaben und Mädchen in
verschiedenen Klassen unterrichteten -, dann atmete alles auf über die
ungewohnte Ruhe und Stille. Verschiedene Herren und Damen waren von den
Passagieren in einen Ausschuss gewählt, der bei eintretenden Schwierigleiten die
Reisenden dem Kapitän gegenüber vertrat und manche Verbesserungen erreichte,
andere Herren, evangelische wie katholische Geistliche, hatten sich zum sog.
"Kuliklub" zusammengetan und erwarben sich unser Aller Dank dadurch, dass sie Tag
für Tag in den Gepäckraum hinunterkletterten, um Ordnung in das dort herrschende
Chaos von Kisten und Koffern zu bringen, die sie zum Schluss noch einmal auf ihre
Haltbarkeit prüften, Adressen nachsahen usw.; ohne ihre aufopfernde Tätigkeit
hätte wohl manch einer dies oder jenes Gepäckstück nicht wieder gesehen.
Einer der mitfahrenden deutschen Ärzte hielt einen
Roten-Kreuz-Kursus ab, der zahlreiche Teilnehmer fand -, zur Freude der Kinder
veranstalteten andere Reisende mit Hilfe der Schiffsoffiziere ein Kinderfest mit
allerlei Wettspielen und einer Verlosung, zu denen auch der Kapitän und seine
Offiziere schöne Gewinne gestiftet hatten, so war immer ein reges Leben und
Treiben. - An Seekrankheit hat es auch nicht gefehlt, besonders als wir zwischen
der afrikanischen Küste und Madagaskar waren, dort schaukelte das Schiff infolge
der starken Dünung so sehr, dass mancher Schiffsstuhl umkippte und eines Nachts
im Ess-Saal ganze Stöße von Tellern umflogen, und auch wir auf Deck immer hin und
her rollten. Aber im großen und ganzen durften wir nicht klagen, Gottes Engel
haben uns geleitet, und auf Adlersflügeln hat Er uns über die Meere getragen;
und wir durften fühlen und merken, dass die Gebete unserer Lieben draußen in
Indien und daheim im Vaterlande uns umgaben.
Am 30. März 1915 waren wir von Bombay abgefahren, und
acht Tage
später erreichten wir die Inselgruppe der Seychellen, wo wir vor der größten
Insel Mahé anlegten. Ich
erinnere mich noch der wunderbar schönen Färbung des Meeres und der schönen
bewaldeten Bergketten auf den Inseln, die uns in mancher Hinsicht an die Blauen
Berge Süd-Indiens erinnerten. Nach 24 Stunden ging es weiter dem Süden zu. War
es erst sehr heiß gewesen, so brausten jetzt an der Südspitze Afrikas kalte
Herbstwinde einher -, und in warme Mäntel und Decken gehüllt, lag man frierend
in seinem Schiffsstuhl. Dann wurde abends zum großen Jubel der Kinder im
Gänsemarsch von groß und klein Laufschritt ums ganze Deck gemacht, um wieder
warm zu werden. In dieser Zeit wurden von der Besatzung allerlei Vorbereitungen
getroffen, um dem vorhergesagten Sturm zu begegnen, aber zur Verwunderung der
ganzen Schiffsmannschaft blieb dieser aus: "Die verd... Deutschen haben wieder
Glück!" bemerkte der erste Offizier -, und bei strahlendem Sonnenschein fuhren
wir am Dienstag der Stillen Woche in den von vielen Schiffen belebten Hafen von
Kapstadt ein.
Kapstadt
Da lag die schöne Stadt am Fuße des Tafelberges vor uns, wie gerne
hätten wir sie wohl in der Nähe gesehen oder gar einen Ausflug auf den Tafelberg
gemacht. Aber Kriegsgefangene dürfen dergleichen Wünsche nicht hegen, wir
blieben in all dem Staub und Schmutz des Kohleneinnehmens drei Tage an Bord, man
wusste nicht mehr, wo man sich aufhalten sollte, denn überallhin drang der
schwarze Kohlenstaub, und was man auch anfasste, alles war schmutzig und schwarz.
Unsere Wachmannschaft, 25 Soldaten unter dem Befehl eines Majors, eines
freundlichen, älteren Herrn, durfte hinaus und wurde durch in
Kapstadt liegende
Soldaten abgelöst, die das Schiff scharf bewachten, wie man munkelte, weniger
unsertwegen, sondern um die indischen Schiffsleute am Ausreißen zu hindern.
- Aber afrikanischen Boden haben wir doch betreten, es wurde uns gestattet, eine
halbe Stunde, natürlich auch unter militärischer Bedeckung, am Strande auf und ab
zu gehen. In Gruppen zu 40 und 50 wurden wir nach doppelter Zahlung hinaus- und
ebenso wieder hereingelassen. Für die Kinder war es ein ganz besonderes
Vergnügen, bei dieser Gelegenheit barfuss im Wasser zu patschen, und manche
Muscheln und Algen wurden als Andenken mitgenommen.
Auf dem Schiffe entwickelte sich ein lebhaftes Getriebe,
viele Händler kamen an Bord, und reißend gingen ihre Waren ab, da noch allerlei
für die Weiterreise nötige Sachen eingekauft werden konnten. Besonders die
frischen Früchte, wie erfrischende Weintrauben und wunderschöne Äpfel, fanden
viele Liebhaber. Aber die Preise!! - Auch Bilder und Ansichten von Kapstadt
wurden gern gekauft - da machte es einen eigentümlichen Eindruck, dass diese
Ansichten-Albums, die in Kapstadt internierte Deutsche bei ihrer Abreise hatten
abgeben müssen, auf der "Golconda" ungehindert verkauft werden durften. Es kamen
nämlich jetzt noch 64 Deutsche an Bord, zum Teil lange in verschiedenen Lagern
interniert gewesene, zum Teil auf ihren eigenen Wunsch reisende, verschiedene
aus Deutsch-Südwest, die andern aus dem Kaplande -, die wussten gar viel zu
erzählen von ihren Leiden, wie sie zum Teil von Ort zu Ort geschleppt wurden,
wie der Pöbel mit ihrem Eigentum gewirtschaftet, ihre Sachen zerstört, ihre
Häuser verbrannt hatte -, wir konnten nur Gott danken für die im Vergleich dazu
milde und gnädige Behandlung in Indien. Karfreitag früh ging es dann weiter, es
herrschte starker Nebel, und zum ersten Male hörten wir das Nebelhorn heulen.
Das Osterfest unterschied sich äußerlich nicht von andern Tagen, aber wenigstens
war der Osterhase in Kapstadt an Bord gewesen, denn jedes Kind fand beim
Morgenessen ein rotes Ei auf seinem Teller, und später verteilten kinderliebe
Tanten noch bunte Tüten und Süßigkeiten unter sie.
Gleichförmig verlief das Leben diese ganzen sieben Wochen,
ein Tag war wie der andere, da gab es einst große Aufregung, als es eines
Mittags plötzlich hieß: "Mann über Bord!" Die Dampfpfeife schrillte, das Schiff
stand in kurzer Zeit, mit Windeseile wurde ein Rettungsboot hinuntergelassen und
der Betreffende lange gesucht. Nach uns endlos scheinenden 30 Minuten entdeckte
man ihn und konnte ihn völlig erschöpft ins Boot ziehen. Es war ein eingeborener
Diener, der sich mit einem Kollegen gezankt hatte und Prügel haben sollte - da
sprang er lieber ins Wasser, aber seine Prügel hat er dann doch noch bekommen.
St. Helena
Am 27. April
1915 erreichten wir
+++ einen riesigen
Felsen, der schroff aus dem Meere aufsteigt - wie mag es dem gestürzten Napoleon
zumute gewesen sein, als er dies sein Gefängnis vor sich sah! Und dasselbe
Schicksal hatten die Engländer von heute unserm geliebten Kaiser zugedacht, und
an Anspielungen darauf fehlte es nicht! In ein schönes grünes Tal eingebettet
lag das Städtchen
Jamestown mit seinen freundlichen Häusern vor uns, von dort
sah man den schmalen Weg sich die Felsen hinaufwinden, der auf die Hochebene und
zu Napoleons Wohnung führte. Oben standen Kanonen, in die Felsenwände schienen
Kasematten eingebaut zu sein, die ganze Insel ist wohl eine große Festung. Es
wirkte ganz eigen und stimmungsvoll, als am späten Abend im Schatten von
Sankt Helena, während Scheinwerfer von der Insel aus immer wieder die ganze Gegend
absuchten, ein Jesuitenpater mit seiner schönen Stimme das düstere Lied vortrug:
"Nachts um die zwölfte Stunde verlässt der Kaiser sein Grab", das schildert, wie
der tote Kaiser über seine Getreuen Heerschau hält.
Kriegszone
Am folgenden Tage fuhren wir weiter und immer weiter dem
Norden zu, nun wirklich der Heimat entgegen. Nördlich von den Kanarischen Inseln
kamen wir in die "Kriegszone", am schwarzen Brett wurde durch lange Anschläge
mitgeteilt, wie sich die Reisenden im Falle eines Unglücks zu verhalten hätten,
es wurde mehrere Male an die Rettungsboote gerufen, die Plätze darin verteilt,
eine richtige Übung abgehalten, die Boote in Bordhöhe heruntergelassen, um ein
schnelles Einsteigen zu ermöglichen, Rettungsgürtel wurden ausgegeben und
anprobiert und für die Kleinen und Kleinsten von den besorgten Müttern neue
angefertigt - nachts fuhren wir mit abgeblendeten Lichtern, auch die
Kabinenfenster mussten verhängt werden, und auf den Decks herrschte finstere
Nacht - ja, wir fühlten und merkten, dass wir nun dem Schauplatze des Krieges
nahe waren. Nach einer ruhigen Fahrt durch den oft so unruhigen Golf von Biscaya
kamen wir in den durch seine schweren Nebel berüchtigten Kanal -, auch wir
lernten diesen Feind der Schifffahrt kennen, und schaurig klang jede Minute das
Nebelhorn durch den dicken, schweren Nebel, der wie eine Last auf dem Schiffe
ruhte und es wie eine undurchdringliche Wand umgab. Mitten in der Nacht
antwortete in nächster Näh ein zweites Nebelhorn, aber durch Gottes Gnade wurde
ein Zusammenstoß verhütet, der Kapitän soll nachher geäußert haben: "Dies war
die furchtbarste Nacht, die ich je gehabt habe, ich wusste nicht mehr, wo wir
waren!"
Nach und nach wurde die englische Küste sichtbar, die Kreidefelsen von Dover
tauchten auf, alle Arten von Kriegsschiffen fuhren an uns vorüber, Schiffe, wie
wir sie noch nie gesehen hatten, ja, das erste Luftschiff tauchte auf, und immer
wieder blickte man nach oben, ob noch einmal so ein von vielen von uns noch nie
gesehener Riesenvogel erscheinen würde. Vor der Themsemündung blieben wir am
frühen Morgen des 16. Mai 1915 liegen, erst um zehn Uhr etwa öffnete sich die
Kette der Wachtschiffe, und mit vielen andern Fahrzeugen fuhren wir die Themse
hinauf auf London zu. Bei Tilbury legten wir an. Das war eine fröhliche,
aufgeregte Gesellschaft, die sich an jenem Tage zum Mittagessen versammelte,
glückselig hoffte und dachte man, in wenigen Tagen daheim zu sein. Und dann
entstanden allerlei dunkle Gerüchte, es wurde geredet von der Internierung Aller
in London, dann wieder sollten nur die Männer zurückbehalten werden, dann
wieder, wie bei der ersten "Golconda", nur einige von ihnen -, aber Gewissheit
war nicht zu erlangen weder beim Kapitän noch bei den anderen Offizieren. Am
Nachmittag wurden die von der indischen und südafrikanischen Regierung den
Reisenden ausgestellten Pässe ausgehändigt und wieder abgefordert. Seit Tagen
schon war von Allen fieberhaft gepackt worden, nun brachten vorsichtige Leute
für eine nochmalige, etwaige Trennung ihr Gepäck in Ordnung, bedrückt und mutlos
ging man schlafen -, was würde der nächste Morgen bringen? Da wurden alle die
schlimmen Gerüchte zur Wahrheit, alle Männer erhielten Befehl, in einer Stunde
zum Verlassen des Schiffes fertig zu sein -, wohin würde es gehen? Das gab
wieder einen schweren Abschied, als um 10 Uhr der kleine Dampfer, der den
Verkehr zwischen den beiden Themseufern vermittelte, an die Seite unsres
Schiffes kam, und einer nach dem andern mit seinem Köfferchen in der Hand die
Schiffstreppe hinunter stieg -, wie lange würde die neue Gefangenschaft, die neue
Trennung dauern? Wir folgten dem Schiffe mit unsern Augen, sahen die Insassen am
andern Ufer landen und in dem langen Eisenbahntunnel verschwinden, wohin?
Ein anderer
Küstendampfer holte bald darauf die Kranken, die in einem Hospital untergebracht
wurden. So waren wir allein zurückgeblieben -; unbekümmert um die Sorgen der
Mütter spielten fröhlich die Kinder umher und genossen es, dass sie endlich
einmal Bewegungsfreiheit und Raum zum Spielen hatten. Mit Interesse beobachteten
wir das Ausladen der vielen riesigen Kisten des Vizekönigs von Indien, dessen
fünfjährige Amtszeit gerade abgelaufen war, und dem wohl kein Fahrzeug sicherer
für den Transport seiner in Indien gesammelten Schätze er schien, als die "Golconda". Im Laufe des Nachmittags
legte sich dann ein kleiner englischer Dampfer neben unser Schiff, und dann
begann das Umladen von unserm Gepäck, das ging die halbe Nacht durch, und
endlich gegen zehn Uhr am andern Morgen war man fertig, wir konnten Hinübersehen,
und eine Stunde später fuhren auch wir ab, nun wirklich der Heimat zu. Einige
Wochen später lag auch die "Golconda" auf dem Grunde des Meeres, auf dem Wege in
einen nördlich gelegenen Hafen, wohin sie ihre Ladung bringen sollte, wurde sie
versenkt. Der kleine, enge Dampfer, der uns nach Holland bringen sollte, fasste
kaum so viele Menschen. Der Ess-Saal z. B. hatte nur für 26 Personen Platz, so
wurde in acht Abteilungen gegessen -, und es gab gute und reichliche Kost, so viel
Rindfleisch habe ich noch nicht wieder auf meinem Teller gesehen! Die See war
spiegelglatt, auch der seekränkeste Mensch blieb gesund -, aber was auch uns
ohne Gottes Schutz und Schirm hätte geschehen können, sahen wir an den vielen
Schiffstrümmern, an denen wir vorbeifuhren, Mastspitzen versenkter oder sonst
gesunkener Schiffe ragten aus dem Wasser, in der Ferne sah man aus dem Meere
Rauchwollen aufsteigen, was auf ein brennendes Schiff schließen ließ,
Kriegsschiffe zogen hin und her, und Unterseeboote jagten vorüber.
Von London in die Heimat
Die Nacht brachte man an allen möglichen und unmöglichen
Plätzen zu, da längst nicht für Alle Betten zu beschaffen waren. Und der
unruhige Schlaf war nur kurz, früh um zwei Uhr gingen wir im Hafen von Rotterdam
vor Anker, deutsche Laute schlugen vom Lande her an unser Ohr, nun noch einige
Stunden, dann würden wir frei sein! Groß war unsere Freude, als gegen acht Uhr
Herr Missionar Rüger erschien, nun fühlten wir uns nicht mehr so allein und
verlassen. Er besorgte das Einlösen unsrer holländischen Wechsel, half uns bei
unserm Gepäck, und vor allem, er brachte die neuesten Nachrichten von daheim,
und hier erst erfuhren wir, wie es wirklich aussah im Vaterlande und auf den
Kriegsschauplätzen! Deutsche Konsularbeamte erschienen zur Feststellung der
Personalien, der Morgen verging schnell, um 2 Uhr nach dem hastig eingenommenen
Mittagessen stiegen wir in einen kleinen holländischen Dampfer, der uns in 20
Minuten an blühenden Obstgärten vorbei - o, wie genossen wir dies erste Bild des
Frühlings! - zum Bahnhof brachte, wo liebe holländische Missionsfreunde uns
empfingen und bewirteten; auch allerlei Kleidungsstücke hatten sie bereit für
die, die sie nötig hatten. (Ich möchte hier noch erwähnen, dass auch in Kapstadt
zwei große Kisten mit Mänteln, Kleidern, Decken und sonstigen Kleidungsstücken
an Bord kamen, die von treuen deutschen Freunden Kapstadts gesammelt waren für
die vielen an Bord der "Golconda", die nicht über warme Kleider verfügten.) Ihre
Liebe versorgte uns auch für die Weiterreise mit lecker belegten Broten und
andern Essvorräten, o wie wohl tat es, nach den langen Reisewochen, nach allem,
was man innerlich und äußerlich durchgemacht hatte, so viel Teilnahme und
Freundlichkeit zu spüren. Nun ging es quer durch Holland, durch den lachenden
Frühling nach Goch, der allen Missionsfreunden wohlbekannten
Grenzüberwachungsstelle. nachdem wir kurz vorher über die mächtige Rheinbrücke
gefahren waren, die hüben von holländischen, drüben von deutschen Soldaten, den
ersten Feldgrauen, die wir sahen, bewacht wird. "Lobe den Herrn, meine Seele",
klang es in unsern Herzen, als der Zug gegen neun Uhr auf deutschem Boden hielt.
In Goch wurden wir in dem großen mit deutschen Fahnen geschmückten Saale der
Zollabfertigungsstelle von Herrn Oberleutnant Merk in herzlicher Rede freundlich
begrüßt, und von dem Roten Kreuz mit Kriegskaffee und Kriegsbrot, die uns
ausgezeichnet schmeckten, bewirtet und erquickt. Da lernten wir auch die
"Sommerzeit" kennen, und es kam einem ganz sonderbar vor, wie lange es hell
blieb. Es entwickelte sich ein gar reges Leben und Treiben bis in den neuen Tag
hinein. Noch einmal wurden die in Rotterdam aufgenommenen Personalien
durchgesehen, verglichen und ergänzt, die Fahrscheine für die freie Fahrt zum
Bestimmungsorte ausgehändigt, Telegramme an die daheim auf uns wartenden Lieben
aufgegeben, zur Begrüßung eingelaufene Briefe an die glückstrahlenden Empfänger
abgegeben - eine von uns erfuhr erst hier von dem Heldentode ihres Bruders, so
wohnten einmal wieder Freud und Leid so nahe beieinander - das Gepäck wurde
flüchtig durchgesehen -, da verging die Zeit im Fluge. Der große Saal wurde zum
Schlafsaal umwandelt, wo todmüde Mütter mit ihren unruhigen Kindern den so
nötigen Schlaf suchten und vielleicht auch fanden. Andere brachten die Nacht,
oder vielmehr den übrig bleibenden Teil derselben, auf den Bänken und in den
Gängen der Bahnwagen zu, und schon um 6 Uhr fuhren die nach Süddeutschland
Reisenden ab, die nach den andern Richtungen folgten später. So zerbröckelte
allmählich die große Reisegesellschaft, und nun sind wir, die wir acht Wochen
lang aufeinander angewiesen waren, in ganz Deutschland verstreut, und man hört
nichts mehr voneinander. Wir Leipziger fuhren fast alle um 10 Uhr 15 Minuten in
der Richtung nach Leipzig, und mit uns die Breklumer und Hermannsburger
Missionsleute, die, wie auch einige von uns, auf dieser und jener Station
ausstiegen, so dass unsere Reisegesellschaft immer kleiner wurde. In Hannover
begrüßte uns Herr Pastor Lohmann, der zehn Jahre vorher in Kodaikanal unser Gast
gewesen war, und in freundlicher Fürsorge dargereichter heißer Kaffee und
richtige deutsche Butterbröte stillten Hunger und Durst nach der langen Fahrt.
In kurzer Zeit war nun der Zug in Braunschweig, und daheim - mein Telegramm war
leider nicht angekommen -, gab es ein fröhliches und doch wehmütiges Wiedersehen
mit unsern Kindern, die ich fast fünf Jahre nicht gesehen hatte. Ich kannte sie
fast nicht wieder, so groß waren sie geworden, und so sehr hatten sie sich
verändert in diesen langen, für ein sehnendes Mutterherz doppelt langen Jahren!
Schwer war es, dass der liebe Vater fehlte, aber Gottlob - schon nach fünf Wochen
kehrten "unsere Männer", um manche Erfahrung reicher, aus dieser zweiten
englischen Gefangenschaft zurück.
Nun hat Gottes Güte einem jeden von uns ein Plätzchen
beschert, wo wir auch in Seinem Weinberge arbeiten dürfen. Und in Seiner Schule
lernen wir nun abwarten, wie es weiter mit uns, mit unsrer lieben Mission werden
wird. Er kann uns ja, wenn es Sein heiliger Wille ist, auch die Wege nach Indien
wieder öffnen! Ihm wollen wir getrost alle unsere Sorgen anvertrauen, denn
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